Drei Fälle für Pierre Durand: Provenzalische Verwicklungen / Provenzalische Geheimnisse / Provenzalische Intrige (3in1-Bundle) - Sophie Bonnet - E-Book
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Drei Fälle für Pierre Durand: Provenzalische Verwicklungen / Provenzalische Geheimnisse / Provenzalische Intrige (3in1-Bundle) E-Book

Sophie Bonnet

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Beschreibung

Mord in der Provence: drei Fälle für Pierre Durand
Hinter der schönen Fassade des idyllischen Dorfes Sainte-Valérie tun sich immer wieder Abgründe auf. Die sonnige Provence wird Schauplatz dreier grausiger Verbrechen. Unfall oder Mord? Das gilt es herauszufinden!


Begleiten Sie den ehemaligen Pariser Kommissar Pierre Durand, wie er in die eingeschworene Dorfgemeinschaft eintaucht und dabei so manch altes Geheimnis lüftet, das besser verborgen geblieben wäre. – Jetzt die ersten drei Bände der erfolgreichen Provence-Krimireihe in einem E-Book!

»Provenzalische Verwicklungen«

Sainte-Valérie, ein idyllisches Dorf in der Provence inmitten von Weinbergen und Olivenhainen. Der ehemalige Pariser Kommissar Pierre Durand würde den Spätsommer in seiner Wahlheimat genießen, wenn ihn nicht gerade seine Freundin verlassen hätte. Doch auch mit der Ruhe ist es plötzlich vorbei: Der Dorfcasanova wird ermordet in einem Weintank aufgefunden – daran geheftet ein Rezept für Coq au vin. War es ein makabrer Racheakt eines gehörnten Ehemanns? Die Dorfbewohner halten fest zusammen. Und schon bald ahnt Pierre, dass sich hinter der schönen Fassade Sainte-Valéries ganze Abgründe auftun ...

»Provenzalische Geheimnisse«

Im idyllischen Dorf Sainte-Valérie wird eine Hochzeit gefeiert: Die Tische sind geschmückt, es duftet nach Lavendel, und der Wildschweinbraten dreht sich am Spieß. Der ehemalige Kommissar Pierre Durand fiebert bereits dem Ende der Feier entgegen, denn dann will er ein Gläschen mit Köchin Charlotte trinken. Doch so weit kommt es nicht: Der Bruder der Braut wird tot aufgefunden, von Schrotkugeln durchsiebt. War es ein Jagdunfall? Oder Mord? Pierres Ermittlungen führen ihn in die einsamen Wälder der Provence – und mitten ins Herz des Dorfes ...

»Provenzalische Intrige«

Es ist Frühling in der Provence. Das Luberon-Tal ist in ein weiß-rosa Blütenmeer getaucht, und in den Destillerien rund um Sainte-Valérie herrscht Hochbetrieb. Inmitten dieser Idylle wird Paulette Simonet, Inhaberin der Kosmetikfirma Mer des Fleurs, tot im Kessel ihrer Seiferei aufgefunden. Unfall oder Mord? Feinde gab es reichlich. Die Verfechterin nachhaltiger Produkte hatte sich nicht nur mit den traditionellen Marseiller Seifenfabrikanten angelegt, sondern auch mit einer Supermarktkette, die billige Fälschungen ihres Sortiments auf den Markt brachte. Ein Fall für Pierre Durand, dessen Ermittlungen ihn quer durch Südfrankreich führen – und in die Tiefen eines Rosenkriegs zwischen der Ermordeten und ihrem Exmann …

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Provenzalische Verwicklungen

Sainte-Valérie, ein idyllisches Dorf in der Provence inmitten von Weinbergen und Olivenhainen. Der ehemalige Pariser Kommissar Pierre Durand würde den Spätsommer in seiner Wahlheimat genießen, wenn ihn nicht gerade seine Freundin verlassen hätte. Doch auch mit der Ruhe ist es plötzlich vorbei: Der Dorfcasanova wird ermordet in einem Weintank aufgefunden – daran geheftet ein Rezept für Coq au vin. War es ein makabrer Racheakt eines gehörnten Ehemanns? Die Dorfbewohner halten fest zusammen. Und schon bald ahnt Pierre, dass sich hinter der schönen Fassade Sainte-Valéries ganze Abgründe auftun ...

Provenzalische Geheimnisse

Im idyllischen Dorf Sainte-Valérie wird eine Hochzeit gefeiert: Die Tische sind geschmückt, es duftet nach Lavendel, und der Wildschweinbraten dreht sich am Spieß. Der ehemalige Kommissar Pierre Durand fiebert bereits dem Ende der Feier entgegen, denn dann will er ein Gläschen mit Köchin Charlotte trinken. Doch so weit kommt es nicht: Der Bruder der Braut wird tot aufgefunden, von Schrotkugeln durchsiebt. War es ein Jagdunfall? Oder Mord? Pierres Ermittlungen führen ihn in die einsamen Wälder der Provence – und mitten ins Herz des Dorfes ...

Provenzalische Intrige

Es ist Frühling in der Provence. Das Luberon-Tal ist in ein weiß-rosa Blütenmeer getaucht, und in den Destillerien rund um Sainte-Valérie herrscht Hochbetrieb. Inmitten dieser Idylle wird Paulette Simonet, Inhaberin der Kosmetikfirma Mer des Fleurs, tot im Kessel ihrer Seiferei aufgefunden. Unfall oder Mord? Feinde gab es reichlich. Die Verfechterin nachhaltiger Produkte hatte sich nicht nur mit den traditionellen Marseiller Seifenfabrikanten angelegt, sondern auch mit einer Supermarktkette, die billige Fälschungen ihres Sortiments auf den Markt brachte. Ein Fall für Pierre Durand, dessen Ermittlungen ihn quer durch Südfrankreich führen – und in die Tiefen eines Rosenkriegs zwischen der Ermordeten und ihrem Exmann …

Autorin

Sophie Bonnet ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Mit ihrem Frankreich-Krimi Provenzalische Verwicklungen begann sie eine Reihe, in die sie sowohl ihre Liebe zur Provence als auch ihre Leidenschaft für die französische Küche einbezieht. Mit Erfolg: Der Roman begeisterte Leser wie Presse auf Anhieb und stand monatelang auf der Bestsellerliste, ebenso wie die darauffolgenden Romane um den liebenswerten provenzalischen Ermittler Pierre Durand. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

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SOPHIE BONNET

Drei Fälle für Pierre Durand

Provenzalische Verwicklungen Provenzalische Geheimnisse Provenzalische Intrige

Drei Kriminalromane in einem Band

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Copyright der Originalausgaben © »Provenzalische Verwicklungen« 2014, »Provenzalische Geheimnisse« 2015 und »Provenzalische Intrige« 2016by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, MünchenCopyright dieser E-Book-Ausgabe © by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: © www.buerosued.deUmschlagmotive: Mauritius Images/ib/GTW, www.buerosued.de (»Provenzalische Verwicklungen«); Arcangel Images/Christie Goodwin (»Provenzalische Geheimnisse«); Plainpicture/Water Rights/Yann Guichaoua (»Provenzalische Intrige«)AF · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-24086-8V002
www.blanvalet.de

SOPHIE BONNET

Provenzalische Verwicklungen

Ein Fall für Pierre Durand

Prolog

Der Wein erinnerte ihn an Schwarze Johannisbeere, tanninhaltig mit pelzigem Abgang. Und doch waren da milde Röststoffe, ein Hauch Vanille, etwas, das auf eine Lagerung in Eichenfässern hindeutete. Wohl ein Syrah, vermischt mit einem Grenache Noir. Er konnte deutlich die feine Säure der Kalkfelsen herausschmecken, die Sonne, den Wind.

In Roussillon wusste man den Anbau des Grenache zu perfektionieren. Auch wenn die Erträge nicht groß waren, profitierte man von der Sonne und dem Mistral, der jegliche Feuchtigkeit wie ein überdimensionierter Föhn davontrug.

Noch einmal fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, bis das Aroma ihm den Atem verschlug. Die Benommenheit nahm zu. Es war stickig, er brauchte Luft. Du musst dich bewegen, dachte er. Beweg dich!

Vor wenigen Tagen war er in Roussillon gewesen und durch die Reihen alter Rebstöcke auf rostig braunem Boden gewandert, hatte seinem Cousin Jean versprochen, ihm bei der Weinlese zu helfen.

»Was ist denn in dich gefahren, du bist doch sonst nicht so hilfsbereit?«, hatte der ihn misstrauisch gefragt.

Er hatte mit den Schultern gezuckt. »Ach, komm schon. Wir sind doch eine Familie.«

Wein schwappte in seinen Mund, er hustete, trat mit den Beinen ins Nichts und stieß mit dem Kopf an das Metall des Deckels. Panik stieg in ihm auf, doch er verbot ihr, sich auszubreiten, klammerte sich an die Erinnerung, als wäre sie sein rettender Anker.

Familie. Was für ein großes Wort. Er selbst hatte wahrlich genug zu tun, aber beim Anblick der tiefen Furchen, die sich in Jeans Gesicht gegraben hatten, und bei dem matten Glanz der Augen war er weich geworden.

Dankbar hatte Jean ihn in den Arm genommen, und er hatte es zugelassen.

In der kommenden Woche würde die Weinlese beginnen …

Das dumpfe Gefühl in seinem Kopf wurde stärker.

Nicht nachgeben, halte durch!

Sein Blick glitt hinab. Die kalten Stahlwände glänzten unwirklich im Rot. Unter ihm war mindestens noch ein Meter Platz. Wenn er jetzt absank, hatte er keine Chance.

Wieder und wieder schwang er die zusammengebundenen Beine vor und zurück, vor und zurück. Durch das kleine Fenster am unteren Ende des Tanks waberte Licht zu ihm herauf, das sich in der steten Bewegung brach. Darin Holzspäne, gleich aufwirbelndem Morast.

Eine Erinnerung drang in sein Bewusstsein. Sie hatten im Fluss gebadet, danach nackt im Gras gelegen und das Spiel der Sonne auf dem funkelnden Wasser betrachtet. Vivianne hatte sich über ihn gebeugt, ihr nasses Haar hatte seine Haut gekitzelt.

»Nein, ich bin noch nicht so weit. Ich will nicht sterben!«

Sein Rufen hallte dumpf wider. Warum nur? Was hatte er denn schon getan? Hatte Angeline es ihrem Ehemann erzählt?

Seine Beine wurden schwer, die vollgesogene Kleidung zog ihn hinab. In plötzlicher Hektik bewegte er seinen verschnürten Körper, als wäre er ein Aal, panisch, mit klopfendem Herzen, dann verließen ihn die Kräfte. Noch einmal atmete er tief ein, sog die verbrauchte Luft in seine Lunge, spürte, wie dabei der Wein eindrang. Er schluckte heftig, hustete, schloss den Mund. Sank tiefer, mit weit aufgerissenen Augen. Es war ihm, als triebe er einem cineastischen Sonnenuntergang entgegen.

Das Fenster! Vielleicht kam jemand, der ihn bemerkte und aus seinem Gefängnis befreite? Er bäumte sich auf, glitt mit einer einzigen Bewegung an den Rand, presste das Gesicht an das Glas. Starrte mit brennenden Augen hindurch. In verschwommenen Bildern sah er das steinerne Gewölbe, die hölzernen Regale, gefüllt mit den köstlichsten Weinen; Fässer, deren Inhalt man mit groben Kreidestrichen gekennzeichnet hatte.

Er röchelte, kleine Luftbläschen entstiegen seinem Mund. Eine krampfhafte Atembewegung setzte ein, die weiteren Wein in seine Lunge sog. Dann erlosch das Licht, und es war dunkel.

1

»Noch einen Pastis?«

Pierre Durand sah unwillig auf, nickte und blickte zum elften Mal an diesem Abend auf sein Handy, ob nicht doch eine SMS oder eine Mail eingetroffen war. Aber außer einer Werbung für Potenzmittel war nichts gekommen.

Merde! Sie machte es ihm aber auch nicht leicht.

Er nahm das Glas mit dem Pastis entgegen und den Krug, den Philippe, Besitzer der Bar du Sud, ihm über den Tresen schob, und goss ein wenig Wasser auf den Anisschnaps, als das Handy klingelte. Vor Schreck füllte er zu viel ins Glas, und es schwappte über, doch bevor er sich über das Malheur ärgern konnte, griff er nach dem Telefon und riss es an sein Ohr.

»Celestine?«

»Hallo, Pierre, gut, dass ich dich erreiche«, antwortete eine männliche Stimme. »Ich habe gerade einen Anruf von einer Frau bekommen, die behauptet, ihr Freund sei verschwunden.«

Es war Luc Chevallier, sein Assistent, übereifrig wie immer.

»Herrje, hat das denn nicht bis morgen Zeit?«, sagte Pierre schärfer als gewollt. »Ich habe Feierabend.«

»Na ja, ich habe sie nicht beruhigen können, und jetzt steht sie hier …«

Im Hintergrund schluchzte jemand auf. Pierre rollte mit den Augen.

»Verdammt, Luc, du wirst doch wohl in der Lage sein, eine weinende Frau zu beruhigen?«

»Ja, aber …« Ein lautes Kreischen erklang. Der Telefonhörer wurde zugehalten, man hörte eindringliches Reden, dann raschelte es. »Bitte«, flüsterte Luc nun. »Sie will hierbleiben, bis wir etwas unternehmen.«

»Ist ein Mord geschehen?«

»Nein.«

»Ein Überfall, ein anderes Verbrechen?«

»Nein. Das heißt, vielleicht. Zumindest behauptet sie es.«

»Dann geh der Sache nach.«

Luc seufzte hörbar. »Wie stellst du dir das vor? Ihr Freund ist ein stadtbekannter Casanova. Er hat sie versetzt, und ich kann mir schon denken, was er jetzt gerade treibt. Ein Protokoll habe ich bereits geschrieben und ihr gesagt, dass viele Vermisste noch nach Tagen auftauchen und sie übermorgen wiederkommen soll. Was soll ich denn noch tun? Diese Frau steht hier und droht die Wache zusammenzuschreien.«

»Na und? Ist ohnehin niemand außer dir dort.«

»Pierre!« Jetzt klang er wirklich verzweifelt. »Du weißt, ich kann mit hysterischen Frauen nicht gut umgehen.«

»Ruf Celestine an.«

»Hab ich schon versucht. Sie geht nicht ran.«

Klar, sie glaubt ja auch, dass ich sie anrufe, wenn sie die Nummer der Polizeiwache sieht, dachte Pierre und registrierte, dass es ihn mehr traf, als er es sich eingestehen wollte. »Ach, was weiß denn ich«, rief er laut aus. »Mit Frauen kann ich genauso wenig umgehen wie du, denk dir halt was aus.« Damit beendete er das Gespräch und schaltete das Handy aus. Sollten ihn doch alle mal am Allerwertesten …

»Ärger?« Philippe beugte sich über den Tresen und stellte ihm ungefragt einen neuen Pastis hin, dann wischte er mit einem Lappen, von dem Pierre nicht wissen wollte, was er noch so alles aufgesogen hatte, das Wasser vom Holz.

»Nicht mehr als sonst auch«, war die karge Antwort.

Nein, Pierre wollte nicht über den gestrigen Abend nachdenken. Weder über den Streit noch über Celestine. Sie würde sich schon melden, wenn sie sich beruhigt hatte. Und Luc …

Er leerte sein Glas mit einem Zug, warf ein paar Münzen auf den Tresen und verließ die Bar.

Luc war ein einfältiger Kerl. Fast dreißig und hatte dabei noch nicht einmal das Hirn eines Zwölfjährigen. Pierre konnte nicht verstehen, wie zum Teufel der Bürgermeister darauf gekommen war, ihm einen derart dämlichen Assistenten an die Seite zu stellen. Aber Sainte-Valérie sei zu klein für zwei gestandene Polizisten nebst Telefonistin, es sei ohnehin bereits diskutiert worden, die Station auf einen Mann zu begrenzen, es geschehe ja nichts außer den üblichen Kleinverbrechen, da lohne sich der Aufwand nicht. Was nicht stimmte, denn Pierres Bereich bezog auch die umliegenden Dörfer ein, und seit Künstler und Touristen die Gegend für sich entdeckt hatten, war auch der Bedarf an polizeilicher Präsenz gestiegen.

Doch erst nachdem ein Schweizer Industrieller die alte Poststation zum Luxushotel umfunktionieren wollte und eine einsatzstarke police municipale zur Bedingung machte, war umdisponiert worden – und nun war er hier, sein Assistent, und machte mehr Arbeit, als dass er sie ihm abnahm.

Nachdenklich schritt Pierre die Rue de Pontis entlang, von der man einen wundervollen Blick über die weite Ebene bis hin zum Luberon-Gebirge hatte, über dicht mit Früchten behangene Weinreben, von der Sonne ausgedorrte Wiesen und abgeerntete Lavendelfelder. An der hüfthohen Mauer stand ein Pärchen, er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, verträumt sahen sie in den tiefer sinkenden Sonnenball, der das Land mit einer milchig-sanften Decke umhüllte.

Mit einem zunehmenden Kloß im Magen hielt Pierre inne, holte sein Telefon hervor und schaltete es an, nur um festzustellen, dass einzig Luc eine Nachricht hinterlassen hatte. Enttäuscht schob er es zurück in die Tasche und setzte seinen Weg fort, ohne die Aussicht noch eines Blickes zu würdigen.

Pierre Durands Wohnung lag in einem alten Steinhaus, an dessen Fassade sich Efeuranken über die gesamte Fläche bis zu den oberen Fenstern ausgebreitet hatten. In regelmäßigen Abständen, wenn ihm das Ungeziefer zu viel wurde, das ihm über das Gestrüpp in die Zimmer krabbelte, nahm er eine große Schere und stutzte die Ranken so weit zurück, dass seine Vermieterin ihm mit Rauswurf drohte.

»Chef de police hin oder her, auch Sie haben sich an die Hausordnung zu halten«, schimpfte sie dann aufgebracht, während er einen neutralen Blick aufsetzte und wartete, bis das Gewitter vorübergezogen war. Mit ihr über Sinn und Unsinn von Hausordnungen zu debattieren, die es vorsahen, den Efeu bis in die Wohnung wuchern zu lassen, war zwecklos, das hatte er rasch bemerkt. Ohnehin wollte er hier nicht lange bleiben, er musste nur das passende Haus finden, für das seine Ersparnisse reichten, und das war nicht so einfach. Die Provence ist voller netter Häuschen, hatte er gedacht, als er hier ankam. Das war vor drei Jahren gewesen.

Ich sollte Farid anrufen, dachte Pierre, während er die Tür aufschloss. Farid war Tunesier und lebte seit seiner Geburt in Sainte-Valérie. Eigentlich hieß er Farid Ahmad Khaled Al-Ghanouchi, aber das konnte niemand aussprechen, und so stand auf dem Schild seines Maklerbüros schlicht und einfach Immobilier Farid.

Pierre legte den Schlüssel auf die Konsole im Flur, schaltete das Licht ein und ging in die Küche, wo er das Fenster öffnete und die himmelblauen Läden weit aufstieß. Die rostrote Abendsonne erhellte den Raum und beleuchtete unbarmherzig die Berge ungespülten Geschirrs.

»Du lebst ein typisches Junggesellenleben«, hatte Celestine ihm gestern vorgeworfen und auf die Unordnung gezeigt. »Sieh dich doch nur um. Wie soll eine Frau sich da wohl fühlen?«

Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt und ihn mit beinahe schwarzen Augen auffordernd angeblitzt. Dabei hatte sie ihn an eine dieser Furien aus den gezeichneten Witzen erinnert, die ihrem Mann mit dem Nudelholz drohten, wenn ihnen etwas nicht passte. Obwohl der Vergleich natürlich hinkte, denn Celestine war eine junge hübsche Frau, gerade mal dreißig. Doch es hatte ihn rasend gemacht.

»Wenn es dir nicht passt, kannst du es jederzeit ändern«, hatte er gedonnert. »Aber statt das Zeug einfach selbst wegzuräumen, baust du dich lieber davor auf und machst mir Vorwürfe.« Er hasste ständig krittelnde Frauen, und in jenem Moment war das Maß einfach voll gewesen. »Außerdem ist es kein Junggesellenleben. Ein Junggeselle lebt allein.«

»Eben.« Damit hatte sie ihre Sachen zusammengerafft und war ohne ein weiteres Wort aus dem Haus gelaufen.

Seufzend betrachtete Pierre die Teller und Tassen, Töpfe und Pfannen, räumte sie scheppernd in die Spülmaschine. Dann öffnete er den Kühlschrank.

Darin lagen ein Salat, den Celestine noch gekauft hatte, ein ungeöffnetes Paket Butter, Marmelade, luftgetrocknete Salami, Eier und Brot, das er am Vorabend hineingelegt hatte, weil das Verfallsdatum bald überschritten war.

Merde! Er hatte nicht vor, auswärts zu essen, also briet er sich ein paar Spiegeleier und verzehrte sie mit Brot und Salami. Morgen, so schwor er sich, würde er noch vor der Arbeit auf den Markt gehen, um frisches Obst und Gemüse zu kaufen, und damit den Beweis antreten, dass er kein typischer Junggeselle war.

Die Luft war noch kühl und klar, als Pierre am nächsten Morgen mit einem Korb in der Hand das Haus verließ und der Place du Village zustrebte, auf deren Mitte jeden Dienstag ein Markt aufgebaut wurde. Es war eigentlich übertrieben, ihn als einen solchen zu bezeichnen, aber die Bewohner waren stolz auf den überschaubaren Kreis vereinzelter Stände: ein Käsehändler, ein Honigstand, der Schlachter aus Cavaillon, ein Obst- und Gemüseverkäufer, der auch Oliven, Kräuter und Gewürze feilbot, und ein Stand mit allerlei Kram, von der Nudelpresse über gemusterte Tischdecken bis hin zum Kinderspielzeug. Da es ansonsten nur einen schlecht bestückten Krämerladen gab, drängte sich an den Markttagen der halbe Ort auf dem Dorfplatz, um sich nach getätigtem Einkauf ins Café le Fournil oder das Chez Albert zu setzen und den neuesten Klatsch auszutauschen.

Die Sonne war kaum über die Wipfel des nahen Zypressenwäldchens gestiegen, als sich vor dem Gemüsestand bereits eine Schlange gebildet hatte. Geduldig wartete Pierre, bis er an der Reihe war, dann kaufte er eine große Cavaillon-Melone, Muskattrauben vom Mont Ventoux, Tomaten und ein paar Kartoffeln.

»Ist das Spinat?«, fragte er die Marktfrau und wies auf einen Strunk mit länglichen grünen Blättern.

»Nein, das ist Mangold.«

»Und was macht man damit?«

»Essen.«

Sie lächelte süffisant und legte ihr wettergegerbtes Gesicht in Falten. Im vergangenen Monat hatte er ihren Sohn des Autodiebstahls überführt, nun legte sie all ihren Unmut in ihren Blick und verschränkte die Arme.

»Machen Sie doch eine tarte.«

Er drehte sich um. Eine Frau mit hellbraunen Locken und wachen, lustigen Augen lächelte ihn an.

»Nehmen Sie den Mangold, dazu Speck, Pilze, Crème fraîche, Eier und Muskat, und legen Sie eine gebutterte Form mit Blätterteig aus. Es schmeckt köstlich.«

»Das klingt großartig. Aber leider kann ich nicht kochen.«

Pierre musterte sie unauffällig. Sie war fast so groß wie er, schlank und hatte ein ovales Gesicht, schätzungsweise war sie Anfang, Mitte dreißig. Ihrem stilsicheren Auftreten zufolge – eine schmale Jeans mit Volantbluse und feinem Cardigan, lackierte Zehen in perlenbestickten Sandalen – hätte sie genauso gut Pariserin sein können.

»Dem kann abgeholfen werden. Besuchen Sie meinen Kochlehrgang, es ist leichter, als Sie vielleicht denken.« Damit griff sie in ihre Korbtasche und holte eine Karte hervor. »Ich bin Charlotte Berg, Chefköchin in der Domaine des Grès,der neuen Hotelanlage an der Straße nach Murs«, fügte sie erklärend hinzu. »Der Kurs findet jeden Mittwoch statt, Sie können jederzeit hinzukommen.«

Berg. Eigenartiger Nachname. Der Aussprache nach war sie keine Französin.

Pierre nahm die elegant gestaltete Karte entgegen. »Vielen Dank. Aber meinen Sie nicht, es sähe komisch aus, wenn ein Mann Anfang vierzig sich hinter den Herd stellt?«

»Ach, das sind doch nur Vorurteile. Es gibt mehr männliche Köche als weibliche. Denken Sie mal darüber nach.« Sie grinste auffordernd.

Er würde den Teufel tun, einen Kochkurs zu machen, wenngleich die Frau ganz sympathisch zu sein schien.

Er nickte höflich, bezahlte seine Einkäufe und machte sich dann auf den Weg zur Polizeistation. Ohne den Mangold, dafür mit einem riesigen Bündel Spinatblätter.

Als Pierre die Wache in der Rue des Oiseaux betrat, saß Celestine bereits an ihrem Platz am Eingang und hielt den Kopf über die Tastatur ihres Computers gesenkt. Der schmale Rücken war gestrafft, eine dunkle Strähne hing ihr ins Gesicht wie ein Blickschutz. Er grüßte knapp, versuchte, den Stich zu übergehen, den ihr Anblick in seinem Herzen auslöste, und wollte gerade in sein Büro verschwinden, als ihre Stimme ihn innehalten ließ.

»Du warst einkaufen?«

Er drehte sich um. Immerhin, der prall mit gesunden Lebensmitteln gefüllte Korb hatte seinen Zweck erfüllt. »Celestine, warum hast du dich nicht auf meine Anrufe gemeldet? Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Sorgen? Ich würde es eher gekränkte Eitelkeit nennen.«

»Es war nur ein Streit.«

»Nicht unser erster.« Sie kniff die Lippen zusammen und setzte diese düstere Miene auf, bei der er immer den Impuls verspürte, ihr einen Witz zu erzählen oder sie in die Seite zu knuffen, damit sie wieder strahlte. Sie hatte ein so schönes Lächeln, wenn sie wollte. »Du hast mich angeschrien!«

»Es tut mir leid. Wirklich, a…« Das aber blieb ihm in der Kehle stecken, denn er ahnte, was nun kam.

»Es ist vorbei, Pierre, sieh es ein. Ich möchte keinen Mann, der mich nur dazu braucht, ihm die Wäsche zu waschen, ihn zu bekochen oder hinter ihm herzuräumen. Ich will jemanden, der mich verwöhnt, der mir Blumen schenkt, der meine Bedürfnisse nicht erst dann sieht, wenn ich ihn mit der Nase darauf stoße.«

»Du willst Blumen? Gut.« Er stellte den Korb ab. »Ich gehe sofort zurück auf den Markt und kaufe den schönsten Strauß, den ich finde.«

Sie schüttelte vehement den Kopf. »Siehst du, was ich meine? Von allein wärst du nicht darauf gekommen.«

Gerade als er erwidern wollte, dass er gewiss lernfähig wäre, wenn sie ihm nur etwas Zeit gäbe, bemerkte er die rote Rose, die neben ihr auf der Fensterbank stand. »Aber jemand anders hat es erkannt, nicht wahr?«, fragte er bitter, und als sie schwieg, griff er wieder nach seinem Korb, öffnete die Tür zu seinem Büro und ließ sie laut hinter sich ins Schloss fallen.

Müde setzte er sich an seinen Tisch und schaltete den Computer ein. Dann eben nicht. Er liebte Celestine, ja, aber wenn es bedeuten sollte, dass er für ihre Liebe ein anderer Mensch werden musste, dann sollte sie doch versauern. Eine Rose! Er hätte ihr einen ganzen Bund gekauft.

Entnervt betrachtete er die Unordnung auf seinem Schreibtisch. Beinahe hätte er das Protokoll mit der Vermisstenmeldung übersehen, das Luc ihm wohl auf die Tischplatte gelegt hatte, dazu einen Zettel.

Konnte dich telefonisch nicht erreichen. Komme morgen erst um zehn. Bringe die Frau noch nach Hause. Ich glaube, sie will sich ausquatschen.

Ausquatschen nannte er das? Vielleicht verstand Luc es ja doch, hysterische Frauen zu beruhigen. Na, es sollte ihm recht sein.

Gerade hatte er die Meldung gelesen – eine gewisse Vivianne Morel, wohnhaft in Sainte-Valérie, gab an, dass ihr Verlobter, Antoine Perrot, nicht zu ihrer Verabredung erschienen war –, als das Telefon im Nebenraum klingelte und gleich darauf Celestines Nummer auf seinem Display erschien.

»Pierre, du musst sofort zur Domaine des Grès fahren. Es ist ein Mord geschehen.«

2

Die Domaine des Grès lag am Rand des Dorfes inmitten eines riesigen Weinberges. Die das Anwesen umgebende Steinmauer säumten Oliven- und Feigenbäume, ein schmiedeeisernes Tor versperrte die Zufahrt. Pierre stieg aus, tippte die Tastenkombination ein, die Celestine ihm auf einen Zettel geschrieben hatte, und wartete, bis sich die großen Flügel ganz geöffnet hatten.

Kaum hatte er den alten Renault auf den bekiesten Parkplatz gelenkt, als ihm auch schon ein drahtiger Mann in dunkelblauem Anzug entgegengelaufen kam, offenbar der Leiter der Anlage.

»Monsieur«, rief er aus, noch bevor Pierre dem Streifenwagen entstiegen war, »ich bitte Sie, parken Sie nicht hier, sondern außerhalb des Geländes.«

Pierre hielt in der Bewegung inne und folgte seinem Blick, der nun über die anderen Autos schweifte – ein dunkler Mercedes S-Klasse, zwei Jaguar, einer davon ein Oldtimer, ein Porsche Cayenne, ein BMW Touring –, um dann wieder an dem weißen Renault hängen zu bleiben, dessen linke Seite direkt unterhalb der blauen Aufschrift POLICE eine Reihe verrosteter Kratzer zierte.

»Es soll möglichst nicht bekannt werden, dass in unserem Hotel ein Verbrechen geschehen ist«, fuhr der Mann fort und lächelte dabei unentwegt. »Unsere Gäste legen größten Wert auf Privatsphäre und Anonymität und wissen unsere Sicherheitsvorkehrungen sehr zu schätzen. Sie werden verstehen, dass ich jedes Aufsehen vermeiden möchte.«

Kurz überlegte Pierre, was wohl die Gäste zur Privatsphäre sagen würden, wenn auch der Leichenwagen vor dem Tor parken und man den Sarg über die Wege tragen müsste, verkniff sich jedoch eine Bemerkung. Wenn sich der Inhaber des Hotels, dieser Schweizer Industrielle, beim Bürgermeister beschwerte, dann wäre das weder für ihn noch für den kleinen Standort der police municipale förderlich. Also stieg er aus dem Wagen, hielt dem Herrn mit ebenso höflichem Lächeln den Autoschlüssel entgegen und sagte: »Aber selbstverständlich, Monsieur …«

»Harald Boyer. Directeur de l’hôtel.«

»Monsieur Boyer, ich habe volles Verständnis für Ihre Befürchtungen. Wenn Sie das bitte übernehmen würden? Die Pflicht ruft.« Damit ließ er den Schlüssel in die Hand des offenbar fassungslosen Direktors fallen und eilte in Richtung Hotelkomplex.

»Aber Monsieur, ich muss Ihnen doch erst zeigen, wo das Verbrechen …«, stieß Boyer aus und setzte ihm mit eiligen Schritten nach.

Sie durchquerten die Anlage, vorbei an steingesäumten Beeten und kleinen Ruheinseln mit Korbgeflechtmöbeln. Pierre staunte, was aus der ehemaligen verfallenen Poststation geworden war, die vor Jahren einem bekannten Maler gehört hatte, der sein Geld lieber für guten Wein ausgegeben hatte statt für fällige Reparaturen. Die alten Mauern aus Sandstein, die der Domaine ihren Namen gegeben hatten, waren erneuert worden, azurblaue Fensterläden verströmten mediterranes Flair. Wo früher die Ställe waren, gab es nun Suiten mit eigenen Terrassen und kleinen Vorgärten; seitlich der Gebäude, auf einem weiten Rasen, ein mit Bruchsteinplatten umrahmter Pool, dessen türkisblaues Wasser in der Morgensonne glitzerte. Ein älteres Paar hatte es sich bereits auf Liegen unter weiß bespannten Schirmen bequem gemacht. Es sah einem Jungen zu, der am Beckenrand saß und die Zehen zögernd ins Wasser hielt. Unter dem tonziegelgedeckten Pavillon eröffnete ein Kellner in einem blütenweißen Anzug gerade die Bar. Alles schien so ruhig und friedlich. Als wäre nichts geschehen.

»Er liegt im Weinkeller«, sagte Boyer nun flüsternd und riss Pierre aus seinen Betrachtungen. »Vielleicht sollte man besser sagen: Er schwimmt. Ich weiß gar nicht, wie wir ihn aus dem Tank bekommen sollen. So etwas habe ich noch nie erlebt!«

Pierre folgte dem Direktor über eine steinerne Treppe seitlich des Haupttraktes hinunter in ein kühles, hell erleuchtetes Gewölbe, dessen Ausmaße beeindruckend waren. Allein die Deckenhöhe betrug mindestens drei Meter. Das hatte er hier nicht erwartet. Die Ausstattung war hochwertig, im vorderen Bereich stand ein ausladender Eichentisch mit Stühlen, umrahmt von Regalen, die bis oben hin mit Flaschen gefüllt waren.

»Der Vorbesitzer war ein großer Weinkenner«, erklärte Monsieur Boyer, und seine Worte hallten dumpf nach, »und gleichzeitig ein begnadeter Winzer. Eine Tradition, die wir fortzuführen gedenken.«

Pierre ließ den Blick über mehrere Reihen Weinfässer schweifen, die weiter hinten im Raum gestapelt waren, dann blieb er an einem großen Stahltank hängen. »Ist die Leiche da drin?«

Der Direktor nickte, und als er sprach, war seine Stimme erneut nur ein Flüstern. »Unser Sommelier hat ihn heute Morgen gefunden, als er die Bestellungen durchgehen wollte. Ich frage mich, wie der Mann da hineingekommen ist. Hoffentlich ist es kein Gast!«

Er lief voraus und blieb dann in sicherer Entfernung vor dem metallenen Ungetüm stehen, dessen Oberfläche, ein wabenförmiges Relief, die vielen Deckenlichter reflektierte. Je näher Pierre kam, desto mehr konnte er erkennen, dass das, was er von der Tür aus für Rotwein gehalten hatte, ein Stück Stoff war, das von innen an das ovale Sichtfenster am unteren Ende des Tanks gepresst wurde. Gleich daneben erkannte man die aufgequollene, gerunzelte Haut eines männlichen Gesichts, dessen weit aufgerissene, eingetrübte Augen ihm entgegenstarrten.

»Mon Dieu!«, rief er aus, beugte sich hinunter und schielte in die hellrote Flüssigkeit. Soweit er erkennen konnte, war der Mann verschnürt, der unglückliche Sturz eines Betrunkenen konnte also ausgeschlossen werden. Dem Aussehen der Haut nach war der Tod in der vergangenen Nacht eingetreten, Genaueres musste der Gerichtsmediziner klären.

Pierre richtete sich wieder auf, zog sein Handy hervor und wählte die Nummer der Polizeiwache.

»Celestine? Wo ist Luc? Ich brauche ihn auf der Stelle am Tatort. Und ruf bitte in Cavaillon an. Die sollen augenblicklich jemanden von der Spurensicherung schicken und einen Gerichtsmediziner, wenn möglich Louis Papin. Sag ihnen, wir haben es mit einer etwas eigenartigen Situation zu tun, die Leiche liegt in einem Weintank.« An Boyer gerichtet, der noch immer den Schlüssel des Polizeiwagens fest umklammert hielt, fügte er hinzu: »Haben Sie so etwas wie einen kleinen Lastenkran?«

»Einen Flaschenzug.«

Pierre folgte dem Fingerzeig des Direktors zur Gewölbedecke, an deren Waagerechten ineinanderlaufende Stangen mit einem verschiebbaren Gewinde, an dem Ketten hingen, verbunden waren. Dann sprach er weiter ins Telefon. »Und sag Luc, er soll entsprechende Kleidung mitbringen, das wird eine ziemlich unschöne und nasse Angelegenheit.«

Mit einem Stoßseufzer legte er auf und konnte sich einen Anflug von Schadenfreude nicht verkneifen. Eine in Rotwein marinierte Leiche aus dem Tank zu befördern war eine Sache, die er mit Freuden delegierte. Vor allem an übereifrige Assistenten.

Der Direktor hatte sich in der Zwischenzeit auf einen der Stühle gesetzt, die um den großen Eichentisch standen, und ließ den Schlüssel des Streifenwagens abwesend durch die Finger gleiten. Dabei sah er aus, als wolle er sich jeden Moment die Haare raufen. »Es ist eine Katastrophe. Ich weiß nicht, wie ich das Herrn Leuthard erklären soll.«

Pierre setzte sich zu ihm. »Monsieur Leuthard ist der Besitzer?«

Harald Boyer nickte. »Ich glaube nicht, dass er Verständnis zeigen wird.«

»Verständnis? Wofür? Wie meinen Sie das?«

»Nun, uns ist da offenbar ein grober Fehler unterlaufen. Das Gewölbe ist normalerweise verschlossen, denn hier lagern auch viele alte und teure Weine in den Regalen. Es gibt nur zwei Schlüssel, meinen und den des Sommeliers, Monsieur Martin Cazadieu. Niemand kann diesen Raum ohne unsere Zustimmung betreten. Aber gestern Abend waren wir wohl unaufmerksam …«

Damit hatte der Direktor bereits die ersten Fragen beantwortet, ohne dass sie gestellt werden mussten.

Pierre holte seinen Block samt Stift aus der Innentasche der Jacke und notierte sich die Namen. »Haben Sie Monsieur Leuthard noch nicht informiert?«

Boyer sah ihn mit geweiteten Augen an. »Nein! Ich dachte, das würden Sie …«

Inhaber kontaktieren, ergänzte er, und: scheint streng zu sein,eventuelle Feinde? »Wo bewahren Sie die Schlüssel nachts auf?«

»In unseren Zimmern befindet sich ein Safe.« Nun stützte Boyer die Ellenbogen auf und begann tatsächlich, sich die Haare zu raufen. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich die Tür bei meinem letzten Rundgang überprüft habe. Das war gegen halb zwölf.«

»Und der Sommelier?«

»Er war bereits schlafen gegangen. Zumindest brannte in seinem Fenster kein Licht mehr. Ich bin für gewöhnlich der Letzte.«

»Wo finde ich ihn?«

»In seinem Zimmer. Es geht ihm nicht gut, wie Sie sicher verstehen werden.« Er seufzte laut und strich sich die Haare glatt.

Pierre widerstand dem Impuls, ihm den Arm zu tätscheln, und stand stattdessen auf, um den Tatort einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Der Boden war makellos, die Regale waren poliert. Alles schien am rechten Platz zu stehen. Entweder war der Ermordete freiwillig mitgekommen, oder man hatte ihn getragen.

Er fertigte eine Zeichnung des Ortes an, trug ungefähre Raummaße und Gegenstände ein, dann machte er ein paar Fotos. Den Rest würden später die Kollegen von der Spurensicherung übernehmen.

Vom Eingang her erhob sich plötzlicher Lärm. Zuerst war ein olivgrün beschichteter Stoff zu sehen, dann rutschte ein Fuß darauf die Treppe herab. Im letzten Moment griff die dazugehörige Hand nach dem Eisengeländer und verhinderte einen Sturz.

»Luc, was machst du denn da?« Pierre eilte seinem Assistenten entgegen.

Mit hochrotem Kopf stolperte dieser den Rest der Treppe hinab. »Dieses verdammte Ölzeug!«, schimpfte er und raffte den Regenmantel zusammen. »Warum soll eigentlich ich das machen?« Verstimmt lugte er an Pierre vorbei zum Tank.

»Weil ich die Ermittlungen leite. Und die führen mich jetzt zum Sommelier.«

»Und die Leiche?«

»Warte, bis der Gerichtsmediziner vor Ort ist, dann folgst du einfach seinen Anweisungen.«

Luc nickte und hob ein gelbes Ungetüm in die Höhe, das er wohl unter dem Regenmantel verborgen gehalten hatte und das Pierre erst auf den zweiten Blick als Schwimmbrille erkannte.

»Ich habe an alles gedacht«, sagte Luc, und in seiner Stimme schwang eine Mischung aus Furchtsamkeit und Stolz mit.

»Du wirst doch wohl nicht im Tank …« Pierre konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich bin sicher, mit Hilfe des Flaschenzugs wird sich das irgendwie vermeiden lassen.«

Luc nickte noch einmal, erleichtert. »Weißt du, wer der Tote ist?«

»Nein.«

»Hatte er denn keinen Ausweis bei sich?«

Pierre runzelte die Stirn. »Ich habe nicht nachgesehen.«

»Hmmm.« Luc rieb sich die Stirn, hinter der es nun mächtig zu rauchen schien.

Pierre nutzte die Gelegenheit, sich vom Direktor das Zimmer des Sommeliers zeigen zu lassen. »Und pass auf, dass niemand außer unseren Kollegen den Tatort betritt«, wies er seinen Assistenten im Gehen noch schnell an und verließ das Gewölbe.

Martin Cazadieu, ein wohlbeleibter Mann um die fünfzig mit dunkler Löwenmähne, lag inmitten leuchtend orange schimmernder Kissen auf dem Bett und starrte durch das bodentiefe Fenster auf die Weinberge. Als Pierre eintrat, hob er kurz die Hand von dem Kühlbeutel, den er sich auf die Stirn gelegt hatte.

»Harald hat mir schon gesagt, man würde mich sicher befragen wollen«, sagte er mit angespannter Stimme und senkte die Finger wieder auf das kalte Paket.

»Sie haben die Leiche gefunden«, konstatierte Pierre, nachdem er sich vorgestellt hatte, und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. »Wann war das?«

»Heute Morgen gegen neun. Ich bin in den Keller gegangen, um die Weine für das Abendessen auszusuchen und die Bestände zu überprüfen. Da habe ich ihn gesehen.« Er schloss die Augen. »Nie werde ich diesen Anblick vergessen, niemals.«

Seine Stimme bebte in unfreiwilliger Theatralik, doch Pierre nickte verständnisvoll und machte sich Notizen.

»Kennen Sie den Mann?«

Der Sommelier riss die Augen auf. »Glauben Sie, ich hätte ihn mir genauer angesehen? Gott bewahre.«

»Wann waren Sie gestern zuletzt im Keller?«

»Vor dem Abendessen, so gegen sechs. Ich habe die temperierten Weinschränke in unserem Restaurant aufgefüllt. Manchmal muss ich auch während des Essens in die cave, wenn ein Gast einen außergewöhnlichen Wunsch hat, aber das war gestern Abend nicht der Fall.«

»Also war der Direktor der Letzte, der das Gewölbe betreten hat?«

»Ob er es betreten hat, kann ich Ihnen nicht sagen, zumindest hat er als Letzter die Schlösser überprüft.«

»Kann es sein, dass er es gestern Abend vergessen hat?«

»Oh nein, Harald ist ein äußerst akribischer Mensch. Die Schlösser überprüft er eher dreimal, als dass er das Risiko eingeht, etwas falsch zu machen.«

Pierre notierte die Bemerkung, dann fiel ihm noch etwas ein. »Der riesige Tank, in dem der Mann liegt, ist sehr ungewöhnlich. Selbst für ein Hotel, das Teil eines Weingutes ist. Zudem verwendet man diese Form der Lagerung eher für Weißwein …«

»Das war ein Wunsch von Gerold Leuthard, dem Inhaber.« Martin Cazadieu hob die Augenbrauen. »Was für ein Unsinn! Im Keller lagern die feinsten Tropfen, auch in den Fässern ist Wein von höchster Qualität. Aber der Winzer, der sich um die Weinberge kümmert, hat ihm einen Floh ins Ohr gesetzt.«

Pierre wartete auf eine Fortsetzung, und als diese ausblieb, half er nach. »Und? Wie sieht dieser Floh aus?«

»Wollen Sie das wirklich wissen?« Der Sommelier schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf.

Pierre hatte den Eindruck, der Mann könne es gar nicht abwarten, seinen Unmut loszuwerden, was sich gleich darauf bestätigte.

»Der Wein in diesen Bergen ist vollkommen untauglich. Aber es liest sich ja so gut: eigene Kellerei, Weingut Domaine des Grès. Alles für den Hochglanzprospekt. In Wahrheit wird in diesem Tank die Reifung verkürzt und das wunderbare Holzaroma durch Eichenchips imitiert.« Er schnalzte mit der Zunge. »Stahltank statt Barrique. Nun denn, die Märkte, die der Winzer beliefert, interessiert das nicht, und der Inhaber hat damit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.«

Im Geiste notierte sich Pierre Inhaber ist geschäftstüchtig und griff nach einem Hotelprospekt, der auf dem Nachttisch lag. Es war dasselbe Layout wie bei der Karte, die ihm die Köchin am Morgen gegeben hatte. Warmes Sandgelb mit grauer und roter Schrift. Die Aufmachung war einladend.

»Darf ich den mitnehmen?«, fragte er.

»Selbstverständlich.«

»Dann lasse ich Sie jetzt allein. Wenn ich weitere Fragen habe, melde ich mich.«

Der Sommelier nickte matt, lupfte kurz den Eisbeutel und sank zurück in die Kissen.

Als Pierre den Weinkeller zum zweiten Mal an diesem Tag betrat, war Louis Papin bereits bei der Arbeit. Mit höchster Konzentration beugte er sich über den in einen offenen Leichensack gelegten tropfnassen Körper eines jungen Mannes, dessen genaueren Anblick Pierre sich vorläufig ersparte. Luc hatte sich inzwischen zurückgezogen. Er saß am Eichentisch und betrachtete die Szenerie mit blassem Gesicht und offensichtlichem Abscheu, das feucht glänzende Ölzeug wie ein ungeliebter Haufen schmutziger Wäsche zusammengeknüllt zu seinen Füßen. Vor ihm auf dem Tisch lagen die unbenutzte Taucherbrille und ein Stück Papier, das sich dort zuvor nicht befunden hatte.

Als Pierre ihn derart verstört sitzen sah, empfand er fast ein wenig Mitleid mit dem jungen Mann, dem so etwas anscheinend bislang erspart geblieben war. Doch es verflog binnen weniger Sekunden, als er das Papier auf dem Tisch näher betrachtete. »Was ist das?«

»Das hat am Tank geklebt. Es klingt ganz lecker.« Luc griff nach dem Zettel und reichte ihn Pierre.

Sofort hob dieser entsetzt die Hände. »Verdammt noch mal, Luc, das kannst du doch nicht anfassen. Das ist Beweismaterial.«

»Es ist nur ein Rezept.« Der Assistent ließ das Blatt aber sofort auf den Tisch fallen und starrte es nun an, als enthalte es eine Anleitung zum Bombenbau.

Pierre zog sich kopfschüttelnd ein Paar Handschuhe über. »Hast du denn nichts als Stroh im Kopf? Am Tatort muss alles unverändert bleiben, hörst du? Immer!« Er hob das Rezept an, dabei bemerkte er, dass es auf einem Briefbogen des Hotels gedruckt war. Coq au Vin stand darauf und darunter Kochschule Charlotte Berg sowie das Datum vom vergangenen Mittwoch. Pierre sah Luc fragend an. »Wo genau hast du es gefunden?«

Er folgte seinem Assistenten zum anderen Ende des Raumes, begrüßte dabei Louis Papin, der kurz aufblickte, um den Gruß zu erwidern, und besah sich die rückwärtige Stelle des Weintanks, an der das Papier mit Klebestreifen befestigt gewesen war. Pierre ärgerte sich, dass die Kollegen von der Spurensicherung noch immer nicht da waren. Wie sollte er ihnen das Missgeschick mit dem Rezept bloß erklären? Konnte er den Jungen nicht eine Sekunde allein lassen?

Angestrengt überlegte er, was er in Ermangelung einer geeigneten Hülle damit tun sollte, als sein Assistent einen spitzen Schrei ausstieß.

»Ich kenne den Mann«, stammelte Luc, der sich inzwischen neben Louis Papin gestellt hatte. »Vivianne hat mir ein Foto von ihm gezeigt.«

»Vivianne?«

»Vivianne Morel, die Frau, die gestern ihren Verlobten Antoine Perrot als vermisst gemeldet hat.«

»Diesen Casanova?«

»Genau. Sie war zutiefst besorgt, weil er zu einer Verabredung nicht erschienen ist. Ich wollte es zuerst nicht ernst nehmen, schließlich ist er dafür bekannt, unzuverlässig zu sein, aber als ich Mademoiselle Morel nach Hause brachte, erzählte sie mir, dass er gestern wohl einen bedrohlichen Anruf erhalten habe. Angeblich von einer seiner Verflossenen.«

»Und wie heißt die?«

»Angeline oder so.«

»Okay, dann finde heraus, wer diese Frau ist, wer ihn zuletzt lebend gesehen hat und ob er sich möglicherweise gestern noch mit jemandem getroffen hat.«

»Es wird ihn ja wohl kaum eine einzelne Frau in den Tank gehoben haben.«

Pierre seufzte. »Natürlich nicht.«

Luc strich sich über das Kinn. »Ich frage mich ernsthaft, woher er all diese Frauen hat. Das Dorf ist ja nicht so groß …«

»Seid ihr jetzt fertig?« Louis Papin erhob sich und zeigte auf den Toten. »Ich möchte die Leiche für den Abtransport bereit machen.«

Pierre nickte. »Irgendwelche Erkenntnisse?«

»Er hatte einen Schaumpilz vor dem Mund, was darauf hinweist, dass man ihn lebend in den Weintank befördert hat. Er muss eine ganze Weile gegen das Ertrinken angekämpft haben, also ist er entweder beim Kontakt mit der Flüssigkeit aus einer Art Betäubung erwacht, oder er war von Anfang an bei vollem Bewusstsein.«

Ein furchtbares Ende. Wenn es etwas gab, worum Pierre den Herrn im Himmel bat, dann um einen sanften Tod. Am besten im Schlaf nach einem köstlichen Essen und einer Flasche edlen Weins. »Wie soll man einen Mann von dieser Statur unbemerkt in den Tank hieven?«, fragte er. »Selbst mit Hilfe des Flaschenzugs braucht man eine gute Kondition.«

»Das kannst du laut sagen«, antwortete Papin grinsend. »Aber das ist nicht das einzig Ungewöhnliche an diesem Fall.« Er hob eine kleine Zellophantüte auf, in der sich ein Bündel Kräuter – Petersilie, Thymian und Lorbeer – befand, die Würzmischung für Coq au Vin. »Der Mörder hat Humor. Am Hals des Toten hing ein bouquet garni.«

3

Ein Anruf bei der alten Madame Duprais, in deren Haus Antoine Perrot zur Untermiete wohnte, hatte ergeben, dass dieser bis auf eine entfernte Tante in Arles und einen Cousin in Roussillon keine Verwandten mehr besaß.

»Hat der Bengel wieder Ärger gemacht?«, hatte die alte Dame in den Hörer gerufen, und ihre Neugier war beinahe spürbar durch die Telefonleitung gekrochen.

»Nein, ganz im Gegenteil, aber ich würde trotzdem gerne kurz mit Ihnen sprechen«, hatte Pierre geantwortet und sich für den Nachmittag angekündigt.

Er hoffte, dass die Nachricht von Perrots Tod sie bis dahin nicht längst erreicht hatte. Das Dorf war klein, Informationen verbreiteten sich in Windeseile von Haus zu Haus, von Gartenzaun zu Gartenzaun. Geheimnisse, Gerüchte und Vermutungen huschten von einem Ohr zum anderen, bis der ganze Ort im Bilde war, und in diesem Fall würde es gewiss nicht lange dauern, bis auch Madame Duprais wusste, welch grauenhaftes Ende ihren Untermieter ereilt hatte. Doch dieses Risiko musste Pierre eingehen, denn nun war es vorrangig, so rasch wie möglich am Tatort zu ermitteln, alles andere konnte warten.

Harald Boyer hatte das leere Frühstückszimmer vorgeschlagen, damit Pierre in Ruhe seine Befragungen durchführen konnte.

»Die roh belassenen Steinmauern des Raumes«, so hatte der Direktor erklärt, »sind über zweihundert Jahre alt und stammen aus einer Zeit, als man ihn noch als Stall für die Postpferde genutzt hat.«

»Beeindruckend«, hatte Pierre gesagt, und Boyer war hinausgeeilt, um nach der Köchin zu rufen.

So saß er nun allein hier, Notizblock und Arbeitsutensilien vor sich ausgebreitet, und sah sich um. Der Raum war eine Mixtur aus provenzalischer Urtümlichkeit und elegantem Ambiente. Stühle mit weißen Hussen, auf den Tischen Rosenbouquets in silbernen Vasen. Durch die verglaste Flügeltür hatte man einen wunderbaren Blick auf die Terrasse mit ihren schmiedeeisernen Sitzgruppen, auf denen die Gäste bei gutem Wetter unter dicht belaubten Platanen speisen konnten. In den Steintöpfen blühte noch der Lavendel, der andernorts bereits abgeerntet war.

Pierre stand auf, öffnete einen der Glasflügel und hielt das Gesicht in die warme Septembersonne.

Hier würde ich auch gerne frühstücken, dachte er, und seine Erinnerungen führten ihn für einen kurzen wehmütigen Moment zurück nach Paris, wo er ein hübsches kleines Appartement im fünften Arrondissement besessen hatte. Sonntags war er manchmal zum Brunchen ins Relais du Parc in der Avenue Raymond Poincaré gegangen, das eine ebenso schöne, üppig begrünte Terrasse hatte.

Paris …

In diesem Augenblick erschien ihm seine Vergangenheit als leitender Commissaire de police so fern, als seien nicht erst drei Jahre vergangen, sondern ein halbes Jahrhundert. Es war ein schönes Leben gewesen, damals in der Hauptstadt, aber es war die Zeit gekommen, ein neues zu beginnen.

»Monsieur le Commissaire?«

Charlotte Berg hatte leise den Raum betreten, weshalb er sie erst bemerkte, als sie direkt hinter ihm stand. Er drehte sich um und reichte ihr die Hand.

»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte er. »Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Pierre Durand, Chef de police municipale.« Seine Dienstbezeichnung ging ihm inzwischen leicht von den Lippen, und er musste darüber schmunzeln, wie oft die Leute ihn dennoch als Commissaire anredeten. Es lag wohl an seinem Auftreten, das sich seit Paris kaum verändert hatte, auch wenn das Abzeichen auf seiner Uniform nun statt des fünfblättrigen Zweiges ein in den Nationalfarben gestaltetes Wappen enthielt.

»So sieht man sich wieder.« Sie hatte ein Lächeln, bei dem die Sonne schien. Kleine hübsche Fältchen umspielten ihre Augen. Statt der farbenfrohen Bluse vom Morgen trug sie nun eine schlicht weiße, dazu eine Schürze mit dem dunkelroten Schriftzug der Domaine. Ihre Locken hatte sie straff zurückgebunden, was sie strenger wirken ließ, ihrer Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat.

»Sie haben gehört, was geschehen ist?«, fragte er und bat sie, Platz zu nehmen.

»Monsieur Boyer hat mich darüber informiert.«

»Der Tote ist ein gewisser Antoine Perrot. Kannten Sie ihn?«

Die Köchin wurde blass und hob eine Hand an den Mund. Unweigerlich kam Pierre der Gedanke, dass auch sie ein Verhältnis mit dem Verstorbenen gehabt haben könnte. Neben Vivianne Morel und dieser Angeline. Es erschien ihm zwar unwahrscheinlich – Madame Berg strahlte trotz ihrer natürlichen Art eine gewisse Eleganz aus und war eine Frau, die man mit diesem Dorfcasanova nur schwer in Verbindung bringen mochte –, aber in der Liebe war ja bekanntlich alles möglich.

Im Hintergrund summte die Klimaanlage und kämpfte gegen die eindringende Wärme an. Noch einmal rieb sich die Köchin über das Gesicht, dann verschränkte sie die Arme.

»Antoine Perrot ist … war der Verlobte von Vivianne Morel«, begann sie schließlich leise. »Es wird ihr das Herz brechen.«

»Sie kennen Mademoiselle Morel?«

»Selbstverständlich. Sie arbeitet hier im Haus als Zimmermädchen.«

»Und wie war Ihre Verbindung zu dem Toten? Ich meine …«

Charlotte Bergs Wangen bekamen augenblicklich Farbe. »Das können Sie nicht ernsthaft annehmen, oder? Ich weiß sehr wohl, welchen Ruf Antoine hatte, und, nein, ich bin keine seiner Eroberungen.« Ihre grünen Augen funkelten.

Pierre hob abwehrend die Hände. »Es ist mein Beruf, jeder möglichen Spur nachzugehen.« Er klappte den Block auf und machte sich eine Notiz. »Haben Sie eine Idee, in welchem Zusammenhang der Tod von Monsieur Perrot mit Ihrem Kochkurs stehen könnte?«

»Mit meinem Kochkurs? Wie um alles in der Welt kommen Sie denn darauf? Soweit ich Viviannes Erzählungen folgen konnte, konnte man Monsieur Perrot eher in Bars oder in den Schnellrestaurants von L’Isle-sur-la-Sorgue antreffen als am häuslichen Herd.«

Pierre zeigte ihr das Blatt mit dem Rezept, das inzwischen in einer Plastikhülle steckte. »Das war an dem Weintank befestigt, in dem man den Toten gefunden hat.« Er machte eine Pause und beobachtete ihre Reaktion.

»Am Tank?« Die Köchin warf einen flüchtigen Blick auf das Papier, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kannte Monsieur Perrot kaum und kann mir nicht vorstellen, dass es hier einen Zusammenhang gibt.«

»Warum sonst sollte jemand das Rezept dort ankleben?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Erklären Sie es mir.«

»Ich vermute, dass der Mörder mit dieser Tat eine etwas eigenwillige Aussage machen wollte. Coq au Vin, verstehen Sie? Hahn im Wein.«

»Ein Wortspiel?« Sie lachte kurz auf. »Wollen Sie mir damit sagen, das sei so gedacht? Das ist ja absurd.«

»Absurd, ja, das könnte man meinen. Allerdings hatte der Tote ein bouquet garni um den Hals, und zwar aus Kräutern, die im Rezept aufgelistet waren.«

Erstaunt riss sie die Augen auf, dann schwieg sie und sah dabei hinaus ins Freie. »Mord als kulinarisches Gesamtkunstwerk«, flüsterte sie schließlich. »Wer denkt sich denn so etwas aus?«

»Das wüsste ich auch gerne.« Er betrachtete ihre angespannte Stirn und fühlte, wie sie um Fassung rang. »Madame Berg«, sagte er sanft. »Wir werden alles tun, um den Mörder zu fassen. Egal, ob das Verbrechen in einem Zusammenhang mit Ihrer Kochschule steht oder nicht, wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Aber dafür brauche ich Ihre Mithilfe.«

»Was kann ich tun?«

»Zunächst einmal bräuchte ich bitte eine Liste der Kursteilnehmer. Und dann muss ich wissen, wie oft Sie das Rezept ausgedruckt haben und wer es erhalten hat.«

»Gut, Sie bekommen die Liste. Es sind zurzeit acht, sechs Frauen und zwei Männer. Die meisten sind Gäste und nehmen an zwei bis drei Abenden teil, jeweils mittwochs. Aus Sainte-Valérie stammen drei Teilnehmer, zwei Frauen und ein Mann.« Sie wartete, bis Pierre die Zahlen notiert hatte, dann fuhr sie fort. »Das Rezept drucke ich zehnmal aus, zwei eigens für kurz entschlossene Interessenten. Manchmal bleibt eines liegen, dann bewahre ich es im Ordner auf, für alle Fälle.«

Donnerwetter, das nannte man wohl Organisation und Akkuratesse! Pierre hob eine Augenbraue. »Hat jemand außer Ihnen Zugriff zur Rezeptdatei?«

Die Köchin schüttelte den Kopf. »Das Programm ist passwortgeschützt, außer mir kommt niemand an die Datei heran. Es gibt die Möglichkeit, sich die Rezepte später auf der Seite des Hotels herunterzuladen, aber dieses hier ist auf dem Originalbriefpapier der Domaine ausgedruckt, das am Kopf eine Prägung aufweist. Wie gesagt: Alle Exemplare, die nicht unter den Kurteilnehmern verteilt wurden, sind abgeheftet.«

»Wo befindet sich der Ordner?«

»In der Küche. Möchten Sie ihn sich ansehen?«

»Gerne, Madame Berg.«

»Dann folgen Sie mir bitte.« Sie erhob sich, dann drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Mademoiselle.«

»Wie bitte?«

»Ich bin unverheiratet.«

Er nickte und machte sich eine gedankliche Notiz. In Paris gingen die Frauenrechtlerinnen auf die Straße, um das Mademoiselle abzuschaffen, weil sie glaubten, es diskriminiere sie, und diese Frau hier bestand darauf, als eine solche betitelt zu werden.

»Ich weiß, es klingt in manchen Ohren antiquiert«, antwortete sie, als habe sie seine Gedanken erraten, »aber Madame klingt so alt, und ich bin doch erst dreiunddreißig.«

»Selbstverständlich hatte diese Bezeichnung nichts mit dem geschätzten Alter zu tun. Ich dachte, Sie wären längst …«

»Sie eiern ganz schön rum, Monsieur Durand.« Charlotte Berg zeigte wieder ihr sonniges Lächeln. »Es ist in Ordnung.« Damit verließ sie das Frühstückszimmer und öffnete nur wenige Meter weiter den Gang hinunter eine eisenbeschlagene Holztür.

»Et voilà, das ist mein Reich.« Sie deutete mit einer weiten Bewegung auf eine moderne Küche mit silbern glänzenden Geräten und einer großen Kochinsel.

Auch dieser Raum war mit urtümlich provenzalischen Elementen kontrastiert: blau-weiße Wandfliesen, ein alter Steinofen und von der Decke an Ketten hängende Kupfertöpfe und Pfannen. An der Arbeitsplatte stand ein junger Mann um die zwanzig und schnitt Karotten mit einer Geschwindigkeit, bei der Pierre sich Sorgen um dessen Finger machte.

»Das ist Marcel Rochard, unser Lehrling«, stellte Charlotte Berg ihn vor. »In der Hochsaison arbeiten wir hier zu fünft, zurzeit sind es jedoch nur der Souschef, Marcel und ich. Mittwochs bleibt die Küche für die Hotelgäste generell kalt, es sei denn, sie nehmen am Kochkurs teil.« Sie ging in den hinteren Bereich des Raumes, an dem ein großer Eichentisch stand, ein Ebenbild desjenigen im Weinkeller. »Hier essen wir dann unsere gemeinsam gekochten Gerichte.« Sie öffnete einen Schrank, in dessen oberstem Regal Akten mit fein säuberlich beschriebenen Ordnerrücken standen. Zielsicher zog sie einen davon hervor und klappte ihn auf. »Hier, bitte. Sie können sich gerne alles ansehen.«

Pierre staunte. Nicht nur, dass die Küche ein Ausbund an Ordnung und Reinlichkeit war, auch der Ordner war akribisch geführt. Jeder Kochkurs hatte ein eigenes Register, vor den Rezepten waren ausgedruckte Computerlisten der Teilnehmer abgeheftet, in die sie die jeweiligen Zu- und Abgänge eingetragen hatte.

Mit jeder Seite, die Pierre umblätterte, wuchs seine Verblüffung. Unfassbar, man sollte meinen, dass sich ein derart leidenschaftlicher Beruf und Akribie ausschlossen. Mit Sicherheit arbeitete Charlotte Berg exakt nach Rezept und wog jedes Gramm aufs Genaueste ab.

Er klappte den Ordner zu und sah auf. »Sie sind Deutsche, nicht wahr?«

»Mein Vater. Aber ich rate Ihnen, mich besser nicht damit aufzuziehen. Ansonsten hätte ich da noch ein weiteres Klischee für Sie: Meine Mutter stammt aus Banyuls-sur-Mer, und in Fällen wie diesem bricht aus mir das vererbte südfranzösische Temperament hervor.«

Dabei lächelte sie so unschuldig, dass Pierre sich einen Wutausbruch ihrerseits absolut nicht vorzustellen vermochte. Aber bei Frauen konnte man ja nie wissen …

Als Pierre am späten Nachmittag mit Mademoiselle Bergs Ordner unter dem Arm durch die gepflasterten Gassen schritt, war er tief in Gedanken versunken. Nichts von dem, was er bislang erfahren hatte, gab einen Hinweis auf den Täter, geschweige denn auf das Motiv dieses wahnwitzigen morbiden Kunstwerks.

Entnervt kickte er gegen einen Kieselstein, der über das staubige Pflaster hüpfte. Ein paar Spatzen, die sich über eine am Boden liegende Brotrinde hergemacht hatten, flogen schimpfend auf und ließen sich auf dem Sims eines rankenüberwucherten Hauses nieder. Ein Mofa startete knatternd und hinterließ einen Geruch aus Benzin und Öl.

Pierre hatte vergeblich versucht, den Inhaber der Domaine zu erreichen, und auch den Souschef befragt, der ohne Weiteres an die Rezepte des Kochkurses hätte kommen können, am gestrigen Abend aber bei seiner Schwester in Avignon gewesen war. Die Spurensicherung der police nationale war unverrichteter Dinge wieder abgefahren, nachdem sie den Tatort einer genauen Untersuchung unterzogen hatte. Es schien, als habe der Mörder den Boden noch einmal gründlich durchgewischt, denn außer ein paar Putzwasserschlieren gab es nichts Aufschlussreiches. Weitere Informationen erhoffte man sich vom Laborbericht.

In der Domaine des Grès gab es im Augenblick für ihn nichts mehr zu tun. Nur sein Assistent Luc war noch dort, um die beiden Rezeptionistinnen zu befragen. Vivianne Morel, so hatte er Pierre erklärt, sei mit einem Nervenzusammenbruch ins Centre Hospitalier nach Cavaillon gebracht worden, nun hoffe er, er könne später hinfahren und sie vernehmen.

»Du kannst meinen Wagen haben, der Schlüssel ist beim Hoteldirektor«, hatte Pierre gesagt und sich von der Domaine aus zu Fuß auf den Weg zurück ins Dorf gemacht. Zwanzig Minuten später bog er in die Rue des Liserons ein, wo Antoine Perrots Vermieterin wohnte.

Madame Duprais erwartete ihn schon an der Tür, den Wischmopp in der Hand. »Ich habe gerade den Aufgang sauber gemacht«, erklärte sie und goss das Putzwasser mit einem Schwall die Stufen hinunter. Dann trocknete sie sich die Hände an ihrem gemusterten Kittel ab. »Wollen wir hineingehen?«

Die Vermieterin war in einem Alter, in dem die Tage lang wurden und zumeist daraus bestanden, sich in der Nähe von Tür oder Fenster aufzuhalten, um ja nichts zu verpassen. Pierres Besuchsankündigung hatte gewiss zur Folge gehabt, dass sie nun seit geraumer Zeit die wenigen Stufen wischte, die ins Haus führten. Sie lotste ihn in ein dunkles, dicht möbliertes Zimmer, das selbst den Trödler aus Apt in Verzweiflung gestürzt hätte. In den Regalen, die neben Sofagarnitur und Fernsehschrank jeden Zentimeter der Wand einnahmen, standen Nippes und kleine Püppchen, daneben Fotografien in Holzrahmen, die immer nur eine Person zeigten.

»Ist das Ihr Mann?«, fragte Pierre und deutete auf eine der Aufnahmen.

»Er war es«, sagte Madame Duprais mit einem Anflug von Bitterkeit und zog das Gesicht in kleine runzelige Fältchen. »Er ist vor fünfzehn Jahren verstorben.«

»Das tut mir leid.«

»Er war ein anständiger Mann.«

»Im Gegensatz zu Antoine Perrot?«

»Dieser Windhund! Er macht den lieben langen Tag nichts anderes, als den Frauen nachzustellen.« Sie stockte kurz, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Gewiss, er ist ein hübscher Kerl im besten Mannesalter, wer will es ihm verdenken. Und in der Gegend gibt es mehr als genug Hausfrauen, die sich über ein wenig Aufmerksamkeit freuen. Manchmal, wenn es besonders heiß ist, verrichtet er seine Arbeit in kurzen Hosen, dass man die Augen kaum von seinen strammen Schenkeln nehmen kann, selbst wenn man es sich fest vornimmt. Glauben Sie mir, in solchen Zeiten ist der Gottesdienst bestens besucht, vornehmlich von Frauen, die gleich danach zur Beichte gehen.« Die Bitterkeit war verschwunden. Mit geröteten Wangen fuhr die Witwe fort, über ihren Untermieter herzuziehen.

Erstaunt nahm Pierre zur Kenntnis, dass die Information über dessen Ableben die Hotelmauern noch nicht überwunden hatte. Er lauschte Madames Redefluss und klappte den Notizblock auf, um jedes Detail festhalten zu können, das aus ihr hervorbrach. So erfuhr er unter anderem, dass Perrot als Postbote in Coustellet gearbeitet hatte, wo es eine gewisse Mademoiselle gab, die ein Kind von ihm hatte; ein Mädchen, gerade mal zwei Jahre.

»Aber kümmern tut er sich nicht«, ereiferte die Rentnerin sich. »Ihm geht es einzig und allein um die Eroberung. Dabei macht er auch vor verheirateten Damen nicht Halt.« Sie nickte heftig zur Bekräftigung und ließ das dauergewellte graue Haar wippen, das sie offenbar im Salon von Madame Farigoule hatte frisieren lassen, die die älteren Damen des Ortes so herrichtete, dass sie sich von Weitem glichen wie ein Ei dem anderen. »Es heißt, er hatte sogar eine Affäre mit der Frau des Schlachters.« Sie legte eine bedeutsame Pause ein und musterte Pierre, als wolle sie sich vergewissern, ob das Erzählte auch seine Wirkung zeigte.

Dieser bedachte die Information mit angemessenem Nicken. Der Täterkreis schien sich ins Unermessliche zu erweitern. Gehörnte Ehemänner, die ihren Kontrahenten mit Selbstjustiz beseitigten – wer wusste schon, wie viele es noch von ihnen gab. Aber als er sah, wie sehr Madame Duprais beim Erzählen dieser Ungeheuerlichkeiten aufblühte, kamen ihm leise Zweifel. »Haben Sie Beweise für diese Behauptungen?«

Jetzt erst wurde die Witwe stutzig. »Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen? Sie haben mir ja noch nicht einmal gesagt, was Antoine verbrochen hat.« Sie verschränkte die Arme vor ihrer üppig wogenden Brust. »Ich werde kein Wort mehr sagen, bevor ich nicht weiß, was man ihm vorwirft.«

Pierre klappte den Block zu und seufzte. »Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Antoine Perrot wurde heute Morgen tot aufgefunden.«

Madame Duprais riss die Augen auf. Ihre Arme sanken hinab, doch sie sah nicht im Mindesten schockiert aus. »Das sagen Sie mir erst jetzt? Über einen Toten hätte ich niemals so schlecht geredet.«

»Es bleibt unter uns, Madame«, entgegnete Pierre. »Die Hauptsache ist, dass wir den Mörder fassen, und dabei benötige ich Ihre Hilfe. Können Sie mir konkrete Namen nennen?«

Seine Worte schienen nur langsam zu ihr durchzudringen, dann wurde sie sich offenbar ihrer neuen Bedeutsamkeit bewusst. Sie würde mit ihren Aussagen mithelfen, dass Recht und Ordnung Einzug nehmen konnten. »Ah, das ist nicht so einfach. Ich will ja niemanden in die Bredouille bringen.« Sie beugte sich zu ihm und senkte die Stimme. »Man sagt, auch der Portier der Auberge Signoret habe Grund, wütend auf Perrot zu sein, aber das sind natürlich nur Gerüchte …«

Als Pierre eine halbe Stunde später wieder auf die Straße trat, schwirrte ihm der Kopf. Wäre es nach Madame Duprais gegangen, hätte er noch einen Kaffee getrunken und selbstgebackene Madeleines gegessen, aber angesichts der Mattheit, die ihr ungebrochener Redefluss in ihm ausgelöst hatte, verabschiedete er sich rasch mit dem Hinweis auf die anstehende dringliche Ermittlungsarbeit – obwohl er einen Bärenhunger hatte. Zumal sich aus ihrer Geschwätzigkeit nichts Neues ergeben hatte, ebenso wenig wie aus der Untersuchung des vermieteten Zimmers.

Antoine Perrot schien nicht viel besessen und auch keinen Wert darauf gelegt zu haben, Erinnerungen zu horten. Es gab weder Bilder noch Briefe. Nur sein Ausweis lag in der Schublade seines Nachttisches; Pierre steckte ihn vorsorglich ein. Die Witwe hatte ihm versichert, am gestrigen Abend im Haus gewesen zu sein, als Perrot selbiges verlassen habe. Da sei ihr aber nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Der Übergriff musste also woanders stattgefunden haben. Nur wo?

Noch bevor er in die Rue Magot einbog, die in Richtung Wache führte, drehte er sich um und sah Madame Duprais mit kleinen eiligen Schritten aus dem Haus laufen. Nun dürfte es nicht mehr lange dauern, und das ganze Dorf wusste Bescheid.

4

Auf dem Weg zur Polizeiwache wählte Pierre einen kleinen Umweg, um nicht an der mairie vorbeizukommen. Der Bürgermeister des Ortes, Arnaud Rozier, saß gerne bei offenem Fenster mit Blick auf die Straße am Schreibtisch, und Pierre wollte nicht riskieren, von ihm angesprochen zu werden. Noch nicht. Er musste bald Meldung machen, am besten bevor jemand anders dem Stadtoberhaupt die Neuigkeiten zutrug. Rozier allerdings hasste es, Informationen in kleinen Häppchen zu bekommen, daher verschob Pierre dies lieber auf den nächsten Tag, wenn er alle Fakten beisammenhatte.

Leider bedeutete dieser Umweg auch, dass er nicht am Café le fournil vorbeikam, obwohl Pierre gerade so großen Hunger auf eines dieser köstlichen Sandwiches mit nussigem Rohmilchkäse hatte, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er würde Celestine bitten, ihm eines zu holen, dazu noch ein Stück Apfeltarte.

In der Wache empfing ihn warme, stickige Luft. Obwohl sie gegen Nachmittag stets die Jalousien herabließen, war es unmöglich, die Hitze des Tages auszusperren – selbst jetzt im September war es, als befände man sich in einem Troparium. Mit Genugtuung registrierte Pierre, dass die Rose auf dem Fensterbrett vor Celestines Schreibtisch die Blütenblätter hängen ließ.

Celestine hackte konzentriert auf ihrer Tastatur herum, ohne aufzusehen. Eine Weile betrachtete Pierre ihr schmales Gesicht, das lange dunkle Haar. Sie war eine sehr attraktive Frau, hatte etwas von einer Katze. Er dachte an die vielen schönen Momente ihrer Beziehung, die gemeinsamen Ausflüge, die Gespräche, den guten Sex. Vielleicht sollte er seine Taktik ändern?

»Haben wir eigentlich schon eine Antwort auf unsere Bitte um eine Klimaanlage?« Er sagte es in freundlichem Tonfall.

»Nein.« Ihre Finger kamen abrupt zum Stillstand und ruhten angespannt auf den Tasten, der Kopf war noch immer gesenkt.

»Vielleicht sollten wir noch einmal nachhaken? Es ist ja nicht auszuhalten hier.«

Sie erhob sich wortlos, riss die Tür weit auf und verklemmte sie mit einem Holzkeil. »Besser so?«

Pierre schnaubte. Sie hatte sich offenbar vorgenommen, an der Stelle weiterzumachen, an der sie aufgehört hatten.

Wütend drehte er sich um, verschwand in seinem Büro und zog geräuschvoll die Tür hinter sich zu. Celestine jetzt zu fragen, ob sie ihm ein Sandwich holte, konnte er sich wohl schenken. Zut alors – so ein Mist!

Er legte die Akten auf den Tisch, griff hungrig in den Korb mit Obst und Gemüse, der seit dem Morgen neben seinem Schreibtisch stand, und aß ein paar Weintrauben. Dann wischte er sich die Hände an der Hose ab und öffnete den Ordner, in dem sich inzwischen auch die Liste der Hotelgäste befand, die Monsieur Boyer ihm ausgedruckt hatte.

Während er die Namen mit der Teilnehmerliste des Kochkurses abglich und Überschneidungen notierte, kamen ihm noch einmal Celestines Vorwürfe in den Sinn. Er sei ohne Frau überhaupt nicht fähig, Ordnung im Haus zu halten, geschweige denn, ein anständiges Essen zuzubereiten. Du liebe Güte! In diesem Dorf gab es haufenweise Männer, die in ihrer Ehefrau nur eine jüngere Version ihrer Mutter sahen und von ihr erwarteten, dass sie ihn bekochte, die Wäsche machte und das Haus sauber hielt. Im Gegensatz zu denen versuchte er selbst, sich zumindest in Celestine hineinzuversetzen und ihre Gefühle zu verstehen.

Abgesehen davon konnte er sehr wohl für sich sorgen und gewiss auch kochen, in diesem Punkt irrte sie. So schwer konnte es ja nicht sein!