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Seitenzahl: 149
KÖNIGS ERLÄUTERUNGEN
Band 299
Textanalyse und Interpretation zu
Wolfgang Borchert
DRAUSSEN VOR DER TÜR
Von Rüdiger Bernhardt
Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen
Zitierte Ausgaben: Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür. Herausgegeben von Rogal, Stefan. Hamburger Leseheft Nr. 250. Husum/Nordsee: Hamburger Lesehefte Verlag, 2018. Zitatverweise sind mit HL gekennzeichnet. Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür. Ditzingen: Reclam, 2020. Reclam XL Nr. 19407. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Reclam XL – Text und Kontext. Herausgegeben von Leis, Mario. Zitatverweise sind mit R gekennzeichnet. Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen. Mit einem Nachwort von Heinrich Böll. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 100. Auflage 2019. Nach dieser Ausgabe wird aus den Erzählungen Borcherts (insbesondere aus Die lange lange Straße lang und Die Hundeblume, die in engem Zusammenhang mit Draußen vor der Tür stehen; Die lange lange Straße lang ist eine epische Variante des dramatischen Stücks) zitiert. Zitatverweise sind mit Rowohlt Tb gekennzeichnet.
Über den Autor dieser Erläuterung: Prof. Dr. sc. phil. Rüdiger Bernhardt lehrte neuere und neueste deutsche sowie skandinavische Literatur an Universitäten des In- und Auslandes. Er veröffentlichte u. a. Studien zur Literaturgeschichte und zur Antikerezeption, Monografien zu Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, August Strindberg und Peter Hille, gab die Werke Ibsens, Peter Hilles, Hermann Conradis und anderer sowie zahlreiche Schulbücher heraus. Von 1994 bis 2008 war er Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung Kloster auf Hiddensee. 1999 wurde er in die Leibniz-Sozietät gewählt.
4. Auflage 2023
ISBN 978-3-8044-6964-8
© 2013 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten! Titelabbildung: Aufführung Draußen vor der Tür im Carrousel Theater Berlin, 1995 © ullstein bild – Jörg Metzner
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INHALT
1. Das Wichtigste auf einen Blick – Schnellübersicht
2. Wolfgang Borchert: Leben und Werk
2.1 Biografie
2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken
3. Textanalyse und -Interpretation
3.1 Entstehung und Quellen
3.2 Inhaltsangabe
3.3 Aufbau
3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken
Beckmann
Der Andere
Ein Mädchen
Frau Kramer
Direktor eines Kabaretts
Elbe und Gott
3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen
3.6 Stil und Sprache
3.7 Interpretationsansätze
4. Rezeptionsgeschichte
5. Materialien
6. Prüfungsaufgaben mit Musterlösungen
Aufgabe 1 *
Aufgabe 2 **
Aufgabe 3 ***
Aufgabe 4 ***
Literatur
Zitierte Ausgabe
Weitere Ausgaben
Lernhilfen und Kommentare
Sekundärliteratur
Filmfassungen
Damit sich jeder Leser in diesem Band sofort zurechtfindet und das für ihn Interessante gleich entdeckt, folgt hier eine Übersicht.
Im zweiten Kapitel wird Wolfgang Borcherts Leben beschrieben und auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund verwiesen:
Wolfgang Borchert lebte von 1921 bis 1947 vorwiegend in Hamburg. Der Zweite Weltkrieg brachte ihn an die Ostfront, in Lazarette und ins Gefängnis, wo ihm die Todesstrafe drohte. Er kehrte in ein zerstörtes, hungerndes und von einem kalten Nachkriegswinter zermürbtes Hamburg zurück.
Der militärische Zusammenbruch Hitlerdeutschlands und die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 war auch die Befreiung vom Faschismus und bedeutete die Abrechnung mit der Vergangenheit.
Eine besondere Situation ergab sich durch die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, in denen auch kulturpolitisch unterschiedliche Konzeptionen wirkten.
Wolfgang Borchert hatte, wie seine gesamte Generation, das bewusste Leben nur im Nationalsozialismus geführt – als die Nazis an die Macht kamen, war er 12 Jahre alt – und so kaum andere Erfahrungen als die dort gemachten zur Verfügung, als der Krieg zu Ende war. Für ihn galt, wie für viele andere Künstler, dass sie Alternativen nur aus der Literatur kannten.
Im dritten Kapitel geht es um die Textanalyse und -interpretation.
Draußen vor der Tür – Entstehung und Quellen:
Draußen vor der Tür entstand im Spätherbst 1946, zuerst unter dem Titel Ein Mann kommt nach Deutschland. Quellen waren vorwiegend Borcherts Erlebnisse an der Front, im Gefängnis und im zerstörten Hamburg nach Kriegsende. Dennoch gibt es Ähnlichkeiten mit Georg Büchners Woyzeck (1878) und Parallelen zu Ernst Tollers Tragödie Hinkemann (1921/1922). Von Einfluss waren Borcherts Vorbehalte gegen Goethes Faust, sein literarisches Interesse für expressionistische, romantische und neuromantische Strömungen sowie für die Kunst Ernst Barlachs.
Inhalt:
Der Unteroffizier Beckmann, 25 Jahre alt, mit zerschossenem Knie und Gasmaskenbrille, kommt 1945 ins zerstörte Hamburg zurück und findet seine Vergangenheit – Ort, Familie, Eltern – zerstört vor. Sein Selbstmordversuch scheitert: Die Elbe, in die er sich stürzt, will ihn nicht. Nun macht er sich auf die Suche: Seine Frau hat einen anderen Mann, ein Sohn wurde Opfer eines Bombenangriffs, die Eltern suchten den Freitod; die Verantwortung für die Toten zurückzugeben, gelingt ihm nicht. Auf Arbeitssuche in einem Kabarett wird er abgelehnt. Beckmann kann mit seiner Schuld und Vergangenheit nicht leben, findet keinen Ausweg und keine Antworten.
Chronologie und Schauplätze:
Das Stationenstück steht formal in der Tradition von Georg Büchners Woyzeck und des expressionistischen Dramas, ohne ihm in der Idee der Welt- und Menschheitserlösung zu folgen. Es spielt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in der Zeit der Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft, in Hamburg. Die Stationen korrespondieren mit Borcherts Erfahrungen. Auffallend ist eine Parallelität zu Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil, zu dem das Stück einen Gegenentwurf darstellt. Die Erzählung Die lange lange Straße lang ist eine epische Variante des Stücks.
Personen:
Die Hauptpersonen sind
Beckmann:
ausgewiesen als „einer von denen“ (HL S. 4/R S. 6), die er als Typ des Heimkehrers repräsentiert;
Individualitätsmerkmal des Familiennamens;
äußere Attribute: Knieverletzung und Gasmaskenbrille;
das leidende Individuum in einer existenziellen Notsituation.
Der Andere:
Wesen mit den „tausend Gesichter[n]“ (HL S. 11/R S. 15);
das Gegenwesen zu Beckmann, der als Neinsager den Jasager benötigt;
Verwandtschaft mit Mephisto.
Ein Mädchen:
„dessen Mann auf einem Bein nach Hause kam“ (HL S. 4/R S. 6);
hilfsbereit und freundlich;
ihr Mann ist bei Stalingrad vermisst;
tritt als einzige Person außer Beckmann/der Andere in drei Szenen auf;
sie ist einer Maria Magdalena ähnlich, jedoch in umgekehrter Situation.
Frau Kramer:
„die weiter nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar“ (HL S. 4/R S. 6);
Typ des Mitläufers und Denunzianten;
steht für eine Kleinbürgerlichkeit, die den Faschismus ermöglichte und ihn nach seiner Niederlage als geistiges Potenzial in der Nachkriegszeit weiterführte.
Direktor eines Kabaretts:
muss sich mit dem Anspruch Beckmanns, ein Künstler zu sein, auseinandersetzen;
passt sich jeder Situation an und besitzt selbst keine Haltung;
seine ästhetischen Positionen sind ohne Konzept;
Unwissenheit wird zum Maßstab gemacht und steht für zahlreiche Deutsche nach 1945.
Elbe und Gott:
erscheinen personifiziert und sprechend;
in sie werden reale Personen projiziert: die lebenstüchtige Mutter Borcherts und der zurückhaltende, leise Vater.
Stil und Sprache:
Das grundsätzliche sprachliche Problem: Borchert ringt um „Wahrheit“ mit den Mitteln einer missbrauchten Sprache. Fragen, Wiederholungen und Interjektionen sind für den Sprachfluss bedeutend. Die Sprache ist auffällig und einmalig, eine Mischung aus zugespitzter Einfachheit und ausufernder Bildhaftigkeit, lapidarer Feststellung und schichtweise aufgelegter Bedeutungsvielfalt.
Interpretationsansätze:
Das Stück ist ein Maßstäbe setzendes Werk über die verlorene männliche Generation, die – falls sie überlebte – ihre Jugend im Krieg, in Gefangenschaft oder als Kriegsheimkehrer erlebte und diese Erfahrungen in das weitere Leben einbrachte. Das Stück versucht, dem zum Objekt degradierten Menschen wieder zum Subjekt zu verhelfen. Es bedient sich eines Realismus, der die offenen Fragen in Visionen zu beantworten sucht, aber keine Antworten findet und deshalb außerhalb der bürgerlichen Ordnung landet (siehe Titel des Stücks).
Zahllose Ansätze: vom umgekehrten Passionsspiel über ein Beispiel für eine Höllenfahrt bis zur Rehabilitation der Schuldigen, die Verantwortung und die Zurücknahme.
Verbindung von realistischen Details und irrationalen Elementen;
mythische Dimension des Stücks;
das „Delirium des Ertrinkenden“.
Rezeptionsgeschichte:
Die Rezeption vollzog sich in drei Phasen.
Das Stück wurde zwischen 1947 und 1949 das bedeutendste Theaterereignis in Westdeutschland.
Die Stellung des Stücks in der Theaterentwicklung nach 1945.
Die zwiespältigen Urteile der Kritiker hatten ihren Gegenpol in den Bekenntnissen der Generationsangehörigen.
Wolfgang Borchert 1921–1947 © ullstein bild – Rosemarie Clausen
JAHR
ORT
EREIGNIS
ALTER
1921
Hamburg-Eppendorf
20. Mai: Wolfgang Borchert wird als Sohn des Lehrers Fritz Borchert und seiner Frau Hertha, geborene Salchow, geboren. Die Mutter schreibt Geschichten im Vierländer Plattdeutsch.
1928
Volksschule
7
1932
Oberrealschule
11
1937
7. März: Konfirmation; im Dezember sieht Borchert Gustaf Gründgens als Hamlet im Theater und will daraufhin Schauspieler werden.
16
1938
Gedicht Reiterlied im „Hamburger Anzeiger“; Theaterstück Yorick, der Narr!; im Dezember verlässt Borchert die Schule nach der Obersekunda ohne Abschluss.
17
1939
Hamburg
1. April: Buchhändlerlehre bei Boysen; privater Schauspielunterricht bei Helmuth Gmelin. 1. Dezember: Bekanntschaft mit Isot Kilian, aus der mit Günter Mackenthun eine Freundschaft und Liebe zu dritt wird. Komödie Käse (gemeinsam mit Mackenthun)
18
1940
19. April: Hausdurchsuchung und Verhaftung; Borchert hatte in Briefen von seiner „Rieke-Liebe“ gesprochen, die ihm die Gestapo als homosexuelle Beziehung vorwarf, bis sich ein Lesefehler herausstellte: Borchert hatte von seiner Rilke-Liebe gesprochen.[2] Schauspielprüfung; Aufgabe der Buchhändlerlehre am 31. Dezember.
19
1941
Lüneburg
März bis Juni: Schauspieler an der Landesbühne Osthannover
20
Weimar-Lützkendorf
Juli bis November: Panzergrenadier bei der 3. Panzer-Nachrichten-Ersatz-Abteilung 81
Witebsk, Kalinin
November/Dezember: Fronteinsatz
1942
Schwabach
Januar/Februar: Anfälle von Gelbsucht, Verwundung an der linken Hand; Heimatlazarett.
21
Nürnberg
Mai: Der Verdacht, sich selbst an der Hand verwundet zu haben, führt zur Verhaftung Borcherts. Er verbringt drei Monate in Einzelhaft. August: Gerichtsverhandlung; Antrag: Tod durch Erschießen wegen Wehrkraftzersetzung. 31. Juli: Freispruch Weitere Untersuchungshaft: Äußerungen gegen „Staat und Partei“; vier Monate Gefängnis. Die Strafe wird in verschärfte Haft mit anschließender Frontbewährung abgewandelt.
Saalfeld, Jena
Oktober/November: Garnisonsdienst
Toropez
Dezember: als Melder eingesetzt; Erfrierungen; Anfälle von Gelbsucht und Fleckfieber.
1943
Smolensk Radom, Minsk
Januar/Februar: Seuchenlazarett; „märchenhafte Tage“ mit dem russischen Mädchen Fina[3]; Abtransport in die Heimat.
22
Elend/Harz, Jena,
Lazarett.
Hamburg
September: Urlaub; Kabarettauftritte im „Bronzekeller“;
Kassel-Wilhelmshöhe
Durchgangskompanie; Borchert wird wegen politischer Witze (Goebbels-Parodie) denunziert.
1944
Berlin-Moabit
Januar: Verhaftung und Gefängnis; neun Monate Untersuchungshaft.
23
Jena
Zur „Feindbewährung“ entlassen; einige Monate in Jena.
1945
Frankfurt am Main,
Gefangennahme durch Franzosen; Flucht während des Transports;
24
Steinheim
kurze Erholung auf dem Gut Wöbbel nahe Steinheim. Borchert erlebt mehr „als Mitleid und Gastfreundlichkeit“[4].
Hamburg
10. Mai: Ankunft in Hamburg 27. September: Kabarett-Auftritt in „Janmaaten im Hafen“; Shakespeare-Abend mit Isot Kilian; Mitbegründer des Hinterhofheaters „Die Komödie“. 1. November: Regieassistent am Schauspielhaus (Lessing: Nathan der Weise); eine Krankheit fesselt Borchert ans Bett.
1946
Hamburg
Februar: Erzählung Die Hundeblume, veröffentlicht am 30. April und 6. Mai in der „Hamburger Freien Presse“. Frühjahr: Aufenthalt im Elisabeth-Krankenhaus. In diesem Jahr entstehen etwa 20 Erzählungen. Ostern: Rückkehr nach Hause Spätherbst: Draußen vor der Tür entsteht. Dezember: Gedichtsammlung Laterne, Nacht und Sterne
25
1947
Hamburg
13. Februar: Sendung als Hörspiel; zahlreiche Reaktionen. April: Prosaband Die Hundeblume; weitere Erzählungen entstehen. 4. Juli: Aufnahme in den Schutzverband Deutscher Autoren e. V.
26
Basel
22. September: Freunde ermöglichen (auf Initiative von Verlegern) einen Aufenthalt im Sanatorium Clara-Hospital. Antikriegsmanifest: Dann gibt es nur eins! 20. November: Tod im Clara-Spital 24. November: Trauerfeier auf dem „Hörnli-Gottesacker“
Hamburg
21. November: Uraufführung des Dramas Draußen vor der Tür in den Kammerspielen
1948
Veröffentlichung des Prosabandes: An diesem Dienstag;
Hamburg-Ohlsdorf
Beisetzung der Urne.
ZUSAMMENFASSUNG
Das Ende des Zweiten Weltkriegs war auch die Befreiung vom Faschismus/Nationalsozialismus[5]; das führte zur Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit. Eine besondere Situation ergab sich durch die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, in denen auch kulturpolitisch unterschiedliche Konzeptionen wirkten. Wolfgang Borchert hatte, wie seine ganze Generation, das bewusste Leben nur im Nationalsozialismus geführt – als die Nazis an die Macht kamen war er 12 Jahre alt – und kannte Alternativen nur aus der Literatur. 1945 waren die Theater geschlossen, das Publikum entwöhnt sowie die humanistische und fortschrittliche Dramatik teilweise unbekannt. Andererseits gab es drängende Probleme zu lösen, wie beispielsweise die Situation der Heimkehrer, die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld an den Verbrechen und das materielle Überleben.
Borcherts Draußen vor der Tür spiegelt wie kein anderes Stück der Zeit die aktuellen Verhältnisse nach Kriegsende, spezifisch in Hamburg und unter dem Aspekt der Heimkehrer, wider. Aus diesem Grund muss dem zeitgenössischen Hintergrund besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Am 3. Mai 1945 rückten britische Truppen in die Hamburger Innenstadt ein. Wolfgang Borchert floh auf dem Weg in französische Gefangenschaft und kehrte am 10. Mai 1945 in seine zerstörte, hungernde und zermürbte Heimatstadt zurück. Der militärische Zusammenbruch Deutschlands und die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 war auch die Befreiung vom Faschismus; das verlangte in einer chaotischen und materiell wie geistig zerrütteten Situation die Suche nach Neuem. Zusammengebrochene Industrieproduktion, zerstörte Hafenanlagen, Arbeitslosigkeit, verzweifelte Einwohner, Schwarzmarkt und deprimierte Kriegsheimkehrer bestimmten den Hamburger Alltag, der 1945/1946 zusätzlich unter einem kalten Nachkriegswinter litt.[6] Trotzdem war die Sehnsucht nach Kunst und Kultur groß; dies führte schnell zu einer lebendigen künstlerischen Szene.
In den vier Besatzungszonen, die durch die Alliierten beschlossen worden waren, wirkten auch kulturpolitisch unterschiedliche Konzeptionen. Hamburg spielte als größte und wichtigste Stadt in der britischen Besatzungszone eine hauptstädtische Rolle, wobei Kultur- und Verlagstraditionen, etwa Ernst Rowohlt, wirksam wurden. Nur langsam und keineswegs problemlos[7] begannen sich die ins Exil geflohenen Autoren durchzusetzen, ohne dass sie alle zurückkehrten. In die vorhandene Lücke traten junge Schriftsteller, die von der Weimarer Republik kaum etwas bewusst verfolgt, dafür aber die Verbrechen des Faschismus miterlebt hatten. Wolfgang Borchert hatte, wie seine ganze Generation, das bewusste Leben im Nationalsozialismus geführt – als die Nazis an die Macht kamen, war er 12 Jahre alt. Er hatte kaum andere Erfahrungen zur Verfügung, als der Krieg zu Ende war. Für ihn galt, wie für viele andere Künstler, Alternativen nur aus der Literatur zu kennen, auch aus der sogenannten und heftig umstrittenen „Inneren Emigration“, und sie dort auch suchten.
An der Gruppe 47, die schließlich zu einem Wortführer der neuen Literatur wurde, konnte Borchert nicht mehr teilnehmen, obwohl er eingeladen war. Sie führte ihre erste Tagung vom 5. bis 7. September 1947 am Bannwaldsee bei Füssen im Allgäu durch. Von den Voraussetzungen her entsprach Borchert der Gruppe und der jungen deutschen Schriftstellergeneration: Alfred Andersch hatte am 15. August 1946 in der Zeitschrift Der Ruf erklärt, diese Generation seien „Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren, getrennt von den Älteren durch ihre Nichtverantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gemeinschaftserlebnis, durch das ‚eingesetzte‘ Leben also“[8]. Borchert war ein Repräsentant dieser Jugend, die an einer Schuld beteiligt war, deren Voraussetzungen sie nicht geschaffen hatte. Insofern ist der Gegensatz zwischen dem Oberst und Beckmann in Borcherts Stück auch ein Generationskonflikt, in dem die junge Generation sich entlastet sehen konnte, hatte sie doch eine Aufgabe von der älteren übernommen, die sie selbst nicht gestellt hatte.
Zusammenbruch und Befreiung bedeuteten auch, Theater neu zu öffnen. Seit dem 1. September 1944 waren alle deutschen Theater zwangsweise geschlossen, die Bühnenangehörigen in die Kriegswirtschaft entlassen worden. Auch das Publikum war im Dritten Reich einseitig über Theaterentwicklungen informiert und inzwischen der Bühne entwöhnt worden.
Das Stück wird zur sogenannten „Heimkehrerliteratur“ gerechnet, die unmittelbar nach 1945 in den deutschen Besatzungszonen erschien. Auf den westlichen Bühnen wurde Borcherts Werk zudem „das Gegenstück zu Des Teufels General (…) Kriegsgeschichte[n] von unten, aus der Perspektive des Landsers, des Unteroffiziers Beckmann, gesehen.“[9]
Zur Heimkehrerliteratur zählen mehrere Dramen. Die Thematik reicht in den größeren Zusammenhang von Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, mit Krieg und Verbrechen an der Zivilbevölkerung der von Deutschland überfallenen Völker. Das Heimkehrerthema ist dabei ein dominierendes Thema, das des Krieges ein anderes. So stehen die Heimkehrerfiguren von Fred Denger (eigentlich Alfred Denger, 1920–1983) und Annemarie Bostroem (geboren 1922) vor den gleichen Fragen wie Borcherts Beckmann: Wie findet man sein Zuhause wieder? Wer gibt die entscheidenden Antworten?
In Fred Dengers Wir heißen euch hoffen. Schauspiel um die heutige Jugend, uraufgeführt am 3. April 1946 im Deutschen Theater Berlin, sammelt der 22 Jahre alte Heimkehrer Veit in einer Ruine seinesgleichen und entwurzelte Jugendliche um sich, um anarchisch gegen die bürgerliche Gesellschaft vorzugehen. Veit erkennt den Irrweg, gibt das kriminelle Leben auf und hofft auf eine bessere Zukunft.
Annemarie Bostroems Die Kette fällt, uraufgeführt am 16. Oktober 1948 in Chemnitz, hat den 24-jährigen Heimkehrer Jacob Hambach zur Hauptfigur. Er ist ehemaliger Feldwebel und 1947 Chef einer Terrorgruppe, die den schonungslosen Krieg gegen alle Antifaschisten führen will. Er zweifelt letztlich am Sinn seiner Unternehmungen und stellt sich der Polizei.