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Dieses eBook: "Drei Erzählungen" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Robert Louis Stevenson (1850-1894) war ein schottischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters. Bekannt geworden sind vor allem der Jugendbuchklassiker Die Schatzinsel und die Schauernovelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die sich dem Phänomen der Persönlichkeitsspaltung widmet und als psychologischer Horrorroman gelesen werden kann. Einige Romane sind heute noch populär und haben als Vorlagen für zahlreiche Verfilmungen gedient. Inhalt: Will von der Mühle Die krumme Janet Markheim
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Seitenzahl: 110
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Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Inhaltsverzeichnis
Die Mühle, in der Will mit seinen Adoptiveltern lebte, stand in einem schrägen Tal zwischen Tannenwäldern und mächtigen Bergen. Oben ragte Gipfel über Gipfel gen Himmel, bis ihre Spitzen die Tiefen auch des zähesten Holzes überragten und sich nackt gegen den Horizont abhoben. Etwas oberhalb der Mühle schmiegte sich ein langes, graues Dorf gleich einem Saum oder Nebelfetzen an eine bewaldete Höhe; und wenn der Wind günstig war, sank der Klang der Kirchenglocken wie dünnes, flüssiges Silber zu Will in die Tiefe hinab. Zu Wills Füßen fiel das Tal steiler und steiler abwärts, sich nach beiden Seiten ausweitend, und von einem Hügel neben der Mühle war es möglich, seine ganze Länge und eine anschließende weite Ebene zu überblicken, durch die der Fluß auf seiner Reise zum Meer in leuchtenden Windungen von Stadt zu Stadt eilte. Der Zufall wollte es, daß ein Paß oberhalb des Tales nach einem benachbarten Reiche führte, so daß der Weg, der am Flußufer entlang lief, trotz der ländlichen Stille der Umgegend als große Heerstraße diente, die zwei glanzvolle und gewaltige Staatsgebilde verband. Den ganzen Sommer über krochen die Reisewagen zur Mühle herauf oder rollten in munterem Trabe an ihr vorbei den Berg hinunter; da aber der Aufstieg von der anderen Seite viel leichter war, wurde der Weg nicht viel begangen, außer von Leuten, die in einer bestimmten Richtung reisten; und von allen Wagen, die Will vorüberfahren sah, rollten fünf Sechstel luftig den Berg hinunter und nur ein Sechstel arbeitete sich kriechend zu ihm herauf. Um so mehr war dies bei Fußgängern der Fall. Alle leichtfüßigen Wanderer, alle Hausierer, beladen mit seltsamen Waren, hielten auf den Fluß zu, der ihren Weg begleitete. Und das war nicht alles. Als Will noch ein Kind war, brach ein verheerender Krieg über einen großen Teil der Welt herein. Die Zeitungen hallten wider von Sieg und Niederlage, die Erde dröhnte von Rossehufen, und häufig schreckte tagelang und auf Meilen im Umkreis das Gewühl der Schlacht die guten Leute von ihrer Arbeit auf den Feldern. Von alledem hörte man lange Zeit nichts in dem Tale; doch endlich schob einer der Feldherren auf Eilmärschen eine ganze Armee über den Paß, und drei Tage lang strömten Reiter und Fußvolk, Kanonen und Feldwagen, Trommeln und Standarten an der Mühle vorbei den Berg hinunter. Den ganzen Tag über stand das Kind und sah dem Vorbeimarsch zu – der rhythmische Tritt, die blassen, unrasierten Gesichter, die um die Augen gebräunt waren, die vom Wetter gebleichten Abzeichen und zerrissenen Fahnen erfüllten es mit einem Gefühl von Müdigkeit, Mitleid und Staunen; und die ganze Nacht lang, als es im Bette lag, konnte es die Kanonen rasseln, die Füße stampfen und die große Streitmacht talwärts an der Mühle vorbeifegen hören. Keiner in dem Tal vernahm je, was aus dem Zuge geworden war, denn in jenen unruhigen Zeiten verirrte Geschwätz sich nur selten dorthin, doch das eine erkannte Will klar: kein einziger von den Männern kehrte je zurück. Wohin waren sie alle gegangen? Wohin gingen alle die Wanderer und die Hausierer mit der seltsamen Ware? Wohin die munteren Kutschen mit den Dienern im Rücksitz? Wohin das Wasser des Flusses, das ewig talwärts strömte und ewig von oben erneuert wurde? Selbst der Wind blies häufiger das Tal hinunter als herauf und trug die welken Blätter im Herbste mit sich fort. Es war wie eine große Verschwörung aller lebenden und toten Wesen; alle gingen sie talabwärts, hurtig und lustig talabwärts, und nur er blieb, wie es schien, gleich einem Klotz am Wege liegen. Mitunter machte es ihn froh, zu sehen, daß die Fische wenigstens ihre Köpfe flußaufwärts richteten. Sie allein standen treu zu ihm, während alles andere talwärts in die unbekannte Welt hastete.
Eines Abends fragte er den Müller, wohin der Fluß eilte.
»Er eilt das Tal hinunter,« lautete die Antwort, »und dreht gewaltig viele Mühlen – sechzig mal zwanzig Mühlen, sagen sie, von hier bis Unterdeck – und er ist deshalb nicht ein bißchen müder. Und dann eilt er weiter ins Unterland und bewässert das große Kornland und läuft durch eine Menge prächtiger Städte (so sagen wenigstens die Leute), wo Könige ganz allein in großen Palästen hausen, mit einer Schildwache, die vor ihrer Tür auf und abspaziert. Und er eilt unter Brücken hindurch mit steinernen Männern drauf, die da stehen und neugierig lächelnd ins Wasser blicken, und lebendige Menschen stehen auch da, stützen ihre Ellbogen aufs Geländer und gucken auch über die Brüstung hinab. Und dann eilt er weiter und immer weiter, und abwärts durch Sümpfe und Sandbänke, bis er sich endlich ins Meer ergießt, wo die Schiffe sind, die uns aus beiden Indien die Papageien und den Tabak bringen. Ja, ja, er hat eine weite Reise vor sich, während er so singend über unser Wehr stürzt, Gott schütze ihn.«
»Und was ist das Meer?« fragte Will.
»Das Meer!« rief der Müller. »Der Herr steh uns bei, das Meer ist das Größte, was Gott je erschaffen hat! Es ist der Ort, wo alles Wasser der Welt wie in einem großen Salzsee zusammenläuft. Da liegt es, so flach wie meine Hand und so unschuldig aussehend wie ein Kind; aber sie sagen, wenn der Wind weht, dann erhebt es sich trotzdem zu Wasserbergen höher als irgendeiner unsrer Berge, und dann schluckt es ganze Schiffe, größer als unsere Mühle, herunter, und es brüllt so sehr, daß die Leute es meilenweit im Lande hören. Große Fische sind darin, fünfmal größer als ein Stier, und eine alte Schlange so lang wie unser Fluß und so alt wie die ganze Welt, mit einem Schnurrbart wie ein Mann und mit einer silbernen Krone auf dem Kopf.«
Will glaubte, noch nie dergleichen gehört zu haben, und er fuhr fort, Frage auf Frage zu stellen über die Welt, die samt allen Gefahren und Wundern weit unten am Flusse lag, bis der alte Müller selber ganz lebhaft wurde und ihn zum Schluß bei der Hand nahm und auf den Gipfel führte, der das Tal und die Ebene überblickte. Die Sonne war am Untergehen und stand tief an einem wolkenlosen Himmel. Alles hob sich klar und verklärt gegen das goldene Licht ab. Will hatte in seinem ganzen Leben nie eine so mächtige Fläche gesehen: er stand und staunte mit der ganzen Kraft seiner Augen. Er konnte die Städte und die Wälder, die Felder und die hellen Windungen des Flusses sehen, und wie ganz am Ende der Rand der Ebene den leuchtenden Himmel berührte. Da packte ein überwältigendes Gefühl den Knaben an Seele und Leib; sein Herz pochte so heftig, daß es ihm den Atem nahm; die Szene verschwamm vor seinen Augen; die Sonne schien sich um und um zu drehen und aus ihrem Kreise seltsame Gestalten hinauszuschleudern, die mit der Schnelligkeit des Gedankens schwanden und denen andere folgten. Will bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in leidenschaftliche Tränen aus, und der arme Müller wußte sich tief bekümmert und verwirrt, keinen besseren Rat, als ihn auf den Arm zu nehmen und schweigend nach Hause zu tragen.
Von jenem Tage an war Will voll neuer Hoffnungen und Sehnsüchte. Etwas riß fortwährend an seinem Herzen; das eilende Wasser trug seine Wünsche mit sich fort, während er über seinem gleitenden Spiegel hinträumte; der Wind, der das Wipfelmeer durchbrauste, rief ihm aufmunternde Worte zu; Äste winkten ihm zu und wiesen talabwärts; der offene Weg, der sich um die Ecken herum schneller und schneller bergab schlängelte, quälte ihn mit seinen Aufforderungen. Lange Stunden brachte Will auf der Anhöhe zu und spähte hinab über die Wasserscheide und das fette Unterland und beobachtete die Wolken, die mit dem trägen Winde segelten und ihre Purpurschatten über die Ebene schleppten. Oder er lauerte am Wegrande und folgte mit den Augen den Wagen, während sie den Fluß entlang zu Tal ratterten. Ganz gleich, was es war, ob Wolke oder Wagen, Vogel oder flüchtiges Wasser im Fluß, er fühlte, wie sein Herz ihm in einem Rausch von Verlangen nachströmte.
Uns wird von Männern der Wissenschaft erzählt, sämtliche Abenteuer der Seefahrer, alle Wanderungen von Stämmen und Rassen, die die älteste Geschichte mit dem Staub und Lärm ihres Gewoges verwirren, entsprängen nichts Ungreifbarerem als den Gesetzen von Angebot und Nachfrage, sowie einem gewissen natürlichen Instinkt für billige Nahrung. Wer jedoch tiefer denkt, dem erscheint dies eine recht stumpfsinnige und erbärmliche Erklärung. Die Stämme, die sich von Norden und Osten her nach Süden ergossen, wurden, wenn auch in ihrem Rücken bedrängt von anderen vorwärtsstürmenden Scharen, trotzdem von der magnetischen Kraft des Südens und Westens angezogen. Der Ruhm anderer Länder war auch zu ihnen gedrungen; der Name der Ewigen Stadt hallte in ihren Ohren; sie waren nicht Kolonisten, sondern Pilger; sie reisten zwar dem Weine, dem Golde und dem Sonnenschein entgegen, aber ihr Sinn trachtete nach Höherem. Jene göttliche Unruhe, jener alte, prickelnde Stachel, der die Wurzel jeder großen Leistung und jedes elenden Schiffbruchs ist, der gleiche Stachel, der Ikarus die Flügel spreiten hieß und Kolumbus über den öden Atlantik entsandte, begeisterte und hielt auch diese Barbaren aufrecht auf ihrem gefährlichen Marsch. Es gibt eine Legende, die jenen Geist atmet, und die erzählt, wie eine abgesprengte Gruppe solcher Wanderer einst einem uralten Manne begegnete, der eiserne Schuhe trug. Der Alte fragte sie, wohin des Weges, und sie antworteten wie mit einer Stimme: »Nach der Ewigen Stadt!« Da blickte er sie ernst an. »Ich habe sie gesucht«, sagte er, »in fast allen Teilen der Erde. Drei Paar Schuhe ähnlich denen, die ich jetzt an den Füßen trage, habe ich auf meiner Pilgerfahrt zerschlissen, und das vierte wird jetzt unter meinen Tritten dünn. Doch habe ich während dieser ganzen Zeit die Stadt nicht gefunden.« Und damit wandte er sich und ging einsam seines Weges und ließ die anderen voll Staunens zurück.
Und doch gibt jenes Gefühl kaum die Intensität von Wills Sehnen nach der Ebene wieder. Könnte er nur weit genug dort hinauskommen, sein Blick, das fühlte er, würde geschärft und geklärt, sein Gehör geschult werden, ja, selbst sein Atem würde wollüstiger kommen und gehen. Er war in eine feindliche Erde verpflanzt worden und welkte dort hin; er weilte in einem fremden Lande und sehnte sich krank nach der Heimat. Stück für Stück setzte er die abgetrennten Begriffe von der Welt dort unten zusammen: von dem Flusse, der ewig eilte und schwoll, bis er sich hinaus in den majestätischen Ozean ergoß; von den Städten, voller heiterer, schöner Menschen, spielender Fontänen, Musikkapellen und marmorner Paläste, und des Nachts von einem Ende zum anderen erleuchtet von künstlichen, goldenen Sternen; von den großen Kirchen, weisen Universitäten, tapferen Armeen und den ungezählten Reichtümern, die in den Gewölben aufgespeichert lagen; von dem hochfliegenden Laster, das sich im Sonnenschein erging, und von der Heimlichkeit und Raschheit mitternächtlichen Mordes. Ich sagte, daß er sich nach der Heimat krank sehnte: das Gleichnis hinkt. Er war wie einer, der gleichsam an ein dämmriges, formloses, früheres Dasein gefesselt ist und voll zärtlichen Verlangens die Hände nach dem vielfarbigen, vieltönenden, wahren Leben ausstreckt. Kein Wunder, daß er sich unglücklich fühlte; er würde gehen und es den Fischen erzählen. Die waren für ihr Leben geschaffen, sehnten sich nach nichts anderem als nach Würmern, laufendem Wasser und nach irgendeinem Loch an einer Uferböschung. Er aber war aus einem anderen Stoff, voller Sehnsüchte und Ziele; ihn juckte es an den Fingerspitzen, ihn gelüftete es zu sehen, ihn konnte die ganze, weite, vielgestaltige Welt nicht befriedigen. Das wahre Leben, der wahre, helle Sonnenschein lagen dort unten auf der weiten Ebene. Oh, könnte er nur ein einziges Mal, bevor er stürbe, diesen Sonnenschein sehen! Ein einziges Mal jubelnden Herzens in jenem goldenen Lande sich ergehen, die geschulten Sänger und die süßen Kirchenglocken hören, die Feiertagsgärten sehen! »Oh ihr Fische!« rief er, »wenn ihr nur eure Mäuler flußabwärts richten wolltet, wie leicht könntet ihr in jenen Fabelwassern schwimmen und die mächtigen Schiffe wie Wolken über euch hin wegziehen sehen und die großen Wasserberge hören, die den lieben langen Tag über euren Köpfen Musik machen würden!« Aber die Fische fuhren fort, geduldig nach ihrer Richtung zu schauen, bis Will kaum wußte, ob er lachen oder weinen sollte.
Bis dahin war der Verkehr auf der Landstraße wie eine Reihe von Bildern an Will vorbeigezogen: er hatte