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Nach drei Jahren Kriegsgefangenschaft kehrt der Frontsoldat Beckmann heim und findet sich dort nicht mehr zurecht: Ignoranz, Kälte und Ablehnung schlagen ihm entgegen. Beckmann ist des Kämpfens müde … Borcherts Theaterstück "Draußen vor der Tür" ist ein Klassiker der »Trümmerliteratur«. Klassenlektüre und Textarbeit einfach gemacht: Die Reihe »Reclam XL – Text und Kontext« erfüllt alle Anforderungen an Schullektüre und Bedürfnisse des Deutschunterrichts: * Reclam XL bietet den sorgfältig edierten Werktext – seiten- und zeilengleich mit der entsprechenden Ausgabe aus Reclams Universal-Bibliothek. * Das Format ist größer (12,2 x 20 cm) als die gelben Klassiker der Universal-Bibliothek, mit ausreichend Platz für Notizen am Seitenrand. * Schwierige Wörter werden am Fuß jeder Seite erklärt, ausführlichere Wort- und Sacherläuterungen stehen im Anhang. * Ein Materialienteil mit Text- und Bilddokumenten erleichtert die Einordnung und Deutung des Werkes im Unterricht. * Natürlich passen auch weiterhin alle Lektüreschlüssel, Erläuterungsbände und Interpretationen dazu! E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Wolfgang Borchert
Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen willReclam XL | Text und Kontext
Reclam
2020, 2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Durchgesehene Ausgabe 2023
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2023
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961755-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-016158-6
www.reclam.de
Draußen vor der Tür
[Personen]
Ein Mann kommt nach Deutschland.
Vorspiel
Der Traum
I. Szene
II. Szene
III. Szene
IV. Szene
V. Szene
Anhang
1. Zur Textgestalt
2. Anmerkungen
3. Leben und Zeit
4. Entstehungsgeschichte
5. Historischer Kontext
6. Literarischer Kontext
7. Rezeption und Deutungsansätze
8. Literaturhinweise
Fußnoten
(Ein Mann kommt nach Deutschland)
(Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will)
[Hans Quest gewidmet]
BECKMANN
, einer von denen
seine
FRAU
, die ihn vergaß
deren
FREUND
, der sie liebt
ein
MÄDCHEN
, dessen Mann auf einem Bein nach Hause kam
ihr
MANN
, der tausend Nächte von ihr träumte
ein
OBERST
, der sehr lustig ist
seine
FRAU
, die es friert in ihrer warmen Stube
die
TOCHTER
, gerade beim Abendbrot
deren schneidiger
MANN
ein
KABARETTDIREKTOR
, der mutig sein möchte, aber dann doch lieber feige ist
Frau
KRAMER
, die weiter nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar
der alte
MANN
, an den keiner mehr glaubt
der
BEERDIGUNGSUNTERNEHMER
mit dem Schluckauf
ein
STRASSENFEGER
, der gar keiner ist
DER ANDERE
, den jeder kennt
[die
ELBE
]
[7]Ein Mann kommt nach Deutschland.
Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder als er wegging. Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um die Vögel (und manchmal abends auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich – auch. Er hat tausend Tage draußen in der Kälte gewartet. Und als Eintrittsgeld musste er noch mit seiner Kniescheibe bezahlen. Und nachdem er nun tausend Nächte draußen in der Kälte gewartet hat, kommt er endlich doch noch nach Hause.
Ein Mann kommt nach Deutschland.
Und da erlebt er einen ganz tollen Film. Er muss sich während der Vorstellung mehrmals in den Arm kneifen, denn er weiß nicht, ob er wacht oder träumt. Aber dann sieht er, dass es rechts und links neben ihm noch mehr Leute gibt, die alle dasselbe erleben. Und er denkt, dass es dann doch wohl die Wahrheit sein muss. Ja, und als er dann am Schluss mit leerem Magen und kalten Füßen wieder auf der Straße steht, merkt er, dass es eigentlich nur ein ganz alltäglicher Film war, ein ganz alltäglicher Film. Von einem Mann, der nach Deutschland kommt, einer von denen. Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße.
Das ist ihr Deutschland.
(Der Wind stöhnt. Die Elbe schwappt gegen die Pontons. Es ist Abend. Der Beerdigungsunternehmer. Gegen den Abendhimmel die Silhouette eines Menschen).
DER BEERDIGUNGSUNTERNEHMER (rülpst mehrere Male und sagt dabei jedes Mal):
Rums! Rums! Wie die – rums! Wie die Fliegen! Wie die Fliegen, sag ich.
Aha, da steht einer. Da auf dem Ponton. Sieht aus, als ob er Uniform anhat. Ja, einen alten Soldatenmantel hat er an. Mütze hat er nicht auf. Seine Haare sind kurz wie eine Bürste. Er steht ziemlich dicht am Wasser. Beinahe zu dicht am Wasser steht er da.
Das ist verdächtig. Die abends im Dunkeln am Wasser stehen, das sind entweder Liebespaare oder Dichter. Oder das ist einer von denen aus der großen grauen Zahl, die keine Lust mehr haben. Die den Laden hinwerfen und nicht mehr mitmachen. Scheint auch so einer zu sein, von denen, der da auf dem Ponton. Steht gefährlich dicht am Wasser. Steht ziemlich allein da. Ein Liebespaar kann es nicht sein, das sind immer zwei. Ein Dichter ist es auch nicht. Dichter haben längere Haare. Aber dieser hier auf dem Ponton hat eine Bürste auf dem Kopf. Merkwürdiger Fall, der da auf dem Ponton, ganz merkwürdig.
(Es gluckst einmal schwer und dunkel auf.)
(Die Silhouette ist verschwunden.)
Rums! Da! Weg ist er. Reingesprungen. Stand zu dicht am Wasser. Hat ihn wohl untergekriegt. Und jetzt ist er weg. Rums. Ein Mensch stirbt. Und? Nichts weiter. Der Wind weht weiter. Die Elbe quasselt weiter. Die [9]Straßenbahn klingelt weiter. Die Huren liegen weiter weiß und weich in den Fenstern. Herr Kramer dreht sich auf die andere Seite und schnarcht weiter. Und keine-keine Uhr bleibt stehen. Rums! Ein Mensch ist gestorben. Und? Nichts weiter. Nur ein paar kreisförmige Wellen beweisen, dass er mal da war. Aber auch die haben sich schnell wieder beruhigt. Und wenn die sich verlaufen haben, dann ist auch er vergessen, verlaufen, spurlos, als ob er nie gewesen wäre. Weiter nichts. Hallo? Da weint einer. Merkwürdig. Ein alter Mann steht da und weint. Guten Abend.
DER ALTE MANN (nicht jämmerlich, sondern erschüttert):
Kinder, Kinder! Meine Kinder!
BEERDIGUNGSUNTERNEHMER:
Warum weinst du denn, Alter?
DER ALTE MANN:
Weil ich es nicht ändern kann, oh, weil ich es nicht ändern kann.
BEERDIGUNGSUNTERNEHMER:
Rums! Tschuldigung! Das ist allerdings schlecht. Aber deswegen braucht man doch nicht gleich loszulegen wie eine verlassene Braut. Rums! Tschuldigung!
DER ALTE MANN:
Oh, meine Kinder! Es sind doch alles meine Kinder!
BEERDIGUNGSUNTERNEHMER:
Oho, wer bist du denn?
DER ALTE MANN:
Der Gott, an den keiner mehr glaubt.
BEERDIGUNGSUNTERNEHMER:
Und darum weinst du? Rums! Tschuldigung!
GOTT:
Weil ich es nicht ändern kann. Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht ändern.
[10]BEERDIGUNGSUNTERNEHMER:
Finster, finster, Alter. Sehr finster. Aber es glaubt eben keiner mehr an dich, das ist es.
GOTT:
Sehr finster. Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt. Sehr finster. Und ich kann es nicht ändern, meine Kinder, ich kann es nicht ändern. Finster, finster.
BEERDIGUNGSUNTERNEHMER:
Rums! Tschuldigung! Wie die Fliegen! Rums! Verflucht!
GOTT:
Warum rülpsen Sie denn fortwährend so ekelhaft? Das ist ja entsetzlich!
BEERDIGUNGSUNTERNEHMER:
Ja ja, gräulich! Ganz gräulich. Berufskrankheit. Ich bin Beerdigungsunternehmer.
GOTT:
Der Tod? Du hast es gut! Du bist der neue Gott. An dich glauben sie. Dich lieben sie. Dich fürchten sie. Du bist unumstößlich. Dich kann keiner leugnen. Keiner lästern. Ja, du hast es gut. Du bist der neue Gott. An dir kommt keiner vorbei. Du bist der neue Gott, Tod, aber du bist fett geworden. Dich hab ich doch ganz anders in Erinnerung. Viel magerer, dürrer, knochiger. Du bist aber rund und fett und gut gelaunt. Der alte Tod sah immer so verhungert aus.
TOD:
Na ja, ich habe in diesem Jahrhundert ein bisschen Fett angesetzt. Das Geschäft ging gut. Ein Krieg gibt dem anderen die Hand. Wie die Fliegen! Wie die Fliegen kleben die Toten an den Wänden dieses Jahrhunderts. Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der Fensterbank der Zeit.
GOTT:
Aber das Rülpsen? Warum dieses grässliche Rülpsen?
TOD:
Überfressen. Glatt überfressen. Das ist alles. Heutzu[11]tage kommt man aus dem Rülpsen gar nicht heraus. Rums! Tschuldigung!
GOTT:
Kinder, Kinder. Und ich kann es nicht ändern! Kinder, meine Kinder! (Geht ab.)
TOD:
Na, dann gute Nacht, Alter. Geh schlafen. Pass auf, dass du nicht auch noch ins Wasser fällst. Da ist vorhin erst einer reingestiegen. Pass gut auf, Alter. Es ist finster, ganz finster. Rums! Geh nach Haus, Alter. Du änderst es doch nicht. Wein nicht über den, der hier eben plumps gemacht hat. Der mit dem Soldatenmantel und der Bürstenfrisur. Du weinst dich zu Grunde! Die heute abends am Wasser stehen, das sind nicht mehr Liebespaare und Dichter. Der hier, der war nur einer von denen, die nicht mehr wollen oder nicht mehr mögen. Die einfach nicht mehr können, die steigen dann abends irgendwo still ins Wasser. Plumps. Vorbei. Lass ihn, heul nicht, Alter. Du heulst dich zu Grunde. Das war nur einer von denen, die nicht mehr können, einer von der großen grauen Zahl ...... einer ....... nur ......
(In der Elbe. Eintöniges Klatschen kleiner Wellen. Die Elbe. Beckmann.)
BECKMANN:
Wo bin ich? Mein Gott, wo bin ich denn hier?
ELBE:
Bei mir.
BECKMANN:
Bei dir? Und – wer – bist du?
ELBE:
Wer soll ich denn sein, du Küken, wenn du in St. Pauli von den Landungsbrücken ins Wasser springst?
[12]BECKMANN:
Die Elbe?
ELBE:
Ja, die. Die Elbe.
BECKMANN (staunt):
Du bist die Elbe!
ELBE:
Ah, reißt du deine Kinderaugen auf, wie? Du hast wohl gedacht, ich wäre ein romantisches junges Mädchen mit blassgrünem Teint? Typ Ophelia mit Wasserrosen im aufgelösten Haar? Du hast am Ende gedacht, du könntest in meinen süßduftenden Lilienarmen die Ewigkeit verbringen. Nee, mein Sohn, das war ein Irrtum von dir. Ich bin weder romantisch noch süßduftend. Ein anständiger Fluss stinkt. Jawohl. Nach Öl und Fisch. Was willst du hier?
BECKMANN:
Pennen. Da oben halte ich das nicht mehr aus. Das mache ich nicht mehr mit. Pennen will ich. Tot sein. Mein ganzes Leben lang tot sein. Und pennen. Endlich in Ruhe pennen. Zehntausend Nächte pennen.
ELBE:
Du willst auskneifen, du Grünschnabel, was? Du glaubst, du kannst das nicht mehr aushalten? Hm? Da oben, wie? Du bildest dir ein, du hast schon genug mitgemacht, du kleiner Stift. Wie alt bist du denn, du verzagter Anfänger?
BECKMANN:
Fünfundzwanzig. Und jetzt will ich pennen.
ELBE:
Sieh mal, fünfundzwanzig. Und den Rest verpennen. Fünfundzwanzig und bei Nacht und Nebel ins Wasser steigen, weil man nicht mehr kann. Was kannst du denn nicht mehr, du Greis?
BECKMANN:
Alles, alles kann ich nicht mehr da oben. Ich kann nicht mehr hungern. Ich kann nicht mehr humpeln und vor meinem Bett stehen und wieder aus dem Haus raushumpeln, weil das Bett besetzt ist. Das Bein, [13]das Bett, das Brot – ich kann das nicht mehr, verstehst du!
ELBE:
Nein. Du Rotznase von einem Selbstmörder. Nein, hörst du! Glaubst du etwa, weil deine Frau nicht mehr mit dir spielen will, weil du hinken musst und weil dein Bauch knurrt, deswegen kannst du hier bei mir untern Rock kriechen? Einfach so ins Wasser jumpen? Du, wenn alle, die Hunger haben, sich ersaufen wollten, dann würde die gute alte Erde kahl wie die Glatze eines Möbelpackers werden, kahl und blank. Nee, gibt es nicht, mein Junge. Bei mir kommst du mit solchen Ausflüchten nicht durch. Bei mir wirst du abgemeldet. Die Hosen sollte man dir stramm ziehen, Kleiner, jawohl! Auch wenn du sechs Jahre Soldat warst. Alle waren das. Und die hinken alle irgendwo. Such dir ein anderes Bett, wenn deins besetzt ist. Ich will dein armseliges bisschen Leben nicht. Du bist mir zu wenig, mein Junge. Lass dir das von einer alten Frau sagen:
Lebe erstmal. Lass dich treten. Tritt wieder! Wenn du den Kanal voll hast, hier, bis oben, wenn du lahm getrampelt bist und wenn dein Herz auf allen vieren angekrochen kommt, dann können wir mal wieder über die Sache reden. Aber jetzt machst du keinen Unsinn, klar? Jetzt verschwindest du hier, mein Goldjunge. Deine kleine Handvoll Leben ist mir verdammt zu wenig. Behalte sie. Ich will sie nicht, du gerade eben Angefangener. Halt den Mund, mein kleiner Menschensohn. Ich will dir was sagen, ganz leise, ins Ohr, du, komm her: ich scheiß auf deinen Selbstmord! Du Säugling! Pass gut auf, was ich mit dir mache.
(Laut.) Hallo, Jungens! Werft diesen Kleinen hier bei [14]Blankenese wieder auf den Sand! Er will es noch mal versuchen, hat er mir eben versprochen. Aber sachte, er sagt, er hat ein schlimmes Bein, der Lausebengel, der grüne!
(Abend, Blankenese. Man hört den Wind und das Wasser. Beckmann. Der Andere.)
BECKMANN:
Wer ist da? Mitten in der Nacht. Hier am Wasser. Hallo! Wer ist denn da?
DER ANDERE:
Ich.
BECKMANN:
Danke. Und wer ist das: ich?
DER ANDERE:
Ich bin der Andere.
BECKMANN:
Der Andere? Welcher Andere?
DER ANDERE:
Der von gestern. Der von Früher. Der Andere von Immer. Der Jasager. Der Antworter.
BECKMANN:
Der von Früher, von Immer? Du bist der Andere von der Schulbank, von der Eisbahn? Der vom Treppenhaus?
DER ANDERE:
Der aus dem Schneesturm bei Smolensk. Und der aus dem Bunker bei Gorodok.
BECKMANN:
Und der – der von Stalingrad, der Andere, bist du der auch?
DER ANDERE:
Der auch. Und auch der von heute Abend. Ich bin auch der Andere von morgen.
BECKMANN:
Morgen. Morgen gibt es nicht. Morgen ist ohne dich. Hau ab. Du hast kein Gesicht.
DER ANDERE:
Du wirst mich nicht los. Ich bin der Andere, [15]der immer da ist: Morgen. An den Nachmittagen. Im Bett. Nachts.
BECKMANN:
Hau ab. Ich hab kein Bett. Ich lieg hier im Dreck.
DER ANDERE:
Ich bin auch der vom Dreck. Ich bin immer. Du wirst mich nicht los.
BECKMANN:
Du hast kein Gesicht. Geh weg.
DER ANDERE:
Du wirst mich nicht los. Ich habe tausend Gesichter. Ich bin die Stimme, die jeder kennt. Ich bin der Andere, der immer da ist. Der andere Mensch, der Antworter. Der lacht, wenn du weinst. Der antreibt, wenn du müde wirst, der Antreiber, der Heimliche, Unbequeme, bin ich. Ich bin der Optimist, der an den Bösen das Gute sieht und die Lampen in der finstersten Finsternis. Ich bin der, der glaubt, der lacht, der liebt! Ich bin der, der weitermarschiert, auch wenn gehumpelt wird. Und der Ja sagt, wenn du Nein sagst, der Jasager bin ich. Und der –
BECKMANN:
Sag ja so viel wie du willst. Geh weg. Ich will dich nicht. Ich sage nein. Nein, nein. Geh weg. Ich sage nein, hörst du?
DER ANDERE:
Ich höre. Deswegen bleibe ich ja hier. Wer bist du denn, du Neinsager?
BECKMANN:
Ich heiße Beckmann.
DER ANDERE:
Vornamen hast du wohl nicht, Neinsager?
BECKMANN:
Nein. Seit gestern. Seit gestern heiße ich nur noch Beckmann. Einfach Beckmann. So wie der Tisch Tisch heißt.
DER ANDERE:
Wer sagt Tisch zu dir?
BECKMANN:
Meine Frau. Nein, die, die meine Frau war. Ich war nämlich drei Jahre lang weg. In Russland. Und [16]gestern kam ich wieder nach Hause. Das war das Unglück. Drei Jahre sind viel, weißt du. Beckmann – sagte meine Frau zu mir. Einfach Beckmann. Und dabei war man drei Jahre weg. Beckmann sagte sie, wie man zu einem Tisch Tisch sagt. Möbelstück Beckmann. Stell es weg, das Möbelstück Beckmann. Siehst du, deswegen habe ich keinen Vornamen mehr, verstehst du.
DER ANDERE:
Und warum liegst du hier nun im Sand? Mitten in der Nacht? Hier am Wasser?
BECKMANN:
Weil ich nicht hochkomme. Ich hab mir nämlich ein steifes Bein mitgebracht. So als Andenken. Solche Andenken sind gut, weißt du, sonst vergisst man den Krieg so schnell. Und das wollte ich doch nicht. Dazu war das alles doch zu schön, Kinder, war das schön, was?
DER ANDERE:
Und deswegen liegst du hier abends am Wasser?
BECKMANN:
Ich bin gefallen.
DER ANDERE:
Ach. Gefallen. Ins Wasser?
BECKMANN:
Nein, nein! Nein, du! Hörst du, ich wollte mich reinfallen lassen. Mit Absicht. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Dieses Gehumpel und Gehinke. Und dann die Sache mit der Frau, die meine Frau war. Sagt einfach nur Beckmann zu mir, so wie man zu Tisch Tisch sagt. Und der andere, der bei ihr war, der hat gegrinst. Und dann dieses Trümmerfeld. Dieser Schuttacker hier zu Hause. Hier in Hamburg. Und irgendwo da unter liegt mein Junge. Ein bisschen Mutt und Mörtel und Matsch. Menschenmutt, Knochenmörtel. Er war gerade ein Jahr alt und ich hatte ihn noch nicht gesehen. Aber jetzt sehe ich ihn jede Nacht. Unter den zehntausend [17]Steinen. Schutt, weiter nichts als ein bisschen Schutt. Das konnte ich nicht aushalten, dachte ich. Und da wollte ich mich fallen lassen. Wäre ganz leicht, dachte ich! Vom Ponton runter. Plumps. Aus. Vorbei.
DER ANDERE:
Plumps? Aus? Vorbei? Du hast geträumt. Du liegst doch hier auf dem Sand.
BECKMANN:
Geträumt? Ja. Vor Hunger geträumt. Ich habe geträumt, sie hätte mich wieder ausgespuckt, die Elbe, diese alte … . Sie wollte mich nicht. Ich sollte es noch mal versuchen, meinte sie. Ich hätte kein Recht dazu, ich sei zu grün, sagte sie. Sie sagte, sie scheißt auf mein bisschen Leben. Das hat sie mir ins Ohr gesagt, dass sie scheißt auf meinen Selbstmord. Scheißt hat sie gesagt, diese verdammte – und gekeift hat sie wie eine Alte vom Fischmarkt. Das Leben ist schön, hat sie gemeint, und ich liege hier mit nassen Klamotten am Strand von Blankenese und mir ist kalt. Immer ist mir kalt. In Russland war mir lange genug kalt. Ich habe es satt, das ewige Frieren. Und diese Elbe, diese verdammte alte – ja, das hab ich vor Hunger geträumt.
Was ist da?
DER ANDERE:
Kommt einer. Ein Mädchen oder sowas. Da. Da hast du sie schon.
MÄDCHEN:
Ist da jemand? Da hat doch eben jemand gesprochen. Hallo, ist da jemand?
BECKMANN:
Ja, hier liegt einer. Hier. Hier unten am Wasser.
MÄDCHEN:
Was machen Sie da? Warum stehen Sie denn nicht auf?
BECKMANN:
Ich liege hier, das sehen Sie doch. Halb an Land und halb im Wasser.
[18]MÄDCHEN: