9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Drachen, Schwertkämpfe, Heldenmut - das große Finale
Der Heimat des jungen Errol und seines Drachenfreundes Benfro droht nicht einfach nur ein Krieg, sondern die endgültige Vernichtung. In dieser verzweifelten Situation gibt es bloß einen Fluchtweg aus der Hauptstadt: durch die geheimen Gänge unter dem Palast. Deren Zugang kann allerdings einzig jemand aus der königlichen Familie öffnen. Doch Prinzessin Iolwen darf den Obsidianthron nicht verlassen, will sie die Stadt nicht schutzlos dem rücksichtslosen Angriff der Truppen ihrer Schwester Beulah preisgeben. Errol und Benfro erwartet derweil die Erfüllung ihrer eigenen Bestimmung: an der Mission dieser beiden ungleichen Helden hängt das gesamte Schicksal des Königreiches ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 881
© Thomas James Vallely
AUTOR
J. D. Oswald verfasste bereits während des Studiums der Psychologie erste Comics. Es folgten Kurzgeschichten, diverse Blog-Posts und eine Fantasy-Reihe. Neben dem Schreiben betreibt er heute eine Farm in der schottischen Grafschaft Fife. Mit seinen ersten beiden Thrillern wurde J. D. Oswald für den renommierten Debut Dagger Awardnominiert und stürmte auf Anhieb die britischen Bestsellerlisten. Mit der »Dreamwalker«-Serie legt er seine ersten Jugendbücher vor.
Bereits erschienen:
Band 1: DREAMWALKER –Der Zauber des Drachenvolkes (40306)
Band 2: DREAMWALKER –Das Geheimnis des Magierordens (40307)
Band 3: DREAMWALKER –Die Gefangene des Drachenturms (40308)
Band 4: DREAMWALKER –Das Reich der Drachen (40354)
Mehr zu cbj auf Instagram @hey_reader
J. D. Oswald
DREAMWALKER
Kampf um den Obsidianthron
Aus dem Englischenvon Gabriele Haefs
1
Heute noch einen verloren. Er war ein vielversprechender Knabe, er verschwand einfach aus meinem Arbeitszimmer, ließ das Feuer herunterbrennen und hatte den Tisch nicht abgeräumt. In der Burg ist keine Spur von ihm zu entdecken, und der Majordomus hat keine Ahnung. Eine Schande. Ich hatte große Hoffnungen.
Ich bin noch immer überzeugt, dass Menschen die Fähigkeit besitzen, die Feinen Künste zu erkennen und zu benutzen. Viele zeigen eine natürliche Empfänglichkeit für die Grym, die schließlich der Quell allen Lebens ist. Ich muss nur eine Möglichkeit finden, ihre geistige Disziplin zu vergrößern und ihre angeborene Neugier zu zügeln, dann wird dieses Experiment zweifellos glücken.
Aus den Arbeitstagebüchern von Gog, Sohn des Wintermondes
Kalter Wind schlug ihm die Tränen aus den Augen, als er Schwanz über Kopf abwärtstaumelte. Benfro umklammerte seine kostbare Last und fiel immer schneller aus Gogs Burgturm. Die Dächer der kleineren Gebäude, die sich um den Turm zusammendrängten wie Ferkel um eine Sau, waren noch weit weg, jagten ihm aber dennoch in beängstigendem Tempo entgegen. Und noch immer konnte er nur das Bild sehen, das grauenhafte Echo der Vergangenheit, als Inquisitor Melyns Feuerklinge nach unten sauste. Zerschlagene Schuppen, uralte ledrige Haut, zähes Fleisch und gichtige Knochen waren der konzentrierten Kraft der Grym nicht gewachsen. Die herbeibeschworene Klinge, die das Leben seiner Mutter beendet hatte, holte sich jetzt ein weiteres Opfer, das er nicht beschützen konnte.
Er hörte Schreie, schrill und voller Panik, aber das registrierte er nur am Rande, denn noch immer war er zutiefst geschockt. Es war einfach, sich um sich selbst zu drehen, abwechselnd den Himmel und die Gebäude zu sehen, die dunklen Sturmwolken und die vom Regen abgespülten Dachschindeln, glänzend und Unheil verkündend. Etwas Kleines zupfte und zog an seinem Arm, und er schaute fast aus Versehen nach unten. In einem anderen Leben, so kam es Benfro vor, hatte er diese beiden Menschen an sich gerissen. Der eine, der Junge, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte, zappelte und strampelte in dem verzweifelten Versuch, dem schuppigen Zugriff des Drachen zu entkommen, auch wenn das für ihn nur den Sturz in den sicheren Tod bedeuten würde. Die junge Frau hingegen war ruhig. Sie richtete ihren Blick auf Benfro, achtete nicht darauf, dass ihre Haare sich um ihren Kopf ringelten wie wütende Schlangen, achtete nicht auf seinen eisernen Zugriff, obwohl der ihr das Atmen so gut wie unmöglich machen musste, achtete nicht auf die sich in schnellem Tempo nähernden Dächer.
»Du musst fliegen.«
In Gedanken hörte er diesen Befehl, gelassen und gütig wie den Mutterbaum. Oder die große Heilerin Earith. Sie hatte tiefgrüne Augen, diese junge Frau. Benfro konnte sie deutlich sehen, die goldenen Flecken, die in den schwarzen Pupillen glitzerten wie Sterne am Nachthimmel. Sein fehlendes Auge zeigte ihm so viel mehr.
»Dafür ist keine Zeit. Jetzt musst du fliegen.«
Diesmal kam der Befehl mit größerer Stärke und vertrieb den Nebel aus seinen Gedanken. Oder war es die Vision dieser Frau in der Ätherischen Sphäre, die Aura, die sich ausdehnte und um die Frau herum eine viel größere Gestalt bildete? Was auch immer, Benfro spürte, dass er erwachte, und ihm ging auf, dass er sehr schnell fiel. Aus einem Instinkt heraus öffnete er seine Flügel im perfekten Augenblick, um abzubremsen und seinen Sturz in ein Gleiten umzuwandeln. Die Anstrengung riss an den Muskeln, die von seiner Begegnung mit Flint her noch immer schmerzten. Der Schmerz schoss durch seinen Rücken und rief die Erinnerung an eine ältere Verletzung wach, die er auf dem Arnahi davongetragen hatte. Einen Augenblick lang fürchtete Benfro, er werde seine kostbare Last fallen lassen, denn seine Arme spürten die Anstrengung jetzt deutlich. Er presste die beiden Menschen fester an sich und schloss die Schreie des Jungen aus seinem Bewusstsein aus.
Sosehr er sich auch anstrengte, Benfro konnte seine Flügelspitzen nicht anspannen, Schmerz und Schwäche verbogen sie so grausam wie Flints wütender Angriff. Als er auf die Dächer hinunterschaute, die jetzt viel zu nahe waren, versuchte er, seine Geschwindigkeit anzupassen und einen Winkel zu finden, in dem er sicher den Boden erreichen könnte. Alles ging zu schnell, und mit einem Übelkeit erregenden Gefühl von Unvermeidlichkeit ging ihm auf, dass er eine Bruchlandung hinlegen würde.
»Festhalten«, sagte er, als ob seine Begleiter irgendeine Wahl hätten. Er hielt die Flügel so lange wie möglich ausgebreitet und sah zu, wie die glanzlosen Schieferdächer ihnen entgegenjagten. Im letzten möglichen Augenblick warf er sich dann in der Luft herum, schloss die Flügel um die beiden verängstigten Menschen und ließ seinen Schwanz die volle Wucht des Aufpralls abfangen.
Schieferplatten zersplitterten lautstark und uralte Dachbalken zerknickten wie morsche Knochen, als seine Schwungkraft ihn das Dach durchschlagen ließ. Benfro sah für einen winzigen Moment einen Speicher, verstaubt und mit schweren Spinngeweben behangen, dann schrammte sein Rücken über einen hölzernen Boden und schlug ihm noch den letzten Rest Atem aus dem Leib. Bodenbretter und Holzstreben zerbrachen wie trockenes Reisig und er fiel einfach hindurch.
Das nächste Stockwerk enthielt offenbar Schlafkammern. Benfro konnte sich nur kurz in dem Raum umsehen, während er hindurchfiel, langsamer jetzt, zu einem mit verschossenen Teppichen bedeckten Boden. Eine in einer Ecke errichtete Plattform bildete eine Art Hochbett wie das, welches er in Eariths Palast in Pallestre benutzt hatte. Allerdings war jenes mit feinem weißen Leinen ausgelegt gewesen, während hier die Felle großer Tiere aufgehäuft waren. Ein gewaltiger leerer Kamin dominierte eine Seite, außerdem sah Benfro eine riesige, offenbar für Drachen angelegte Tür. Dann knallte er auch schon auf den Boden.
Die Teppiche milderten den Aufprall ein klein wenig ab. Staub umwogte Benfro, als etwas in seinem Rücken durchbrach und der Schmerz die Muskeln durchschnitt wie ein glühendes Messer. Benfros Kopf wurde zurückgerissen und schlug mit einem grauenhaften Krachen auf, das für gnädige Augenblicke seine Sinne betäubte. Er merkte, dass in seinen Armen etwas zappelte. Die beiden Menschen waren dort eingesperrt, und Benfro konnte kaum genug Energie aufbringen, um sie loszulassen. Seine Flügel hingen an seinen Seiten nach unten und er konnte nur betäubt und verwirrt dort liegen. Hoch über ihm war durch sein plötzliches Auftauchen eine reich verzierte Stuckdecke ruiniert worden. Über dem Loch konnte er Licht sehen, trübe und grau und bewölkt war der Himmel durch die Überreste des Daches zu erkennen.
Und dann versperrte ihm ein Gesicht den Blick, struppige schwarze Haare, die nach unten hingen, bis sie fast seine Nase streiften. Dunkelgrüne Augen starrten ihn an, mit einer gleichermaßen verdutzten wie geschockten Miene.
»Benfro?« Diesmal hörte er die Stimme mit seinen Ohren, nicht mit seinen Gedanken. Sie sprach so ungefähr wie Errol, nur in einem höheren Tonfall und einer etwas anderen Aussprache, als sei ihr die Drachensprache geläufiger. Benfro war selbst für eine Antwort zu erschöpft.
»Benfro? Mach schon. Aufwachen!« Die Frau beugte sich weiter über ihn, tippte zweimal mit dem Finger seine Nase an, dann zog sie ihre Hand zurück und versetzte ihm einen Schlag über die Schnauze. Er versuchte, sich zu bewegen, vor allem, weil ihr Verhalten ihn empörte, aber er war noch immer gelähmt und unfähig zu denken.
»Verdammt, Drache. Du hast uns vor dem Absturz gerettet. Jetzt darfst du uns hier nicht sterben.« Diesmal schlug die junge Frau noch härter zu, und bei ihrer Berührung fiel ihm ihr Name ein. Martha. Sie war Errols Freundin. Die Freundin, die sie gesucht hatten. Er musste Errol finden, musste Magogs Edelstein finden und ihn zu der Stelle bringen, wo die letzten sterblichen Überreste des seit langer Zeit toten Drachen lagen. Nur dann würde er sich befreien können. Aber Gog war tot. Gog, der Einzige, der ihn hätte zurückbringen können. Ohne ihn gab es keine Hoffnung mehr.
»Atmen, du schuppiges Riesenvieh!« Diesmal wurde der Schlag eher zu einem Boxhieb, und Benfro hatte das Gefühl, dass dahinter etwas noch Stärkeres steckte. Er zuckte instinktiv zusammen, als sie zu einem weiteren Hieb ausholte, holte tief Luft, zum ersten Mal seit tausend Jahren, wie es ihm schien. Als sich seine Lunge füllte, spürte er die Herzen in seiner Brust hämmern und seine überdehnten Muskeln brennen. Er hustete, krampfte sich vor Qual zusammen und stieß eine riesige, klare weiße Flamme aus. Martha konnte gerade noch beiseitespringen, um nicht verbrannt zu werden. Das Feuer schwebte wie ein lebendes Wesen in der Luft, während Benfro würgte und hustete. Er drehte sich auf dem Boden um und sah den Jungen Xando dicht vor sich stehen. Xandos Gesicht war weiß, seine Augen weit aufgerissen, und er hielt seinen Arm, als ob der gebrochen sei. Ohne zu wissen, wie er das schaffte, sah Benfro mit seinem fehlenden Auge die wirbelnden Muster aus Aura, die den Jungen umgaben und die den Bruch bestätigten. Es würde leicht genug sein, den Arm einzurichten, aber die Heilung würde ihre Zeit brauchen.
»W…« Benfro versuchte zu sprechen, aber seine Kehle war vom Husten wie ausgedörrt. Er richtete sich auf alle viere auf und schüttelte den Kopf, um seine Gedanken von den Spinnweben zu befreien. Bei dieser Bewegung schlackerten seine Flügel hin und her und der Schmerz schoss so scharf hindurch, dass Benfro fast das Bewusstsein verloren hätte. Er kippte vornüber, der Aufprall war eine Qual für seine Arme und löste noch mehr Feuer in seinem Rücken und seinem verletzten Flügel aus. So kurz nachdem Earith ihn geheilt hatte, war die Anstrengung zu gewaltig gewesen.
»Vorsicht. Du bist schwer verletzt. Beweg dich lieber nicht zu viel.«
Benfro spürte, wie Martha seine Schulter berührte. Ihre Worte brachten eine Wärme mit sich, die wenigstens einen Teil der Schmerzen verschwinden ließ. Er blickte wieder zu ihr hoch und sah diese seltsame Aura, die sich über ihr irdisches Selbst gestülpt hatte. Ein Mysterium, das er nicht einmal ansatzweise durchschauen konnte.
»Hilf dem Jungen. Er hat den Arm gebrochen.« Seine Worte waren ein heiseres Flüstern, als ob er stundenlang aus voller Kehle gebrüllt hätte. Vielleicht hatte er das ja auch. Martha legte den Kopf ein ganz klein wenig schräg, dann lächelte sie. Sie entfernte ihre Hand von seiner Schulter, und sofort wünschte er, sie hätte das nicht getan. Die Schmerzen kamen in Wellen, jeder Atemzug bohrte Nadeln in den Muskelknoten, der in seinem Rücken bei den Wurzeln der Flügel saß. Langsam, vorsichtig streckte er seine Sinne aus, sein fehlendes Auge sah Teile von ihm, die er noch nie gesehen hatte. Während Martha sich um Xandos Verletzungen kümmerte, untersuchte Benfro seinen eigenen Körper.
Trotz des schrecklichen Sturzes war er ziemlich glimpflich davongekommen, nur seine Muskeln waren übel gezerrt. Sein Rücken war unter den Schuppen eine Masse von blauen Flecken, die noch viele Tage lang wehtun würden. Seine Flügel waren weitgehend unversehrt, nur wund nach dem harten Sturz vom Dach und vom Mansardenboden. Keine dieser Verletzungen verursachte die schrecklichen Schmerzen. Die verdankte er einem Stück Holz, einem Dachbalken, dessen scharfe, gezackte Spitze sich auf irgendeine Weise zwischen zwei Schuppen an seiner Seite gebohrt hatte und beim Aufprall tief in seine Seite gerammt worden war. Dickes schwarzes Blut sickerte am Wundrand hervor, lief über seine Schuppen und tropfte auf den verstaubten Teppich.
Errol dachte an die kurze Zeit, in der er für den alten Stallmeister in Emmas Faur gearbeitet hatte, ehe Father Andro ihn unter seine Fittiche genommen und in die Wunder der gewaltigen Bibliothek eingeführt hatte. Er hatte Ställe ausgemistet, hatte Kot und Stroh durch die steinernen Gewölbegänge des großen Klosters bis hinab zu den versteckten Etagen gekarrt. Er kannte den Geruch von Pferdemist. Nach einer Weile war der Geruch verflogen. Er hatte vielleicht noch einen Rest unter seinen Fingernägeln wahrgenommen, von Stellen, die er mit der Bürste nicht erreicht hatte, aber das war nur ein Echo des eigentlichen Gestanks gewesen. Und das Echo hatte ja doch einen gewissen Charme besessen.
Der schleimige Dreck, durch den er hier watete, war anders. Die Luft war so erfüllt von dem Gestank, dass er kaum atmen konnte. Ihm war schwindlig, Gedanken waren schwer zu fassen, und egal, wie lange er schon in dieser riesigen Höhle steckte, egal, wie viele Karren er beladen, über den kurzen Schienenstrang geschoben und in den Abgrund gekippt hatte, der Gestank war so mächtig wie immer. Er klebte an seiner Haut wie feuchte Kleidung. Errol war es, als müsste er darin ertrinken. Nach und nach verlor er jedes Bewusstsein seiner selbst, während dieser seltsame Zwang ihn veranlasste, an dem Kackehaufen zu graben. Einen Moment lang, als der Warnruf ertönt und noch mehr flüssige Materie heruntergekracht war, hatte er eine ganz leichte Bewegung der Grym gespürt, doch obwohl er auf einen weiteren Schwall gewartet hatte, vielleicht mit mehr Enthusiasmus als irgendeiner seiner Elendsgefährten, war keiner mehr gekommen.
Jetzt war der Saum seines Kittels verkrustet von widerlich schimmernden Exkrementen und zog ihn nachdrücklicher nach unten als jede Kette. Seine Füße verschwanden in der ätzenden Flüssigkeit, die aus dem Matsch hervor in die Risse des Felsbodens sickerte. Seine Haare waren verfilzt, sein Gesicht verschmiert. Er wollte gar nicht daran denken, in welchem Zustand sich wohl seine Hände befanden. Selbst wenn er entkommen und einen Ort mit frischer Luft und fließendem Wasser finden könnte, würde er eine Ewigkeit schrubben müssen, um sich von diesem Dreck zu befreien. Und selbst dann würde er es immer noch riechen. Es gab keinen Ausweg.
»Du da. Nicht mehr graben. Essen.«
Errol war so in sein Elend vertieft, so überwältigt von der stinkenden Luft, dass er diesen Befehl zuerst nicht hörte. Und selbst als die Worte in sein Bewusstsein sickerten, hatte er nicht das Gefühl, dass sie ihn etwas angingen. Der harte Schlag auf seinen Hinterkopf war leichter zu verstehen. Er krümmte sich und stützte sich auf seine Schaufel. Dann drehte er sich langsam zu dem hinter ihm stehenden Aufseher um.
»Essen. Schlafen. Morgen weitergraben.« Als der Aufseher die Schaufel aus Errols schwachen Händen zog, wäre dieser fast kopfüber in den Schlamm gefallen. Der Aufseher zeigte auf eine Öffnung in der Höhlenwand und machte eine gebieterische Handbewegung. Errol war zu schwach, um auch nur zu denken. Es blieb ihm nichts anderes, als zu gehorchen.
Seine Füße trugen ihn in eine grob zurechtgehauene Höhle, die von einem fast erloschenen Feuer notdürftig beleuchtet wurde, über dem an einem eisernen Haken ein schwarzer Kessel hing. In dem Kessel dampfte eine dunkle Flüssigkeit. Errol schaute sich um, aber außer ihm schien gerade niemand Pause zu haben. Er fand auf einem Sims dicht beim Feuer einen Stapel grober Holzschalen, nahm sich eine und füllte sie mit der Kost aus dem Kessel. Er nahm zumindest an, dass es sich um etwas Essbares handelte. In dem Miasma, das aus der großen Höhle herübertrieb, konnte er nichts anderes riechen. Trotz des Gestanks und des Schmutzes, der seine Hände und Finger überzog, trotz des Kratzens in seinem Hals, das ihn würgen ließ, wann immer er den Mund aufmachte, hatte er immer noch Hunger. Er hob die Schüssel an seine Lippen und trank einen Schluck von der lauwarmen Flüssigkeit, die zu seiner Überraschung nicht so schmeckte, wie alles andere hier roch. Sie war dünn und schwach, aber dennoch nahrhafter als alle Mahlzeiten, an die er sich überhaupt erinnern konnte. Ein wenig von dem widerlichen Geschmack verschwand, als die Flüssigkeit durch seine Kehle lief und seinen Magen mit etwas Wärme füllte. Für ein Stück Brot hätte Errol einen Mord begehen können, aber es gab nur die Suppe, deshalb füllte er seine Schüssel ein weiteres Mal und schaute sich dabei schuldbewusst um, als fürchte er den Vorwurf, er habe sich zu viel genommen.
Sein ganzer Körper schrie nach Ruhe. Errol bückte sich, um ein Lumpenbündel daraufhin zu untersuchen, ob sich daraus ein Bett machen ließ. Doch er fuhr entsetzt zurück. Die Lumpen waren Kleider, die um einen Mann gewickelt waren. Selbst in dem schwachen Licht, den das sterbende Feuer verbreitete, konnte Errol sehen, dass der Mann tot war. Errol richtete sich zu rasch auf und wich voller Grauen vor dem Leichnam zurück. Sein Fuß blieb irgendwo hängen und er ging mitten in einem Lumpenhaufen zu Boden, der knackte wie zerbrochene Knochen. Errol sah den Tod nicht zum ersten Mal, aber etwas hier vervielfachte das Entsetzen. Er rannte auf das Feuer zu, überzeugt davon, auf allen Seiten von Toten umgeben zu sein, die ihn in ihre kalte, leere Welt holen wollten. Hier waren Menschen, die er kannte, ihre Gesichter waren in stummen Schreien der Qual verzerrt. Dorfvorsteher Cluster taumelte auf ihn zu und stützte sich dabei auf die hohe Gestalt von Tom Tydfil dem Grobschmied. Godric Defaid war da. Er hatte keine Augen mehr und seine Hände waren kaum mehr als zerfetzte Stümpfe. Paul Gremmil saß weinend am Feuer, und als er aufschaute, konnte Errol die Glut durch zwei Löcher sehen, wo Augen hätten sein müssen. Eine Hand fiel auf seine Schulter, er drehte sich um und sah Herzog Dondal, der sich den Kopf unter einen Arm geklemmt hatte und dessen Hals ein blutiger Stumpf war.
»Wa…« Errol versuchte zu sprechen, aber die Toten hatten ihn jetzt umringt und rückten so dicht an ihn heran, dass er keine Luft mehr bekam. Das trübe Licht des Feuers verblasste zusehends, nur ein mattes Leuchten wurde noch von den gezackten Felsen der Höhlendecke zurückgeworfen. Und als Errol noch um Atem rang, hüllte ihn die Finsternis vollständig ein.
»Wir müssen mit ihnen verhandeln. Feststellen, was sie wollen. Durch Kampf und Zerstörung ist nichts zu gewinnen.«
Prinz Dafyd schaute aus dem Palastfenster, über die zerstörten Dächer und auf die Ebene in der Ferne, wo sich Königin Beulahs Truppen zur Belagerung zusammengezogen hatten. Einen Moment lang dachte er, der Seneschall spreche mit ihr, aber selbst er wusste, dass es Erfolg versprechender war, mit den Drachen, die drohend über dem Neuad kreisten, zu sprechen als mit der Königin, der sie soeben den Thron gestohlen hatten.
»Glaubt Ihr wirklich, sie würden mit uns reden, Padraig? Ich bin nicht einmal sicher, ob irgendwer von ihnen sprechen kann.«
Prinzessin Iolwen saß auf einem reich verzierten Thron auf einer Art Bühne am einen Ende des Saals. Sie schien sich dort nicht wohlzufühlen, aber das hatte möglicherweise ebenso viel mit der Situation zu tun wie mit dem Thron. Usel, der Heilkundige, und Hauptmann Venner von der Palastgarde bildeten den Rest des improvisierten Kriegsrates. Außerdem war der junge Stallknecht Teryll dabei, der überaus fehl am Platz wirkte, wie er auf einem niedrigen Schemel neben der Prinzessin saß. Dafyd unterdrückte bei diesem Gedanken ein freudloses Lachen. Es gab hier keinen Krieg, nur Vernichtung. Entweder würden die Drachen die Stadt zerstören oder Beulah würde sie dem Erdboden gleichmachen und neu aufbauen, wenn sie erst jeden Mann, jede Frau und jedes Kind innerhalb der Stadtmauern hingemetzelt hatte. Er war sicher, dass sie nicht viel Erbarmen zeigen würde.
»Immerhin hat einer von ihnen schon einmal mit Euch gesprochen. Gleich nachdem sie im Neuad eingetroffen waren.« Seneschall Padraig stand vor dem Thron und hatte die Hände flehend aneinandergelegt. Wen er eigentlich anflehte, war Dafyd nicht ganz klar.
»Könntet Ihr diese Bestie wiedererkennen, Usel?« Iolwen hatte ihre Frage an den Heiler gerichtet, der ihnen allen den Rücken zukehrte und aus dem Fenster starrte. Dieser drehte sich langsam um, bevor er antwortete: »Bestie ist vielleicht ein wenig übertrieben. Sir Morwyr ist intelligent und in der Grym mächtig. Ich habe seine Gedanken gespürt, und das habt Ihr auch, Eure Hoheit. Er ist allerdings nicht der Anführer dieses Trupps.«
»Wenn wir Kontakt zu ihm aufnehmen könnten, würde er dann womöglich als Vermittler auftreten?«, fragte der Seneschall. »Wir können die Drachen weder vertreiben, noch können wir aus der Stadt fliehen. Aber irgendetwas müssen wir doch unternehmen!«
Stille senkte sich über den Saal. Padraig hatte recht. Noch umkreisten die Drachen meistens den Neuad oder lungerten bei dem Kreuzgang herum, der sich um die große Halle zog, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder über die Stadt herfallen würden.
»Ich werde mit ihnen sprechen.« Iolwen stand so plötzlich auf, dass Dafyd Angst hatte, sie könnte vorwärtskippen. Er stürzte zu ihr.
»Iol … das kannst du nicht … das ist zu gefährlich.«
»Ich habe hier den Thron für mich beansprucht, Dafyd. Ich wollte die Königin der verängstigten Menschen unten in der Stadt sein. Ich kann niemanden bitten, an meiner Stelle zu gehen.«
»Doch, Eure Hoheit, das könnt Ihr.«
Aller Augen richteten sich auf Padraig, und sein veränderter Tonfall beendete die Ungewissheit, die bisher ihre Besprechung belastet hatte. Er richtete sich gerade auf, legte seine Hände locker aneinander, klang nicht mehr klagend.
»Padraig …«
»Als Seneschall des Ordens der Kerze ist es meine Pflicht, das Haus Balwen bei allen Verhandlungen zu vertreten. Ich werde mich den Drachen vorstellen, werde mit diesem Sir Morwyr sprechen und ihm unseren Wunsch nach friedlicher Koexistenz vortragen.« Er drehte sich zu dem Heiler um. »Ich würde Eure Hilfe zu schätzen wissen, Usel. Mein Draigiaith ist vielleicht ein wenig eingerostet. Es ist lange her, dass zuletzt ein Drache bei Hofe präsentiert wurde.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, verbeugte sich der Seneschall kurz vor Iolwen, dann drehte er sich um und schritt aus dem Saal. Usel musste sich Mühe geben, um mit ihm Schritt zu halten, und Dafyd wollte den beiden folgen. Iolwen stieg von dem Thronpodest, dicht gefolgt von Teryll.
»Du bleibst besser hier, Iol. Ich nehme zwei Wachen mit und sorge dafür, dass niemandem etwas passiert.«
Einen Moment glaubte er, sie werde widersprechen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Aber nach kurzem Nachdenken nickte die Prinzessin. Dafyd nahm das als Erlaubnis, den Saal zu verlassen. Er winkte die beiden nächststehenden Wachen zu sich und steuerte zusammen mit ihnen die Tür an.
Als sie Padraig und Usel einholten, hatten die beiden fast schon die Steintreppe erreicht, die aus dem Empfangssaal vorn im Palast nach unten führte. Der Seneschall blieb gerade lange genug stehen, um einen Trupp Wachen hinter ihm in Stellung gehen zu lassen, dann schritt er die Treppe hinunter. Im Vergleich zu dem alten Mann, als der er ihm seit ihrer ersten Begegnung stets erschienen war, wirkte er jetzt ungeheuer agil, fand Dafyd. Und als er versuchte, die Gedanken des greisen Seneschalls abzuschöpfen, musste er feststellen, dass Padraigs mentaler Schild fester war als jeder andere, auf den Dafyd seit seinem letzten Scharmützel mit dem alten König Billah gestoßen war. Das war vielleicht vernünftig, schließlich war der Drache, der ihnen begegnet war, ja mit Leichtigkeit in Padraigs Gedanken eingedrungen.
Dafyd verharrte im Schatten und richtete seine eigenen Verteidigungslinien auf, während er zusah, wie der Seneschall ins Tageslicht hinaustrat.
Das Exerzierfeld vor dem Palast war Dafyd riesig erschienen, als er es einige Tage zuvor zum ersten Mal gesehen hatte. Jetzt kam es ihm überfüllt und klein vor, übersät mit den Kadavern halb zerfleischter Tiere und hier und dort mit den zusammengesackten Überresten von etwas, das vielleicht einmal ein Mensch gewesen war. Zwei riesige Drachen lagerten einige Dutzend Schritte vom Eingang entfernt und räkelten sich in der Nachmittagssonne. Ein noch größerer Drache schritt langsam die Runde ab, starrte die Mauern an, streckte ab und zu die Hand aus, um etwas zu berühren, oder beugte sich vor und beschnupperte irgendetwas. Drei weitere Drachen lungerten in der Nähe der Verwaltungsgebäude herum, die auf der gegenüberliegenden Seite an das Exerzierfeld angrenzten. Die Schuppen der Drachen funkelten wie Edelsteine in einer Million unterschiedlicher Farbtöne, als sie von den Strahlen der Sonne getroffen wurden. Über ihnen kreisten weitere Drachen schreiend in der Luft, und als Dafyd zu ihnen hochblickte, konnte er das Donnern ihrer Stimmen gegen seine mentale Abwehr prallen hören. Es war nur gut, dass er sich vorbereitet hatte, ungeschützt wäre er von diesem Lärm bestimmt bewusstlos geschlagen worden.
»Sir Morwyr?« Seneschall Padraig ging jetzt mit gesenktem Kopf weiter und näherte sich dem nächsten Drachen mit langsamen Schritten. Dafyd wusste noch immer nicht, ob es derselbe war, den sie schon einmal gesehen hatten, der, der ihnen geraten hatte, die Stadt zu verlassen, ehe seine Gefährten eintrafen. Er hatte jedoch den Eindruck, dass dieses Wesen größer war, auch wenn es dieselbe tiefschwarze Färbung aufwies. Der Drache hatte mit geschlossenen Augen dagelegen, den gewaltigen Kopf auf dem Plattenweg, der pfeilgerade vom Palasteingang zur anderen Seite des Exerzierfeldes führte. Jetzt öffnete er ein Auge, das größer war als Padraigs Kopf, und schnüffelte in der Luft herum, während er sich konzentrierte.
»Sir Morwyr, ich komme im Namen von …« Aber in wessen Namen er kam, konnte Padraig nicht mehr mitteilen. Mit einer Schnelligkeit, die seinem gewaltigen Rumpf zu widersprechen schien, hob der Drache den Kopf, öffnete das Maul und biss den Seneschall mit einem Zuschnappen in zwei Teile. Padraig blieb nicht einmal mehr Zeit zu schreien. Dafyd sah voller Entsetzen zu, wie der Drache den Kopf höher hob und den Bissen herunterschlang wie ein Hund, der Reste gefunden hat. Padraigs Beine und Unterleib fielen mit einem feuchten, blutigen Klatschen zu Boden, und gleich darauf war der Drache, der bei den Türen herumgelungert hatte, dazugesprungen und hatte alles an sich gerissen.
Innerhalb weniger Herzschläge war Seneschall Padraig verschwunden – nur eine blutige Schmierspur auf dem Boden war zurückgeblieben.
Eine gespannte Unruhe hatte sich im Lager breitgemacht. Die Armee wartete voller Nervosität. Die einfachen Soldaten, die aus den Landgebieten und den kleinen Dörfern rekrutiert worden waren, waren eine abergläubische Bande, und es war in Beulahs Interesse gewesen, dass es dabei blieb. Die intelligentesten Jungen wurden jedes Jahr bei der Auswahl geholt und zu Schreibern im Orden der Kerzen, zu Heilkundigen im Orden der Widder oder zu Kampfpriestern im Orden vom hohen Fryd ausgebildet. Der Rest lernte vielleicht einige Buchstaben, die Grundrechnungsarten, die auf dem Markt gebraucht wurden, manchmal sogar einige Worte Lanwennog, wenn sie Händler oder Seeleute waren, aber sie wurden nicht zu weiteren Studien ermutigt. Für sie waren Drachen bisher nichts als Sagengestalten gewesen – oder höchstens im Vorübergehen erspähte zaghafte Geschöpfe, die nicht viel größer als ein Pferd waren.
Die beiden Drachen jedoch, die in der Ebene vor sich hindösten, sahen aus, als ob sie ein Pferd mit einem einzigen Bissen verschlingen könnten.
Nur der Anblick des dritten Drachen, der einige Hundert Meter weiter entfernt tot dalag, konnte die Panik zurückdrängen. Und wer zum Neuad hochblickte, der stolz auf dem großen Hügel von Candlehall thronte, konnte beobachten, wie ein Dutzend oder mehr riesige Bestien darüber in der Luft kreisten. Woher sie kamen, wusste niemand, aber das spielte auch keine Rolle. Sie waren hier, und sie waren mächtiger als alles, was seit den Zeiten von König Balwen jemals gesehen worden war.
Und Clun hatte ihren Anführer besiegt.
Beulah versuchte, Ruhe auszustrahlen, als sie an den Zeltreihen entlangging und ihre Truppen inspizierte. Das Land hier war stark durch die Grym, und mit jedem Tag wuchs ihre Fähigkeit, die Grym zu manipulieren, während die hinderlichen Auswirkungen ihrer Schwangerschaft verschwanden. Dennoch machte es ihr Mühe, den richtigen Geisteszustand zu finden; die Drachen besudelten die Luft mit ihrem Gestank und die Grym mit etwas noch Stärkerem, noch Entmutigenderen. Das irritierte sogar die Kampfpriester, was Beulah größere Sorgen als alles andere bereitete.
»Stimmt es, dass sie auf unserer Seite kämpfen, Eure Majestät?«
Diese Frage wurde ihr nicht zum ersten Mal gestellt, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Der Mann, der gefragt hatte, war ein einfacher Soldat, jung und stark. Ein Landarbeiter vielleicht, wenn sie nach der Hautfarbe und seiner kräftigen Gestalt gehen konnte. Er war ein bisschen größer als die Soldaten in seiner Umgebung, hielt sich ein bisschen gerader. Und natürlich hatte er den Mut aufgebracht, die Königin anzusprechen, während alle anderen in ihrer Anwesenheit zitterten. Sie streifte kurz seine Gedanken, sah dort aber nur Staunen und Erregung darüber, sich an diesem gerechten Krieg beteiligen zu dürfen und sich in der Nähe der erhabenen Königin aufhalten zu dürfen. Er erinnerte sie an Clun bei ihrer ersten Begegnung.
»Sie kämpften für Seine Durchlaucht den Herzog von Abervenn, und da er mir seine Treue geschworen hat, kämpfen sie für uns«, sagte Beulah so überzeugend, wie sie nur konnte, obwohl sie in Wahrheit ihre Zweifel hatte.
»Dann können wir nicht verlieren, dem Hirten sei Dank.« Der junge Mann senkte den Kopf und machte das Zeichen des Stabes vor seiner Brust. Es war eine schlichte Geste, eine, die Beulah über tausendmal gesehen hatte, aber etwas daran jagte ihr einen Schauer durch den Leib. Wie ein Segen für die Verdammten, nicht wie ein Dankesgebet.
»Wie heißt du, Soldat? Woher kommst du?«
»Siarl, Eure Majestät. Ich komme aus dem Hendry. Vom Rand des Moorlandes im Süden von Castell Glas.«
Beulah wollte dem Jungen schon klarmachen, wie sie anzureden war, aber dann dachte sie, wie albern das ganze System von »Eure Majestät« und »Frau Königin« doch war. »Du bist mit Herzog Beylin gekommen? Hast bei der Wiedereinnahme von Abervenn geholfen?«
»Jawohl! Es war mein allererstes Gefecht, und ich hätte nie gedacht, dass ich gegen Männer aus dem Hafod kämpften müsste.« Der junge Mann schaute kurz zu Candlehall und dem Neuad empor, bevor er den Blick senkte.
»Mach dir keine Sorgen, Siarl. Einige meiner Leute haben mir vielleicht den Rücken gekehrt und ihre Herzen dem Wolf geschenkt, aber der Hirte gibt uns seine Huld. König Billah ist tot und wir haben Lanwennog erobert. Und jetzt, mit den Drachen auf unserer Seite, wird die Belagerung von Candlehall nicht lange dauern.« Beulah fügte nicht hinzu, dass sie blutig enden würde. Sie wandte sich von dem jungen Soldaten ab und sprach einen der Kampfpriester an, die sie auf Schritt und Tritt begleiteten.
»Hauptmann, dieser Junge könnte ein guter Anführer sein. Sorgt dafür, dass er ausgebildet und befördert wird. Ich brauche mehr Männer wie ihn in meiner Armee.«
Der junge Mann fiel auf die Knie. »Eure Majestät. Ihr erweist mir eine große Ehre.«
»Schon gut.« Beulah schaute auf ihn hinunter und eine böse Vorahnung erfasste sie. »Sorg dafür, dass ich nicht enttäuscht werde.«
2
Es ist viel über die Brüder Gog und Magog geschrieben worden, die sich der Sage nach blutig bekämpften, um die Gunst von Amorgum der Holden zu erlangen. Als Amorgum einem ihrer Zauber zum Opfer fiel, waren die Brüder so verzweifelt, dass sie den Gulad in zwei Teile spalteten. Sie wollten lieber die Welt zerstören, als sie miteinander teilen zu müssen, und der unermessliche Schaden, den ihre Taten anrichteten, galt ihnen nichts.
Das erzählt die Sage, um alle vor blinder Machtgier und törichtem Hochmut zu warnen. Aber in der Geschichte liegt noch mehr, als die Dichter verkünden; die Geschichte hat eine tiefere Wahrheit, als sie vermuten. Gog, Sohn des Wintermondes, und sein Zwillingsschlüpfling Magog, Sohn des Sommermondes, lagen schon seit ihren frühesten Tagen miteinander im Zwist. Sie wurden unter Anleitung der besten Mages ihrer Zeit mächtig in den Feinen Künsten, errichteten prachtvolle Paläste und schmiedeten Pläne, um die ganze Welt ihrem Willen zu unterwerfen. Ihre Rivalität trieb sie zu immer größeren Taten an, und jeder versuchte, den anderen an Magie zu übertreffen. Tatsächlich erregten ihre kühnen Taten überhaupt erst Amorgums Aufmerksamkeit.
Die Geschichte, wie sie den Gulad zerteilt haben, wird oft als Gleichnis aufgefasst, als Warnung vor der letzten Torheit derer, die zu viel Macht und zu wenig Verantwortungsbewusstsein besitzen. Und diesen beiden miteinander zerstrittenen Brüdern gelang es auf irgendeine Weise, nicht nur den Gulad in zwei voneinander getrennte Reiche aufzuteilen, sondern auch in der Hälfte des feindlichen Bruders jeweils eine kleine Gabe zu hinterlassen, die uns noch heute verfolgt. Magog säte den Keim, der zu dem Übel heranwachsen sollte, das unsere jungen Leute belastet: eine Abneigung gegen Lernen und Disziplin, eine Rückkehr in die alten Zeiten, als Drachen kaum besser waren als wilde Tiere. Und Gog tat den Angehörigen seines Bruders keinen größeren Gefallen, denn sein Fluch lässt sie dahinwelken, nachdem er den Menschen, die nicht mehr unsere Freunde und Diener sind, einen tiefen und unsinnigen Hass auf unseresgleichen eingeflößt hat.
Aus den Tagebüchern von Myfanwy der Kühnen
In dem Raum oben im Turm ist es immer kalt. Der Alte scheint das nicht zu spüren, und seine Anhänger auch nicht. Drachen wirken auf irgendeine Weise immun gegen das Wetter, was, so vermutet er, auch Sinn ergibt. Sie können schließlich fliegen. Aber das ist noch nicht alles. Selbst an den kältesten Tagen, wenn er das Feuer gewaltig schüren muss und nicht wagt, sich zu lange davon zu entfernen, lässt der Alte noch immer die großen Glastüren offen stehen, wenn er losfliegt. Manchmal vergisst er sogar, sie nach seiner Rückkehr zu schließen. Sie sind so schwer, dass der Junge sie nicht bewegen kann. Das weiß er, er hat es versucht.
Es hat auf irgendeine Weise mit der Grymlinien zu tun. Auch das weiß er, denn so langsam beginnt er die Grym zu verstehen. Deshalb hat der Alte ihn ausgesucht, hat ihn aus der Küche tief unten erhoben und in die Turmspitze bestellt. Weil er etwas von der Magie der Drachen sehen konnte, von ihren Feinen Künsten.
»Du hast ein Feuer gemacht. Sehr gut, Junge. Du musst gewusst haben, dass ich bald zurückkehren würde.«
Das ist noch etwas, das er nicht so ganz versteht: Wie der Alte einfach aus der losen Luft auftauchen oder plötzlich verschwinden kann. Der Drache springt zwar am liebsten von seiner Turmspitze und fliegt dann los – das würde sicher allen so gehen. Doch es ist in seiner kurzen Lehrzeit mehrfach geschehen, dass der Junge mit seinem Meister sprach, ihm für einen Augenblick den Rücken zukehrte und der Drache dann verschwunden war. Seine Rückkehr vollzieht sich oft auf die gleiche Weise. Abrupt, ohne Ankündigung. Das ist die Sorte Magie, die der Junge lernen möchte.
»Wohin gehst du, Meister? Wenn du so plötzlich verschwindest?« Er zögert einen Moment, überlegt, ob er sich wirklich traut, diese Frage zu stellen, dann fragt er eben doch: »Wie kannst du einfach so verschwinden?«
Der Alte mustert ihn mit Augen, die das Alter milchig getrübt hat, legt seinen zerschundenen Kopf ein wenig schräg. An manchen Tagen wird eine Frage ignoriert, an anderen bringt sie dem Jungen einen raschen Tadel ein, und an noch anderen Tagen – aber nur selten – wird sie mit einer Antwort belohnt. Heute ist einer der guten Tage.
»Die Antwort auf die erste Frage geht dich überhaupt nichts an. Meine Wanderungen betreffen nur mich allein. Wenn deine Neugier nicht tiefer reichte, wäre ich überaus unzufrieden.«
Der Junge lässt den Kopf hängen, eher vor Enttäuschung denn vor Scham. Es ist eine Ehre über allen Ehren, auch nur in den Turm geholt zu werden, ganz zu schweigen davon, dass er zum Diener des Alten erkoren wurde und vielleicht bei ihm lernen darf. Doch Ehren und Verheißungen zum Trotz, bisher hat der Junge nur wenig gelernt. Er fürchtet, dass der Alte vielleicht vergessen hat, dass Menschen nicht lange leben, fünfzig, sechzig Jahre. Vielleicht etwas länger, oft aber viel kürzer. Ein Drache ist nach dieser Zeit kaum erwachsen, und die meisten im Palast können ihre Jahre nach Tausenden zählen. Das behaupten sie zumindest.
»Aber deine zweite Frage. Ja, darum geht es eben. Das ist die Frage, die ins Herz aller Feinen Künste vordringt. Ich habe dich beobachtet. Melyn, Sohn des Arall. Ich habe dich nicht ohne Grund zu meinem Diener gemacht. Im Gegenteil. Ich brauche eigentlich keine Diener, aber es gibt nur wenige von deiner Art, die die Grym spüren können. Und noch weniger können nach den Linien greifen und ihre Kraft an sich ziehen, sie zu ihren eigenen Zwecken nutzen.«
Der Junge wartet. In den vergangenen Monaten hat er gelernt, nicht ungeduldig zu sein oder seine Ungeduld zumindest nicht zu zeigen. Er hat seine Zeit allein im Turm genutzt, wenn der Alte auf seinen Reisen ist, um zu studieren, so viel es nur geht. Es gibt Schriftrollen und Bücher, die so schwer sind, dass er sie kaum heben kann, und deren Papier mit kleiner, enger Schrift beschrieben sind, die wirbelt und sich verändert, wenn er versucht, zu lesen. Aber seine Ausdauer kennt keine Grenzen. Wie hätte er auch sonst Lesen gelernt, ein Küchenjunge, Sohn eines unwichtigen Türhüters in einem Palast, in dem die Türen nie verschlossen werden und in dem alle willkommen sind?
»Die Grymlinien verbinden alle Lebewesen im Gulad. In gewisser Weise sind sie alle Lebewesen. Wenn wir schlüpfen oder – wie in deinem Fall – geboren werden, nehmen wir etwas von der Grym in uns auf. Und wenn wir sterben – denn eines Tages müssen wir alle sterben, sogar ich – wenn wir sterben, kehren wir zurück zu den Grymlinien, um für alle Zeit eins zu werden mit dem gesamten Gulad. In diesem Sinne sind unsere Leben die Abweichung. Der Gulad existiert ohne uns, die Bäume und das Gras, die gedankenlosen Schafe auf den Wiesen, die winzigsten Insekten und die gewaltigsten Leviathane, die durch den weiten Ozean streifen. Das sind alles Dinge der Grym, aber sie wissen nicht um die Grym. Wir aber wissen davon – und dieses Wissen macht uns anders.«
Der Junge weiß das, weil er es in einem der Bücher des Alten gelesen hat. Aber dies ist das erste Mal, dass der alte Drache ihm etwas über die Feinen Künste erzählt. Doch es ist nicht genug. Es quält ihn, denn er weiß ja schon mehr. Was er ersehnt, ist: es zu verstehen.
»Du siehst die Linien, oder?« Der Alte tritt dichter ans Feuer heran, hält seine knotigen Hände über die Flammen.
»Sie sind überall, Meister. Manchmal ist es schwer, sie nicht zu sehen.«
»Ah, du bist eine Seltenheit unter deinesgleichen, mein Junge. Mit solcher Leichtigkeit das zu sehen, woran die meisten Menschen ihr Leben lang sorglos vorübergehen! Es gibt sogar Drachen, denen es schwerfällt, die grundlegende Verbindung zur Grym herzustellen. Aber sag mir, was siehst du von ihr hier, in den Flammen?«
Der Junge ist zuerst unsicher. Ihm ist noch nie eine solch direkte Frage gestellt worden. Aber er ist auch eifrig, will zeigen, dass er der Aufgabe gewachsen ist, damit er vielleicht zu komplizierterer Magie weitergehen kann. Und deshalb ergreift er die Gelegenheit beim Schopfe, sich hervorzutun, seinen Lehrer zu beeindrucken.
Er hat die Linien immer schon mit Leichtigkeit sehen können, sie waren ständige Begleiterinnen am Rand seines Blickfeldes. Jetzt ruft er sie nach vorn, lässt sie dick und deutlich erschienen. Die wichtigsten Linien zerteilen den Raum, ziehen sich wie Bögen nach oben zum Dach und bilden ein Zickzackmuster auf dem Boden. Wenn er sich auf die Schnittpunkte konzentriert, kann er auch die dünneren, weniger strukturierten Linien sehen, die dennoch verraten, wie das Leben an diesem scheinbar kargen Ort tost. Und dann richtet er seine Aufmerksamkeit auf das Feuer.
Ein Chaos aus Grym hebt sich von den Flammen ab, die Linien wogen und leuchten wie die gewaltigen Gewitterstürme, die er manchmal durch die riesigen Glastüren gesehen hat, so fern, dass das den Blitzen folgende Donnergrollen mehrere Minuten bis zu ihnen unterwegs ist. Sie springen und brechen und zerfließen, sie spiegeln die Hitze wider, die er in seinem Gesicht spüren kann. Er hat noch nie darüber nachgedacht, aber er fühlt, wie die Grym aus den brennenden Holzscheiten springt und auf ihn übergreift, so ähnlich wie die Hitze der Flammen. Es ist so einfach, die Hand auszustrecken und ein wenig mehr hereinzuholen, die tiefe Kälte aus seinen Knochen zu vertreiben.
Und dann ist es zu viel. Er steht nicht weniger als zehn Schritte vom Feuer entfernt und hat doch das Gefühl, seine Hände mitten hineingehalten zu haben. Es ist fast, als ob die Grym ihn spürt, seinen Ruf ahnt und freudig antwortet. Jetzt weiß er nicht, wie er der Sache ein Ende bereiten soll. Er schiebt sie fort, aber das macht alles nur schlimmer. Er kann die Haut seiner Finger brennen spüren, er riecht den Gestank verbrannter Haut, der ihm aus seinem früheren Leben in der Küche so entsetzlich vertraut ist.
»Genug.« Die Stimme des Alten umgibt ihn auf allen Seiten, hüllt ihn in einen Kokon, der den Jungen von der Grym trennt. Es tut fast so weh wie das Feuer, aber auf andere Weise. Es ist, als ob man sein Leben lang tröstende Stimmen gehört hätte, die plötzlich allesamt verschwunden wären. Einen Moment lang ist er vollständig allein, dann kehrt die Stimme zurück, diesmal sanfter.
»Du bist zu ungeduldig, Melyn, Sohn des Arall. Zu hungrig nach Macht. Auf diese Weise wirst du die Grym nie beherrschen.«
»Es tut mir leid, Meister. Nächstes Mal werde ich mir größere Mühe geben.«
»Nächstes Mal?« Der uralte Drache legt seinen Kopf wieder schräg, als habe er über diese Möglichkeit noch nie nachgedacht. »Vielleicht. Wenn du lernen kannst, dich zu beherrschen. Du zeigst eine große Begabung, aber vor dir liegt noch ein weiter Weg. Denk an diese Lektion, auch wenn deine Wunden verheilt sind. Die Grym ist weder deine Freundin noch deine Feindin, aber sie ist mächtiger, als du es dir jemals vorstellen kannst. Du musst Beherrschung lernen. Disziplin. Sonst wird sie dich verschlingen. Und jetzt geh zum Heiler. Du wirst eine Salbe für deine Finger brauchen.«
3
Die uralte Halle des Neuad steht seit undenklichen Zeiten oben auf dem Felshügel von Candlehall. Angeblich hat König Balwen persönlich sie aus dem lebenden Fels herausbefohlen, aber manche meinen zu wissen, dass sie noch älter ist. Generationen des Hauses Balwen haben die Burg erbaut, die die Halle umgibt, haben sie erweitert und zu dem gewaltigen Palast ausgebaut, den wir heute sehen.
Es kann keine Zweifel an den taktischen Vorzügen der Lage Candlehalls und des Neuad geben. Auf dem steilen Hügel und mit Blick auf die Ebene über viele Meilen in allen Richtungen kann der Palast mit Booten über den Fluss Abhein ohne Schwierigkeiten versorgt werden und auf diese Weise sogar eine lange Belagerung überstehen. In der gesamten Geschichte von Candlehall ist die Stadt nur wenige Male direkt angegriffen und niemals erobert worden, abgesehen von der Zeit, als Prinz Lonk verraten wurde – damals während der Unruhen, die später als Nebelkriege bekannt wurden. Und selbst dann konnte der wahre Erbe des Obsidianthrons überleben und fliehen, um seine Truppen zu sammeln und die Stadt zurückerobern.
Wie der Prinz entkommen konnte, wenn die Stadt von einer Armee aus hunderttausend Kriegern umzingelt war, ist eine der unsterblichen Sagen, die sich um das Haus Balwen und die Magie ranken, die durch seine Adern fließt. Die Wahrheit ist prosaischer und doch wundersamer, denn angeblich gibt es in der Felsmasse des Candlehall-Berges ein System aus Tunneln, beschützt durch uralte mächtige Zauber und nur zugänglich für Menschen von königlichem Geblüt. Die Zauber, die nötig sind, um dermaßen mächtige Zauber aufzubauen und zu erhalten, entziehen sich dem Verständnis der meisten Menschen, aber es ist kein Zufall, dass der Inquisitor vom Orden des Hohen Fryd, der mächtigste Magis im Zwillingskönigreich, in Candlehall ebenso viel Zeit verbringt wie im Gebirgskloster Emmas Faur, das seinem Orden gehört.
Barrod Sheepshead: Eine Geschichte des Hauses Balwen
»Stillhalten, ja? Ich muss hier sehr vorsichtig sein. Musste schließlich noch nie einen Drachen heilen.«
Benfro lag auf dem Hochbett, umgeben von Decken, die eher Staub als Fell waren. Er hätte nicht sagen können, wann dieser Raum zuletzt bewohnt gewesen war, aber es musste lange her sein. Es gab keine Spuren und keine Witterung eines früheren Besuchers, nur den Hintergrundgeruch nach kaltem Stein, feuchten Decken und frisch gehacktem Holz. Es war kalt, und das große Loch in der Decke, durch das sie gefallen waren, tat ein Übriges. Wenn er emporschaute, konnte er winzige Schneeflocken hereinwirbeln sehen. Offenbar tobte draußen ein heftiger Schneesturm.
Er schnappte nach Luft, als ein eiskaltes Messer schmerzhaft durch seine Seite fuhr. Die junge Frau, Martha, versuchte, das abgebrochene Holzstück zu entfernen, das auf irgendeine Weise an seinen Schuppen abgeglitten war und seine ledrige Haut durchstoßen hatte. Benfro konnte sich nur zu gut an die Qualen erinnern, die Flint ihm zugefügt hatte, aber das hier war auf irgendeine Weise noch schlimmer. Immerhin konnte er mit seinem ätherischen Blick die Ausmaße seiner Verletzungen sehen und die Heilerin leiten, während sie mit aller Kraft versuchte, das Holzstück herauszuziehen. Solange er sich bei dieser Qual konzentrieren konnte.
»Kann ich helfen?«
Der Junge stand auf der einen Seite, sein Arm war geschient und hing in einer Schlinge. Benfro hatte darauf bestanden, dass Martha sich zuerst um ihn kümmerte, aber trotz ihrer Geschicklichkeit im Heilen und im Manipulieren der Grym würde es lange dauern, bis der Junge genesen würde. Ihnen fehlten die Kräuter und die Mineralien, um die richtigen Salben herzustellen, und Benfro war von den Schmerzen zu sehr abgelenkt, um helfen zu können. Jedenfalls bis auf Weiteres.
»Versuch mal, Reisig zu finden, Xando. Und dann mach ein Feuer.« Martha wiegte sich auf den Hacken hin und her und rieb sich die Hände, um ein wenig Wärme zu erzeugen. Die Grym umgab sie auf allen Seiten, sie hätte leicht Wärme daraus ziehen können, so, wie Benfro die Grym bereits benutzte, um seine leichteren Verletzungen zu heilen. Er konnte jedoch die Klugheit erkennen, die hinter ihrer Bitte lag. Der Junge überwand jetzt langsam seinen Schock. Er brauchte etwas, worauf er sich konzentrieren konnte, und in den Feinen Künsten schien er nicht sonderlich begabt zu sein. Ein bisschen Hilfe, um die Feuchtigkeit zu vertreiben, wäre zudem durchaus willkommen.
»Na gut, Drache. Dann wollen wir mal sehen, ob wir das hier nicht doch aus deiner Seite holen können.«
»Benfro.«
»Ich weiß. Sir Benfro. Dein Freund Ynys Môn hat mir viel über dich erzählt.«
Für einen Moment war Benfro verwirrt. »Ynys Môn? Der ist doch längst tot. Woher kannst du den kennen?« Und dann fiel ihm ein, wie die Edelsteine aus seinem Griff gefallen waren, als er über die Palastgärten geflogen war. Aber das war Traumwandeln gewesen, nicht wirklich. Er hatte die Edelsteine in Magogs Schatzraum sortiert, hatte seinen alten Freund in dem immer kleiner werdenden Vorrat gefunden, hatte gegen die Kontrolle gekämpft, die Magog über ihn hatte, und sich dann auf irgendeine Weise in dieser Welt wiedergefunden.
»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte er.
»Natürlich tut es das. Seine Edelsteine sind ausgezählt worden. Das hast du getan. Es war nicht schwieriger, mit ihm zu sprechen als mit Sir Radnor. Und er war auch viel gesprächiger.«
»Aber er war in Magogs Welt. Ich war dort. Und dann war ich hier. Das ist nicht möglich.«
»Dummer Drache. Du bist jetzt hier. Ich bin hier. Es hat immer Wege zwischen den beiden Welten gegeben. Du musst sie nur finden. Oder sie dich. Was mir Sorgen macht, sind die, die wir auf die andere Seite geschoben haben.«
»Wie meinst du das?«, fragte Benfro.
Martha richtete sich für einen Moment auf. Benfro sah, dass das Blut über ihre Unterarme lief und dort, wo sie sich die Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte, ihre Stirn verschmierte. Sein Blut, und viel mehr davon, als ihm lieb sein konnte.
»Es muss ein Gleichgewicht geben, verstehst du?«, fragte sie. »Die ganze Zeit gleiten Dinge hin und her, aber meistens sind das einfältige Tiere und so etwas. Wenn ein Drache oder ein Mensch hinüberstolpert, na ja, dann muss etwas mit der gleichen Macht die Gegenrichtung beschreiten. Du, ich, Errol, wenn er in dieser Welt ist. Die mit ihnen verbundene Kraft der Grym muss in der Gegenrichtung ersetzt werden. Ich stelle mir vor, dass es in Lanwennog oder im Zwillingskönigreich so etliche Drachen gibt, die keine Ahnung haben, wie sie dorthin gelangt sind. Oder wo sie sich befinden.«
Etwas an ihrem Verhalten erinnerte Benfro an Corwen. Martha schien nicht begreifen zu können, dass er nicht begriff. Und wie der alte weise Drache schien sie seine Unwissenheit ungeheuer komisch zu finden. Na, er hatte dringlichere Sorgen. Jedenfalls für den Moment. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Wunde in seiner Seite zu, denn das abgebrochene Stück Holz steckte noch immer tief in seinem Fleisch.
»Halt jetzt still. Das kann ein bisschen wehtun.« Martha packte das kurze Stück Holz, das zwischen zwei Schuppen hervorragte, und zog mit aller Kraft daran. Vor Schmerz wurde es Benfro schwarz vor Augen, auch wenn sich dabei seine ätherische Sicht klärte. Er konnte das Holz sehen, sein Fleisch und die Organe tief in seinem Leib. Die Spitze des Holzstückes hatte die lebenswichtigen Teile verfehlt, wenn auch nur um Haaresbreite. Sie befand sich besorgniserregend dicht bei seinen Herzen. Und das war noch nicht alles.
»Halt!« Das Wort brach aus seinem Mund hervor, als Martha noch einmal ziehen wollte. Sie ließ sofort los und fiel in einer gewaltigen Staubwolke auf einen Haufen Tierfelle. Als sie sich aufrichtete, waren ihre schwarzen Haare vom Staub grau gesträhnt.
»Was? Ich hätte es fast gehabt.«
»In mir ist ein Stück abgebrochen.« Benfro schloss sein unversehrtes Auge und konzentrierte sich auf das, was das fehlende ihm zeigte. »Wenn du das andere Stück herausziehst, bewegt sich der abgebrochene Teil auf mein Herz zu.«
»Ich dachte immer, Drachen hätten zwei Herzen«, sagte Martha.
»Haben wir auch. Aber die arbeiten zusammen. Ich brauche beide.« Benfro bewegte sich so vorsichtig, wie er nur konnte, bis er in einer weniger unbehaglichen Haltung saß. Er konnte spüren, wie sich der Splitter durch ihn hindurcharbeitete, kleine Schmerzstiche, die seine verbleibende Lebenszeit abzählten. Was würde passieren, wenn dieses winzige Holzstück sein Ziel erreichte? Würde es eine Vorwarnung geben? Es war ja nicht so, dass er es die ganze Zeit beobachten konnte.
»Das ist zu hoch für mich. Wir brauchen einen geschickteren Heiler.« Martha stand auf und schüttelte den Kopf, dass nach allen Seiten Staub aufstob. Sie sprang vom Hochbett und ging auf den Kreis aus Holzstücken und Gipsbrocken zu, der schon fast von Schnee bedeckt war. Sie reckte den Hals und schaute nach oben. Dann wich sie zurück. »Aber wir müssen weiter. Dauert nicht mehr lange, bis der alte Melyn hier nach uns sucht.«
Melyn. Bei diesem Namen jagte ein Schauer durch Benfros Leib, von seiner Nasenspitze bis zum Ende seines Schwanzes. Wie hatte er Melyn vergessen können? Aber in dem Chaos der Bruchlandung und bei seiner Verletzung war ihm der Grund für ihre hastige Flucht ganz einfach entfallen.
Er biss vor Schmerz die Zähne zusammen, dann drehte er sich mühsam nach vorn um. Er brauchte all seine Kraft, um sich auch nur aufzurichten, die Füße auszustrecken und zu stehen. Der Raum wogte hin und her, wurde heller und dann wieder dunkler, im Rhythmus des pochenden Schmerzes in seiner Seite, aber immerhin wies der Holzsplitter nun nach unten. Die Spannung zwischen seinen Schuppen hielt ihn fest und das Blut schien um die Wunde herum geronnen zu sein.
»Wohin können wir gehen?«, fragte er. Sogar die Tür schien unendlich weit entfernt zu sein, und die Vorstellung, mit diesem spitzen Holzstück zwischen den Rippen eine weite Wanderung antreten zu müssen, war fast unerträglich. Er dachte an das feurige rote Licht in Melyns Augen, an die lodernden Zwillingsklingen, an den furchtbaren, vertrauten Zorn. »Du hast gesehen, wie er ist. Er kann überallhin. Er weiß alles. Wo können wir uns da noch verstecken?«
»Eure Hoheit, wir können hier nicht bleiben. Das ist zu gefährlich.«
Prinz Dafyd schauderte es bei diesen Worten, denn die Erinnerung an Seneschall Padraigs blutiges Ende war noch zu frisch in seiner Erinnerung. Er wandte den Blick von dem Balkon ab, auf dem der Heiler Usel stand. Usel sagte ihm da nicht gerade etwas Neues. Durch die offenen Fenster waren die Schreie der braven Bürger von Candlehall zu hören, dazu das Brausen von Flügeln und das Bersten von Mauerwerk. Immer wieder fegte ein dunkler Schatten vorüber, aber bisher beschränkten die Drachen ihr Zerstörungswerk vor allem auf den unteren Teil der Stadt und konzentrierten ihre Anstrengungen auf die Haupttore. Dafyd hatte der Zerstörung mit immer größerer Verzweiflung zugesehen. Er hatte gesehen, wie sich die Armeen von Königin Beulah in der Ebene versammelten und die Drachen nach dem ersten Angriff ablenkten. Für kurze Zeit hatte er gehofft, die Drachen würden sich der leichteren Beute zuwenden, aber nach einer kurzen Pause hatten sie sich wieder an ihr grausames Zerstörungswerk in der Stadt gemacht. Es war jetzt deutlich, dass sie aufseiten der Königin arbeiteten. Dafyd konnte sich nicht so richtig dazu bringen, hier von »kämpfen« zu sprechen, das hätte unterstellt, dass es bei diesem Konflikt zwei Seiten gab, während die Palastwache von Candlehall in Wirklichkeit ja nur sterben oder fliehen konnte.
»Wohin können wir fliehen, Usel?« Dafyd wandte sich wieder dem Fenster zu, entsetzt von dem Gemetzel, aber entschlossen, dessen Zeuge zu werden. Diese Menschen hatten ihn mit offenen Armen empfangen. Sie waren die rechtmäßigen Untertanen seiner Frau, unschuldige Männer, Frauen und Kinder, deren einziges Vergehen ihr Wunsch nach Frieden war. Sie hatten dieses Schicksal nicht verdient, aber Dafyd konnte nichts daran ändern.
»Die Höhle unter dem Thron hat nicht nur einen Ausgang, Hoheit.«
Dafyd drehte sich abermals zu dem Heiler um. In der ganzen Hektik seit ihrem Eintreffen, während der Zeremonie im Neuad und erst recht nach dem Auftauchen der Drachen und angesichts des darauf folgenden Blutbads hatte er die Höhle mit ihren endlosen Reihen von Drachenedelsteinen fast vergessen. Hatten die Edelsteine die riesigen Bestien angelockt? Suchten die Drachen Rache für ihre toten Geschwister, die im Laufe der Jahrtausende abgeschlachtet worden waren?
»Wie meint Ihr das? Habt Ihr nicht gesagt, dass es nur eine Tür zum Palast gibt? Wo sind die anderen? Sind sie ebenso gut geschützt?«
»Durch die ältesten und mächtigsten Zauber, das habe ich jedenfalls gehört. Ich weiß das nur vom Hörensagen – ich habe sie nie mit eigenen Augen gesehen, aber überlegt doch: Das Haus Balwen hat nicht so viele Jahrhunderte lang das Zwillingskönigreich beherrscht, indem es seinen Kindern erlaubte, in einer ummauerten Stadt gefangen zu werden. Es hat immer Fluchtwege aus Candlehall gegeben, sogar unter den Augen der Belagerer.«
»Und diese Geheimwege. Könnten sie alle herauslassen? Die ganze Stadt?«
Prinzessin Iolwen betrat den Saal, dicht gefolgt von Anwyn, dem Stallburschen Teryll und den Überlebenden der Palastgarde, die sie auf diesem wahnwitzigen Gang begleitet hatten. Iolwen trug jetzt Reisekleidung und hatte Prinz Iolo nach der Art der einfachen Arbeiterinnen in ein Tragetuch gelegt.
»Eure Majestät, ich …« begann Usel, aber Iolwen fuhr ihm über den Mund.
»Genug Majestät. Ich habe keinen Thron und kein Recht, mich anders zu nennen als Iolwen. Und wenn ich diese Menschen ihrem Schicksal überlasse, verdiene ich nicht einmal das. Können wir sie alle aus der Stadt bringen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Usel. »Ich weiß nicht, wie viele noch in der Stadt sind, aber es muss sich um Tausende handeln. Und die Höhle mit den Edelsteinen – das ist ein Geheimnis, das seit Jahrtausenden vom Haus Balwen gehütet wird. Ich weiß nicht, ob wir so viele Menschen hindurchschleusen können, ohne dass sie das feine Gleichgewicht dieses Ortes zerstören. Ein einziger entfernter Edelstein könnte schon ein Chaos auslösen.«
»Seht Euch um, Usel. Das Chaos ist schon da. Es dauert nicht mehr lange, ehe die Stadttore nachgeben. Glaubt Ihr, meine Schwester wird mehr Erbarmen haben als ihre Drachen das bisher hatten?«
»Wenn der Seneschall hier wäre …«
»Padraig ist tot. Und er hat diese Stadt nicht allein verwaltet. Es gibt hier im Palast eine Menge Angehörige des Kerzenordens. Lass sie arbeiten. Ich werde die Tür aufschließen.«
Usel zögerte einen Moment lang und schien seine Möglichkeiten abzuwägen. Dafyd konnte die Unentschlossenheit im Gesicht des Heilers sehen, den Konflikt zwischen der Möglichkeit, so viele Leben zu retten wie möglich, und der Gefahr, das Geheimnis zu gefährden, das er schon sein Leben lang hütete. Endlich fasste er einen Entschluss und nickte einmal.
»Ich werde die Nachricht in der Stadt verbreiten. Wir werden uns jedoch beeilen müssen und Ihr werdet die Fluchtwege aus der Höhle öffnen müssen. Denn das können nur direkte Nachkommen von Balwen.«
»Dann beeilt Euch, Usel. Wir treffen uns in einer halben Stunde bei der Tür.«
Der Heiler deutete ein Nicken an und verließ dann den Saal.
»Ist das eine kluge Entscheidung, Iol?«, fragte Dafyd. »Wir können sie nicht alle retten.«
»Ich kann sie aber auch nicht im Stich lassen.« Iolwen zog das Tragetuch in eine angenehmere Position, was dem schlafenden Kind einen gurgelnden Schrei entlockte. »Aber Usel hat recht, was die Edelsteine angeht. Die Geheimnisse des Hauses Balwen sind mir restlos egal, aber wir dürfen nicht riskieren, dass sie gestohlen werden. In ungeübten Händen sind sie eine große Gefahr.«
Dafyd dachte an die riesige Höhle, an die endlosen Reihen aus Steinpfeilern mit ihren Hunderten in den Stein gehauenen Nischen und den Haufen aus Edelsteinen. Ein einziges von diesen Kleinodien war bereits ein Gegenstand von großer Kraft und hohem Wert. Was unter dem Neuad lag, war ein unermesslicher Schatz. Würden sie in der Lage sein, den zu beschützen?
»Dürfte ich einen Vorschlag machen, Frau Königin?«
Aller Augen wandten sich Teryll zu, vielleicht auch, weil er Lanwennog sprach und nicht Saesneg. Der junge Mann hatte bei der Prinzessin Unterricht in der Sprache des Königreiches erhalten und war zu einer Art Leibdiener aufgerückt, während er zugleich pflichtbewusst ihre Pferde versorgte. Er zögerte noch, überwältigt von der Situation, in die er sich selbst gebracht hatte.
»Ich bin immer für Vorschläge zugänglich, Teryll. Und ich weiß nicht, ob ich noch Frau Königin genannt werden möchte, so wenig wie Majestät.«
»Entschuldigung.« Der Stallbursche deutete eine Mischung aus Verbeugung und Nicken an. »Es ist nur, manchmal, wenn wir junge Fohlen wegbringen sollen, die vor jeder Kleinigkeit erschrecken, dann hängen wir die Gänge zu, damit sie nicht abgelenkt werden. Und für den Fall, dass sie selbst dafür zu schreckhaft sind, haben wir einige erfahrene Trainer, die sich mit der Grym auskennen. Es gibt ein altes Sprichwort: ›Wie im Hirn, so im Zaum.‹ Und bei Menschen funktioniert das auch. Solange man selbst ruhig ist, kann man dieses Gefühl weitergeben.«
Iolwen stieß ein kurzes Lachen aus. »Wieso brauchen wir einen einfachen Mann, um den Weg der Vernunft zu erkennen? Du hast natürlich recht, Teryll. Wir werden so viel von der Ablenkung wie möglich verhüllen, und dann kann ich versuchen, alle ruhig zu halten. Wie ich es gemacht habe, als die Drachen gekommen sind.«
»Kannst du das, Iol?« Dafyd wollte die Fähigkeiten seiner Frau nicht anzweifeln, aber er war sich des Ausmaßes dieser Aufgabe nur zu bewusst. »Es ist nicht leicht, mehrere Hundert Menschen zu beruhigen, die alle außer sich vor Angst sein werden.«
Iolwen streifte sich das Tragetuch über den Kopf und drückte ihren kleinen Sohn an sich, um ihn sanft auf die Stirn küssen, ehe sie ihn an Anwyn weiterreichte. »Nicht allein, nein. Das wäre zu viel. Ich werde deine Hilfe brauchen, Dafyd. Und ich werde den Obsidianthron brauchen.«
»Ist er tot? Wird wohl tot sein. Winziger Wicht von einem Ding. Hätte nicht gedacht, dass er lange vorhält. Den Kittel krieg ich.«
»Ich hab ihn zuerst gesehen? Er gehört mir!«
Errol hörte die Stimmen in der Dunkelheit, ihr Akzent war so stark, dass er fast unverständlich wurde. Errol wusste zuerst nicht, wo er war, dann aber traf ihn der Gestank und brachte die Erinnerungen zurück.
»Ich bin schon länger hier, oder? Ich krieg zuerst.«
Er öffnete langsam die Augen und spürte die Dreckkruste auf seinem Gesicht. Zuerst glaubte er, blind zu sein. Die Dunkelheit war fast undurchdringlich, nur direkt über sich konnte er eine vage Andeutung von Bewegung wahrnehmen. Errol fror so sehr, er war so müde, er wollte nur hier liegen bleiben und schlafen. Aber der Boden unter seinem Rücken war hart, der Gestank erschwerte das Atmen und die Stimmen wurden lauter und kamen näher.