Draußenlernen (E-Book) - Jakob von Au - E-Book

Draußenlernen (E-Book) E-Book

Jakob von Au

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Was bedeutet hochwertige Bildung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen? Wie können Kreativität, Forschungsdrang, Sozialkompetenz und Verantwortung gefördert und das Wissen für eine nachhaltige Entwicklung vermittelt werden? Die Beiträge in diesem Sammelband zum Thema Draußenlernen beleuchten solche Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven. Erfahrungen und Forschungsergebnisse von über 50 Autor*innen aus verschiedenen Ländern und Disziplinen unterstreichen die Vielfältigkeit und das Potenzial von Lernen außerhalb des Klassenzimmers. Ergebnis ist ein theoretisch wie empirisch fundiertes Grundlagenwerk, das wichtige Impulse liefert für eine Bildung für Nachhaltige Entwicklung, die tradierte Bildungsräume erweitert – in allen Bildungsinstitutionen und Fachbereichen.

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Jakob von Au, Rolf Jucker (Hrsg.)

Draußenlernen

Neue Forschungsergebnisse und Praxiseinblicke für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung

ISBN Print: 978-3-0355-2113-9

ISBN E-Book: 978-3-0355-2114-6

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Vorwort

«Die Schulstunde schlägt. Die Schulkinder kommen. Sie sitzen ruhig auf ihre Plätze. [dialektal] Der Lehrer kommt. Alle Kinder stehen auf und grüßen ihn. […] Die Kinder setzen sich. [...] Der Lehrer lehrt und befiehlt. Die Kinder merken auf, gehorchen und lernen. Die paar Schulstunden gehen nützlich und schnell vorüber. Die Schule ist aus, und die Kinder gehen ruhig heim. Man sieht, dass der Unterricht gute Früchte getragen hat.» (Raible, 1874, S. 16)

Diese Textpassage stammt aus einem über 150 Jahre alten Lesebuch für Volksschulen in Württemberg. Die Beschreibung ist nicht rein deskriptiv zu verstehen. Sie kann als eine Vision für guten Unterricht interpretiert werden. Tatsächlich läuft Unterricht noch heute häufig nach einem ähnlichen Schema ab und gewiss können solche Unterrichtsformen in Abhängigkeit von Kontext und Zielsetzung ab und zu «gute Früchte» tragen. Findet Unterricht aber ausschließlich in dieser Form statt, sind die Chancen hoch, dass nur schlechte Früchte geerntet werden.

Die 53 Autor*innen des vorliegenden Buchs haben für das 21. Jahrhundert eine andere Vision von gutem Unterricht. Sie wollen gängige Unterrichtspraktiken an Schulen und Hochschulen transformieren und Draußenlernen als regelmäßige Bereicherung der konventionellen Lernformen etablieren. Auf diese Weise können Lernziele erreicht werden, die im Klassenzimmer nicht oder nur schlecht umgesetzt werden können, unter anderem für Kinder mit Lernschwierigkeiten oder im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Wie auf dem Cover des vorliegenden Buchs dargestellt, kann dies beispielsweise bedeuten, dass im Unterricht «erleben», «erforschen», «kreativ interagieren» oder «kritisch reflektieren» gezielt gefördert wird, um «Früchte» wie eine hohe Lernmotivation oder Eingebundenheit zu erhalten.

Die Autor*innen haben unterschiedliche persönliche Hintergründe. Sie forschen und arbeiten in verschiedenen Fachbereichen und Ländern. Und natürlich haben sie im Detail auch unterschiedliche Vorstellungen von Draußenlernen und von gutem Unterricht. Zum Glück, denn dadurch werden die Themen Draußenlernen und BNE aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Das Potenzial des Draußenlernens erstrahlt dadurch in vollem Licht, und auch die Herausforderungen und Grenzen von Praxis und Forschung bleiben nicht im Dunkeln verborgen. Durch das Nebeneinander von verschiedenartigen Beiträgen entstehen Brücken zwischen diversen Fachbereichen und es werden Türen geöffnet für transdisziplinäre Herangehensweisen.

An dieser Stelle wollen wir allen herzlich danken, die sich auf dieses ungewöhnliche Gemeinschaftsprojekt eingelassen haben. Ungewöhnlich insofern, als dass wir einen sehr allgemein gehaltenen Aufruf mit der Bitte um Beiträge für dieses Buch über alle Fächer- und Ländergrenzen hinweg gestartet haben. Sowohl Autor*innen, die sonst nur für erlesene Fachzeitschriften schreiben, als auch Autor*innen, die eigene Ergebnisse bisher selten veröffentlicht haben, haben sich auf dieses Abenteuer eingelassen und wertvolle Beiträge beigesteuert. Ohne die Mühe und Geduld dieser engagierten Menschen wäre das vorliegende Buch nicht derart bunt und reichhaltig geworden.

Unser besonderer Dank gilt SILVIVA und dem hep Verlag. SILVIVA, die Stiftung für Lernen in und mit der Natur in der Schweiz, hat dieses länder-übergreifende Projekt durch großzügige Unterstützung erst ermöglicht. Der hep Verlag trug durch viel Offenheit gegenüber unterschiedlichen Beitragsformaten und Wünschen entscheidend zum Gelingen des Buchs bei. Ganz besonders wollen wir uns bei Frau Larissa Baumann für ihre wertvollen Ratschläge, für ihre professionelle Vorgehensweise und für ihre großartige Geduld bedanken.

Wir hoffen, dass Ihnen dieses Buch neue Ideen, Mut und Argumente liefern kann, unabhängig davon, ob Sie Dozierende*r, Studierende*r, Lehrperson oder bildungspolitische*r Entscheidungsträger*in sind. Eine angenehme Lektüre wünschen Ihnen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I: Einführung und Überblick

1 Draußenlernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung – vielfältig und wirkungsvoll

Jakob von Au und Rolf Jucker

Teil II: Interdisziplinäre Überblicksstudien

2 Fördern Naturerfahrungen das Lernen? Konvergierende Evidenz für einen Kausalzusammenhang

Ming Kuo, Michael Barnes und Catherine Jordan

3 Auswirkungen von Draußenlernen auf Wohlbefinden sowie psychische und soziale Gesundheit von Schüler*innen

Erik Mygind und Mads Bølling

4 Naturverbundenheit in der Kindheit und konstruktive Hoffnung: Jungen Menschen helfen, eine Verbindung zur Natur aufzunehmen und ökologische Verluste zu bewältigen

Louise Chawla

5 Lernen, wachsen, heilen in und mit Natur – interdisziplinäre empirische Befunde zum Wert von Naturerfahrung für Gesundheit, Wohlbefinden und kognitive Funktionen

Jule Hildmann, Petra Arndt und Aoibhín Ryan

Teil III: Disziplinspezifische Einzelstudien und Projekte

6 Empirische Evidenz für Auswirkungen von «Klassenzimmern im Grünen»

Franz X. Bogner

7 Natur als Lebensbereicherung

Ulrich Gebhard, Yasmin Goudarzi und Torsten Hoke

8 Draußenschule in Deutschland: Theoretische Überlegungen und empirische Befunde

Christian Armbrüster und Matthias D. Witte

9 Gesundheitswandern und Draußenlernen

Björn Eichmann und Tobias Erhardt

10 Jugendliche und Naturbildung

Ulrike Schuth

11 Naturerfahrung untersuchen: Herausforderungen und fallanalytische Ansätze

Svantje Schumann

12 «Wildnis» als außerschulischer Lern-, Bildungs- und Erlebnisort im Kindesalter im Kontext heterogenitätssensibler inklusiver Bildung

Michael Gebauer

13 Wildnisbildung in der universitären Lehrkräftebildung – eine Interventionsstudie zur Professionalisierung von Lehramtsstudierenden

Daniela Hottenroth und Anne-Kathrin Lindau

14 «Inklusion Klasse erlebt» als mehrdimensionales Lern- und Entwicklungsprojekt – ein Plädoyer für eine umfassende Konzeption der Erlebnispädagogik

Barbara Bous, Martin Scholz und Janne Fengler

15 «Im Wald muss man einfach viel mehr vertrauen» – Erfahrungen von Lehrpersonen mit Draußenunterricht

Enikö Zala-Mezö und Daniela Müller-Kuhn

16 Die Perspektive der Lehrkraft auf landwirtschaftliche Betriebe als außerschulische Lernorte

Lara Paschold

17 Eine Frage der Perspektive: Die Unterrichtssituation im Draußenunterricht

Jan Ellinger, Jakob von Au, Leslie Bernhardt, Monika Singer, Simon Tangerding und Christoph Mall

18 BNE als Herausforderung für alle – Klimaschutz und Erhalt der Biodiversität im Ökogarten

Lissy Jäkel und Ulrike Kiehne

19 Klimawandelbildung in Gelände, Labor und Modell – drei kombinierte Räume für ein besseres Verständnis des «großen Ganzen»

Simone Fischer, Christina Fiene und Alexander Siegmund

20 Lehrkraft Natur – Nachhaltigkeitskompetenzen von Kindern, die verstärkt im Freien lernen

Christiana Glettler

21 Wie nachhaltig wirken waldpädagogische BNE-Angebote?

Robert Vogl und Marina Lang

22 Lern- und Schulwälder in Baden-Württemberg

Tine Kiefl, Daniel Dann, Berthold Reichle, Philipp Gottwald und Markus Müller

23 Unterricht im Lernraum Natur

Robert Nehfort

24 Freies Spiel in der Natur – Hürden und Hoffnungen

Iris Trinkler

25 Lebenskompetenzen im 21. Jahrhundert – was Draußenlernen dazu beitragen kann

Sarah Wauquiez

Teil I: Einführung und Überblick

1 Draußenlernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung – vielfältig und wirkungsvoll

Jakob von Au und Rolf Jucker

Dr. Jakob von Au arbeitet an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und am Englischen Institut Heidelberg. Er promovierte im Bereich Outdoor Education und bringt Vorlesungen und Seminare, unter anderem im Bereich Outdoor Teaching und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), aus. 2013 entwickelte er das Heidelberger Outdoor-Education-Konzept für Schulen und gab 2016 gemeinsam mit Uta Gade den ersten deutschsprachigen Sammelband zum Thema Draußenlernen mit dem Titel «Raus aus dem Klassenzimmer» – Outdoor Education als Unterrichtskonzept heraus. Jakob von Au ist Korrespondenzautor dieses Sammelbands ([email protected]).

Dr. Rolf Jucker ist Geschäftsleiter der Schweizer Stiftung für Lernen in und mit der Natur SILVIVA und ausgewiesener Experte für Bildung für nachhaltige Entwicklung (MSc in Education for Sustainability). Von 2008 bis 2012 arbeitete er als Geschäftsleiter der Stiftung Umweltbildung Schweiz. Er ist unter anderem Autor der Bücher Do we know what we are doing? (2014) und Can we cope with the complexity of reality? Why craving easy answers is at the root of our problems (2020).

1. Trägt Draußenlernen wirklich zu qualitativ hochwertiger Bildung bei? Entstehung und Zielsetzung des Buchs

 

Seit vielen Jahren arbeiten wir – die beiden Herausgeber dieses Buchs – in diversen Projekten im Bereich von Draußenlernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zusammen. In Deutschland und der Schweiz engagieren wir uns gemeinsam mit Kolleg*innen aus ganz Europa für die Steigerung der Qualität und der Quantität dieses Praxis- und Forschungsfelds.

Umso mehr freuen wir uns, dass das Thema Draußenlernen in vielen Ländern zunehmend Aufmerksamkeit erfährt. Unabhängig von der COVID- 19-Pandemie, in der Draußenlernen auch aus epidemiologischen Gründen vielfältig neu wertgeschätzt wurde, gewinnt Draußenlernen als Bereicherung von konventionellen Lernräumen immer mehr an Gewicht. Vielerorts werden Draußenschulen gegründet, es bilden sich Netzwerke von engagierten Akteur*innen (z. B. www.draussenunterrichten.ch oder www.draussenunterricht.de) und an Hochschulen werden Kurse und ganze Studiengänge zum Thema Draußenlernen eingeführt (siehe z. B. Beitrag 23, S. 519). Seit der letzten vergleichbaren Publikation (von Au & Gade, 2016) sind Praxis und Forschung des Draußenlernens zweifellos auch im deutschsprachigen Raum einen großen Schritt vorangekommen.

Noch prominenter als Draußenlernen ist BNE inzwischen in den Lehrplänen, Ausbildungs- und Fortbildungskonzepten vieler Länder verankert. In Baden-Württemberg steht BNE beispielsweise im Bildungsplan für allgemeinbildende Schulen als erste von sechs Leitperspektiven an oberster Stelle und ist damit ein zentrales Leitprinzip für alle Fächer (siehe z. B. Beitrag 22, S. 495).

Zwischen BNE und Draußenlernen besteht ein enger Zusammenhang. Häufig wird BNE als eine Art Katalysator und Kompass für Draußenlernen gesehen, und Draußenlernen wiederum als ein wichtiges Instrument («key enabler») für BNE. Die UNESCO führt unter anderem zwei Schlüsselmethoden («key methods») für BNE auf:

–«collaborative real-world projects» und

–«analyses of complex systems through community-based research projects» (UNESCO, 2017, S. 55).

Diese beiden Lernformen sind unserem Verständnis nach Teil des Draußenlerns, wenngleich sie nicht als Methoden bezeichnet werden (siehe Kapitel 3). Der enge Zusammenhang zwischen BNE und Draußenlernen wird in mehreren Beiträgen des vorliegenden Buchs theoretisch und empirisch aufgezeigt (siehe z. B. Beiträge 18–21).

Aber nicht nur forschende Expert*innen plädieren dafür, dass institutionalisiertes Lernen häufiger aus «begrenzenden», konventionellen Lernräumen hinausverlagert wird. Auch immer mehr Praktiker*innen spüren, dass uniforme Lernformen in Klassenzimmern oder Hörsälen mit einseitiger Fokussierung auf visuelle und verbale Vermittlungsweisen nicht mehr ausreichen, um Lernende zufriedenstellend auf die komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. In einigen Ländern scheinen sich aus diesem Grund momentan Bottom-Up-Bewegungen des Draußenlernens zu formieren, die mittelfristig hoffentlich von Top-Down-Maßnahmen unterstützt werden. Ein solcher Prozess hat sich beispielsweise in Dänemark bereits vollzogen (siehe Beitrag 3, S. 59).

Menschen, die die methodischen Freiheiten innerhalb von Bildungsplänen oder sonstigen Vorgaben nutzen und Lehr-Lern-Prozesse eigenständig nach draußen verlagern, sind laut Transformationsforschung wichtige «first mover», die dann Menschen mit höherer Handlungsschwelle positiv beeinflussen. Diese Menschen sind häufig intuitiv oder aufgrund ihrer positiven Erfahrungen davon überzeugt, dass Lernorte wie Wald, Wiese oder auch Werkstätten außerhalb von Klassenzimmern nachhaltig wirksam sind und zu hochwertiger Bildung beitragen. Aber stimmt das wirklich?

Wir haben uns mit diesem Buch zum Ziel gesetzt, eine empirisch fundierte Grundlage für Antworten auf diese Frage zusammenzustellen. Wir wollen ein Argumentationsgerüst bauen, das über subjektive Erfahrungswerte und Intuitionen hinausreicht. Dieses Gerüst wird stabilisiert durch die zahlreichen Verankerungspunkte in unterschiedlichen Fachdisziplinen. Es soll sowohl denjenigen Halt bieten, die Draußenlernen bereits praktizieren, als auch jenen, die noch stabile Entscheidungshilfen benötigen.

Um dieses Ziel zu erreichen, entschieden wir uns für ein unkonventionelles Vorgehen. Wir fragten nicht nur uns bekannte Forscher*innen an, ob aktuelle Untersuchungsergebnisse vorliegen, sondern starteten über diverse Netzwerke auch einen länderübergreifenden Aufruf über alle Fachgrenzen hinweg mit der Bitte um Beiträge mit aktuellen empirischen Daten in möglichst verständlicher Sprache.

Der Rücklauf war überwältigend gut. Über 50 Beiträge wurden uns zur Verfügung gestellt, die wir fast alle in den vorliegenden und in einen zweiten, englischsprachigen Band (Jucker & von Au, 2022) aufnehmen konnten. Wir fühlten uns in unserer These bestätigt, dass jede Menge empirische Daten vorhanden sind und dass Draußenlernen sogar noch vielseitiger untersucht und praktiziert wird, als wir gedacht hätten. Wer heute noch sagt, Draußenlernen und BNE seien Randthemen und es fehle die empirische Fundierung, dem werden spätestens nach der Lektüre des Buchs die Argumente ausgehen.

Zugleich stellte uns die Diversität der eingereichten Beiträge vor Herausforderungen: Gibt es überhaupt eine gemeinsame Basis, wenn beispielsweise Biolog*innen und Erlebnispädagog*innen über Draußenlernen schreiben? Wie finden wir eine gemeinsame Sprache und wie können wir den unterschiedlichen Herangehensweisen gerecht werden?

Wir entschieden uns, die Beiträge nicht zu standardisieren und nur möglichst wenig zu verändern. Die bereichernde Vielseitigkeit der Beiträge sollte erhalten bleiben, wenngleich die Interpretationen und Vorgehensweisen manchmal etwas von unseren eigenen Vorstellungen abwichen. Stattdessen entschieden wir uns, in diesem Teil I des Buchs in das Thema einzuführen, eine gemeinsame Basis zu etablieren, einige Ergebnisse der Beiträge systematisch aufeinander zu beziehen und das Gesamtergebnis auf einer übergeordneten Ebene auszuwerten.

Wir garantieren: Nach der Lektüre des vorliegenden Buches werden Sie eine vielseitige und gehaltvolle Antwort auf die Frage «Trägt Draußenlernen wirklich zu qualitativ hochwertiger Bildung bei?» geben können.

2. Draußenlernen – Internationale Traditionen und Begriffsbestimmungen

 

«Outdoor Education», «Draußenunterricht», «Lernen im Freien» – es existieren zahlreiche Begriffe und Traditionen für das Themenfeld, das wir in diesem Buch als Draußenlernen bezeichnen. Diese Begriffsvielfalt ist reizvoll und spiegelt die Vielseitigkeit des Themas wider. Wir sind jedoch der Meinung, dass auch im deutschsprachigen Raum eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Grundvorstellung gefunden werden muss, um auf verschiedenen Ebenen verstanden und gehört zu werden. Eine Orientierung kann hierfür der Blick in andere Länder bieten.

In Skandinavien hat Draußenlernen eine lange Tradition. Unter den Begriffen «uteskole» (Norwegen), «utomhuspedagogik» (Schweden) und «udeskole» (Dänemark) ist Draußenlernen seit Langem ein wichtiger Teil von schulischem Lernen. Beeinflusst wurde das Draußenlernen in diesen Ländern schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der norwegischen Tradition des Friluftsliv, dem «Leben in freier Natur».

Besonders in Dänemark erfuhr Draußenlernen in den letzten Jahren einen erneuten Aufschwung. An ungefähr jeder fünften allgemeinbildenden Schule und ungefähr jeder dritten Förderschule wird inzwischen mit mindestens einer Klasse regelmäßig Udeskole praktiziert (Barfod et al., 2021). Udeskole wird dabei definiert als

–lehrplanbasierte Lehr- und Lernaktivitäten außerhalb des Klassenzimmers, aber innerhalb der Schulzeit;

–setting-sensitives, problembasiertes, erlebnisorientiertes Lernen;

–schüler*innenzentriertes, lehrpersonengeleitetes Lernen;

–Einbezug von physischer Aktivität nicht als Ziel, sondern als Mittel zu pädagogischen und didaktischen Zwecken (übersetzt nach Bentsen et al., 2021, S. 3).

Diese Unterrichtsform wurde in Dänemark landesweit im TEACHOUT-Projekt, einem in Umfang und Intensität europaweit einzigartigen Forschungsprojekt, untersucht (siehe Beitrag 3, S. 59).

Die Skandinavische Traditionslinie des Draußenlernens wird häufig der amerikanisch-britischen Traditionslinie gegenübergestellt. Das ist eine Übersimplifizierung, denn erstens gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen diesen Traditionslinien und zweitens sind die Unterschiede beim Draußenlernen auch innerhalb von Ländern meistens so groß, dass länder- oder gar kontinentspezifische Typisierungen mit großer Vorsicht betrachtet werden müssen.

In Neuseeland beispielsweise wird Education Outside the Classroom (EOTC) in einigen Gebieten sehr ähnlich praktiziert wie Udeskole in Dänemark. EOTC steht in den Stundenplänen vieler neuseeländischer Schulen als eigenständiger, gleichwertiger Bereich neben Mathematik oder Englisch. Der Kontinuität des Draußenlernens wird hier offensichtlich eine ähnlich hohe Bedeutung zugesprochen wie in Dänemark.

EOTC ist in Neuseeland sowohl im Primarschul- als auch im Sekundarschulbereich ein fester Bestandteil und besitzt eine über 100-jährige Tradition (Ministry of Education, 2016, S. 1). EOTC wird als curriculumbasiertes Lernen und Lehren außerhalb des Klassenzimmers definiert, das unter freiem Himmel oder beispielsweise auch in Museen stattfinden kann (ebd.).

Das neuseeländische Bildungsministerium hat 2016 die «EOTC Guidelines» an alle Lehrpersonen des Landes herausgegeben (siehe Abb. 1). In diesen Guidelines wird unter anderem deutlich, dass BNE eine wichtige Rolle für EOTC spielt. EOTC fördert laut Guidelines zum Beispiel «innovation, inquiry, and curiosity by thinking critically, creatively, and reflectively» und «ecological sustainability and care for the environment» (Ministry of Education, 2016, S. 6).

Abbildung 1: Titelseiten der beschriebenen Bildungsplandokumente aus Neuseeland und Schottland (Ministry of Education, 2016; Learning and Teaching Scotland, 2010)

Auch in Schottland hat Draußenlernen an Schulen eine lange Tradition und wird vom schottischen Bildungsministerium nachdrücklich gefordert. Im Jahr 2010 wurde vom Bildungsministerium das Dokument «Curriculum for excellence through outdoor learning» für alle schottischen Lehrpersonen publiziert (siehe Abb. 1). In diesem Dokument ist beispielsweise nachzulesen, dass Draußenlernen im Schulunterricht wesentlich dazu beitragen kann, dass Lernende «smarter», «healthier», «stronger» und «fairer» werden (Learning and Teaching Scotland, 2010, S. 5). Mit anderen Worten: Affektive, motorische und auch kognitive Bereiche können durch Draußenlernen besonders gut angesprochen werden, und nebenbei trägt Draußenlernen noch zur Gesundheit von Lernenden und Lehrenden bei.

Die schottische Interpretation von Draußenlernen ist genau wie in Neuseeland eng mit BNE verbunden:

«Outdoor learning can deliver sustainable development education through initiatives such as working to improve biodiversity in the school grounds, visiting the local woods, exploring and engaging with the local community and developing a school travel plan.» (Learning and Teaching Scotland, 2010, S. 15)

In manchen deutschsprachigen Gebieten reicht die Tradition des Draußenlernens ebenfalls weit zurück und vielerorts wird heute Draußenlernen intensiver denn je praktiziert. In Heidelberg wurde beispielsweise das transdisziplinäre Heidelberger Outdoor-Education-Konzept für die Sekundarstufe 1 entwickelt, auf dessen Basis alle Fünftklässler*innen eines Heidelberger Gymnasiums das ganze Jahr über einen Tag pro Woche außerhalb des Klassenzimmers Unterricht haben (von Au, 2018). Die positiven Auswirkungen dieser Unterrichtsform wurden bereits vielfach publiziert (z. B. Dettweiler et al., 2017). In der Primarstufe wird zum Beispiel in Erlangen Draußenlernen sehr intensiv und curriculumbasiert nach dänischem Vorbild praktiziert (Weiß, 2016).

Ausgehend von den Interpretationen des Draußenlernens in diesen Ländern und mit Blick auf die Beiträge im vorliegenden Buch schlagen wir folgende Ausgangspunkte für das Verständnis von Draußenlernen vor:

–Draußenlernen findet in gewisser Kontinuität außerhalb von Klassenzimmern und Hörsälen statt.

–Beim Draußenlernen muss der Lernort zugleich Teil des Lerngegenstands sein.

–Draußenlernen weist direkte Bezüge zum Curriculum und zu BNE auf.

3. Draußenlernen und BNE – Ein theoretischer Bezugsrahmen

 

Die vorherigen Kapitel haben gezeigt, dass Draußenlernen aus programmatischer Perspektive eng mit BNE verbunden ist. Weshalb ist diese Verbindung sinnvoll? Und wie kann sie aus lerntheoretischer und didaktischer Perspektive gewinnbringend genutzt werden?

Draußenlernen ist eine Lernform, bei der ein zum Lerngegenstand passender Lernort aufgesucht wird, um die Lernergebnisse zu verbessern. Einen Ausgangspunkt für die lerntheoretische Begründung des Draußenlernens kann der interaktionistische Konstruktivismus nach Reich (2012) bieten. In diesem Ansatz wird bezweifelt, dass die Vermittlung von Kompetenzen auf rein abstrakter Ebene von Lehrenden hin zu passiven Lernenden gelingen kann. Stattdessen muss die Welt durch eigenaktives, weitgehend selbstgesteuertes Handeln rekonstruiert (entdeckt), konstruiert (erfunden) und dekonstruiert (kritisiert) werden (Reich, 2012, S. 71ff.).

Draußenlernen impliziert jedoch zunächst weder eine spezielle Methodik noch eine inhaltliche Zielsetzung. Grundsätzlich bieten sich für Draußenlernen viele Methoden und ein breites Spektrum an Zielbereichen an. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Methoden und Zielsetzungen zum Lernort passen.

Werden konventionelle Klassenzimmermethoden unmodifiziert nach draußen übertragen, so entsteht nicht zwangsläufig ein Mehrwert (siehe Abb. 2). Wird beispielsweise ein Vokabeltest im Freien geschrieben und stehen Lernort und Lerngegenstand nicht miteinander in Verbindung, so kann sich der Lernort auch kontraproduktiv auf die Konzentration der Lernenden auswirken.

Auch die inhaltliche Zielsetzung muss zum Lernort passen, um das volle Potenzial des Draußenlernens auszuschöpfen. In allen Curricula finden sich in sämtlichen Fachbereichen viele fachspezifische Zielsetzungen, die sich mit etwas Kreativität außerhalb von Klassenzimmern und Hörsälen mit großem Mehrwert umsetzen lassen. Außerdem weisen alle Curricula übergeordnete, für alle Fachbereiche geltende Zielsetzungen auf, die Draußenlernen oft nicht nur ermöglichen, sondern sogar erfordern.

Hier kommt BNE ins Spiel: BNE ist ein von der UN im Rahmen der Agenda 2030 ausgegebener Zielkatalog für «hochwertige Bildung». In den deutschsprachigen Ländern wurde BNE in fast allen Curricula als fachübergreifende Zielsetzung eingeführt, das heißt, in allen Fächern muss BNE laut Vorgaben praktiziert werden. Das nationale Monitoring für BNE des Institut Futur hat in zahlreichen Studien gezeigt, dass die strukturelle Verankerung von BNE zumindest in der deutschen Bildungslandschaft bereits weit vorangeschritten ist (z. B. Holst et al., 2020). Allerdings sind die Fortschritte der Lernenden hinsichtlich Wissen und Handeln im Bereich BNE eher ernüchternd. Ein Grund dafür könnte sein, dass Lernorte wie Klassenzimmer und Hörsaal für die ambitionierten Zielsetzungen von BNE nicht ausreichen.

Abbildung 2: Draußenlernen funktioniert nur mit einem adäquaten Methodenrepertoire

Weshalb bietet sich Draußenlernen für die Erreichung der BNE-Zielsetzungen an? Wesentliche Teilziele von BNE – in Deutschland häufig als Gestaltungskompetenzen bezeichnet – sind unter anderem «Selbständig planen und handeln können», «Risiken, Gefahren und Unsicherheiten erkennen und abwägen können», «Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können» und «Vorausschauend denken und handeln» (de Haan, 2008, S. 24 ff.). In diesen Teilzielen wird bereits deutlich, dass das eigene Handeln und die Reflexion eigener Handlungskonsequenzen zentrale Inhalte von BNE sind. Aus didaktischer Sicht ist es jedoch wenig Erfolg versprechend, wenn diese Ziele ausschließlich auf abstrakter Ebene verfolgt werden. Denn für alle Lernenden stellt es eine Überforderung dar, wenn Handeln und Gestalten ausschließlich als Gedankenexperiment im Klassenzimmer erfolgen. Und wie könnten Handlungskonsequenzen rein gedanklich nachvollzogen werden? Wie kann eine Handlungsreflexion gelingen, ohne die Handlung wirklich durchgeführt zu haben? Und welchem Kind erscheint eine selbstständige Handlungsplanung als sinnvoll, wenn zuvor schon klar ist, dass die Handlung gar nicht durchgeführt wird? Leider sind die Möglichkeiten des Handelns und Gestaltens gemäß der Leitperspektive BNE im Klassenzimmer sprichwörtlich begrenzt.

Eine vielversprechende Lösungsmöglichkeit stellt Draußenlernen dar. Draußenlernen ermöglicht sowohl konkretes Handeln als auch das Erleben der Handlungskonsequenzen und schafft damit die Grundlage für erfolgreiches Reflektieren und Gestalten (siehe Abb. 3).

Abbildung 3: Das Lernmodell «Draußenlernen als BNE»

Abbildung 3 basiert auf den zuvor ausgeführten Interpretationsansätzen von Draußenlernen als BNE und stellt Lernen als einen zunehmend abstrakten und globalen Prozess im Wechselspiel zwischen Erleben, Reflektieren und Gestalten dar. Traditionelle didaktische Prinzipien wie «vom Nahen zum Fernen» und «vom Einfachen zum Komplexen» werden darin ebenso aufgenommen wie die Gestaltungskompetenzen der BNE. Das Modell geht von einem Kompetenzbegriff aus, der Problemlösungsvermögen und damit verbundene motivationale und soziale Bereitschaft akzentuiert. Eine Grundannahme ist, dass Problemlösungsvermögen in variablen Situationen besonders gut durch eine Umgebung mit hohem Aufforderungscharakter gefördert werden kann.

Aufbauend auf konkreten Lernerlebnissen im geografischen und gedanklichen Nahraum der Lernenden können Beobachtungen gemacht werden, die bei den Lernenden Fragen aufwerfen. Diese Fragen können – gegebenenfalls mit angemessener Unterstützung der Lehrpersonen – der Ausgangspunkt für eine Gruppenreflexion sein. Die Erlebnisse werden ausgetauscht, abstrahiert, eventuell auf einer globaleren Ebene diskutiert und können dann als Grundlage für eine Handlungsplanung dienen. Die Handlung wird durchgeführt, das heißt, es werden aktiv und weitgehend selbstständig Dinge verändert und gestaltet. Im besten Fall werden die Handlungskonsequenzen vor Ort erlebt und auf einer zunehmend abstrakten und globalen Ebene reflektiert.

Auf diese Weise werden komplexe systemische Zusammenhänge empfindbar, erfassbar und begreifbar. Durch eine kluge Auswahl von Lernort und Lerngegenstand und eine geschickte Moderation können im besten Fall sogar Verbindungen zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialem erfahrbar werden. Mit anderen Worten: Auf der Grundlage von Lernerlebnissen kann Schritt für Schritt echte Gestaltungskompetenz (de Haan, 2008, S. 23) erworben werden. Rainer Maria Rilke (1875–1926) hätte dies vielleicht als Leben und Lernen «in wachsenden Ringen» bezeichnet.

Das Lernmodell «Draußenlernen als BNE» ist keine Neuerfindung und kann deshalb einerseits als «alter Wein in neuen Schläuchen» bezeichnet werden. Es weist beispielsweise Bezüge zu John Deweys (1859–1952) pragmatischer, erfahrungsbasierter Lerntheorie auf. Dewey war der Meinung, dass Lernprozesse stets auf konkreten Erlebnissen und deren Reflexion aufbauen (Dewey, 1998). Auch Bezüge zu David Kolbs erfahrungsbasiertem Lernzyklus sind offensichtlich. Für Kolb besteht Lernen vereinfacht ausgedrückt aus einem Zyklus von Erleben, Reflektieren, Konzeptualisierung und Ausprobieren (Kolb, 1984).

Und nicht zuletzt hängt das Lernmodell «Draußenlernen als BNE» auch eng mit der transformatorischen Bildungstheorie zusammen. Laut dieser Theorie bedarf es neuartiger Problemlagen und starker Irritationen, um das Selbst- und Weltverständnis zu transformieren (Koller, 2011, S. 110). Vieles spricht dafür, dass derartige Irritationen besonders gut in Lernsituationen außerhalb von Klassenzimmern und Alltagsroutinen gelingen und dass Alltagsphantasien von Lernenden (Gebhard, 2020, S. 315) besonders gut im Freien aufgegriffen, reflektiert und gegebenenfalls transformiert werden können.

Andererseits könnte das Lernmodell «Draußenlernen als BNE» aber auch als «neuer Wein in neuen Schläuchen» bezeichnet werden. Denn es stellt im Kontext der BNE-Gestaltungskompetenzen erstmalig das Erleben ins Zentrum. Sowohl Erleben als auch Gestalten sollten laut diesem Lernmodell in die institutionalisierten, formalen Lehr-Lern-Situationen integriert werden. Das Modell impliziert, dass eine komplette Verlagerung von Erleben und Gestalten auf non-formale und informelle Lernsituationen wenig Erfolg versprechend ist. Und weil Erleben und Gestalten in Klassenzimmer- und Hörsaalroutine nur begrenzt möglich sind und das Verlassen der Komfortzone (Michl, 2015, S. 40) besonders wertvolle Lernergebnisse verspricht, muss das Lernen häufiger nach draußen verlagert werden.

Auf diese Weise kann eine Transformation im Kleinen gelingen, das heißt eine Veränderung der subjektiven Selbst-, Menschen- und Weltbilder. Diese Transformation im Kleinen ist die Voraussetzung für die von der UN propagierte «große Transformation», das heißt die Umgestaltung der Welt vor dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung und der Erreichung der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele inklusive BNE bis zum Jahr 2030 (UNESCO, 2017). Allerdings: Draußenlernen sollte nicht ausschließlich als Instrument für die BNE-Zielsetzungen gesehen werden. In den folgenden beiden Kapiteln wird deutlich, wie vielfältig die Zielsetzungen und Zugänge zum Draußenlernen auch unabhängig von BNE sein können.

4. Ein bunter Blumenstrauß und viele unterschiedliche Brillen – Beitragsübersicht

 

Ausgehend vom zuvor beschriebenen Grundverständnis haben wir uns auf die Suche begeben, ob und wo Draußenlernen und BNE praktiziert wird, und vor allem: ob sich einige der erhofften Lernergebnisse wissenschaftlich nachweisbar einstellen und was getan werden kann, um Draußenlernen besser zu etablieren.

Als Reaktion auf unseren Aufruf wurden uns Beiträge aus sieben Ländern zur Verfügung gestellt: Dänemark, Schottland, USA, Deutschland, Schweiz, Österreich und Frankreich. Die Autor*innen kommen aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen. Viele haben einen pädagogisch-didaktischen, andere aber auch einen naturwissenschaftlichen, gesundheitswissenschaftlichen oder agrar- und forstwissenschaftlichen Hintergrund. Dementsprechend vielfältig sind die «Brillen», durch die die Autor*innen das Draußenlernen betrachten – das heißt ihre Interpretationen und Forschungsinteressen.

Wir wollen im Folgenden einen Gesamtüberblick über diesen bunten Blumenstrauß an Beiträgen anbieten und ihn danach durch unsere eigenen Brillen betrachten und analysieren.

In Teil II des Buchs finden sich interdisziplinäre Überblicksstudien. Die Beiträge in diesem Teil fassen wissenschaftlich fundierte Wirkungen von Draußenlernen ohne expliziten fachlichen Schwerpunkt zusammen und können deshalb einen einführenden Überblick über das Forschungsfeld bieten.

Im ersten Beitrag zeigen Prof. Dr. Ming Kuo, Dr. Michael Barnes und Prof. Dr. Catherine Jordan anhand von vielen aktuellen Studienergebnissen auf, dass Draußenlernen unter anderem die Aufmerksamkeit, die Selbstdisziplin, die Freude am Lernen, die Fitness und das umweltfreundliche Verhalten von Lernenden positiv beeinflusst. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass unterschiedlichste Lerndimensionen kumulativ gefördert werden. Durch den Beitrag werden die großen Forschungsfortschritte der letzten Jahre im Bereich des Draußenlernens deutlich. Vielleicht könnte man ausgehend davon sogar von einer evidenzbasierten Wende des Draußenlernens in den letzten 20 Jahren sprechen (hier).

Prof. Dr. Erik Mygind und Dr. Mads Bølling aus Dänemark geben in ihrem Beitrag Einblicke in das dänische Udeskole-Konzept und in das TEACHOUTProjekt. Sie weisen darauf hin, dass Draußenlernen zur Steigerung des sozialen Wohlbefindens, der Gesundheit und der intrinsischen Schulmotivation führen kann. In den Daten der Forscher lässt sich sogar eine erhöhte Anzahl von Freundschaften ablesen. Allerdings werden auch Herausforderungen des Draußenlernens – insbesondere für Schüler*innen mit besonderen Bedürfnissen – herausgestellt und Veränderungen in der Lehrkräfteaus- und -fortbildung gefordert (hier).

Im Fokus von Prof. Dr. Louise Chawlas Beitrag steht der Zusammenhang zwischen Naturerlebnissen, Emotionen, Naturverbundenheit und Naturschutzhandeln. Aufbauend auf der These, dass das Aufwachsen von Kindern immer weniger Naturerkundungsmöglichkeiten zulässt, stellt sie die Relevanz von Naturkontakten unter anderem an Schulen heraus. Zum ersten Mal bringt sie die Forschung zu Naturkontakt und emotionaler Belastung durch Naturzerstörung zusammen und zeigt, dass nur ein angemessener Umgang mit diesen Ängsten nachhaltiges Handeln möglich macht. Mittels mehreren qualitativen und quantitativen Studienergebnissen zeigt die Autorin auf, dass sich Naturverbundenheit und Naturschutzhandeln gegenseitig verstärken können (hier).

Dr. Jule Hildmann, Dr. Petra Arndt und Aoibhín Ryan geben – geprägt unter anderem von einer schottischen Perspektive auf Draußenlernen – in ihrem Beitrag einen Überblick über Studienergebnisse in den Bereichen Gesundheit, Wohlbefinden und kognitive Funktionen. Anhand zahlreicher Studien zeigen sie auf, dass Lernen in der Natur sogar ohne zweckgebundene, pädagogische Lenkung zu positiven Ergebnissen führen kann. Vielleicht sollte man dieses Ergebnis als eine Warnung bezüglich der Gefahr einer überzogenen Didaktisierung von Naturerfahrungen verstehen. Besonders praxisrelevant könnte auch das im Beitrag beschriebene Ergebnis sein, dass für häufig geäußerte Bedenken gegenüber Draußenlernen (erhöhte Unfallgefahr, Allergien usw.) keine Studienergebnisse vorliegen (hier).

Teil III des Buchs beinhaltet disziplinspezifische Einzelstudien und Projekte. Diese Beiträge wurden überwiegend von Wissenschaftler*innen geschrieben, die ein fachorientiertes Forschungsinteresse verfolgen.

Zunächst gibt Prof. Dr. Franz X. Bogner in seinem Beitrag einen Überblick über forschungsmethodische Möglichkeiten und die Güte von Messinstrumenten im Bereich des Draußenlernens mit einem Schwerpunkt auf Einstellungs-, Verhaltens- und Wissensmessung. Der Autor führt anschließend Ergebnisse aus Studien auf, die auf den zuvor als geeignet herausgestellten Messinstrumenten basieren. Wichtige Ergebnisse: Draußenlernen kann sich beispielsweise in botanischen Gärten positiv auf das Gesamtwissen von Lernenden auswirken, es lassen sich kurzfristige und langfristige Effekte nachweisen und sowohl Naturverbundenheit als auch Umwelteinstellungen können verbessert werden (hier).

Prof. Dr. Ulrich Gebhard, Yasmin Goudarzi und Prof. Dr. Torsten Hoke befassen sich in ihrem Beitrag mit dem Potenzial von Naturerfahrungen insbesondere hinsichtlich Bildungsbenachteiligung und Umweltgerechtigkeit. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat das Autor*innenteam gemeinsam mit verschiedenen Institutionen ein Konzept zur Naturerfahrung für bildungsbenachteiligte Kinder entwickelt und systematisch analysiert. Das Ergebnis macht deutlich, dass sich die Beziehung zur Natur auch bei als «naturfern» bezeichneten Kindern durch Naturerfahrungen verbessert. Besonders die ermöglichte Freizügigkeit führte zu Glücksmomenten und gesteigerter Selbstwirksamkeit. Umweltgerechtigkeit sollte demnach im Zuge der Debatten um Bildungsgerechtigkeit unbedingt verstärkt diskutiert werden (hier).

Christian Armbrüster und Prof. Dr. Matthias Witte präsentieren in ihrem Beitrag Ergebnisse aus einem dreijährigen Forschungsprojekt zu Draußenschule in Deutschland. Im Fokus stehen unter anderem durch Draußenlernen ausgelöste Veränderungen von Handlungs-, Lern- und Aneignungsweisen. Deutlich wird beispielsweise, dass Draußenlernen großes Potenzial hinsichtlich Mußephasen, Resonanzerfahrungen, selbsttätiger Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand und vielen darauf aufbauenden, positiven Lernergebnissen aufweist (hier).

Prof. Dr. Björn Eichmann und Prof. Dr. Tobias Erhardt übertragen in ihrem Beitrag die Ergebnisse ihrer Studie zu Gesundheitswandern auf das Draußenlernen. Die Studienergebnisse stärken die These, dass sich regelmäßige, moderate Bewegung positiv auf physische Parameter wie die koordinative Leistungsfähigkeit und auf psychische Parameter wie die Ausgeglichenheit auswirkt. Die Autoren sind der Meinung, dass sich der Ansatz des Gesundheitswanderns auch in der Schule vielfältig positiv auswirken kann (hier).

Ulrike Schuth stellt in ihrem Beitrag die Notwendigkeit von Naturerfahrungen für eine gelingende BNE und zentrale Ergebnisse der Studie «Fokus Naturbildung» dar. Die Studienergebnisse widersprechen der populären These einer zunehmenden Naturentfremdung unter Jugendlichen und machen deutlich, dass sich Jugendliche nach wie vor gerne in der Natur aufhalten und motiviert sind, draußen aktiv zu werden. Die Autorin schlussfolgert unter anderem, dass Naturerfahrungen in der Schule eine größere Rolle spielen sollten und fordert eine stärkere Verankerung des Themas in den Bildungsplänen (hier).

Prof. Dr. Svantje Schumann beschreibt in ihrem Beitrag die Ergebnisse des Fallbeispiels einer Klassenexkursion. Ausgehend vom Konzept «Krise als Muße» analysiert die Autorin in ihrer Studie die Wahrnehmungen der begleitenden Lehrerin und deren Interpretation des Potenzials von Naturerfahrungen. Die Ergebnisse stützen die These, dass Naturerfahrungen ein großes Potenzial hinsichtlich verschiedener Facetten der Persönlichkeitsbildung besitzen, besonders wenn sie in Muße stattfinden (hier).

Prof. Dr. Michael Gebauer thematisiert in seinem Beitrag, inwiefern «Wildnis» als inklusiver Lern-, Bildungs- und Erfahrungsort dienen kann. Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen zieht der Autor ausgewählte Studienergebnisse heran, die auf die Bedeutung von Naturerfahrungen im Kontext der Wildnisbildung für Kinder hinweisen. In Verbindung mit dem Modell der BNE-Gestaltungskompetenz verdeutlicht er das Bildungspotenzial der unterschiedlichen Zugangsweisen einer Wildnisbildung. In einem weiteren Schritt verknüpft er ein inklusionsdidaktisches Modell mit den Vorüberlegungen und stellt dar, wie der Ansatz praktisch umgesetzt werden kann (hier).

Im Mittelpunkt von Dr. Daniela Hottenroths und Prof. Dr. Anne-Kathrin Lindaus Beitrag steht die Professionalisierung von Lehramtsstudierenden. Mit Bezug zu den Zielsetzungen von BNE wird das Konzept der Wildnisbildung skizziert und die Frage aufgeworfen, inwiefern Wildnisbildung zur Professionalisierung von angehenden Lehrpersonen beitragen kann. Wie sich zeigt, wirkt sich Draußenlernen in Form von Wildnisbildung positiv auf die Professionalisierung von Lehramtsstudierenden aus. Ein weiteres unerwartetes Ergebnis: Draußenlernen erfordert weniger spezifische Kompetenzen als erwartet. Im Umkehrschluss kann dieses Ergebnis vielleicht auch unerfahrene und nicht spezifisch ausgebildete Outdoor-Lehrpersonen ermutigen, draußen zu unterrichten (hier).

Dr. Barbara Bous, Dr. Martin Scholz und Prof. Dr. Janne Fengler beleuchten Draußenlernen in ihrem Beitrag aus einer erlebnispädagogischen Perspektive. Sie stellen die wissenschaftliche Begleitung des Projekts «Inklusion Klasse erlebt» dar. Auf der Grundlage der empirischen Voruntersuchung vermuten die Autor*innen unter anderem, dass erlebnispädagogische Aktionen die soziale Inklusion von Kindern mit Förderbedarf verbessern und zur Stärkung der kompletten Klassengemeinschaft beitragen (hier).

Prof. Dr. Enikö Zala-Mezö und Daniela Müller-Kuhn zeigen in ihrem Beitrag mittels Daten aus dem Schweizer WWF-Projekt «Ab in die Natur – draussen unterrichten» auf, wie Lehrpersonen ihre Unterrichtspraxis im Freien beschreiben, auf welches Wissen sie sich dabei berufen und welche Vorstellungen sie von Draußenlernen haben. Die Autorinnen weisen auf der Grundlage der erhobenen Daten unter anderem auf die Herausforderung hin, dass Draußenlernen unterstützende Rahmenbedingungen, eine gute Unterrichtsplanung und zugleich viel Flexibilität erfordert – ein Spagat, der besonders Noviz*innen oftmals schwerfällt (hier).

Prof. Dr. Lara Paschold analysiert in ihrem Beitrag die Perspektive von Lehrpersonen auf landwirtschaftliche Betriebe als außerschulische Lernorte. Auf der Grundlage von Daten zu Professionswissen, gegenstandsspezifischem Interesse und Wertehaltungen bezüglich Landwirtschaft leitet die Autorin Empfehlungen zu Lehrer*innenaus- und -fortbildungen, zu Unterrichtsmaterialien und zur Kooperation zwischen Lehrpersonen und Landwirt*innen ab. Eines von vielen Ergebnissen ist, dass Lehrpersonen am Draußenlernen auf landwirtschaftlichen Betrieben zwar auf vielfältige Weise interessiert sind, dass sie jedoch die zeitlichen Möglichkeiten dafür als eher gering einschätzen. Diese Einschätzung bestätigt diverse Studienergebnisse aus anderen Bereichen des Draußenlernens (hier).

Jan Ellinger, Dr. Jakob von Au, Leslie Bernhardt, Monika Singer, Simon Tangerding und Dr. Christoph Mall gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, wie Draußenlernen besser an Schulen etabliert werden kann. Eine vergleichende Erhebung der Einstellungen von Regellehrpersonen, von erfahrenen Draußenlehrpersonen und von schulexternen Lernanbieter*innen zeigt unter anderem auf, dass Störfaktoren beim Draußenlernen von Regellehrpersonen als hinderlicher eingeschätzt werden als von den beiden anderen Gruppen. Ähnlich wie Prof. Dr. Enikö Zala-Mezö und Daniela Müller-Kuhn kommt das Autor*innenteam zum Schluss, dass sich die wahrgenommenen Herausforderungen bezüglich des Draußenlernens von Lehrpersonen mit zunehmender Erfahrung verringern. Mit anderen Worten: Wer den ersten Schritt hin zum Draußenlernen wagt, bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit dabei und wird mit jedem weiteren Schritt dafür belohnt (hier).

Prof. Dr. Lissy Jäkel und Dr. Ulrike Kiehne werfen in ihrem Beitrag die Frage auf, ob das Verständnis von ökologischen und organismischen Zusammenhängen Menschen mit Behinderung helfen könnte, globale Zusammenhänge mit dem alltäglichen Leben vor dem Leitbild der BNE zu verknüpfen. Die Autorinnen zeigen unter anderem auf, wie die Elementarisierung von BNE durch Draußenlernen in Lerngärten gelingt und wie förderbedürftige Menschen globale Dimensionen von BNE mit dem eigenen Handeln vor Ort in Zusammenhang bringen können (hier).

Dr. Simone Fischer, Dr. Christiane Fiene und Prof. Dr. Alexander Siegmund stellen in ihrem Beitrag unter anderem die Frage, welchen Mehrwert das Draußenlernen hinsichtlich Klimawandelbildung bringen kann. Die Studienergebnisse zeigen, dass Lehrpersonen dem Draußenlernen auch im Themenbereich Klimawandelbildung einen großen Mehrwert – besonders in Kombination mit Laborarbeit und Experimenten – einräumen, jedoch zugleich auch organisatorische Hindernisse und zeitliche Grenzen aufführen (hier).

Prof. Dr. Christiana Glettler skizziert zwei Fallstudien aus Bildungsinstitutionen, die Naturerfahrung als täglichen Bestandteil des Alltags nutzen. In ihrem Beitrag geht sie der Frage nach, ob die Kinder aus diesen Bildungsinstitutionen Kompetenzen aufweisen, die den Schlüsselkompetenzen innerhalb des BNE-Diskurses zugeordnet werden können. Ein Ergebnis ist, dass die Kinder an den Draußenschulen tatsächlich besondere BNE-Kompetenzen aufweisen, wie zum Beispiel die Kompetenz, sich selbst und andere zu Aktivitäten motivieren zu können. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass das kontinuierliche Draußenlernen zur Stärkung dieser Kompetenzen beigetragen hat (hier).

Prof. Robert Vogl und Dr. Marina Lang untersuchen in ihrem Beitrag, inwiefern waldpädagogische Angebote in der Primar- und Sekundarstufe nachhaltig wirken und inwiefern sich der Mehraufwand für Lehrer*innen und Förster*innen lohnt. Die erhobenen Daten zeigen, dass die Angebote im Primarbereich zur Erreichung von wichtigen BNE-Zielen beitragen und sogar noch zwei bis drei Monate nach der Intervention wirkungsvoll sind. Dieses Ergebnis lässt hoffen, dass Draußenlernen nachhaltig im doppelten Sinne wirken kann: im Sinne von BNE und mit lange anhaltenden Lernergebnissen (hier).

Tine Kiefl, Daniel Dann, Berthold Reichle, Philipp Gottwald und Markus Müller befassen sich ebenfalls mit dem Potenzial waldpädagogischer Aktivitäten vor dem Hintergrund der Leitperspektive BNE. Im Fokus steht dabei das Konzept der Schulwälder in Baden-Württemberg. Das Autor*innenteam beschreibt das Konzept inklusive einer Evaluation. Dabei wird deutlich, dass das Konzept eine Form des Draußenlernens mit großem Potenzial darstellt (hier).

Dr. Robert Nehfort beschreibt in seinem Beitrag das österreichische Ausbildungskonzept «Lernraum Natur», stellt das gleichnamige Lernmodell vor und fasst erste Erkenntnisse zusammen. Er kommt zum Schluss, dass Draußenlernen im Rahmen des Konzepts erfolgreich verläuft und dass die Ergebnisse dazu ermutigen, «Lernraum Natur» auch in Zukunft vielfältig weiterzuentwickeln. Vielleicht könnte dieses Ausbildungskonzept auch als Vorbild in anderen Ländern dienen (hier).

Im Fokus von Dr. Iris Trinklers Beitrag steht ein spielpädagogischer Ansatz des Draußenlernens. Die Autorin beschreibt die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Begleitung eines Draußenlernprojekts an einer öffentlichen Schule. Sie identifiziert zwei zentrale Hürden für spielbasiertes Lernen: Erstens sind manche Lehrpersonen kulturell bedingt misstrauisch gegenüber spielerischen Zugängen im Unterricht und zweitens sind manche Kinder heutzutage unfähig, frei zu spielen. Beide Hürden können laut der Autorin durch den Lernort Natur überwunden werden (hier).

Sarah Wauquiez entwickelt in ihrem Beitrag ein «Modell der Lebenskompetenzen», indem sie Draußenlernen mit Kompetenzanforderungen im 21. Jahrhundert verbindet. Ausgehend von verschiedenen Studienergebnissen zeigt sie auf, dass Draußenlernen auf vielseitige Weise auf zukünftige Anforderungen vorbereiten und demnach einen idealen Nährboden für eine zukunftsweisende Bildung darstellen kann (hier).

5. Wirkt wirklich! Auswertung und Fazit

 

Wir haben uns zu Beginn dieses Buchprojekts die Frage gestellt, ob Draußenlernen wirklich zu qualitativ hochwertiger Bildung beiträgt. Mit anderen Worten: Ob man empirisch fundiert aufzeigen kann, inwiefern Draußenlernen zu positiven Lernergebnissen führt, insbesondere im Zusammenhang mit der Leitperspektive BNE. Die Antwort auf diese Frage liefern im vorliegenden Buch nun 25 Beiträge von 53 Menschen und über 200 in den Beiträgen aufgeführte Studienergebnisse. Wir wollen diese Vielfalt an Ergebnissen und Praktiken im Folgenden systematisch aufeinander beziehen und daraus schlussfolgern, wie eine weitere Steigerung von Qualität und Quantität des Draußenlernens gelingen kann.

Ein wichtiges Ergebnis des Buchprojekts ist die Feststellung, dass Draußenlernen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und mit vielen unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Zugängen praktiziert und beforscht werden kann. In Abbildung 4 haben wir versucht, einige der Perspektiven und Schwerpunktsetzungen aus diesem Buch zusammenzufassen.

Abbildung 4: Draußenlernen in voller Blüte

Wir möchten in dieser Abbildung ausdrücklich die Zusammenhänge und nicht die Grenzen hervorheben. Die Blütenblätter beschreiben verschiedene pädagogische und didaktische Strömungen, die viele Überschneidungsbereiche aufweisen und die man nicht trennscharf voneinander abgrenzen kann. Kein*e Autor*in in diesem Buch würde beispielsweise behaupten, dass es die Naturpädagogik oder die Erlebnispädagogik gibt.

Mit Bezug zum Draußenlernen werden die Schnittfelder dieser Strömungen besonders deutlich. Einige Beispiele: Erlebnisse in authentischem Kontext besitzen bei erlebnispädagogischen Zugängen einen dominanten Stellenwert, sind für alle anderen Zugänge aber ebenfalls bedeutsam. Bewegung spielt aus sportpädagogischer Perspektive eine besonders wichtige Rolle, ist aber auch für andere Zugänge relevant. Artenkenntnis ist ein Schwerpunkt bei freilandunterrichtsdidaktischen Ansätzen in der Biologie, kann aber ebenfalls einen wertvollen Zugang für wildnispädagogische Ansätze darstellen.

Die meisten Zugänge zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie vielperspektivisch sind. Kontemplative Zugänge schließen technische Zugänge beispielsweise nicht zwangsläufig aus. Im Gegenteil: Draußenlernen zeichnet sich nach unserem Verständnis gerade dadurch aus, dass im Mathematikunterricht zum Beispiel nicht nur ein Stammvolumen errechnet wird (symbolisch), sondern zugleich bildliche Vorstellungen aufgegriffen werden (ikonisch), dass der Wert des Baums gleichermaßen physiozentrisch und anthropozentrisch, ökologisch und ökonomisch, ästhetisch und normativ diskutiert wird.

Innerhalb der dargestellten Studienergebnisse zu den Wirkungsweisen des Draußenlernens konnten wir sechs übergeordnete Kategorien identifizieren: physische Gesundheit, psychische Gesundheit, Naturverbundenheit, Selbstkompetenz, Sozialkompetenz und Sachkompetenz.

In einigen der vorgestellten Studien wurden die in Abbildung 5 aufgeführten Wirkungsweisen isoliert betrachtet. Allerdings hängen, wie Kuo et al. in Beitrag 2 (hier) aufzeigen, alle Wirkungen miteinander zusammen, und auch die übergeordneten Kategorien sind nicht klar voneinander abzugrenzen. Ein Beispiel: In Beitrag 6 (hier) wurde anhand von empirischen Studien belegt, dass Draußenlernen kognitive Funktionen unterstützen und zu einer Konzentrationssteigerung führen kann. Konzentriertes Arbeiten könnte in der Kategorie «Selbstkompetenz» aufgeführt werden. Allerdings kann Konzentration auch die Naturverbundenheit steigern und die psychische Gesundheit fördern, was sich wiederum positiv auf die physische Gesundheit auswirkt.

Außerdem ist aus Abbildung 5 nicht abzulesen, wie gut die einzelnen Wirkungsweisen beforscht sind. Die Steigerung der Lernfreude durch Draußenlernen konnte beispielsweise durch verschiedene Studien mit unterschiedlichen Forschungsmethoden nachgewiesen werden, während die Datenlage hinsichtlich einer Steigerung der Führungsqualitäten bisher vergleichsweise schwach ist. Kurzum: Die Systematisierung der evidenzbasierten Wirkungen des Draußenlernens weist Schwächen auf, die wir jedoch zwecks Übersichtlichkeit in Kauf genommen haben.

Abbildung 5: Evidenzbasierte Wirkungen des Draußenlernens

In der Sprache der Projektforschung würde man Wirkungen wie eine erhöhte Lernmotivation oder eine gestiegene Sensitivität gegenüber der belebten Mitwelt als Output des Draußenlernens bezeichnen. Als Outcome könnte man durch diese Wirkungen induzierte Veränderungen wie zum Beispiel umweltdienliches Verhalten bezeichnen. Der Impact des Draußenlernens könnte die Erreichung der weitreichenden Zielsetzungen einer BNE sein, das heißt nachhaltigkeitsförderliche Denk- und Handlungsweisen, die in die Gesellschaft hineinwirken und die Antworten auf ökologische, ökonomische und soziale Herausforderungen ermöglichen.

Einige Studienergebnisse im vorliegenden Buch geben auch Hinweise darauf, was als Input für das Draußenlernen erforderlich ist. Es wird beispielsweise ein organisatorischer Mehraufwand herausgestellt. Zweifellos bedarf Draußenlernen auch in seiner einfachsten Form – direkt vor der Klassenzimmertüre und ohne viele Hilfsmittel – einen gewissen Aufwand, den herkömmliche Lehr-Lern-Arrangements nicht erfordern. Allerdings zeigen Studienergebnisse auch, dass es sich nur in einer initialen Phase des Draußenlernens tatsächlich um Mehraufwand handelt und dass weitere, von Noviz*innen zunächst als Herausforderung eingeschätzte Faktoren wie Unterrichtsstörungen oder Zeitmangel mit zunehmender Erfahrung anders bewertet werden.

Möchte man die Quantität des Draußenlernens erhöhen, so müssen vor allem Einstellungen und subjektive Theorien gegenüber Draußenlernen bei unerfahrenen Lehrpersonen positiv beeinflusst werden. Wie dies gelingen kann, zeigen verschiedene in diesem Buch vorgestellte Projekte an Schulen und Hochschulen, zum Beispiel in Österreich und in der Schweiz. Wird Draußenlernen stärker in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen verankert, so wirkt sich das auch positiv auf die Qualität des Draußenlernens aus, wenngleich gezeigt werden konnte, dass Draußenlernen auch Lehrpersonen ohne spezifische Ausbildung besser gelingen kann als gedacht.

Weiterer Forschungsbedarf besteht unter anderem hinsichtlich der Frage, welche Formen und Lernorte des Draußenlernens zu welchen Ergebnissen führen. Wie vielfältig Draußenlernen praktiziert werden kann, zeigt Abbildung 4. Wie diese unterschiedlichen Formen mit den verschiedenen Wirkungen in Abbildung 5 zusammenhängen, ist jedoch noch weitgehend unklar. Vor Automatismen muss jedenfalls gewarnt werden: Nicht jede beliebige Form des Draußenlernens führt automatisch zu den beschriebenen Wirkungen.

Damit die Forschung aber überhaupt Untersuchungsgegenstände vorfindet, müssen noch mehr Lehrpersonen den «Rubikon vor der Klassenzimmertüre» überschreiten und sich auf das aussichtsreiche Abenteuer des Draußenlernens einlassen. Die Transformationsforschung zeigt: Wenn eine kritische Masse erreicht ist, können tradierte Denk- und Handlungsweisen kippen und Dinge mit großer Geschwindigkeit transformiert werden. Vielleicht gelingt uns ausgehend von den BNE-Zielsetzungen bis zum Jahr 2030, dass – wie es in Dänemark bereits der Fall ist – zumindest an jeder fünften Schule regelmäßig Draußenlernen praktiziert wird.

Uns haben die vielen Beispiele in diesem Buch in jedem Fall Hoffnung gemacht. Wir befinden uns auf einem guten Weg in Richtung der geforderten Bildungstransformation. Dieses Buch zeigt: Mehr Draußenlernen als BNE ist wirkungsvoll, vielfältig und praktikabel!

Literatur

Au, J. von (2018). Draußentage. Lernen mit Herz, Hand und viel Verstand. Pädagogik, 4, 10–13.

Au, J. von, & Gade, U. (Hrsg.) (2016). «Raus aus dem Klassenzimmer». Outdoor Education als Unterrichtskonzept. Weinheim und Basel: Beltz.

Barfod, K., Mads, B., Mygind, L., Elsborg, P., Ejbye-Ernst, N., & Bentsen, P. (2021). Reaping fruits of labour: Revisiting Education Outside the Classroom provision in Denmark upon policy and research interventions. Urban Forestry & Urban Greening, 60, 1–7.

Bentsen, P., Mygind, L., Nielsen, G., Mygind, E., & Elsborg, P. (2021). Education outside the classroom as upstream school health promotion: «adding-in» physical activity into children’s everyday life and settings. Scandinavian Journal of Public Health, Februar 2020, 1–9.

de Haan, G. (2008). Gestaltungskompetenz als Kompetenzkonzept für Bildung für nachhaltige Entwicklung. In I. Bormann & G. de Haan (Hrsg.), Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung (S. 23–44). Wiesbaden: VS Verlag.

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Dewey, J. (1998). Experience and education. West Lafayette: Kappa Delta Pi.

Gebhard, U. (2020). Kind und Natur: Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung. Wiesbaden: Springer VS.

Holst, J., Antje, B., Singer-Brodowski, M., & de Haan, G. (2020). Monitoring progress of change: Implementations of Education for Sustainable Development (ESD) within documents of the German education system. Sustainability, 12(10), 4306.

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Jucker, R. (2020). Can we cope with the complexity of reality? Why craving easy answers is at the root of our problems. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing.

Jucker, R., & Au, J. von (2022). High-quality outdoor learning: Evidence-based education outside the classroom for children, teachers and society. Cham: Springer Nature.

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Koller, H.-C. (2011). Anders werden. Zur Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse. In I. M. Breinbauer & G. Weiß (Hrsg.), Orte des Empirischen in der Bildungstheorie. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft II (S. 108–123). Würzburg: Königshausen & Neumann.

Learning and Teaching Scotland (2010). Curriculum for Excellence Through Outdoor Learning. Verfügbar unter: https://education.gov.scot/Documents/cfe-through-outdoorlearning.pdf [22.12.2021].

Michl, W. (2015). Erlebnispädagogik. München und Basel: Reinhardt.

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Reich, K. (2012). Konstruktivistische Didaktik. Weinheim und Basel: Beltz.

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Teil II: Interdisziplinäre Überblicksstudien

2 Fördern Naturerfahrungen das Lernen? Konvergierende Evidenz für einen Kausalzusammenhang

Ming Kuo, Michael Barnes und Catherine Jordan

Prof. Dr. Ming Kuo leitet das Landscape and Human Health Laboratory an der University of Illinois. Sie hat Abschlüsse in Psychologie und Biomedizin. In ihren Arbeiten untersucht sie die Auswirkungen von Natur und Grünflächen auf die menschliche Gesundheit.

Dr. Michael R. Barnes ist Postdoktorand an der University of Minnesota. Seine Arbeit ist auf interdisziplinäre Ansätze zum Verständnis komplexer sozio-ökologischer Systeme spezialisiert und bewegt sich an der Schnittstelle von Psychologie, Nachhaltigkeit und Design.

Prof. Dr. Catherine Jordan ist Professorin für Pädiatrie und stellvertretende Direktorin für Führung und Bildung am Institute on the Environment der University of Minnesota und beratende Forschungsdirektorin für das Children & Nature Network. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Förderung der Gesundheit, des Lernens und der Entwicklung von Kindern durch das Spielen in der Natur und naturbasierte Bildung.

Abstract

Fördern Erfahrungen mit der Natur – von Rucksacktouren in der Wildnis über die Beschäftigung mit Pflanzen in der Vorschule bis hin zu einer Unterrichtsstunde über Frösche in einem Feuchtgebiet – das Lernen? Bis vor Kurzem gab es mehr Behauptungen als Beweise zu dieser Frage. Aber das Forschungsgebiet ist reifer geworden und hat nicht nur zuvor unbelegte Behauptungen untermauert, sondern auch unser Verständnis für den Kausalzusammenhang zwischen Natur und Lernen vertieft. Hunderte von Studien befassen sich inzwischen mit dieser Frage, und immer mehr Ergebnisse deuten stark darauf hin, dass Naturerfahrungen das schulische Lernen, die persönliche Entwicklung und die Umweltverantwortung fördern. Diese kurze integrative Literaturübersicht fasst die jüngsten Fortschritte und den aktuellen Stand unseres Wissens zusammen. Zwar beruhen die Studien zur persönlichen Entwicklung und zum Umweltverhalten nicht auf quantitativen Methoden, aber ihre Ergebnisse sind überzeugend. Eine Rückmeldung nach der anderen – sowohl von unabhängigen Beobachter*innen als auch von den Teilnehmenden selbst – weist auf Verbesserungen in Bezug auf Ausdauer, Problemlösung, kritisches Denken, Führungsqualitäten, Teamarbeit und Resilienz hin. Zudem zeigen über fünfzig Studien, dass die Natur eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von umweltfreundlichem Verhalten spielt, vor allem durch die Förderung einer emotionalen Verbindung zur Natur. In schulischen Kontexten schneidet naturbasierter Unterricht diesbezüglich besser ab als traditioneller Unterricht. Die Evidenz ist hier besonders stark und umfasst neben experimentellen Beweisen auch solche, die auf einem breiten Spektrum von Stichproben und Unterrichtsansätzen basieren, sowie Ergebnisse von standardisierten Tests oder Abschlussquoten, Belege für spezifische Erklärungsmechanismen und besonders wirksame Faktoren. Die Natur kann das Lernen fördern, indem sie die Aufmerksamkeit der Lernenden, das Stressniveau, die Selbstdisziplin, das Interesse und die Freude am Lernen, aber auch die körperliche Aktivität und die Fitness verbessert. Die Natur scheint zudem ein ruhigeres und sichereres Lernumfeld, einen wärmeren und kooperativeren Kontext und eine Kombination aus «losen Teilen» und Autonomie zu bieten, die entwicklungsfördernde Spielformen begünstigt. Es ist an der Zeit, sich ernsthaft mit der Natur als Ressource für das Lernen zu befassen – vor allem für Schüler*innen, die über den traditionellen Unterricht nicht wirksam erreicht werden können.

1. Einleitung

 

Der Gedanke, dass «Natur gut ist für Kinder», ist weit verbreitet. Doch in der Vergangenheit waren die Beweise dafür nicht sehr schlüssig und beruhten auf einer bedauerlichen Anzahl unzulänglicher Studien und übertriebener Behauptungen. Inzwischen hat der Umfang der Studien aber ein beeindruckendes Volumen angenommen und die dabei ermittelten konvergierenden Ergebnisse zeichnen ein überzeugendes Bild.

Die vorliegende integrative Mini-Literaturübersicht (Methoden vgl. Zusätzliches Material) fasst zusammen, was wir über die Rolle von Naturerfahrungen in Bezug auf das Lernen und die Entwicklung wissen. Sie stützt sich auf ein breites Spektrum von wissenschaftlichen Arbeiten, die durch Peer-Reviews untermauert sind und von Studien in Stadtzentren über die Untersuchung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bis hin zu neurokognitiven und physiologischen Forschungen reichen. Dabei lautete unsere übergeordnete Frage: «Fördern Naturerfahrungen das Lernen und die kindliche Entwicklung?»

In unserer gesamten Literaturübersicht haben wir darauf geachtet, zwischen Belegen für Kausalzusammenhänge und Evidenz für Assoziationen zu unterscheiden; kausale Verben und Formulierungen (z. B. «beeinflussen», «verstärken», «werden vermindert durch») werden nur dann verwendet, wenn experimentelle Beweise dies rechtfertigen. Wo konvergierende, aber nicht experimentelle Belege auf eine wahrscheinliche Kausalität hindeuten, wird dies sprachlich so gekennzeichnet (z. B. «scheinen zuzunehmen»). Tabelle 1 fasst die jüngsten Fortschritte auf diesem Gebiet zusammen und erklärt, wie sie zu unserer Überzeugung beitragen, dass tatsächlich ein Kausalzusammenhang zwischen Natur und Lernen und Entwicklung besteht.

Was wir jetzt wissen …

Woher diese Erkenntnis stammt und warum dies wichtig ist

Naturbasierter Unterricht (NBU) ist im Durchschnitt effektiver als traditioneller Unterricht (TU).

Frühe Forschungen verglichen oft die Ergebnisse vor und nach NBU und zeigten auf, dass Schüler*innen von dieser Unterrichtsform profitieren. Sie untersuchten aber nicht, ob es Aspekte gibt, die beim NBU im Vergleich zu jeder anderen Form von Unterricht besonders hilfreich sind. In neuerer Zeit haben sich Studien zunehmend mit einem Vergleich der Ergebnisse von NBU vs. TU beschäftigt und aufgezeigt, dass der Einbezug der Natur einen Mehrwert für den Unterricht bringt (z. B. Camasso & Jagannathan, 2018; Ernst & Stanek, 2006).

Die Vorteile von NBU gegenüber TU sind nicht einfach darauf zurückzuführen, dass sich bessere Lehrpersonen, bessere Schulen oder bessere Schüler*innen tendenziell für NBU entscheiden.

Frühe Forschungen verglichen oft die Lernergebnisse von Klassen, denen ein naturbasierter Unterricht angeboten wird, mit denjenigen von ähnlichen Klassen, die traditionell unterrichtet werden. Solche Vergleiche berücksichtigen allerdings nicht, dass Lehrpersonen (oder Schulen), die sich für NBU entscheiden, möglicherweise innovativer, engagierter oder finanziell besser ausgestattet sind als Lehrpersonen (oder Schulen), die dies nicht tun, selbst wenn ihre Schüler*innenschaft ähnlich ist. Ebenso reflektieren Vergleiche zwischen Schüler*innen, die sich für einen zusätzlichen außerschulischen NBU entscheiden, und solchen, die dies nicht tun, bereits bestehende Unterschiede zwischen diesen Gruppen. In jüngster Zeit haben Forschende damit begonnen, «Wartelisten-Kontrollgruppen» zu verwenden. Dabei werden zunächst Lehrpersonen, Schulen oder auch Schüler*innen identifiziert, die an NBU interessiert sind, und diese werden dann nach dem Zufallsprinzip entweder dem NBU oder dem TU zugewiesen (z. B. Wells et al., 2015). Indem bereits vorhandene Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Lehrpersonen, Schulen und Schüler*innen ausgeklammert werden, wird das Vertrauen erhöht, dass allfällige Verbesserungen auf die Unterrichtsform an sich zurückzuführen sind.

Die Auswirkungen von NBU auf das schulische Lernen sind real; sie reflektieren nicht einfach eine wohlwollende Einschätzung durch voreingenommene Beobachter*innen.

Frühe Forschungen basierten oft auf subjektiven Einschätzungen der Ergebnisse durch Personen, die vom NBU überzeugt sind. Befürworter*innen, Praktiker*innen und Eltern oder Kinder, die sich für NBU entscheiden, können bewusst oder unbewusst Vorteile wahrnehmen, obwohl es gar keine realen Auswirkungen gibt. Neuere Studien beugen solchen Verzerrungen vor, indem sie objektive Messungen oder Beurteilungen verwenden, die «blind» durchgeführt werden – also ohne zu wissen, welche Schüler*innen unter welchen Bedingungen (NBU oder TU) lernten (z. B. Ernst & Stanek, 2006). In diesen Studien kann ein ermittelter Vorteil von NBU gegenüber TU nicht auf Wunschdenken zurückgeführt werden.

Naturbasiertes Lernen zeigt eine «Dosis-Wirkungs-Beziehung» – je umfangreicher die Behandlung (Dosis), desto besser wird das Ergebnis.

Frühe Forschungen basierten auf binären Vergleichen zwischen Lernumgebungen mit und ohne Natur oder «wenig» und «viel Natur», was mehr Raum für alternative Erklärungenß. Wenn Schüler*innen beispielsweise mehr im Freien als in geschlossenen Räumen lernen, könnte die Differenz entweder auf Unterschiede in der Vegetation oder auf andere Unterschiede zwischen den Umgebungen zurückzuführen sein. Neuere Forschungen vergleichen mehrere Stufen von Natur (z. B. Schulhöfe mit 0 bis 40 % Baumbewuchs, Sivarajah et al., 2018) oder mehrere Stufen des naturbasierten Unterrichts (Wells et al., 2015). Wenn die Wirkung proportional zur Dosis ist, dann deutet dies darauf hin, dass die Wirkung auf das Ausma ß der Vegetation zurückzuführen ist. Eine «Dosis-Wirkungs-Beziehung» ist zwar kein Beweis für einen Kausalzusammenhang, aber sie spricht dafür.

Die Verbindung zwischen Natur und Lernen gilt für alle Themen, Lernenden, Lehrpersonen, pädagogischen Konzepte, Orte und Lernmaßnahmen.

Da im Laufe der Zeit weiter geforscht wurde, ist das Volumen der Studien, die die Hypothese einer Verbindung zwischen Natur und Lernen testen, größer und vielfältiger geworden (z. B. Faber Taylor et al., 2002; Fremery & Bogner, 2015; Kuo et al., 2018a; Lekies, Yost, Rode, 2015; Maynard et al., 2013; McCree et al., 2018; O‘Haire et al., 2013; Ruiz-Gallardo et al., 2013; Sivarajah et al., 2018; Swank et al., 2017). Eine robuste Verbindung, die über verschiedene Kontexte hinweg festgestellt wird, schafft ein größeres Vertrauen in einen Kausalzusammenhang (Hill, 1965, S. 8).

Die Beziehung zwischen Natur und Lernen bestätigt sich in verschiedenen Forschungsdesigns.

Mit der Zeit wurden vielfältigere Studiendesigns angewendet, darunter echte Experimente (z. B. Wells et al., 2015), Quasi-Experimente (z. B. Benfield et al., 2015; Faber Taylor & Kuo, 2009), gro ß angelegte korrelierende Studien mit statistischen Kontrollen (z. B. Kuo & Faber Taylor, 2004) und Längsschnittstudien (z. B. McCree et al, 2018). Die Ergebnisse, die sich über verschiedene Forschungsdesigns hinweg bestätigen, sprechen für einen Kausalzusammenhang.

Der Vorteil von NBU gegenüber TU kann sowohl auf das Setting als auch das pädagogische Konzept zurückzuführen sein.

Frühere Literaturübersichten stützten sich ausschließlich auf Studien, die die Auswirkungen von NBU auf das Lernen untersuchten. In dieser Literaturübersicht haben wir den Untersuchungsbereich erweitert, um sowohl die Forschung über das Setting als auch über das pädagogische Konzept des NBU einzubeziehen. Schulpsycholog*innen, die in den Klassen arbeiten, fanden heraus, dass aktive, praxisnahe, schüler*innenzentrierte und kollaborative Unterrichtsformen traditionellere Unterrichtsansätze übertreffen (Freeman et al., 2014; Granger et al., 2012; Kontra et al., 2015). Umweltpsycholog*innen stellten fest, dass das Lernen in «grüneren» Umgebungen besser funktioniert – selbst wenn der Unterricht die Natur nicht mit einbezieht (Benfield et al., 2015; Kuo et al., 2018b). Diese zusätzlichen Belege unterstützen oder erklären möglicherweise sogar die Vorteile von NBU gegenüber TU.

Naturerfahrungen können das Lernen über mindestens acht verschiedene Pfade fördern.

Auch hier stützten sich frühere Literaturübersichten einzig auf direkte Untersuchungen der Hypothese einer Verbindung zwischen Natur und Lernen – auf Studien also, in denen die Natur die unabhängige und das Lernen die abhängige Variable war. In der vorliegenden Literaturübersicht haben wir auch Studien berücksichtigt, in denen die Natur zwar weiterhin als unabhängige Variable betrachtet wurde, aber die abhängige Variable eine Vorstufe zum Lernen war (z. B. untersuchten Li & Sullivan, 2016, die Auswirkungen der Aussicht auf die Natur aus dem Klassenzimmer auf die Aufmerksamkeit, die seit langem als wichtige Vorstufe zum Lernen gilt [z. B. Rowe & Rowe, 1992]). Belege für solche Mechanismen verleihen einem Kausalzusammenhang zwischen Natur und Lernen eine größere Plausibilität. Die hier identifizierten mehrfachen Mechanismen können auch dazu beitragen, die Beständigkeit der Beziehung zwischen Natur und Lernen zu erklären. Robuste Phänomene sind oft mehrfach determiniert.

Tabelle 1: Fördern Naturerfahrungen das Lernen? Fortschritte in der Methodik und Belege: In den letzten Jahren hat sich das Volumen der Belege für einen Kausalzusammenhang zwischen Naturerfahrungen und Lernen deutlich vergrößert. Einige Fortschritte lassen sich auf rigorosere Forschungsmethoden in einzelnen Studien zurückführen (dunkelgrün), andere darauf, dass die Forschung in diesem Bereich reifer geworden ist (hellgrün), und wieder andere auf eine Ausweitung der Art von Evidenz, die in Literaturübersichten berücksichtigt wird (grau).

Aus dieser kritischen Literaturübersicht ist ein kohärentes Narrativ hervorgegangen (siehe Abb. 1): Naturerfahrungen fördern das schulische Lernen der Kinder und scheinen nicht nur ihre persönliche Entwicklung, sondern auch ihre Entwicklung hin zu Menschen, die Umweltverantwortung übernehmen, zu unterstützen. Mindestens acht plausible Pfade tragen zu diesen Ergebnissen bei. Im Folgenden diskutieren wir zunächst die Belege für jeden dieser acht Pfade und danach die Evidenz, die Natur mit Lernen, persönlicher Entwicklung und der Entwicklung von Umweltverantwortung verbindet.

Abbildung 1: Naturbasiertes Lernen – Naturexposition, wahrscheinliche Mechanismen und Ergebnisse

Abbildung 1 fasst den Stand der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Natur und Lernen zusammen. Die hier aufgeführten Items und Pfade sind aus unserer Literaturübersicht hervorgegangen und dienten nicht als Orientierung dafür. Jedes aufgeführte Item wurde also empirisch mit einem oder mehreren anderen Items in der Abbildung assoziiert.

Zusammenhänge, bei denen Belege für einen Kausalzusammenhang vorliegen, sind mit einem Stern gekennzeichnet; so ist beispielsweise «Bessere Konzentrationsfähigkeit» mit einem Stern versehen, weil experimentelle Untersuchungen ergeben haben, dass der Kontakt mit der Natur die Konzentration fördert. Ebenso steht bei «Bessere Bewahrung der Lerninhalte» ein Stern, weil experimentellen Studien zufolge der Kontakt mit der Natur während des Lernens dazu beiträgt, dass das Gelernte besser bewahrt bleibt. Hier und in der gesamten Literaturübersicht werden kausale Verben und Formulierungen (z. B. «beeinflussen», «verstärken», «werden vermindert durch») nur dann verwendet, wenn experimentelle Beweise (der Goldstandard für die Beurteilung von Ursache und Wirkung) dies rechtfertigen. Wenn konvergierende Evidenz auf einen wahrscheinlichen Kausalzusammenhang hindeutet, aber keine experimentellen Beweise dafür verfügbar sind, wird dies sprachlich so gekennzeichnet (z. B. «scheinen zuzunehmen»).

Der dunkelgrüne Kasten listet Formen der Naturexposition auf, die mit Lernen in Verbindung gebracht werden, sei dies direkt (Natur à Lernen) oder indirekt über einen oder mehrere der aufgeführten Mechanismen (Natur à Mechanismus à Lernen). In dieser Literaturübersicht bezeichnet der Begriff «Natur» nicht nur Naturerfahrungen in der Wildnis, sondern auch in weitgehend vom Menschen geschaffenen Kontexten. So bietet ein Schulzimmer mit Blick auf Bäume eine Naturerfahrung, die ein anderes Zimmer mit Blick auf den Schulparkplatz nicht vermittelt. Diese Literaturübersicht umfasst Naturerfahrungen unabhängig vom Kontext – Spiel, Entspannung oder auch Bildungsaktivitäten – und in informellen, nicht-formalen und formalen Settings.

Die beiden hellgrünen Kästen listen wahrscheinliche Mechanismen auf – intermediäre Variablen, die empirisch sowohl mit der Natur als auch mit dem Lernen in Verbindung gebracht werden. Beispielsweise wird die Konzentrationsfähigkeit durch den Kontakt mit der Natur angeregt und spielt eine wichtige Rolle beim Lernen. Natürliche Umgebungen können sich auf das Lernen auswirken, indem sie sowohl die Lernfähigkeit der*des Lernenden direkt fördern als auch einen Kontext bieten, der das Lernen besser unterstützt.

Der graue Kasten nennt Lernergebnisse, die mit dem Kontakt mit der Natur in Verbindung gebracht werden. In dieser Literaturübersicht umfasst der Begriff «Lernen» Veränderungen von Wissen, Fähigkeiten, Verhaltensweisen, Einstellungen und Werten.

2. Natur kann das Lernen über direkte Auswirkungen auf die Lernenden stärken

 

Fünf der acht plausiblen Pfade zwischen Natur und Lernen, die wir identifiziert haben, konzentrieren sich auf die Lernenden. Das Lernen verbessert sich eher, wenn der*die Lernende aufmerksamer (Mantzicopoulos & Morrison, 1995; Rowe & Rowe, 1992), weniger gestresst (Grannis, 1992; Leppink et al., 2016), selbstdisziplinierter (Duckworth & Seligman, 2005; Mischel et al., 1988), engagierter und interessierter (für eine Literaturübersicht vgl. Taylor et al., 2014) sowie physisch aktiver und fitter ist (für Literaturübersichten vgl.Álvarez-Bueno et al., 2017; Santana et al., 2017). Die Belege deuten darauf hin, dass der Kontakt mit der Natur zu all diesen mentalen und physischen Zuständen der Lernenden beiträgt.

Natur regt die Aufmerksamkeit an.

Die anregende Wirkung von Natur auf mental ermüdete Erwachsene (vgl. z. B. Hartig et al., 1991; Kuo, 2001) und Kinder wurde in zahlreichen Studien, einschließlich Feldversuchen (Faber Taylor & Kuo, 2009) und groß angelegten Längsschnittstudien (Dadvand et al., 2015), belegt. Schüler*innen, die zufällig einem Schulzimmer mit Blick ins Grüne zugeteilt wurden, schneiden in Konzentrationstests besser ab als Kinder in Schulzimmern, von denen aus nur die bebaute Umgebung zu sehen ist oder die gar keine Fenster haben (Li & Sullivan, 2016). Dass Natur die Aufmerksamkeit anregt, wurde auch bei Schüler*innen auf Ausflügen festgestellt (van den Berg & van den Berg, 2011), bei schwedischen Vorschulkindern (Mårtensson et al., 2009), bei Kindern, die in Sozialwohnungen in Chicago leben, (Faber Taylor et al., 2002) sowie bei 5- bis 18-Jährigen mit ADHS (z. B. Kuo & Faber Taylor, 2004). Dabei wurde die Aufmerksamkeit in diesen Studien mit verschiedenen Mitteln gemessen, von Einschätzungen durch Eltern und Lehrpersonen (O’Haire et al., 2013) bis hin zu neurokognitiven Tests (Schutte et al., 2015).

Natur vermindert Stress.