Dreamwalker - Das Reich der Drachen - James Oswald - E-Book
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Dreamwalker - Das Reich der Drachen E-Book

James Oswald

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Beschreibung

Mensch gegen Drache!

Die Zeichen stehen auf Sturm in den Zwillingskönigreichen, denn die Auseinandersetzung zwischen dem Kriegerorden des Inquisitors und König Billah eskaliert. All das lastet schwer auf dem jungen Errol Ramsbottom, ist er doch der Legende zufolge zusammen mit dem Drachen Benfro dazu ausersehen, die Königreiche zu versöhnen. Doch davon sind sie weiter entfernt denn je. Nicht zuletzt, weil nun auch noch die Grenze zum magischen Reich der Drachen durchlässig wird und diese das Königreich angreifen. Errol und Benfro werden sich auf die gefährliche Reise in diese Welt begeben müssen ...

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Seitenzahl: 807

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© Thomas James Vallely

AUTOR

J. D. Oswald verfasste bereits während des Studiums der Psychologie erste Comics. Es folgten Kurzgeschichten, diverse Blog-Posts und eine Fantasy-Reihe. Neben dem Schreiben betreibt er heute eine Farm in der schottischen Grafschaft Fife. Mit seinen ersten beiden Thrillern wurde J. D. Oswald für den renommierten Debut Dagger Awardnominiert und stürmte auf Anhieb die britischen Bestsellerlisten. Mit der »Dreamwalker«-Serie legt er seine ersten Jugendbücher vor.

Bereits erschienen:

Band 1: DREAMWALKER –Der Zauber des Drachenvolkes (40306)

Band 2: DREAMWALKER –Das Geheimnis des Magierordens (40307)

Band 3: DREAMWALKER –Die Gefangene des Drachenturms (40308)

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J. D. Oswald

DREAMWALKER

Das Reich der Drachen

Aus dem Englischenvon Gabriele Haefs

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Für Mum. Ich wünschte, du wärst hier und könntest sehen, wie gut alles geworden ist. J. D. O.

1. Auflage 2017

Erstmals als cbj Taschenbuch Juni 2017

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2015 James Oswald

Die Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel »The Broken World«

bei Penguin Books Ltd, London

Übersetzung: Gabriele Haefs

Lektorat: Andreas Rode

Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign,

Bad Oeynhausen unter Verwendung

einer Illustration von © Sam Headley

MP · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20036-7V001www.cbj-verlag.de

1

Grendors Urenkel, König Billah I., führte noch immer den Krieg, durch den das Land entstand, das wir als Lanwennog kennen. Damit seine engsten Vertrauten unter den Fürsten die von ihm ausgesandten Boten und Spione erkennen konnten, ließ Billah sechs Ringe schmieden, von denen jeder mit seinem persönlichen Siegel versehen war. Jeder Adlige, dem ein solches Siegel gezeigt wurde, musste dem Träger des Ringes jegliche erbetene Hilfe leisten.

Die Kraft des Zaubers, mit dem diese Ringe umwoben sind, ist so groß, dass alle Versuche, einen nachzubilden, kläglich scheiterten. Zudem zeigt sich das Siegel nicht, wenn der Ring von einem Feind des Throns von Lanwennog getragen wird. Angeblich können die Träger des Rings über weite Entfernungen miteinander Kontakt halten, und der Ring wird sie nach Tynhelyg zurückrufen, falls das Leben des Königs in Gefahr gerät. Nur wenige haben diese Ringe jemals gesehen, und viele halten sie für einen Mythos, doch anderen gilt es als die größtmögliche Ehre, wenn jemandem ein solcher Ring anvertraut wird.

Die Zähmung der Nordlande – eine Geschichte der Könige von Lanwennog

»Hol Seine Lordschaft. Sein Zustand bessert sich.«

Errol hörte diese Mitteilung wie im Traum. Er wusste nicht, wo er sich befand, aber es war warm und behaglich. Es roch sauber, die Luft war frisch und duftete ein wenig nach Heu. Er hatte offenbar geschlafen, konnte sich jedoch nicht erinnern, ins Bett gegangen zu sein. Er drehte sich auf die Seite, öffnete die Augen und hätte sich fast übergeben, als Schmerzwellen über ihn hinwegrollten. Er konnte gerade noch den vagen Umriss eines über ihm aufragenden Menschen registrieren, dann verschwamm wieder alles vor seinen Augen.

»Vorsichtig! Du hast einen bösen Schlag auf den Kopf bekommen.« Starke Arme umfingen seine Schultern und zogen ihn nach vorn, dann wurde etwas Kühles gegen seinen Hinterkopf gepresst.

»Bring mir mal die Kissen, Mentril. Unser Gast soll es doch bequem haben.« Errol merkte, wie er in eine sitzende Haltung gezogen wurde, aber er wollte die Augen noch immer nicht aufmachen. Endlich durfte er sich wieder zurücksinken lassen, zurück auf die weichen Kissen. Das Kühle wurde jetzt auf seine Stirn gepresst, ein feuchtes Tuch, das sich wunderbar anfühlte. Er versuchte, sich zu entspannen, den Schmerz davongleiten zu lassen. Erst als er sich ganz sicher fühlte, öffnete er die Augen und begann sich umzusehen.

Sein erster Gedanke war, dass seine Mutter ihn gefunden hatte. Eine bleiche Frau starrte auf ihn herab. Ihr besorgtes Gesicht war umgeben von dunklen Haaren, die von grauen Strähnen durchzogen waren. Aber als er ein bisschen klarer sehen konnte, erkannte er, dass er nicht Henna vor sich hatte. Diese Frau war viel besser gekleidet, als er das bei seiner Mutter jemals gesehen hatte. Sie trug ein schönes Seidenkleid in warmen Brauntönen und hatte sich einen weißen Schal lose um die Schultern gelegt.

Errol fühlte sich zu schwach, um seinen Kopf zu bewegen, und konnte deshalb nicht viel mehr sehen als das bleiche, besorgte Gesicht, aber er erkannte doch, dass er sich in einem ziemlich großen Raum mit hohen Wänden befand. Ihm wurde es schon schwindlig, wenn er nur die Augäpfel bewegte, deshalb sah er sich nicht weiter um. Vielleicht würde ihm das Reden leichterfallen.

»Wo bin ich?« Diese Frage kam mit falschem Klang, schwach und heiser aus seiner ausgedörrten Kehle. Die Frau beugte sich weiter vor. Ein sanfter Lavendelgeruch umgab sie.

»Versuch lieber, noch nichts zu sagen. Ruh dich aus. Spare deine Kräfte. Du bist schließlich schwer verletzt.«

Sie sprach Lanwennog, und plötzlich wurde Errol von Erinnerungen überflutet. Mehr als alles andere fürchtete er um sein Leben. Er hatte Saesneg gesprochen, die Sprache des Zwillingskönigreiches. Vermutlich hatte er so leise geredet, dass seine Worte nicht zu verstehen gewesen waren. Aber was, wenn er vor sich hin gemurmelt hatte, als er noch bewusstlos gewesen war?

»Wo bin ich?«, versuchte er es noch einmal, diesmal in der Landessprache. Er zwang sich, lauter zu reden, obwohl ihm dabei der Kopf wehtat.

»Du bist in Sicherheit. Du bist in Burg Gremmil, am Rand der Nordlande. Mein Mann hat dich im Wald neben der Straße nach Tynhelyg gefunden. Ich nehme an, du bist von Wegelagerern überfallen worden. Vermutlich haben sie dich für tot gehalten.«

Errol versuchte, seine letzten Erinnerungen zusammenzufügen, aber er fand nur Bruchstücke von Bildern. Er brauchte Zeit, um alles durchzugehen, aber er wusste, dass er Probleme hatte. Diesen Menschen schien nicht klar zu sein, woher er kam, denn sonst hätten sie ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in den Kerker geworfen. Er brauchte eine gute Erklärung, und das schnell.

»Ich weiß nicht mehr viel. Ich wollte in die Hauptstadt. Kam gerade aus den Bergen. Ich habe wichtige Nachrichten für König Billah. Hab dann in einem Dorf angehalten, um mir etwas zu essen zu besorgen. Ich glaube, da war ein Zirkus. Aber danach ist alles weg.«

»Ein königlicher Bote, ja? Na, Poul hat gesagt, dass du das Siegel des Königs bei dir trägst. Ruh dich jetzt erst mal aus. Ich bin sicher, dann werden sich alle Erinnerungen wieder einstellen. Kannst du dich an deinen Namen erinnern?«

»Meinen Namen? Ach, sicher. Entschuldigung. Errol. Errol Balch.«

»Na, Errol, schön dich kennenzulernen. Ich bin Isobel, Lady Gremmil. Und da kommt auch mein Gatte, wenn ich mich nicht irre.«

Vom hinteren Ende des Raumes war ein gewaltiger Lärm zu hören. Errol schaute auf und wünschte sofort, er hätte das nicht getan. Sein Gehirn kam ihm zu groß für seinen Schädel vor. Es war, als wolle es sich aus seinen Augäpfeln hervorquetschen. Vor Errols Augen tanzten Funken, und als die sich verzogen hatten, sah er einen untersetzten Mann, der ihn aus zusammengekniffenen Augen anstarrte.

»Du bist also ein Balch, ja? Ich dachte schon, dass du wie ein Angehöriger der königlichen Familie aussiehst. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Poul Gremmil.«

»Ihr habt mich gefunden?« Errol nahm die Hand, die ihm der Mann hinhielt, brachte aber nur einen schlaffen Händedruck zustande.

»Na ja, ehrlich gesagt, war das einer meiner Hunde. Ich dachte, er hätte irgendein Wild aufgestöbert, aber als wir hinterherliefen, lagst du da, unter einem Busch, splitterfasernackt. Wir hielten dich für tot, aber ich nehme mal an, ihr Balchs seid hart im Nehmen.«

Errol stellte fest, dass es nicht ganz so wehtat, wenn er seine Arme bewegte. Er griff sich an den Hinterkopf und betastete die verkrustete Masse aus Blut und Haaren.

»Ich bin Euch und Eurem Hund sehr dankbar. Aber sagt mir, war ich lange bewusstlos?«

»Einen Tag vielleicht. Hast du irgendeine Vorstellung, wer dich so zugerichtet haben könnte? Es ist wirklich übel, wenn in meinem Amtsbezirk Reisende auf der königlichen Straße überfallen werden.«

»Ich weiß es nicht. Ich wollte in Cerdys etwas Gold eintauschen und bin ziemlich sicher, dass mir von dort aus jemand gefolgt ist. Aber im Zirkus waren auch einige finstere Gestalten. Habt Ihr den Zirkus gesehen, als Ihr mich gefunden habt?«

»Nein. Der war schon weiter nach Süden gereist, ehe ich vorbeikam. Hatte es offenbar sehr eilig damit, zum Fest des Königs zu gelangen, wenn ich das richtig gehört habe. Aber Cerdys? Was im ganzen Gulad wolltest du denn da?«

»Ich kam gerade aus den Bergen, wo ich in königlichem Auftrag gewesen war. Es ist alles schrecklich geheim, und ich muss so bald wie möglich weiter, damit ich persönlich Bericht erstatten kann.«

»Ja, natürlich. Aber ich glaube nicht, dass du dich in deinem Zustand länger als fünf Minuten im Sattel halten könntest. Du wirst noch mindestens einen oder zwei Tage bei uns bleiben müssen. Dein Gehirn braucht Zeit, um sich zu erholen.«

»Da habt Ihr natürlich recht. Ich danke Euch sehr, hoher Herr.«

»Komm mir nicht mit diesem Hoher-Herr-Unfug. Hier in der Wildnis legen wir nicht so viel Wert auf Förmlichkeiten, und jeder, der das Siegel des Königs trägt, kann bei uns mit Hilfe rechnen. Ich bin Poul.«

»Das Siegel des Königs?« Errol begriff nicht. Und jetzt, da er sich das genauer überlegte, hatte auch Lady Gremmil so etwas erwähnt. Und sie waren so gastfreundlich. Viel gastfreundlicher, als er hätte erwarten können, auch wenn sein Gesicht sie annehmen ließ, dass er von königlicher Geburt war.

»Dein Ring. Ich vermute, wer immer dich überfallen hat, hat den nicht gesehen. Du hattest die Faust so fest darum geballt.«

Errol schaute hinüber zu Lady Gremmil, die nach einem Gegenstand auf dem kleinen Tisch neben dem Bett griff. Sie reichte ihm einen schlichten Ring. Plötzlich erinnerte er sich daran, wie er diesen Ring vom Boden der Höhle aufgehoben hatte. Er drehte ihn in seiner Hand und spürte im Metall eine unnatürliche Wärme. Dabei nahm eine Inschrift in sanft geschwungenen goldenen Buchstaben Form an. Altertümliches Lanwennog, geheimnisvoll und schwer zu entziffern, auch wenn er sich nicht von einem scheußlichen Schlag auf den Kopf hätte erholen müssen.

Die Hand des Königs ist zu behandeln wie der König selbst.

»So einen Ring habe ich schon lange nicht mehr gesehen. König Billah verleiht diese Gunst nicht jedem.« Lord Gremmil schwieg einen Moment. Dann fragte er: »Ich vermute, du kannst mir nichts über deinen Auftrag sagen, oder?«

Errol antwortete nicht sofort. Einerseits weil er Zeit brauchte, um die Stränge der Lüge zusammenzufassen, die ihm so bereitwillig auf die Lippen getreten war, andererseits weil er nicht zu eifrig erscheinen wollte, wenn er Staatsgeheimnisse preisgab. Er ließ den Ring noch ein wenig über seine Handfläche rollen, dann schob er ihn auf seinen linken kleinen Finger. Der Ring war ein bisschen zu weit, blieb aber sitzen.

»Ich darf nicht zu viel sagen, das versteht Ihr doch sicher. Es geht um den Krieg mit dem Zwillingskönigreich. Wir haben von einem möglichen Weg durch die nördlichen Trennberge gehört, und der König wollte, dass ich mich dort umhöre, aber vorsichtig, um keine Panik auszulösen. Ich bin den ganzen Frühling und Sommer lang die alten Fallenstellerpfade abgeritten.«

Gremmils Gesicht verriet Errol, dass er den Mann bereits überzeugt hatte. Auch Lady Gremmil schien seine Lüge zu glauben, denn sie erschauerte und hielt sich die Hand vors Gesicht.

»Und konntest du feststellen …«

»Ich kann nur sagen, dass es nicht so klug wäre, alle einsatzfähigen Männer zu den südlichen Pässen zu schicken. Ich glaube, nur ein Verrückter würde ein Heer durch den großen Wald des Fryd und über nur vage kartierte Pässe im Hochgebirge führen, aber wir wissen doch alle, dass Inquisitor Melyn wahnsinnig ist. Und Königin Beulah noch mehr.«

»Ich habe schon verstanden, Errol. Und du hast recht. Das ist eine ungeheuer wichtige Information. Aber ruh dich jetzt aus. Ich lasse dir etwas zu essen bringen. Und dann werden wir dich mit Kleidern und einem Pferd versorgen. Du musst dem König so schnell wie möglich Bericht erstatten.«

Melyn ließ sich am Feuer nieder. Er wartete, bis sein Atem sich beruhigt hatte, und bereitete sich auf den Eintritt in die Trance vor, um durch die Ätherische Sphäre reisen zu können. Sie waren in den Nordlanden von Lanwennog angekommen, und seine Späher hatten ihm gemeldet, wo die nächsten Siedlungen lagen. Es war nun an der Zeit, Kontakt zu Beulah aufzunehmen und ihr von den Fortschritten ihres Planes zu berichten.

Er freute sich durchaus nicht auf diese Aufgabe. Im Komfort und dem Luxus von Emmas Faur oder im königlichen Palst hätte er keinen Gedanken daran verschwendet. Er war sogar schon auf dem Weg über die Rufstraße aus seinem Körper verschwunden und hatte die Energie seines Pferdes angezapft, um seine eigene zu verstärken. Aber hier befand er sich auf feindlichem Gebiet, und die Entfernung nach Castell Glas, wo sich die Königin jetzt wahrscheinlich aufhielt, war viel größer als auf all seinen bisherigen Reisen. Er konnte Königin Beulah zudem nicht direkt erreichen, sondern musste sich auf Clun verlassen. Der Junge besaß zwar eine natürliche Begabung für die Ätherische Sphäre, aber die Kontaktaufnahme mit ihm war doch längst nicht so einfach wie mit Beulah. Sie stand ihm viel näher, schließlich hatte er sie ausgebildet. Melyn war sich sicher, dass er Beulah immer finden könnte. Clun war für ihn etwas Neues, es würde viel schwieriger sein, ihn ausfindig zu machen.

Und dann war da noch der Wald. Er würde den Wald durchqueren müssen und war gezwungen, sich einen Weg durch den ganzen magischen Lärm zu suchen, ohne seinen wahren Leib aus den Augen zu verlieren. Auf dem ganzen Weg hatte er sich Punkte eingeprägt, die er zur Orientierung benutzen konnte. Eigentlich müsste er den Weg zurückverfolgen können, den Beulah und ihr Gefolge seit ihrem Abschied genommen hatten, aber er war nicht davon überzeugt, dass in diesem Wald irgendetwas für längere Zeit dieselbe Form behielt – erst recht nicht, wenn man es aus der Ätherischen Sphäre heraus betrachtete.

Dennoch musste es sein. Ohne Verständigung zwischen seiner kleinen Armee und dem Hauptteil des Heeres, der an den Grenzen zusammengezogen wurde, würde der gesamte Invasionsplan ins Stocken geraten. Und deshalb entspannte er sich, konzentrierte seinen Blick auf die flackernden Flammen und versuchte, seine Gedanken zu festigen.

Das Stimmengewirr aus dem Lager ebbte ab. Es wurde nicht zu vollständiger Stille, sondern klang, als befinde sich das Lager in ziemlicher Entfernung. Melyn blieb noch eine Weile in seinem Körper und prägte sich ein, wie er sich fühlte, verankerte diesen Zustand in seinem Geist, bis er sicher war, dass ihm die Rückkehr gelingen würde. Mit einem letzten Blick auf das Lager erhob er sich aus sich selbst und in die Luft.

»Euer Gnaden, ich hoffe, ich störe nicht.«

Melyn wendete seinen ätherischen Leib und schaute auf Frecknock hinab, die nur wenige Schritte entfernt von seinem bewegungslosen physischen Selbst stand.

»Was willst du?«

»Helfen, wenn ich kann. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Kontakt zu Seiner Durchlaucht, dem Herzog von Aberfenn, aufnehmen wollt?«

Melyn spürte ein wenig von seinem alten Zorn in sich aufwallen; diese Kreatur war in den Wochen und Monaten ihrer gemeinsamen Reise immer vertraulicher und unverschämter geworden. Er musste ihr klarmachen, wo ihr Platz war. Eigentlich müsste er sie hinrichten lassen, wie die Königin es befohlen hatte. Aber Frecknock war ihm auch eine große Hilfe gewesen, und er ertappte sich dabei, dass er ihr viel mehr durchgehen ließ, als er jemals für möglich gehalten hätte.

»Und wenn es so wäre?«, fragte er.

»Also, Herr, ich könnte zum Beispiel Euren sterblichen Leib bewachen, während Ihr unterwegs seid, und ich könnte alles tun, was ich nur vermag, um Euch zu beschützen. Wenn Ihr mir jedoch gestatten wolltet, Euch auf Eurer Reise zu begleiten, dann könnte ich Euch sogar einen sehr viel schnelleren Weg zu Meister Clun zeigen.«

»Na gut, dann zeig ihn mir.« Melyn staunte selbst darüber, wie bereitwillig er dieses Hilfsangebot annahm. Andererseits war ihm sehr wohl bewusst, wie willkommen ihm jegliche Begleitung auf dieser schwierigen Reise sein musste. Frecknock war offenbar ebenso überrascht von seiner Zustimmung, denn sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, dann breitete sie ihre ätherischen Flügel aus und sprang in die Luft. Die Flügel waren zu klein, um ihr Gewicht zu tragen, wie Melyn bemerkte, jedenfalls bei der langsamen, fast trägen Art, in der sie die Flügel benutzte. Aber ihr ätherischer Flug war von einer Eleganz, die in scharfem Kontrast zu ihrem watschelnden Gang in der physischen Welt stand.

Er folgte ihr in die Luft, über das Lager hinweg und zurück zu dem langen Tal, das sie durchquert hatten. Nach etwa einer Meile steuerte Frecknock den Boden an und winkte Melyn, ihrem Beispiel zu folgen.

»Wir müssen uns ein Stück weit vom Lager entfernen, Euer Gnaden. Es gibt zu viele Störungen in der Grym, weil so viele Kampfpriester in der Nähe sind.«

»Wieso spielt das eine Rolle? Ich wollte die Grym doch gar nicht benutzen.«

»Die Ätherische Sphäre wird aber ebenso von der Grym beeinflusst wie die physische Welt. Sie ist eher noch enger damit verbunden, denn man kann darin so viel mehr ausrichten.«

»Inwiefern das?«

»Ich kann es Euch leichter zeigen, Euer Gnaden, als es Euch erklären. Bitte, nehmt meine Hand.«

Melyn tat wie ihm geheißen, und abermals hatte er das Gefühl, dass diese Berührung ihn abstoßen und ihm eine Gänsehaut machen müsste. Stattdessen war sie auf seltsame Weise tröstlich. Frecknock drückte seine Hand, und er konnte sehen, dass sie die Augen in tiefer Konzentration geschlossen hatte. Dann begann der ätherische Anblick des Tales sich aufzulösen. Einen Moment lang glaubte Melyn, den ganzen Gulad unter sich zu sehen, es war ein Augenblick von so vollständiger Dunkelheit, dass es ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken jagte. Doch dann war er an einem anderen Ort.

Es war eine kleine überdachte Arena mit Lehmboden. Einige wenige Menschen standen am Rand, ihre Gestalten waren in der Ätherischen Sphäre mehr oder weniger gut zu erkennen, aber was Melyns Aufmerksamkeit auf sich zog, waren die beiden Personen in der Mitte. Bei der einen Gestalt handelte es sich zweifellos um Clun. Seine Züge waren unverkennbar, auch wenn er seit ihrer Trennung um Jahre reifer wirkte, nicht nur um Monate. Die zweite Gestalt aber war etwas ganz anderes.

Melyn glaubte nicht, jemals ein dermaßen stolzes und prachtvolles Pferd gesehen zu haben. Oder ein so großes. Wie bei allen schlichten Wesen war die ätherische Gestalt des Pferdes reich an Details, als sei in seinem Bewusstsein nur für es selbst Platz. Es hielt den Kopf hoch, bog den Nacken, streckte den Schwanz aus als Warnung für alle, die sich vielleicht von hinten nähern wollten. Das Pferd sprang mit wilden Sätzen durch die Arena, trat um sich und warf den Kopf hin und her. Wieder und wieder umkreiste es den jungen Mann und schien auf den richtigen Moment zum tödlichen Angriff zu warten. Clun wirkte jedoch unbeeindruckt, er ignorierte das riesige Tier nahezu, verweigerte ihm den Blickkontakt und kehrte ihm ab und zu sogar den Rücken zu.

Melyn schaute sich um und entdeckte die Königin, die von einer Loge aus alles im Auge behielt. Sie leuchtete, als ob jemand in ihr eine Kerze aufgestellt hätte, und ihre ätherische Gestalt zeigte die leichte Wölbung ihres Leibes. Ohne nachzudenken, bewegte er sich hinüber und ließ sich neben ihr auf der Bank nieder.

»Beulah«, sagte Melyn mit leiser Stimme, wie immer, wenn er versuchte, in der Ätherischen Sphäre ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Es war ein Spiel und zugleich eine Lehrmethode, obwohl sie normalerweise seine Anwesenheit schon registriert hatte, noch ehe er etwas sagte. Diesmal war es, als ob er überhaupt nicht existierte. Die Königin achtete nicht auf ihn. Sie hatte nur Augen für Clun und Melyn verspürte angesichts ihrer tiefen Zuneigung zu diesem jungen Mann eine seltsame Eifersucht.

»Sie kann Euch nicht spüren, Euer Gnaden. Das Kind, das in ihr heranwächst …« Frecknock stand ein kleines Stück weiter und versuchte, sehr klein auszusehen.

»Ich weiß. Sie ist schwanger, und deshalb kann sie das Ätherische nicht sehen.« Melyn wandte seine Aufmerksamkeit wieder Clun zu. »Wir konnten bisher durch den Jungen kommunizieren, aber der scheint jetzt ja abgelenkt zu sein. Beulahs Aufmerksamkeit konnte ich immer erregen, aber Clun muss sich ein bisschen besser konzentrieren.«

»Ihr steht Ihrer Majestät sehr nahe, Euer Gnaden.«

»Ihr Vater hat sie in meine Obhut gegeben, als sie erst acht Jahre alt war.«

»Das wäre die Erklärung. Aber wenn Ihr mir auch das gestattet, Euer Gnaden, dann kann ich Meister Clun auf Eure Anwesenheit aufmerksam machen.«

Melyn nickte zustimmend, auch wenn ihm nur allzu bewusst war, dass er sich schon wieder von der Drachin abhängig machte. Er würde sie früher oder später töten müssen, das stand fest; ihr Einfluss auf ihn wurde viel zu groß. Aber für den Moment konnte er nur mit ihrer Hilfe seine Aufgabe erfüllen. Außerdem faszinierte die Drachin ihn.

Frecknock stieg hinab in die Arena, wobei ihre ätherische Gestalt eine Handbreit über dem Boden schwebte. Melyn sah, wie das Pferd aufstampfte und um sich trat, während es in einem großen Kreis um die Arena galoppierte. Dann, als es fast die Stelle erreicht hatte, an der Frecknocks Erscheinung wartete, trat die Drachin ihm in den Weg.

Der Hengst bäumte sich auf, er wäre fast rückwärts umgekippt, als er zurückschreckte. Er wich um einige langsame Schritte zurück, dann blieb er stehen und starrte die Drachin mit geblähten Nüstern und weit aufgerissenen Augen an. Clun beobachtete das Pferd und verzog besorgt das Gesicht, danach sah er sich wie suchend in der Arena um. Er ließ den Blick über Frecknock und Melyn schweifen. Plötzlich zuckte er zusammen und wirkte für einen Moment unkonzentriert, dann endlich schaute er den Inquisitor aufmerksam an.

»Frau Frecknock, Euer Gnaden. Es freut mich sehr, Euch zu sehen.« Clun verbeugte sich, dann trat er aus sich selbst heraus. Seine ätherische Gestalt hinterließ einen fast identischen, reglosen Doppelgänger.

»Du hast geübt, wie ich sehe. Gut.« Melyn ließ seine eigene Gestalt auf Clun zuschweben. Er registrierte die Geschäftigkeit in der Arena nur vage. Zweifellos reagierten die Zuschauer auf die plötzlich starre Haltung des Herzogs von Aberfenn. Er verließ sich darauf, dass die Königin begriff, was hier vor sich ging, aber zweifellos würde irgendein Narr versuchen, Clun zu Hilfe zu kommen, und den Jungen ablenken. Oder vom Pferd totgetrampelt werden.

»Jetzt hör mir gut zu. Wir haben nicht viel Zeit.«

Es gab keinen Zweifel, es war ein prachtvolles Pferd. Aber auch ein durch und durch wildes. Beulah wusste noch immer nicht so genau, warum sie es gekauft hatte, und sie bezweifelte, dass es jemals zugeritten werden konnte. Aber vielleicht könnte der Hengst mit einigen Stuten von gutem Stammbaum gepaart werden, überlegte sie. Aus Fohlen mit etwas gomorranischem Feuer wurden gute Streitrösser.

Clun wollte jedoch unbedingt versuchen, das Pferd zu zähmen. Er ging diese Aufgabe auf höchst ungewöhnliche Weise an. Zehn Männer mit Stricken und jede Menge Verwünschungen waren nötig gewesen, um den Hengst aus dem steinernen Stall, den er zu zerstören versucht hatte, in die Arena zu bringen. Mindestens zwei Stallburschen hatten sich die Arme gebrochen, und der Gang eines dritten zeigte, dass seine Rippen in argem Zustand waren. Diejenigen, die mutig genug waren, um zuzuschauen, hatten sich auf den Tribünen um die Arena nach ganz hinten verzogen. Nur Beulah selbst wagte es, sich über das Geländer zu beugen; hinter ihr saß der nervöse Hauptmann Celtin.

Clun stand mitten im Rund der Arena, als sei es für ihn das Normalste auf der Welt, einem Tier, das ihn jederzeit zu Boden trampeln konnte, so nahe zu sein. Die Hufe des Hengstes wirbelten riesige Lehmklumpen auf, während das Tier durch die Arena galoppierte. Das Pferd war von beeindruckender Größe und Kraft. Doch trotz seiner Wildheit griff es Clun nicht an, sondern lief einfach immer und immer wieder im Kreis.

Nach ungefähr einer halben Stunde begann das Pferd, sich zu beruhigen. Vielleicht fürchtete es sich nicht mehr vor der fremden Situation. Doch Beulah war nicht ganz klar, ob ein solches Wesen überhaupt wusste, was Angst war. Möglicherweise fühlte es sich einfach gelangweilt.

Clun drehte dem wilden Tier jetzt den Rücken zu und Beulah war für einen Moment besorgt. Das war doch geradezu eine Aufforderung zum Angriff. Aber das Pferd lief einfach weiter im Kreis, es schnaubte und schüttelte seine wehende weiße Mähne. Dann endlich blieb es stehen, atmete einige Male schwer und ging langsam in die Mitte der Arena.

Ob er spürte, dass das Tier sich näherte, oder ob er gehört hatte, wie sich der Atem des Pferdes veränderte, wusste Beulah nicht, aber als der Hengst noch zehn Schritte von ihm entfernt war, drehte sich Clun um und sah das Tier an. Der Ausdruck kalten Zornes in seinen Augen erinnerte sie an seinen Kampf mit dem Drachen. Der Hengst reagierte sofort, aber statt anzugreifen, wich er zurück und rannte nun wieder wie besessen um die Arena herum. In dieser ganzen Zeit starrte Clun das Tier weiter an und drehte sich dabei langsam auf der Stelle, um die endlosen Kreise zu verfolgen.

Beulah sah fasziniert zu. Sie hatte so etwas noch nie gesehen. Es ging immer brutal zu, wenn ein Pferd gezähmt wurde, das wusste sie. Nicht umsonst sprach man davon, ein Pferd »einzubrechen«. Dieses Pferd hätte aufgezäumt und angehobbelt werden müssen, um dann den Einbrechsattel kennenzulernen. Danach hätten mutige Männer versucht, das Pferd zu reiten, und es dabei so lange misshandelt, bis sein Geist schließlich gebrochen war und es sich unterwarf. So war es in Emmas Faur und in Candlehall immer gemacht worden. Aber alle Erfahrung besagt, dass Hengste aus Gomorran so nicht eingebrochen werden konnten. Jedenfalls war das noch niemals gelungen. Was Clun hier machte, war etwas ganz anderes, und abgesehen von der Tatsache, dass er noch immer unversehrt war, schien rein gar nichts dabei herauszukommen. Da er noch nie ein Pferd besessen und schon gar nicht versucht hatte, eins einzubrechen, überraschte es sie vor allem, dass er es überhaupt versuchte.

»Beim Hirten!« Beulah sprang auf und spürte, wie Celtin hinter ihr erstarrte, als sich der Hengst plötzlich aufbäumte und fast gestolpert wäre bei seinem verzweifelten Versuch, vor etwas zu fliehen, das Beulah nicht sehen konnte. Clun wirkte verwirrt, als ob er damit nicht gerechnet hatte. Er schaute sich suchend in der Arena um, dann schienen seine Augen ins Leere zu blicken. Seine Hände fielen schlaff nach unten und sein Kopf sank so weit nach vorne, dass sie schon glaubte, er werde in Ohnmacht fallen. Aber er hielt sich auf den Beinen und sah dabei aus, als baumele er an einem unsichtbaren Strick, während seine Stiefel den Boden gerade noch streiften.

Hauptmann Celtin bewegte sich als Erster, er trat widerstrebend vor und wollte in den Ring springen, doch Beulah hielt ihn zurück.

»Nein, Hauptmann, einen Moment noch. Ich glaube, ich weiß, was da vor sich geht.« Sie schaute noch einmal Clun an und dann wieder Celtin. »Verfügt Ihr über irgendwelche Fähigkeiten, was das Ätherische angeht?«

»Nein, Frau Königin. Tut mir leid.«

Beulah verfluchte ihre Schwangerschaft ein weiteres Mal. Sie versuchte, sich in die Trance sinken zu lassen, versuchte, die Nähe dessen zu finden, den sie erwartete, aber es war, als ob ihr Kopf in Decken gehüllt war. Sie schaute sich in der Arena um und rechnete halbwegs damit, dass vor ihren normalen Augen etwas auftauchen würde. Doch da war nichts, abgesehen von dem so seltsam baumelnden Clun und dem außergewöhnlichen Anblick eines Gomorran-Hengstes, der vor Angst bewegungslos war.

»Macht Euch keine Sorgen, Herrin. Inquisitor Melyn ist hier.« Das schien von weither zu kommen, hallte aus Cluns Mund wider, ohne dass seine Lippen sich bewegt hätten. Es war schwer, seine Worte durch das Stimmengewirr der Menge zu hören.

»Ruhe!«, schrie Beulah, woraufhin sich eine seltsame Stille über die Arena senkte. Selbst der Hengst hörte auf zu schnauben.

»Wieso kannst du sprechen, Geliebter? Bist du nicht in der Ätherischen Sphäre?«

»Ich habe Nachrichten von Seiner Gnaden dem Inquisitor, Herrin.« Entweder hatte Clun die Frage nicht gehört oder er wollte sie nicht beantworten. »Er ist in den Nordlanden angekommen und wird in wenigen Tagen mit dem geplanten Vorhaben beginnen.«

»Hat er die Drachen getötet?« Auf Beulahs Frage folgte eine lange Pause, Minuten vergingen, als werde anderswo ein langes Gespräch geführt.

Endlich sagte Clun wieder etwas. »Nein. Die wilde Kreatur Caradoc ist entkommen, ebenso wie Benfro. Frecknock hilft dem Inquisitor.«

»Sie ist bei ihm? Hier in der Ätherischen Sphäre?«

»Das ist sie, Herrin.«

Aus einem unbegreiflichen Grund machte diese Auskunft Beulah eine Gänsehaut. Sie fand es schrecklich, das Ätherische selbst nicht sehen und sich dort nicht bewegen zu können. Es war eine doppelte Qual zu wissen, dass sie vielleicht von Drachen beobachtet und jetzt, da sie so verletzlich war, beeinflusst wurde. Und warum ließ sich Melyn von der Drachin begleiten? Was konnte dazu geführt haben, dass er ihr dermaßen vertraute? Sie hätte ihn gern mehr gefragt, aber das Wissen, dass alles, was sie sagte, auch von der Drachin gehört werden würde, hielt sie zurück.

»Sag Melyn, dass wir morgen aufbrechen und dann direkt nach Aberfenn segeln werden. Und sag ihm, es wäre klug von ihm, sich an das zu erinnern, was wir besprochen haben, ehe unsere Wege sich trennten. Er weiß, was ich meine.«

Clan verstummte ein weiteres Mal und baumelte noch immer wie eine Marionette genau in der Mitte des Rings. Abermals strengte Beulah ihre Sinne an, um den Inquisitor oder wenigstens den Drachen spüren zu können. Was hatte dem Hengst solche Angst eingejagt? Spürte er eine ätherische Anwesenheit, die ihn fast in die Knie zwang? Beulah hatte sich für eine Expertin gehalten, eine Meisterin dieser Fähigkeit. Aber jetzt sah sie, dass sie sich da etwas vorgemacht hatte. Sie wusste noch immer zu wenig über die Welt der Magie.

»Herrin, sie sind fort.« Cluns Stimme klang wieder normal. Er richtete sich gerade auf und drehte sich zu ihr um. »Ich soll vom Inquisitor ausrichten, dass er Eure Worte nicht vergessen hat. Er wird Eure Befehle ausführen, wenn ihm die Zeit reif dafür erscheint.«

»Hat er gesagt, warum er den Drachen mitgebracht hat?«

»Frau Frecknock hat einen Eid geschworen, den Inquisitor zu beschützen. Sie möchte am Leben bleiben und weiß, dass das nur geht, wenn sie sich nützlich macht. Sie lehrt Melyn und dessen Männer alle Magie, die sie beherrscht, um ihnen auf ihrem Feldzug zu helfen, und sie gibt sich alle Mühe, den Inquisitor zu beschützen. Ich nehme an, sie weiß, dass sie im Falle seines Todes selbst sehr bald ebenfalls ihr Leben verlieren würde.«

Falls er stirbt. Melyns ungeheures Vorhaben ging ihr mit diesen drei kurzen Wörtern schmerzlich auf. Beulah wusste, dass es ein mutiger, wenn nicht gar tollkühner Einsatz war. Fünfhundert Kampfpriester gegen eine ganze Nation war kein gutes Verhältnis. Und alles hing davon ab, dass sie und ihre Leute die Aufmerksamkeit eines Großteils von Billahs Heer ablenkten. Es wäre ein Wunder, wenn auch nur einer der Kampfpriester überlebte.

»Keine Angst, Herrin. Seine Gnaden kennt vielerlei Schliche. Er hat seine besten Kampfpriester mitgenommen, und jetzt hat er auch noch neue Magie als Hilfe. Ihr werdet ihn wiedersehen. Das weiß ich.«

Etwas an Cluns Stimme, an seiner Wortwahl, sorgte dafür, dass Beulah ihm glaubte. Der Herzog von Aberfenn war mehr als nur der tapfere junge Mann, der ihr Herz gewonnen hatte. Beulahs Blick hing so fest an ihm, dass sie den Hengst auf der anderen Seite des Ringes darüber vollständig vergaß. Erst als er sich bewegte, bemerkte sie ihn wieder, jetzt hatte er keine Angst mehr, sondern trabte auf die Mitte der Arena zu. Das Pferd war riesig, sein Fell war schwarz und glänzte vor Schweiß. Der Hengst strahlte unbezwingliche Kraft aus, ungehemmte Bosheit und zielstrebige Sturheit. Und ehe sie einen Warnruf ausstoßen konnte, hatte der Hengst bereits Clun erreicht, der sich einfach umdrehte, gelassen in die großen Augen starrte, eine Hand hob und das Pferd seine Witterung aufnehmen ließ.

Langsam und ganz ruhig senkte der Hengst den Kopf und ließ sich hinter den Ohren kraulen.

Mit seinem Kopf stimmte etwas nicht. Egal, wie große Mühe er sich gab, konzentriert zu denken, wie oft er sich das Wasser aus den Ohren schüttelte, noch immer hatte Benfro das Gefühl, in dicke weiche Decken gewickelt zu sein. Er war sich auch nicht ganz sicher, wo er war, obwohl ihm das seltsamerweise nicht so viel auszumachen schien. Wo immer er sein mochte, seine Umgebung bewegte sich, schlingerte in einem gleichförmigen Rhythmus hin und her, der den Nebel um sein Gehirn wirbeln ließ und es ihm noch schwerer machte, sich zu konzentrieren.

Benfro versuchte, zu sehen, was vor sich ging, aber wo immer er sich befand, es war dunkel. Ein winziger Lichtstrahl fiel durch ein Loch hoch über ihm und malte ein Fächermuster auf eine Decke, die offenbar aus Holz bestand. Aber das konnte nicht stimmen. Er hatte doch in einer Höhle geschlafen. Er hatte Feuer gemacht. Nein, er hatte kein Feuer gemacht, aber dort war Rauch gewesen. Da war er sich ziemlich sicher. Oder hatte er das geträumt? Er wusste noch, dass er müde gewesen war, bleischwer, als ob er zu viel gegessen hätte. Aber es waren nur ein paar Fische gewesen, und nicht einmal besonders große. Er erinnerte sich, dass er sie im Fluss gefangen und einige zerlegt hatte, um sie später zu kochen, wenn Errol wieder da wäre.

Benfro begann seine Erinnerungen Stück für Stück zusammenzufügen. Das dauerte; er schien nur wenige Dinge gleichzeitig im Kopf behalten zu können. Er hatte keine Ahnung, wie lange es her war, dass er diese Höhle betreten hatte, oder wie lange er sich wohl schon in dieser schaukelnden Holzkiste befand.

In diesem Käfig.

Der Gedanke kam ihm, als er gerade anfing, seine Arme und Beine wieder zu spüren. Es war, als ob er vergessen hatte, was Unbehagen ist, und darum so lange gebraucht hatte, um dieses Gefühl benennen zu können. Jetzt, da er die Verbindung hergestellt hatte, ging ihm auf, dass er sich schon unwohl fühlte seit … seit wann? Er konnte sich so wenig an das Aufwachen erinnern wie an das Einschlafen. Aber irgendwann musste er doch beides getan haben.

Benfro bewegte sich ein wenig, versuchte, sich aufzusetzen. Das fiel ihm überraschend schwer: Offenbar funktionierte sein Gleichgewichtsinn nicht, seine Arme und Beine schienen gefesselt zu sein. Er schob sich hin und her und drehte sich nach vorn, um sich in eine aufrechte Haltung zu stemmen. Doch in dem engen Käfig war das fast unmöglich. Langsam, aber unaufhaltsam kippte er um und landete auf etwas ein wenig Weicherem als dem Holzboden.

Eine übellaunige Stimme murmelte etwas, das er nicht verstand.

»Was? Ist hier jemand?« Benfros Stimme klang seltsam gepresst in seinen Ohren, nuschelnd und schwerfällig.

»Ich habe gesagt, pass doch auf, wo du dich hinsetzt. Du bist hier nicht der Einzige.«

»Entschuldigung. Das wusste ich nicht.« Benfro kroch, so gut er konnte, von der Stimme fort und wich rückwärts in eine Ecke zurück. Erst jetzt kam in seinen verwirrten Gedanken die Information an, dass hier soeben in der Drachensprache gesprochen worden war. Nicht nur das, die Aussprache war perfekt gewesen, die Stimme tief und alt, ein wenig wie die von Sir Frynwy. So sprachen Menschen nicht.

»Ich möchte nicht unhöflich sein, aber wo sind wir? Und wer bist du?«

»Ich bin Magog, der Sohn des Sommermondes. Aber du kannst mich Möndchen nennen.« Etwas bewegte sich in der Dunkelheit, eine gewaltige Gestalt schleppte sich über den Boden zu ihm hin. Das Licht, das über die Decke spielte, hätte ausreichen müssen, um Benfro seinen unbekannten Gefährten genauer sehen zu lassen, aber die Wolke, die seine Gedanken benebelte, hatte ihm auch seinen scharfen Blick genommen. Er konnte nur ein Aufleuchten erkennen, vielleicht den Widerschein eines Auges. Dann spürte er heißen Atem im Gesicht, faulig durch den Gestank verrotteten Fleisches. »Und du musst mein Bruder Gog sein. Ich warte schon lange auf dich. Wo hast du dich in all den Jahren herumgetrieben?«

»Nein, ich bin Benfro, Sir Benfro.« Die Gestalt vor ihm zog sich zurück, er hörte ein Schlurfen, dann prallte etwas gegen die hintere Wand und störte für einen Moment die regelmäßige Bewegung.

»Oh. Und ich war mir so sicher. Ich war …«

Aber Benfro erfuhr erst einmal nicht, was das Wesen hatte sagen wollen. Der Käfig kam plötzlich zum Stillstand. Benfro rutschte vorwärts und knallte schmerzhaft auf den Boden. Er hörte das Knirschen von Riegeln, die zurückgezogen wurden, ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht, und dann spülte Licht über ihn hinweg.

Benfro schaute zu dem anderen Ende des Käfigs hinüber, wo das Wesen jetzt kauerte. Es war fast unmöglich, den Drachen zu erkennen, da seine Farbe perfekt zu dem dunklen Holz passte. Er sah dünner aus als Benfro, war aber ungefähr genauso groß wie er. Abgesehen von den Flügeln, die zwar groß für einen Drachen aus dem Frydland waren, aber trotzdem lächerlich klein im Vergleich zu Benfros. Was Benfros Aufmerksamkeit jedoch vor allem fesselte und ihn mit Angst, Mitleid und Zorn erfüllte, war der Gesichtsausdruck des Drachen, sein Blick. Dieser war verängstigt, gebrochen und wirkte geradezu wahnsinnig.

Etwas traf Benfro mitten im Rücken. Was immer es war, das seinen Geist von seinem Körper getrennt hatte, löste sich zu einem Augenblick überwältigenden Schmerzes auf. Er wimmerte, drehte sich um und sah einen Mann in der offenen Tür stehen, der eine lange Peitsche in der Hand hielt. Der Mann sagte etwas in einer Stimme, die klang, als sei er daran gewöhnt, sich Gehorsam zu verschaffen.

»Ich verstehe nicht.« Benfro hob die Hände. Seine Handgelenke steckten in Eisenringen, die durch eine kurze Kette miteinander verbunden waren.

»Er sagt, du sollst dich benehmen und den Pferden keine Angst machen. Sonst …« Benfro spürte, wie die Spitze der Peitsche im Käfig an ihm vorüberjagte, und sah, wie sie den anderen Drachen mitten ins Gesicht traf. Magog, wie er sich genannt hatte, schrie auf, fiel zu Boden und bedeckte den Kopf mit den Händen. Dabei redete er sehr schnell in derselben Sprache wie der Mann. Der wiederum brüllte etwas, das wie eine Verwünschung klang, dann drehte er sich zu Benfro um.

»So. Kein Lanwennog sprechen, was. Werden lernen. Nix lernen, nix essen. Und jetzt still.« Damit knallte er die Tür zu und senkte die beiden abermals in Finsternis. Gleich darauf setzte die rhythmische Bewegung wieder ein, mit einem jähen ersten Schlingern, das Benfro wieder zu Boden warf, als er gerade angefangen hatte, sich aufrecht zu halten.

»Hi, hi. Du hast Tegwin verärgert. Lass das lieber. Der kann gemein sein. Und der alte Logtan ist noch schlimmer.«

Benfro versuchte abermals, auf die Beine zu kommen, dann erinnerte er sich an die Worte des Mannes und den schmerzhaften Peitschenhieb. Er würde diesem Tegwin eine Lehre erteilen, wenn sein Kopf erst ein wenig klarer war. Aber erst einmal musste er sich von diesen Fesseln befreien. Er holte tief Luft, hob die Arme und streckte sie auseinander, um die Kette anzuspannen. Er dachte, dass sie seine Würde beleidigte, dass sie weg musste, und versuchte, sich an das Gefühl zu erinnern, das sich sonst immer in seinem Magen ausgebreitet hatte. Dann atmete er aus.

Aber es gab keine Flamme.

Verwirrt holte Benfro abermals tief Luft und machte noch einen Versuch. Doch wieder konnte er nicht einmal den kleinsten Funken produzieren. Als er sich das genauer überlegte, ging ihm auf, dass er auch wütend sein müsste, weil er angekettet war, und doch hatte er das als eine gewisse Unannehmlichkeit hingenommen. Mit seinem Geist stimmte etwas nicht – überhaupt nicht. Aber er brachte es nicht über sich, das wichtig zu finden. Stattdessen ließ er sich wieder auf den Boden sinken. Dabei knallte das Gewicht seines Körpers auf seine Arme. Das würde später wehtun, aber für den Moment war er zu müde und zu verwirrt, um sich darum zu kümmern. Er schloss die Augen, auch wenn das in der Dunkelheit kaum eine Rolle spielte, und versuchte zu schlafen. Doch der andere Drache murmelte die ganze Zeit vor sich hin.

»Magog?«, fragte Benfro und fragte sich, wie dieses jämmerliche Wesen zu dem Namen gekommen sein mochte. Das Gemurmel verstummte, deshalb vermutete Benfro, dass sein Mitgefangener ihm zuhörte. »Was ist das hier? Wo sind wir? Und wer ist Logtan?«

»Logtan ist der Chef hier. O ja. Du findest vielleicht Tegwin mit seiner kleinen Peitsche schon schrecklich. Aber dann warte mal, bis du Logtan kennenlernst. Der nimmt dir deine Gedanken, so ist das. Er nimmt dir deinen Geist.«

»Aber wo sind wir? Wie bin ich hierhergekommen?«

»Wir sind im Zirkus, wackerer Sir Benfro. O ja. Im Zirkus.«

2

Drei Teile Eisenhut, einen Teil Johanniswurzbeere. Zwölf zermahlene Gewürznelken von den Eilanden nördlich von Eirawen. Diese sind zu mischen mit Honig aus Bienenstöcken, die in der Nähe von Flachsfeldern stehen, und mit starkem Ingwerbier aus Talardeg, um den bitteren Geschmack zu verbergen. Dieses Elixier ist mindestens sechs Monde haltbar und muss mit jeder Mahlzeit verabreicht werden. Dein Drache bleibt dadurch zahm und lernbereit und kann deshalb besser für die Manege abgerichtet werden.

Aus den persönlichen Aufzeichnungen von Zirkusdirektor Logtan

Dafyd lief auf dem schwankenden Deck hin und her und lauschte dem ewigen Geschnatter der Möwen und dem Saitenspiel des Windes in der Takelage. Er begriff nicht, warum die an den Segeln befestigten Seile Schoten genannt wurden statt Seile wie überall sonst, aber auf dieser Reise hatte er sich damit abfinden müssen, dass es bei der Seefahrt viele Dinge gab, die er niemals begreifen würde. Zum Beispiel, warum jemand freiwillig Seemann wurde.

Ihre Fahrt über das Meer von Tegid war einigermaßen ruhig verlaufen und sie hatten die riesigen vorragenden Felsen des Idris ohne Zwischenfälle hinter sich gebracht. Doch als sie dann den Großen Ozean erreicht hatten, war schärferer Wind aufgekommen und der Seegang stärker geworden. Dafyd hatte die Seekrankheit hinter sich, er kauerte nicht mehr wie ein Häuflein Elend neben der Reling, presste nicht mehr die Hände auf seinen schmerzenden Magen und wartete auch nicht mehr darauf, dass ihm der kalte Wind den Schmerz aus dem Kopf blies. Es waren fünf jammervolle Tage gewesen, aber dann war er doch wieder auf die Beine gekommen, trotz des Sturms, der sie an der Halbinsel Caldey vorbei bis hinter die Insel Bardsey und zwischen die Feleminseln getragen hatte. Jetzt fühlte er sich wohl, aber die Qualen, die er erlitten hatte, würde er niemals vergessen.

Alles wurde noch schlimmer dadurch, dass Iolwen, der es seit Monaten jeden Morgen und manchmal auch tagsüber schlecht gewesen war, die raue See ganz gelassen hinnahm. Ihre Stimmung hatte sich gehoben und sie war in seinen Augen noch schöner geworden. Sie strahlte. Es wäre Dafyd nur lieb gewesen, wenn sie weniger verräterische Kleidung getragen hätte. Ihre Schwangerschaft war jetzt deutlich zu sehen, und es kam ihm irgendwie unpassend für eine Prinzessin des Königreiches vor, ihren Zustand so offen vor den einfachen Soldaten und Seeleuten zu zeigen, mit denen sie das Schiff teilten.

Er fand sie wie so oft am Bug. Dort saß sie und schaute über die riesige geschnitzte Galionsfigur hinweg. Die Sonne des späten Nachmittags warf ein goldenes Leuchten über die Umrisse der zahllosen kleinen Inseln, die das Meer bedeckten wie Spreu.

»Kapitän Azurea sagt, dass er hier in der Nähe eine große Insel kennt, wo wir Süßwasser und Proviant an Bord nehmen können. Er möchte für einige Tage dort haltmachen und die Pferde grasen lassen.« Dafyd ließ sich neben seiner Frau auf den sauber geschrubbten Deckplanken nieder und konnte ein wenig verstehen, warum sie so gern hier saß. Vor dem Bug waren nur das Meer und die Inseln zu sehen und es roch nur nach Salzwasser und der von der Sonne gebackenen heißen Luft. Von dem geschäftigen Treiben hinter ihnen auf dem Schiff war hier kaum etwas zu merken.

»Es ist so friedlich. Manchmal wünschte ich, ich könnte für immer hierbleiben. Niemals zurückkehren.«

»Wirklich?«, fragte Dafyd. »Es ist schön hier, das gebe ich ja zu, und ich hätte auf jeden Fall viel lieber Frieden als Krieg. Aber ich glaube, ich würde mich sehr bald langweilen. Und es ist auch nicht immer so ruhig. Vergiss nicht den Sturm, der uns hergeführt hat.«

Er legte Iolwen den Arm um die Schulter und drückte sie an sich, während das Schiff langsam durch die engen Passagen zwischen den Inseln glitt. Sie kamen an einem felsigen Vorland vorbei, wo eine Klippe aus zerbröckelnden Steinen hoch aus dem Wasser ragte. Sie war von Vogeldung weiß gestreift, und das Meer dahinter lag ruhig im Windschatten einer viel größeren Insel, in deren Mitte sich ein von Wolken umhüllter kegelförmiger Berg erhob. Das Schiff drehte bei, und als sie sich dem Ufer näherten, entdeckte Dafyd eine lange steinerne Pier, die in die Bucht hinausragte. Dahinter standen die zerfallenen Überreste längst verlassener Gebäude im Schatten hoher Palmen und anderer fremdländischer Pflanzen, die er nicht kannte.

»Wir sollten den Seeleuten lieber aus dem Weg gehen. Die wollen bestimmt Anker werfen oder was immer sie eben tun.« Als das Schiff auf die Pier zuhielt, stand Dafyd auf und half Iolwen auf die Füße. Die beiden bahnten sich einen Weg über das Deck, wo es von geschäftig umhereilenden Seeleuten nur so wimmelte. Matrosen kletterten an den Masten hoch und fingen an, Segel einzurollen. Eine Gruppe von Männern ließ die Boote zu Wasser und legte schwere hölzerne Ruder bereit. Fortwährend wurden Befehle gebrüllt, die mit kurzem Grunzen und ab und zu einer Verwünschung beantwortet wurden.

In Dafyds und Iolwens Kajüte war es viel ruhiger, und in der Stunde, die es ungefähr dauerte, bis das Schiff endlich zum Stillstand gekommen war, beschäftigte Iolwen sich damit, für den Landgang passende Kleidung auszusuchen. Dafyd sah ihr zu und fragte sich, ob er ihr sagen sollte, dass die Insel unbewohnt war. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als jemand an die Tür klopfte. Er öffnete und fand draußen Hauptmann Pelod von der Königlichen Garde und Teryll, den obersten Stallknecht, vor.

»Wir haben angelegt. Die Männer bringen die Pferde an Land. Teryll und ich werden dafür sorgen, dass ein Lager errichtet wird. Usel lässt fragen, ob Ihr Euch währenddessen vielleicht auf der Insel umsehen wollt. Sie scheint eine interessante Geschichte zu haben.«

An Deck war Dafyd überrascht, als er sah, dass das Schiff längs der Pier verankert war, er hatte damit gerechnet, dass es in der Bucht liegen würde. Doch als er über die Laufplanke ging und zum ersten Mal nach vielen Wochen auf See wieder festen Boden unter den Füßen hatte, stellte er fest, dass das Mauerwerk der Pier zwar sehr alt war, aber noch immer standhielt. Durch das kristallklare Wasser konnte man tief unter dem Schiffsrumpf einen blassen Sandboden sehen, wo Fischschwärme hin und her schwammen.

Usel wartete bereits am Ende der Pier auf sie. Er wirkte wie ein aufgeregtes Kind, fand Dafyd. Der Mann sprühte geradezu vor Energie und wollte offenbar unbedingt los, um die Insel zu erkunden.

»Das müsst ihr einfach sehen.« Usel wartete ihre Antwort nicht ab, sondern lief bereits den Strand entlang auf das nächststehende verlassene Haus zu. Iolwen ging hinter ihm her, sie sprach Saesneg und war offenbar ebenso froh wie er, wieder an Land zu sein. Dafyd schaute Pelod und Teryll schulterzuckend an, dann sprang er hinunter auf den Sand und folgte den beiden anderen.

Es war ein seltsames Gefühl, über Boden zu laufen, der sich nicht unter seinen Füßen bewegte oder schlingerte. Hier, ein wenig vom offenen Meer und dessen kühlender Brise entfernt, war die Luft heiß. Der feine Sand reflektierte das Sonnenlicht. Hinter dem Strand stieg das Land zu einer weiten Ebene an, aus der dann jählings der Berg aufragte. Eine Reihe von Bäumen markierte die Grenze zwischen Strand und Ebene, dahinter wucherten Gräser und Gestrüpp. Die Überreste von Gebäuden, die offenbar einst zu einer ausgedehnten Stadt gehört hatten, wirkten wie große Klumpen in der Vegetation.

»Wer hat hier gelebt, Usel?«, fragte Iolwen, als sie einem anscheinend weiterhin viel genutzten Pfad durch das Unterholz folgten.

»Das ist Merrambel, der nördlichste Vorposten der Eirawen.«

»Was ist aus diesem Volk geworden? Warum haben die Menschen die Insel verlassen? Hier lebt man doch wie im Paradies?«

»Sollte man meinen. Aber der Merram ist nicht so friedlich, wie er aussieht. Es handelt sich um einen Vulkan. Angeblich gab es vor über dreitausend Jahren einen heftigen Ausbruch. Viele Inselbewohner starben damals und die Überlebenden wurden durch den ganzen Gulad verstreut. Die meisten kehrten nach Eirawen zurück, aber einige wenige wurden in den Norden des Zwillingskönigreichs verschlagen. Angeblich waren das die ersten Menschen, die sich dort niederließen, und die Vorfahren von Balwens Stamm.«

»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«, fragte Dafyd.

»Ich glaube nicht, nein. Die Städte von Eirawen waren uralt im Vergleich zu Candlehall und Aberfenn. Die Menschen sind heute vielleicht abergläubisch und rückständig, aber es gab eine Zeit, da waren sie so hoch entwickelt wie wir heute, wenn nicht noch höher.« Usel führte sie einen steilen Hang hinab in ein Flusstal. Die Vegetation auf beiden Seiten wurde immer dichter, aber der Pfad war weiterhin offen. Er war mit perfekt aneinandergefügten Steinplatten ausgelegt, die eine Serie von langen schmalen Stufen bildeten. Die Schatten wurden länger, als sie sich dem Talgrund näherten, obwohl die noch immer über dem westlichen Horizont verharrende Sonne den Hang hinter ihnen beleuchtete. Usel rannte jetzt fast, so dringend wollte er sie zu dem führen, was sich hinter der nächsten Biegung versteckte, und als Dafyd durch einen Vorhang aus Hängepflanzen getreten war, konnte er die Aufregung des anderen etwas besser verstehen.

Der Pfad, dem sie bis hierher gefolgt waren, öffnete sich unten im Tal zu einer weiten Lichtung. Gleich darüber ragte eine zum Berg gehörende Felswand auf. Pflanzen bedeckten die Felswand wie strähnige Haare, aber in der Mitte war eine vielleicht hundert Schritt breite und doppelt so hohe Fläche bis auf den nackten Stein freigelegt worden. Dort war das Bildnis eines gewaltigen Drachen eingemeißelt.

»Sehet Earith die Weise. Das ist die Gottheit der uralten Völker von Eirawen.« Usels Stimme war voller Ergriffenheit, fast schon Ergebenheit. Aber nicht das oder das wahrhaft gewaltige Steinbild ließen Dafyd nach Luft schnappen und Iolwen einen leisen Überraschungsschrei ausstoßen. Mitten auf der Lichtung stand, winzig klein im Vergleich zu dem riesigen Drachenbildnis, ein echter, lebender Drache stand, der so fasziniert zu dem Bild emporschaute, dass er die Ankömmlinge nicht bemerkte.

Das Dorf war kaum mehr als eine Ansammlung von grob gezimmerten Holzbuden, die sich um einen Brunnen drängten. Ein schmaler Pfad schlängelte sich von den Ebenen der Nordlande herauf und endete bei dem überwucherten Dorfanger, auf dem zwei magere Ziegen und einige Hühner grasten, als ob das hier der letzte Punkt wäre, den König Billahs langer Arm noch erreichen konnte. Hinter der letzten baufälligen Hütte lag das Land der Wegelagerer.

Melyn ritt langsam zwischen den Häusern weiter und tastete mit seinen Sinnen nach den Menschen, die an diesem trostlosen Ort wohnten. Sie waren von kleinlichem Gemüt, unterjocht von der Kargheit ihrer Existenz. Irgendwann in der fernen Vergangenheit hatte ein Glückspilz in der Nähe Gold gefunden. Es hatte einen kurzen Goldrausch gegeben – Melyn hatte auf dem Weg hierher die Ruinen einer größeren Siedlung und die Narben in der Landschaft gesehen, wo die Menschen auf der Suche nach Reichtum geschuftet hatten – aber das, was die Leute hergelockt hatte, war längst verschwunden. Die wenigen armen Seelen, die hier noch immer ihr Leben fristeten, waren die Verlierer, die törichten Optimisten, die sich in der sinnlosen Hoffnung auf plötzlichen Reichtum durch ein Leben voller Not und Elend schleppten. Er würde, schloss Melyn, ihnen allen einen Gefallen tun.

Es dauerte überraschend lange, bis sich jemand blicken ließ. Keine Hunde bellten hinter den Pferden her, nur die Ziegen kamen angetrottet, um in Erfahrung zu bringen, ob Melyn besser schmeckte als das Gras. Er verscheuchte sie, band sein Pferd an ein zerfallenes Holzgeländer beim Brunnen und zog einen Eimer voll Wasser hoch, um zu trinken.

»Hallooo! Ist hier jemand?« Melyns Ruf wurde von dem kalten Wind zerfetzt, der niemals aufhörte, über die karge Landschaft zu pfeifen. Zitternd schöpfte Melyn weitere Kraft aus der Grym und spürte, wie diese seine Knochen wärmte. Er wollte gerade noch einmal rufen, als er ein Kratzen hörte. Er drehte sich um und sah einen alten Mann mit schlurfenden Schritten aus der soeben geöffneten Tür im größten Haus des Dorfes kommen.

»Wer seid’n Ihr?« Die Stimme des Mannes klang grob und unfreundlich.

Melyn deutete eine knappe Verbeugung an. »Ich bin Inquisitor Melyn vom Orden des Hohen Fryd. Du hast vielleicht von mir gehört?« Im Vergleich zur Sprache des Mannes war Melyns Lanwennog kultiviert.

»Weiß ich nix von. Was wollt’n Ihr? Steuern? Könnt Seiner Majestät sagen, dass wir nich mal Geld für uns selber ham. Und für den König schon gar nich.«

»Ich kann dir versichern, mir geht es wirklich nicht um euer Geld. Und ich bin auch nicht von König Billah geschickt worden. Aber ich habe wichtige Nachrichten für alle hier im Dorf. Ich nehme an, du hast hier zu bestimmen?«

»So isses.«

»Dann wäre ich dir dankbar, wenn du die Dorfbewohner zusammenrufen könntest. Ich möchte meinen Spruch nicht mehr als einmal aufsagen müssen.« Melyn legte einen gewissen Zwang in seine Stimme, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Der alte Mann wollte gern über seinen Rücken klagen, über seine Knie, über die schlecht erhaltenen Straßen – über alles, was ihm nur einfiel. Aber er wollte auch dringend wissen, was diesen vornehmen Herrn in sein elendes Dorf geführt hatte. Er drehte sich zur offenen Tür um und brüllte in die Dunkelheit dahinter:

»Mabel, schick die Jungs los. Sie soll’n allen sagen, dass hier Versammlung is. Halt die Klappe, verdammt. Mach einfach.«

Melyn löste einen kleinen Reiseschemel von seinem Sattel, klappte ihn auseinander und stellte ihn neben dem Brunnen auf den Boden. Er sah zwei Knaben aus der Hintertür des Hauses kommen und zu den übrigen Hütten rennen. Die Nachricht verbreitete sich rasch, aber es dauerte dennoch mehrere Minuten, bis sich die ersten Dorfbewohner einstellten. Kein einziges Mal bot der alte Mann irgendeine Form von Bewirtung an. Melyn stellte fest, dass ihm das egal war; was immer hier zu haben war, hätte ihn vermutlich krank gemacht, und es wäre unhöflich gewesen, das Angebotene abzulehnen. Nicht dass es ihn besonders gestört hätte, zu diesen Bauerntölpeln unhöflich zu sein, aber so war es ihm lieber.

Von seinem Schemel aus beobachtete Melyn, wie sich alle versammelten. Er spürte, wie die Erregung der Leute wuchs, als sie ihn sahen und dann erregt miteinander tuschelten. Der alte Mann wollte nicht mehr verraten, als dass dieser wichtige Herr dem ganzen Dorf etwas mitzuteilen habe. Einige wenige jüngere Männer versuchten, dem Dorfältesten zu widersprechen, aber offenbar hatte der noch immer das Sagen, und sie gaben sich dann auch schnell geschlagen.

Als sich ungefähr fünfzig Dorfbewohner eingefunden hatten, begann Melyn zu sprechen. Von einem Baby, das an der Brust einer Mutter mit schmutzigem Gesicht nuckelte, bis zu einer kahlköpfigen Greisin von mindestens achtzig war hier alles vertreten. Das Aussehen der Menschen, ihre mürrischen Gesichter mit Augenbrauen, die über der Nase zusammenstießen, erzählten von langen Jahren der Inzucht. Zum ersten Mal fragte sich Melyn beim Anblick der mageren Kinder und der ausgezehrten Frauen, ob sein Plan wirklich gut war. Niemand würde diese Menschen jemals vermissen. Niemandem würde ihr Verschwinden auffallen.

»Danke, dass ihr alle gekommen seid, um mir zuzuhören. Fehlt hier noch jemand?«

Alles trat von einem Fuß auf den anderen, niemand wollte Blickkontakt aufnehmen, einige murmelten. Dann gab der Dorfälteste zu, dass vielleicht ein oder zwei Männer einige Meilen weiter in einem Bach mit Goldwaschen beschäftigt seien.

»Im Westen von hier? Eine enge Schlucht mit verkümmerten Bäumen auf dem Nordufer?«

Der alte Mann nickte.

»Das macht nichts. Mit denen habe ich schon gesprochen. Wir können also anfangen. Wie ich eurem Ortsvorsteher hier schon gesagt habe, heiße ich Melyn. Ich bin Inquisitor des Ordens vom Hohen Fryd. Weiß irgendwer hier, was das bedeutet?«

Keine Antwort. Er hatte auch keine erwartet, aber es wäre doch nett gewesen, wenn wenigstens ein Mensch hier gewusst hätte, wer er war.

»Egal. Ich habe euch wirklich nur hier zusammengerufen, um mein Leben leichter zu machen. Hauptmann, bitte sehr.«

Es erfolgte ein Zittern in der Grym, das Melyn in seinen Knochen spürte, und ein Dutzend Kampfpriester angeführt von Hauptmann Osgal erschien aus der losen Luft. Sie umstellten die Menschen und riefen ohne ein weiteres Wort ihre Lichtschwerter herbei.

»Was soll das? Was wollt …« Der Dorfälteste wurde zum Schweigen gebracht, als Melyn ihn mit einer herbeibeschworenen Flammenkugel traf. Die Kugel explodierte im Gesicht des Alten und entflammte seine Kleidung und seine Haare. Einige Frauen schrien zuerst auf, dann stimmten auch die Männer ein, während die schweigenden Kampfpriester mit ihren Klingen gegen sie vorrückten.

Es dauerte nicht einmal eine Minute. Nur das Meckern der Ziegen und das Gackern der Hühner störte die Stille, die sich nun über den Dorfanger senkte. Melyn erhob sich, klappte seinen Reiseschemel zusammen und befestigte ihn wieder am Sattel.

»Legt alle da aufeinander.« Er zeigte auf eine graslose Stelle und wartete, bis die Kampfpriester seinen Befehl ausgeführt hatten. Melyn freute sich darüber, dass es nur wenig Blut gab, die meisten Schwerthiebe waren mit chirurgischer Präzision ausgeführt worden. Das erleichterte die Aufräumarbeiten.

»Und jetzt zurücktreten.« Er wartete, bis der letzte Leichnam abgelegt worden war und die Kampfpriester sich zurückgezogen hatten, dann griff er nach den Grymlinien, die ihn umgaben. Es war eine schwere Arbeit, wie das Herbeiholen einer Lichtklinge von Pferdegröße. Und er musste diese geballte Kraft von sich ablenken, sonst lief er Gefahr, in einen sehr kurzlebigen und sehr hellen Stern verwandelt zu werden. Es war ein Zauber, den er schon einmal vollbracht hatte, ein Zauber, von dem er sicher war, dass er ihn auch jetzt vollbringen konnte, aber er musste dennoch den richtigen Augenblick abpassen, um diese ganze aufgestaute Energie loszulassen.

Das Feuer brach mitten in dem Leichenhaufen aus. Es war keine normale Flamme, sondern sie zerfraß alles, verzehrte die Substanz und sog die Toten hinein in die Grym. Ein normales Leichenfeuer hätte eine Wolke aus klebrigem schwarzen Rauch verursacht und einen Haufen schmutziger grauer Asche zurückgelassen, der sich mit dem Boden vermischt hätte und mit dem nächsten Regen den Hang hinabgeströmt wäre, aber dieses Feuer nahm alles in sich auf. Melyn sah zu, wie seine Kampfpriester zurückwichen, weil sie spürten, dass die magische Flamme nach ihnen griff. Er lächelte verstohlen, denn er wusste genau, wie weit die Flamme reichte, und hielt sich genau außerhalb dieser Grenze. Die Hitze spülte über sein Gesicht, wärmte für einige kurze Augenblicke seine Haut, dann ebbte sie langsam ab, zog sich in sich selbst zurück, bis es nur noch einige Handbreit über dem Boden eine winzige leuchtende Kugel gab. Dann, mit einem für normale Ohren unhörbaren Plopp verschwand auch die Kugel und hinterließ nur noch einen kreisrunden Fleck aus nackter Erde.

Errol verbrachte noch drei Tage bei Lord und Lady Gremmil und jeder davon war eine Folter für ihn. Seine Kopfverletzung begann zu heilen, die Qual wurde zu einem dumpfen Schmerz, aber er musste sich weiterhin vor plötzlichen Bewegungen hüten. Ab und zu drehte er sich um, um eine Frage zu beantworten, und dann wurde alles um ihn herum schwarz, und seine Knie gaben unter ihm nach. Wenn er Glück hatte, konnte er sich gerade noch fangen, aber mehr als einmal war er zu Boden gestürzt.

Ein Arzt hatte ihn am ersten Tag untersucht, nicht lange nachdem er zu sich gekommen war. Ein dünner düsterer Mann in fließenden schwarzen Gewändern und mit einer schweren Ledertasche, die er nicht öffnete, hatte Errol den Finger in die Rippen gebohrt, ihm in die Augen gestarrt, den Puls gefühlt, Fieber gemessen und erklärt, er sei wirklich ein vom Glück begünstigter junger Mann. Offenbar hatte der Schlag sein Gehirn verletzt und anschwellen lassen. Wer immer diesen Schlag ausgeführt hatte, hatte ihn töten wollen. Der Arzt bot an, ein Loch in seinen Schädel zu bohren und etwas von der Wundflüssigkeit abfließen zu lassen, aber das lehnte Errol ab. Er hatte von seiner Mutter Geschichten über dieses Verfahren gehört und wollte damit nichts zu tun haben. Etwas Ruhe würde ausreichen. Allerdings würde er irgendwann dem Drang zum Weiterreiten nicht mehr widerstehen können.