Provenzalische Geheimnisse - Sophie Bonnet - E-Book
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Provenzalische Geheimnisse E-Book

Sophie Bonnet

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Beschreibung

Ein spannender Hochgenuss!

Im idyllischen Dorf Sainte-Valérie wird eine Hochzeit gefeiert: Die Tische sind geschmückt, es duftet nach Lavendel, und der Wildschweinbraten dreht sich am Spieß. Der ehemalige Kommissar Pierre Durand fiebert bereits dem Ende der Feier entgegen, denn dann will er ein Gläschen mit Köchin Charlotte trinken. Doch so weit kommt es nicht: Der Bruder der Braut wird tot aufgefunden, von Schrotkugeln durchsiebt. War es ein Jagdunfall? Oder Mord? Pierres Ermittlungen führen ihn in die einsamen Wälder der Provence – und mitten ins Herz des Dorfes ...

»Niemand verbindet Genuss und Verbrechen so harmonisch wie Sophie Bonnet in ihren Provence-Krimis.« Hamburger Morgenpost

Lesen Sie auch weitere Romane der hoch spannenden »Pierre Durand«-Reihe!
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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SOPHIE BONNET

Provenzalische Geheimnisse

Ein Fall für Pierre Durand

Buch Herbst in der Provence: Die Weinlese in den Hügeln um Sainte-Valérie ist in vollem Gange, im Café le Fournil backt man saftiges Olivenbrot, und alle freuen sich auf eine entspannte Nachsaison. Nur Dorfpolizist Pierre Durand hält die Renovierung seines Bauernhauses in Atem. Währenddessen steckt seine Freundin Charlotte Berg als Chefköchin des Luxushotels Domaine des Grès mitten in den Vorbereitungen für die größte Hochzeit des Jahres. Doch der Junggesellenabschied nimmt ein blutiges Ende – nach einer feuchtfröhlichen Wildschweinjagd findet man den Trauzeugen nackt und von Kugeln durchsiebt im Wald. Pierre glaubt nicht an einen Jagdunfall. Jetzt ist sein ermittlerischer Feinsinn gefragt, denn nicht nur die Verdächtigen haben ein Interesse daran, Spuren zu verwischen …Autor Sophie Bonnet ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Mit ihrem Frankreich-Krimi »Provenzalische Verwicklungen« begann sie eine Reihe, in die sie sowohl ihre Liebe zur Provence als auch ihre Leidenschaft für die französische Küche einbezieht. Mit Erfolg: Der Roman begeisterte Leser wie Presse auf Anhieb und stand monatelang auf der Bestsellerliste, ebenso wie ihr zweiter Roman »Provenzalische Geheimnisse«. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg.Außerdem von Sophie Bonnet bei Blanvalet lieferbar: Provenzalische Verwicklungen Provenzalische Intrige Provenzalische Schuld

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Karte

Prolog

Mit dem Verklingen des Jagdhorns kam die Ruhe. Der Wald schien nur noch ihm zu gehören, ihm und dessen Bewohnern.

Er atmete tief ein, sah einem Käfer nach, der einen Stamm hinabkroch und im Farn verschwand, lauschte in die Stille.

Hatten sie tatsächlich aufgegeben?

Ein tiefes Gefühl der Genugtuung durchströmte ihn, und er musste grinsen, als er an Sébastiens überhebliches Gesicht zurückdachte, der ihm die Aktion wohl nicht zugetraut hatte.

Noch einmal horchte er in die Nacht, dann blickte er sich um und versuchte, sich in dem blassen Licht zu orientieren, das der Mond durch belaubtes Astwerk warf. Dort, wo das Gelände sanft anstieg, musste das Plateau liegen, von dem aus man bis zur Quelle der Sorgue sehen konnte, deren Wasser aus den Tiefen des Gebirges hervortrat, um seinen Weg wie ein smaragdgrünes Band durch den Vaucluse fortzusetzen. Zurück nach Sainte-Valérie ging es demnach in entgegengesetzter Richtung. Er musste nur dem steinigen Pfad folgen, der sich irgendwo unter all dem Herbstlaub befand.

Mit zusammengekniffenen Augen maß er die Umgebung, die rechte Hand an einen Stamm gestützt. Er rutschte ab, fing sich wieder, taumelte zum nächsten Baum.

Normalerweise fand er den Weg mit schlafwandlerischer Sicherheit. Als Jäger kannte er jeden Zentimeter des Waldes, aber der Alkohol hatte seine Sinne benebelt, und er musste zwinkern, um einigermaßen klar zu sehen.

Vom Boden stieg nasskalter Dunst auf, den die ersten Sonnenstrahlen bald vertreiben würden. Für den folgenden Tag war schönstes Oktoberwetter angesagt – wie eigens für die Hochzeit bestellt –, doch noch war davon nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. Die Kälte drang ihm inzwischen bis auf die Knochen, und in diesem Moment gab es nichts, wonach er sich mehr sehnte, als ein heißes Bad.

Das Gefühl der Genugtuung verblasste. Schaudernd strich er sich über die bloßen Oberarme.

Die Wette war blanker Unsinn gewesen, musste er sich eingestehen, Höhepunkt eines völlig entgleisten Junggesellenabschieds. Sie hatten getrunken, Wein und Chartreuse verte, und nun stand er mitten im Wald, splitterfasernackt bis auf seine Lederstiefel, und fror. Immerhin – er hatte gewonnen, sie hatten ihn nicht entdeckt. Nun konnte er hocherhobenen Hauptes zurück zum Treffpunkt gehen, wo seine Sachen lagen. Aber während er die ersten Schritte dorthin setzte, wo er den Pfad vermutete, ahnte er, dass sein künftiger Schwager sie inzwischen entfernt hatte. Sébastien war schon immer ein schlechter Verlierer gewesen – ihm war alles zuzutrauen.

»Ich werde dir eine Lektion erteilen!«, hatte Sébastien gezischt, während Raphaël den Countdown zählte. »Du gehst mir echt auf den Sack!«

Ein Rascheln ließ ihn zusammenschrecken, dann das Knacken eines Zweiges. Der Wald schien mit einem Mal voller Leben. Ein Vogel stob schimpfend auf, irgendwo krächzte ein Käuzchen. Dann wieder dieses Rascheln.

Wildschweine!, schoss es ihm durch den Kopf. Sie konnten gefährlich werden, vor allem wenn sie verletzt waren. Eines hatten sie während der Jagd nur angeschossen, ohne es zu Fall zu bringen. Missglückter Tellerschuss, so was kam vor, aber solch einem Tier lief man besser nicht über den Weg. Vor allem nicht unbewaffnet. In geduckter Haltung ging er weiter, lauschte. Auf einmal erkannte er, dass es menschliche Schritte waren, die das Geräusch im Herbstlaub verursachten. Jemand bahnte sich einen Weg durchs Gestrüpp und kam geradewegs auf ihn zu.

»Sébastien? Bist du es? Komm schon, das Spiel ist aus.«

Keine Antwort.

»Du bist so ein Vollidiot, Sébastien, wirklich. Es ist mir unbegreiflich, was meine Schwester an dir findet.«

Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubendes Krachen die Stille. Rindenstückchen flogen auf und prasselten auf ihn nieder.

Er schrie erschrocken auf, taumelte rückwärts, fiel ins taunasse Moos.

»Merde, so eine Scheiße!« Eine heftige Wut stieg in ihm hoch. »Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Das ist kein Spaß mehr! Hör sofort auf damit!« Er erhob sich, ballte die Rechte zur Faust und riss sie in die Höhe. »Komm raus, du Feigling, dann regeln wir das wie echte Männer!«

Ein weiterer Schuss streifte sein Bein, es brannte höllisch, und mit einem Mal war sein Verstand wieder glasklar: Jemand wollte ihn umbringen!

Panisch humpelte er durchs Unterholz, versuchte zu entkommen. Dort war der Pfad. Wenn er jetzt laut genug schrie, würden die anderen ihn vielleicht hören.

»Hilfe!«, brüllte er und schlug einen Haken, so gut es mit dem blutenden Bein möglich war, dann noch einen. Versuchte den Schrotkörnern auszuweichen, die nun in regelmäßigen Abständen abgefeuert wurden und wie glühende Nadeln in seinen Körper einschlugen. An der Schulter, am Oberarm, am Gesäß.

Der letzte Schuss traf ihn am Hinterkopf. Noch während er vornübersank, dachte er, was für ein unrühmliches Ende es doch war, wie flüchtendes Wild zur Strecke gebracht zu werden.

1

»Spätestens Januar.«

»Sind Sie sicher?« Pierre Durands Blick folgte dem von Alain Partouche, dessen Zeigefinger auf Höhe des Dachstuhls bedenklich zu wackeln begann.

»Mais oui. Es sei denn, die vorhandenen Balken sind wegen der Holzwürmer zu morsch. Wenn die erneuert werden müssen, kann sich das Ganze um drei, vier Wochen verzögern.«

Drei, vier Wochen. Das, so hatte Pierre seit seinem Neuanfang in der Provence gelernt, konnte genauso gut drei, vier Monate bedeuten. Wenn er jetzt nicht aufpasste, war das Bauernhaus erst Mitte nächsten Jahres bezugsfertig!

»Ich dachte, Sie hätten das überprüft?«

Alain Partouche, ein muskulöser, kahlköpfiger Mann mit zerknittertem Anzug, nickte und fuhr sich über die staubverschmierte Stirn. »Ja, das habe ich. Aber man kann nie wissen …«

Pierre seufzte. Diesen Spruch hatte er bereits gehört, als der Inhaber der ortsansässigen Baufirma sich das ehemalige Bauernhaus zum ersten Mal angesehen hatte. Pierre hatte Charlotte gebeten, der ersten Begehung beizuwohnen. Im Gegensatz zu ihm war sie äußerst akkurat beim Aufstellen von Plänen, und er kannte niemanden, der so stilsicher war wie sie.

Die Begehung war zum Albtraum geworden.

Während Charlotte noch versuchte, den Blick auf die charmanten Details zu lenken, die man mit wenig Aufwand würde wiederherstellen können, schüttelten die Männer sorgenvoll die Köpfe und erweiterten die Liste der notwendigen Arbeiten Punkt um Punkt. Das Ergebnis war wenig ermutigend.

Selbst Charlotte hielt in ihrer Begeisterung für Haus und Umgebung inne und tippte auf das vollgeschriebene Papier. »Müssen wirklich alle Leitungen ausgetauscht werden?«

»Unbedingt«, bestätigte Partouche.

»Auch die Abwasserrohre?«

»Total verrottet. Wenn Sie nicht möchten, dass Ihre Fäkalien irgendwann direkt in der Erde versickern«, er hob eine Augenbaue, »oder über den Ausguss in der Küchenspüle nach oben kommen …«

Charlotte hob abwehrend die Hände. »Das reicht!«, sagte sie energisch und setzte einen Blick auf, der nichts Gutes verhieß.

Noch am selben Nachmittag begann sie zu telefonieren und recherchierte im Internet, um die apokalyptisch anmutende Aussage zu überprüfen. Dabei hatte sie als Chefköchin des luxuriösen Hotels Domaine des Grès mit den Vorbereitungen einer Hochzeitsfeier gerade alle Hände voll zu tun.

»Du brauchst eine zweite Meinung«, resümierte sie, als sie Pierre kurz darauf in der Wache aufsuchte. Sie legte ihm einen von ihr kommentierten Kostenplan auf den Schreibtisch, daneben die Karte eines Handwerksbetriebs aus Apt. »Dieser Partouche gefällt mir nicht.«

»Er hat beste Referenzen«, erwiderte Pierre und schob die Visitenkarte in einem Anflug von Trotz von sich. »Jeder, der in Sainte-Valérie fachkundige Hilfe beim Umbau braucht, wendet sich an Alain Partouche und seine Männer. Einfach jeder.«

»Deine Entscheidung«, antwortete Charlotte. Dabei war sie derart distanziert, dass Pierre sich ernsthaft fragte, ob er sich die zaghafte Annäherung der vergangenen Wochen nur eingebildet hatte. Mit einem verärgerten Schnalzen verließ sie sein Büro, um sich fortan wieder den Wünschen der Braut zu widmen, deren Vorstellungen von einer gelungenen provenzalischen Feier sich nahezu täglich änderten.

Pierre hatte dem Impuls widerstanden, aufzuspringen und ihr nachzueilen. Sosehr er sich auch über Charlottes Engagement freute, es war sein Haus. Und es war in der Tat seine Entscheidung, wen er mit der Renovierung beauftragte.

Inzwischen waren mehr als drei Wochen vergangen. Der Herbst hatte die Blätter in den schönsten Farben bemalt, und die Liste der anfallenden Arbeiten war stetig gewachsen, bevor auch nur ein einziger Handwerker das Gelände betreten hatte. Anfangs war Pierre dem mit Gelassenheit begegnet, immerhin stand schon das Bauschild mit Partouches Firmenlogo, und wenig später hatte ein motorisierter Betonmischer Einzug gehalten, dazu etliche Säcke Sand und Zement. Nun aber, da das Einzige, das sich bewegte, die veranschlagten Kosten waren, spürte er eine brodelnde Unruhe. Aus irgendeinem Grund hatte er sich beim Kauf des Bauernhauses vorgestellt, dass er bereits zu Weihnachten – eingehüllt in eine warme Decke und mit einem Glas guten Bandol – vor dem flackernden Kaminfeuer sitzen würde.

Ein Bild, das sich nun unter dem skeptischen Blick des Bauunternehmers in Rauch auflöste.

»Keine weiteren Verzögerungen, Monsieur Partouche«, stellte Pierre klar. »Wenn die Balken einer ersten Überprüfung standgehalten haben, dann muss man sie auch nicht erneuern. Wann fangen die Arbeiter an?«

Alain Partouche senkte die Hand und zuckte mit den Schultern. »Ende November, vielleicht Anfang Dezember.«

»Grundgütiger, ich will doch nicht erst nächsten Sommer einziehen! Sie hatten doch längst beginnen wollen.«

»Nun ja …« Partouche zögerte kurz, und seine Stirn legte sich in tiefe Falten. »Es gibt da noch einen anderen Auftrag, der sehr dringlich ist und für den ich jeden meiner Männer brauche.«

»Ein weiterer Auftrag?« Pierre war mit seiner Geduld am Ende. »Der kann sich gleich hinten anstellen«, donnerte er. »Sie haben mir Ihr Wort gegeben, und ich verlasse mich darauf, dass Sie es auch halten! Und wenn nicht, dann …«

Er ließ die Drohung in der Luft stehen, da er selbst nicht so genau wusste, was dann zu tun wäre. Tatsächlich war er auf den Bauunternehmer und seine Männer angewiesen. Er selbst hatte nicht die geringste Ahnung vom Renovieren. Jetzt einen zuverlässigeren Handwerksbetrieb zu suchen, der alle Arbeiten übernehmen konnte und zudem eine Fertigstellung bis Januar in Aussicht stellte, käme dem Versuch gleich, mit Zikaden eine Operette zu singen. Selbst für Charlottes Favoriten aus Apt war es nun zu spät. Er hätte besser doch auf sie hören sollen.

Partouche sah auf die Uhr und schien es plötzlich sehr eilig zu haben. »Na schön, ich werde sehen, was ich machen kann.«

Damit zog er ein Taschentuch aus der Hose, verteilte den Schmutz auf seiner Stirn, eilte über die schmale Brücke, die den Hof von der Straße trennte, zu seinem Wagen und fuhr kurz darauf in einer beachtlichen Staubwolke davon.

Hoffentlich geschieht nun wirklich etwas, dachte Pierre, dessen Stimmung auf dem Tiefpunkt war. Er ließ den Blick über das Anwesen schweifen, das bald sein neues Zuhause werden sollte. Rotgoldene Weinranken, Büsche mit leuchtenden Beeren, ein Farbenmeer aus violetten und blauen Astern und roséfarbenen Chrysanthemen. Die kleine, weiß-braun gescheckte Ziege Cosima, die quasi zum Inventar gehörte und im Kaufpreis inbegriffen war, stand kauend inmitten von Beifußsträuchern und ließ ab und an ein zufriedenes Meckern erklingen.

Der Anblick dieser Idylle entlockte ihm einen Stoßseufzer. Pierre konnte es kaum abwarten, seine beengte Wohnung mit den zugewucherten Fensterläden zu verlassen und hierherzuziehen. Der Hof lag nur wenige Autominuten von Sainte-Valérie entfernt. Zu Fuß brauchte man, wenn man den schmalen Weg zwischen den Feldern nahm, nicht einmal eine halbe Stunde, bis man auf die Straße zum Anwesen stieß. Zwischen wild wachsendem Gras und Ginsterbüschen standen Olivenbäume mit unzähligen dunklen Früchten, die er schon bald würde pflücken können – die erste eigene Ernte. In seinem letzten Jahr in Paris hatte er auf dem schmalen Balkon einen Tomatenstrauch gepflanzt, und die Ausbeute hatte gerade einmal als Beilage für ein Abendbrot gereicht.

Pierre lächelte und hielt das Gesicht in die morgendliche Herbstsonne, die sich gerade über die Wipfel des Laubwäldchens hinter dem Haus schob. Die Luft war frisch, aber mild, bis zum Mittag würde es beinahe sommerlich warm werden.

Das Klingeln des Mobiltelefons riss Pierre aus seinen Tagträumen. Das Display zeigte die Nummer seines Assistenten.

»Du musst sofort herkommen«, rief Luc Chevallier ohne Einleitung, und Pierre hatte große Mühe, ihn durch den Lärm im Hintergrund zu verstehen. »Auf der Place du Village ist die Hölle los!«

Pierre hörte den Tumult bereits, bevor er den Wagen vor der police municipale abgestellt hatte und zu dem großen Platz geeilt war, der inmitten des Dorfes lag. Noch im Laufen zog er sich die Uniformjacke über, die er heute, am eigentlich freien Samstag, im Kofferraum hatte liegen lassen.

»Stoppt die Tierquälerei! Jäger sind Mörder!«, skandierten die vorwiegend jugendlichen Aufrührer im Takt einer Bongotrommel, die ein junger Mann mit dunklen Locken schlug.

Bis auf Jérôme Menessier, der komplett in Schwarz gekleidet war, schien keiner der Demonstranten aus dem Dorf zu kommen. Sie trugen Plakate der neuen provenzalischen Tierschutzorganisation Force pour les Animaux, kurz Force Animaux, deren Anhänger es sich zum Ziel gemacht hatten, Vogelfallen zu sabotieren und Hunde in überfüllten Tierheimen vor einem grauenhaften Schicksal zu bewahren, indem sie sie befreiten und an mitleidige Urlauber vermittelten. Eigentlich eine ehrenwerte Aufgabe, wie Pierre fand, doch seit Beginn der Jagdsaison häuften sich die Meldungen von zerstochenen Reifen an den Geländewagen der Jäger, und man ahnte, dass diese auf das Konto der Tierschützer gingen.

»Tod den Jägern!«, rief jemand aus der Menge, was einige Männer sofort mit grellen Pfiffen beantworteten. In den Reihen der Gegner, die sich am Rande der Szenerie formiert hatten, erkannte Pierre einige passionierte Jäger aus dem Ort. Eine Gruppe Touristen, die vor dem Café le Fournil beim Frühstück saß, beeilte sich zu bezahlen; an einem weit geöffneten Fenster drängten sich mehrere ältere Frauen, um das Spektakel aus sicherem Abstand zu beobachten.

»Pierre, hierher!«

Der Ruf kam aus Richtung der mairie, und als Pierre sich umsah, entdeckte er seinen Assistenten Luc, der breitbeinig und mit verschränkten Armen auf den Stufen vor dem Bürgermeisteramt stand und den Aufmarsch mit unruhigen Augen beobachtete. Trotz intensiv betriebenen Hanteltrainings waren seine Schultern noch immer schmal, und mit seinem eingezogenen Kopf wirkte er eher wie ein Schulabgänger und nicht wie der Ordnungshüter, der hier für Ruhe zu sorgen hatte.

Rasch bahnte Pierre sich einen Weg durch die johlenden Jugendlichen zu ihm hin. »Was ist denn hier los?«, murmelte er und heftete den Blick wieder auf die Männer am Ende des Dorfplatzes, die sich inzwischen mit allerlei Dingen bewaffnet hatten: Mistgabeln, Knüppeln und Holzlatten. Stéphane Poncet, der Mechaniker von Sainte-Valérie, schwenkte gar einen Lötkolben, was die Jugendlichen mit Spott und Hohn beantworteten.

»Sie protestieren gegen die Jagd«, erklärte Luc in belehrendem Tonfall und mit einer Nachdrücklichkeit, die Pierre schmunzeln ließ.

Er mochte seinen Assistenten. Aber ihm den Unterschied zwischen einer rhetorischen und einer ernst gemeinten Frage zu erklären, schien vollkommen sinnlos. »Ach nein, wirklich?«, antwortete er stattdessen. »Nur warum ausgerechnet in Sainte-Valérie? Hier gibt es noch nicht einmal einen Jagdverein.«

»Einen Jagdverein nicht, aber vielleicht bald einen Vorsitzenden des Jagdverbandes, der Fédération des chasseurs, im Departement Provence-Vaucluse.«

Pierre sah Luc überrascht an. Dann bemerkte er, wie Jérôme Menessier Kieselsteine aufhob und sie in Richtung des Balkons warf, hinter dessen Fenster sich das Büro des Bürgermeisters befand.

»Komm raus und zeig dich, du feiger Hund!«, brüllte er, bückte sich erneut und schleuderte eine Handvoll Steinchen hinterher, die jedoch ihr Ziel verfehlten und auf die laut fluchende Menge herabprasselten.

»Etwa Arnaud Rozier?«, fragte Pierre.

»Ja. Er hat sich zur Wahl gestellt, und es sieht tatsächlich so aus, als könnte er den jetzigen Präsidenten ablösen.«

Der Bürgermeister von Sainte-Valérie als Präsident der lokalen Fédération des chasseurs? Das war wirklich eine unerwartete Neuigkeit. Denn auf der Pirsch hatte Pierre Rozier noch nie gesehen, und das, obwohl die Jagd in dieser ländlichen Gegend ein anerkannter Volkssport war. Pierre kannte im Dorf fast keinen Mann, der nicht bereits Ende September seine Flinte putzte, um dann mit dem obligatorischen Marschgepäck – diversen Flachmännern, armdicken Salamis und Weißbrotstangen – in die Wälder zu ziehen und das Abendbrot eigenhändig zu erlegen. All das mit einer Inbrunst, die an die archaische Essenbeschaffung aus tiefster Steinzeit erinnerte. Nur gab es in den Wäldern von Sainte-Valérie statt Mammuts Hasen, Rebhühner und Wildschweine.

An die Jagdbegeisterung der Dorfbewohner hatte er sich erst gewöhnen müssen, als er vor mehr als drei Jahren seinen Posten als leitender Commissaire gekündigt hatte und von Paris hierhergezogen war. In der Großstadt musste man eher aufpassen, beim Überqueren der Straße nicht von einem Auto erfasst zu werden. Hier hingegen lauerte die Gefahr mitten in der Natur, und es war Leib und Leben zuträglich, in den Herbstmonaten orangerote Kappen oder Westen zu tragen und die Wege nicht zu verlassen, wenn man am Wochenende zum Pilzesammeln in den Wald ging.

Inzwischen hatte sich die Lage zugespitzt. Stéphane Poncet reckte seinen Lötkolben in die Höhe, rief zum Angriff, und die Jäger setzten sich in Bewegung, schwenkten grölend Holzlatten und Mistgabeln. Bereit, ihrem Bürgermeister, der sich noch immer nicht zeigte, zur Seite zu stehen und die Querulanten aus ihrem geliebten Örtchen zu vertreiben.

»Halt, sofort aufhören!«, schrie Pierre gegen den wachsenden Lärmpegel an. Dabei ärgerte er sich, dass er weder Trillerpfeife noch Megaphon dabeihatte, denn niemand schien seinem Kommando Beachtung schenken zu wollen. Hobbyjäger und Jugendliche standen sich nun direkt gegenüber, ein Zusammenstoß schien unvermeidlich.

»Ruf in Cavaillon an, wir brauchen Verstärkung«, befahl er seinem Assistenten.

»Ja, mach ich.« Luc wirkte erleichtert. »Und die Beamten der CRS gleich dazu.«

»Die Compagnies Républicaines de Sécurité? Unsinn, das ist doch kein Massenaufstand.« Damit schob Pierre sich durch die johlenden Demonstranten, bis er schließlich vor Poncet und den anderen Männern stehen blieb. »Hört auf Leute, lasst den Unsinn und geht nach Hause. Das ist eine harmlose Kundgebung. Das muss ja nicht gleich in eine Prügelei ausarten.«

»Harmlos nennen Sie das? Hören Sie doch mal hin, die wünschen uns den Tod.« Poncet, der ohne durchgekauten Zigarettenstummel im Mund ein ungewohntes Bild abgab, schüttelte den Kopf. Sein Schnurrbart zitterte vor Erregung. »Diese Bürschchen haben mir die Reifen zerstochen, als ich beim Jagen war. Und sie haben mir eine Flinte aus dem Auto geklaut. Windelweich sollte man sie prügeln. Das ist die einzige Sprache, die solche Saboteure verstehen.«

»Jawoll! So ist es«, kam es von seinen Mitstreitern, unter denen sich auch Serge Oudard befand, der Besitzer des Krämerladens, der gleich ein ganzes Regalbrett schwang. »Die sollen sich nie wieder in die Nähe unserer Autos wagen!«

»Überlasst das uns und den Beamten aus Cavaillon. Geht nach Hause, dann kann ich in Ruhe meine Arbeit tun und diese nicht genehmigte Versammlung friedlich auflösen.«

»Ah bon, der Policier will seine Arbeit tun«, wiederholte Oudard sichtlich aufgebracht und mit beißender Ironie. »Habt Ihr das gehört? Er will die Sache friedlich klären.« Die anderen Männer lachten. Oudard stimmte kurz und keckernd ein, dann wurde er wieder ernst. »Wie wollen Sie das anstellen? Die Idioten nach ihren Ausweisen fragen und sie dann höflichst darum bitten, nach Hause zu fahren und die Strafanzeige abzuwarten? Nein, Monsieur Durand, das regelt man anders.«

»Wie man solche Situationen regelt und wie nicht, überlassen Sie besser mir«, antwortete Pierre bestimmt. »Zumindest weiß ich ja, wohin ich bei Ihnen die Strafanzeige schicken soll, auch ohne Ausweiskontrolle.«

Oudard ließ das Regalbrett langsam sinken. »In Ordnung«, murrte er unwillig. »Aber wenn diese Idioten nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten verschwinden, kann ich für nichts garantieren.« Damit zog er die Nase hoch und spuckte in hohem Bogen aus.

Pierre wusste, dass der Krämer die Drohung ernst meinte. Oudard gehörte zu jener Garde alter Männer, die mit den Kämpfern der Résistance sympathisierten, obwohl er selbst damals noch ein kleines Kind gewesen war. Aber er wurde nicht müde, bei jeder Gelegenheit zu betonen, dass für ihn der Widerstandsgeist noch über den zehn Geboten stand – wobei es immer eine Frage der persönlichen Auslegung zu sein schien, gegen wen oder was Widerstand geleistet werden musste. In diesem Fall waren es die Tierschützer, die trotz ihrer Jugend gegen die schlagbereiten Jagdfreunde nichts würden ausrichten können, so viel war sicher.

Pierre atmete tief ein.

Zehn Minuten also. Die Kollegen aus Cavaillon waren sicher schon unterwegs. Nun galt es, Zeit zu schinden. Denn mit gutem Zureden alleine würde sich die Demonstration nicht auflösen lassen …

Mit betonter Ruhe drehte Pierre sich zu den Jugendlichen um, die die Debatte argwöhnisch verfolgt hatten. »Dies ist eine unerlaubte Versammlung. Ich fordere Sie hiermit auf, diese sofort zu beenden.«

»Wir sind freie Bürger und haben ein Recht darauf, unsere Meinung kundzutun«, protestierte der Lockenkopf.

Ein arroganter Bursche, wie Pierre fand. Nicht nur wegen seiner Siegesgewissheit. Auch die Art, wie er sprach, schien eine höhere Bildung betonen zu wollen. Wort für Wort. Vielleicht war er aus gutem Hause oder jemand, der die Nase allzu tief in hochtrabende Bücher gesteckt hatte.

»Aber nicht in Form einer ungenehmigten Demonstration.«

»Eine Demonstration? Das müssen Sie uns erst einmal nachweisen.« Der junge Mann lachte auf und schlug ein paar Takte auf der Bongotrommel. »Wir sind nur hier, um ein wenig Musik zu machen.«

»Das können Sie Ihrer Oma erzählen. Wenn Sie nicht sofort den Platz räumen, werde ich dafür sorgen, dass Sie eingesperrt werden. Einer nach dem anderen.«

»Als einfacher Dorfpolizist?« Der Lockenkopf deutete auf das Abzeichen an Pierres Jacke. »Sie dürfen ja noch nicht einmal unsere Personalien aufnehmen.«

»Lassen Sie es darauf ankommen«, erwiderte Pierre grollend und warf einen Blick in Richtung Luc, der inzwischen direkt an der Tür zur mairie stand, eine Hand an der Klinke. Von ihm konnte er wohl kein beherztes Eingreifen erwarten. Und wo zum Teufel war eigentlich der Bürgermeister? Er machte einen Schritt auf den Lockenkopf zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir haben einen vergitterten Kellerraum, nicht besonders komfortabel, aber zweckmäßig. Ich versichere Ihnen, dass ich Sie dort einsperre, wenn Sie nicht augenblicklich dafür sorgen, dass Ihre Leute das Dorf verlassen. Und zwar friedlich.«

Mit einem Schnauben zuckte der Mann zurück, griff nach einem der noch immer geschwenkten Protestschilder und hielt es drohend vor seinen Körper, als sei es eine Waffe. »Versuchen Sie es doch!«, blaffte er, und die Umstehenden zollten ihm johlend Beifall.

Pierre verschränkte die Arme, noch immer stand er zwischen den aufgebrachten Parteien. Notfalls würde er den Rädelsführer mit Gewalt in Gewahrsam nehmen müssen. Nur würden sich dann auch Oudard und seine Truppe ins Gemenge stürzen. Die Lage war verzwickt. Pierre hoffte, dass die Beamten aus Cavaillon jeden Moment eintrafen und sein Anliegen entsprechend unterstrichen.

»Könnt ihr Euch nicht ein Mal benehmen wie Kavaliere?«

Die hohe, durchdringende Stimme klang befehlsgewohnt und ließ sämtliche Köpfe in Richtung des Parkplatzes seitlich der Église Saint-Michel herumfahren. Erst war nur ein wippender Schleier zu sehen, dann teilte sich die Menge, und Pierre erkannte eine üppig gerüschte Braut mit hochgestecktem blondem Haar und tiefrot geschminkten Lippen. Es war Marie-Laure, die Tochter des Gemeinderatsvorsitzenden Frédéric Pabion, deren Hochzeitsvorbereitungen Charlotte seit Wochen in Atem hielten. Neben ihr der Bräutigam Sébastien Goussard, laut Charlotte ein Bankangestellter aus L’Isle-sur-la-Sorgue, der mit kalkweißem Gesicht versuchte, Haltung zu bewahren.

»Wenn die Herren mich jetzt bitte zum Bürgermeister durchlassen wollen? Ich möchte meine Trauung nur ungern wegen einer Horde hirnloser Kretins verschieben müssen, die sich aufführen, als habe man ihnen ein Sandförmchen geklaut.«

Es war skurril. Nein, mehr als das, es war eine vollkommen absurde Situation. Tierschützer wie Jäger wichen vor der Braut zurück, die mit erhobenem Kopf wie eine Königin durch die Menge schritt, den künftigen Ehemann am Arm. Hinter ihr in einer polonaiseähnlichen Schlange die Brauteltern und zahllose Gäste, die sich mit ängstlichen Blicken absicherten, ob dem plötzlichen Frieden tatsächlich zu trauen sei.

Auf den Stufen vor der mairie drehte Marie-Laure sich noch einmal um und blickte mit hoheitsvoller Miene in die Menge. »Ich möchte dort drinnen keinen Mucks mehr hören, verstanden? Ihr wollt mir doch nicht den schönsten Tag in meinem Leben verderben, oder?«

Ein Raunen ging durch die Menge, der Lockenkopf zuckte die Achseln und sah seine Mitstreiter fragend an.

»Ihr habt gehört, was die Braut gesagt hat«, setzte Pierre hinzu. »Geht nach Hause und lasst den Tag ihrer Hochzeit zu einer guten Erinnerung werden.«

Waren einige der Angesprochenen jetzt noch unsicher, was zu tun sei, so nahm eine nahende Sirene ihnen die Entscheidung ab. Ohne dass jemand ein Kommando gegeben hätte, verließen Demonstranten und Jagdfreunde fluchtartig den Ort des Geschehens und zerstreuten sich in den vielen schmalen Gässchen wie von Sonnenlicht aufgeschreckte Küchenschaben. Als zwei vollbesetzte Wagen der police nationale auf den Platz rollten, war außer den alten Frauen, die noch immer am Fenster hingen, niemand mehr zu sehen.

2

Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, als sich die Tür von Madame Orsets Blumenladen mit lautem Gebimmel hinter ihm schloss.

Nachdem die Einsatzkräfte unverrichteter Dinge den Rückweg angetreten hatten, war Pierre noch kurz über den Platz gegangen und hatte überprüft, ob es irgendwelche Schäden gab, die gemeldet werden mussten. Doch außer einigen Kaugummipapieren, Plastikflaschen und zerknüllten Zigarettenpackungen, die der herbeigeorderte Straßenkehrer schon bald beseitigen würde, deutete nichts mehr darauf hin, dass hier vor genau einer halben Stunde eine Horde aufgebrachter Jugendlicher den samstäglichen Müßiggang gestört hatte.

In der Gewissheit, dass die Ruhe in Sainte-Valérie wiederhergestellt war, hatte Pierre seine Uniformjacke ausgezogen und sich auf den Weg in seine Wohnung gemacht, um seinen freien Tag mit einem guten Buch fortzusetzen. Aus Gewohnheit hatte er einen Umweg über die Rue du Pontis eingelegt, von der man einen wundervollen Blick über das fruchtbare Tal hatte, und war dabei an Madame Orsets Blumenladen vorbeigekommen.

Der Anblick eines simplen Plakats hatte Pierre auf eine Idee gebracht, die er sofort in die Tat umsetzen wollte, bevor ihm womöglich noch Zweifel an seinem Vorhaben kamen. Mit großen Schritten eilte er nun die Gassen entlang und dachte, dass er dies längst hätte tun sollen.

Er hasste solche Situationen. In diesen Dingen war er vollkommen ungeübt. Mit Frauen umzugehen war für ihn schon immer kompliziert gewesen. Nie wusste er das rechte Maß zu finden zwischen Kompromiss und Charakterfestigkeit. Wie oft erkannte er erst viel zu spät, dass er, ohne es zu wollen, in seinem Eigensinn verletzend gewesen war.

So auch dieses Mal.

Drei Wochen war es her, dass Charlotte ihm das Ergebnis ihrer Recherchen zur Renovierung seines Bauernhauses vorgestellt hatte – vergeblich. Seitdem waren ihre Begegnungen eher zufällig gewesen, und jedes Mal war sie in Eile. Erst hatte er sich nichts dabei gedacht, schließlich war sie verantwortlich für das Gelingen der Hochzeitsfeierlichkeiten, und die Braut hatte bekanntermaßen ein sehr einnehmendes Wesen.

Aber je länger Pierre nichts mehr von Charlotte gehört hatte, desto mehr ahnte er, dass dies an seinem eigenen Verhalten lag, daran, dass er ihre Hilfe zuerst eingefordert und dann brüsk zurückgewiesen hatte. Vielleicht hätte er sich für ihre Mühe bedanken und den Handwerksbetrieb aus Apt zumindest anrufen sollen, aber dafür war er zu stolz gewesen. Wie idiotisch das war, war ihm erst in dem Moment richtig bewusst geworden, als er auf dem Weg nach Hause an dem Blumengeschäft vorbeigekommen war, in dessen Fenster ein verblasstes Plakat vom Valentinstag hing.

Der riesige Strauß Rosen, den er daraufhin gekauft hatte, war nun sein Komplize bei dem Vorhaben, dies wiedergutzumachen. Madame Orset, einzige Floristin des Ortes, hatte noch einmal erstaunt nachgehakt, als er ihr seine Order aufgab.

»Den gesamten Bestand?«

»Ja«, hatte Pierre bekräftigt. »Alle roten Rosen, die Sie haben.«

Sein Schritt beschleunigte sich, fast meinte er sein Herz schneller schlagen zu fühlen. Ein Rosenstrauß und eine ehrlich gemeinte Entschuldigung waren der beste Anlass, in der Domaine vorbeizuschauen. Ja, er würde Charlotte um Verzeihung bitten und sie vielleicht sogar in den Arm nehmen, wenn auch nur kurz. Sie hatte sicher alle Hände voll zu tun, denn die Hochzeitsgäste würden bald eintreffen, hungrig und mit Vorfreude auf das zu erwartende Festmahl.

Pierre durchschritt das alte Stadttor, das ebenso wie die Burgruine aus dem vierzehnten Jahrhundert stammte, und folgte dem Weg, der entlang der kurvigen Straße ins Tal führte. Er freute sich, Charlotte wiederzusehen, und endlich breitete sich auch wieder das warme Gefühl in ihm aus, das er jedes Mal spürte, wenn er an sie dachte. Sein Vorhaben beschwingte ihn geradezu. Alles würde gut werden. Das, was sich seit ihrer ersten Begegnung im September zwischen ihnen anbahnte, fühlte sich ebenso richtig an wie seine Entscheidung, dem Kommissariat in Paris den Rücken zu kehren.

In diesem Moment kam es Pierre vor, als liege seine Vergangenheit als Großstädter bereits eine Ewigkeit zurück. Wie fern er dem hektischen Treiben schon war, hatte er gemerkt, als er vor wenigen Wochen noch einmal nach Paris gefahren war. Damals hatte er gedacht, dass der Umzug das Beste war, was ihm je hatte passieren können. Auch wenn die Umstände unschön gewesen waren, sozusagen eine Antwort auf interne Intrigen und politisches Taktieren, was ihm den Job als Commissaire gründlich verleidet hatte. So sehr, dass er sich um den Posten eines einfachen Dorfpolizisten beworben hatte. Und nun war er hier, in Sainte-Valérie, und fühlte sich wohl – obwohl es nicht immer so ruhig zuging, wie er es erwartet hatte.

Glücklicherweise.

Inzwischen war Pierre an der Straße angelangt, die in Richtung derDomaine des Grèsführte. Bevor er abbog, blieb er noch einmal kurz stehen und warf einen Blick auf die weite Ebene, die sich zu seinen Füßen ausbreitete. Der Anblick überwältigte ihn jedes Mal aufs Neue. Eine Landschaft voller Facetten, rau, urtümlich, friedlich. Vor ihm lagen Zedernwälder, Wiesen und herbstlich bunte Felder, die im Tal durch ein schmales silbriges Band durchschnitten wurden, dem Flüsschen Calavon. In der Ferne die Gebirgskette des Luberon mit seinen malerischen Dörfern, die mit bloßem Auge nur als kleine, versprengte Tupfer zu erkennen waren.

Pierre lächelte. Hier, im malerischen Bergdorf Sainte-Valérie inmitten der urtümlichen Natur, fühlte er sich zu Hause.

Der Zahlencode, mit dessen Hilfe man das schmiedeeiserne Tor öffnen konnte, hatte sich in den vergangenen Wochen nicht geändert. Kaum hatte Pierre die Tasten gedrückt, öffneten sich die Flügel leise summend und schufen eine Lücke in der das Anwesen umsäumenden Mauer. Pierre folgte dem Kiesweg an Sandsteingebäuden, gepflegten Beeten und dem Pool vorbei in Richtung des Traktes, in dem die Küche lag. Die Hotelanlage wirkte wie ausgestorben. Von Charlotte wusste Pierre, dass der Brautvater das gesamte Haus für die Hochzeitsgäste gebucht hatte. Die waren sicher inzwischen von der mairie aus weiter zur Kirche gezogen, wo der Pfarrer vielleicht in diesem Augenblick den Bund der Ehe vor Gott besiegelte.

Die Küchentür war nur angelehnt. Vor dem Herd stand Charlotte, in Dampfschwaden gehüllt, einen schweren orangefarbenen Topfdeckel in beiden Händen. Neben ihr der Souschef und der Lehrling Marcel, die mit besorgten Gesichtern in einen riesigen gusseisernen Bräter starrten.

»Sie hat doch gesagt, sie verträgt keinen Thymian!«, rief die Köchin aus. »Darauf reagiert sie allergisch.«

Ein dürrer Mann, der unweit der drei Töpfe und Pfannen wusch, duckte sich noch tiefer in Richtung Spülbecken, als mache ihn das unsichtbar.

Mit sichtlicher Verärgerung gab der Souschef dem Lehrling einen Klaps auf den Hinterkopf. »Zut alors! Was machen wir denn nun?«

»Ich war das nicht«, protestierte dieser mit hochrotem Gesicht und drehte sich zum Spüler, der augenblicklich die Hände hob und auf ein junges Mädchen mit weißem Häubchen zeigte, das Gemüse schnitt.

»Was, ich?«, wehrte diese sofort ab. »Ich habe die Kräuter doch nur bereitgestellt. Woher soll ich denn wissen, dass heute kein Thymian verwendet werden darf?«

»Weil er nicht auf der Liste steht, guck doch genauer hin«, ereiferte sich der Souschef.

»Ach, und jetzt soll ich schuld daran sein? Wer hat die Kräuter denn hineingetan, hm?«

»Ruhe, verdammt noch mal!« Seufzend warf Charlotte den Deckel auf den Topf zurück. »Das bringt uns jetzt nicht weiter. Ihr müsst euch konzentrieren, allesamt. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben, das gilt für jeden Einzelnen.« Sie wandte sich an den Souschef. »Haben wir noch genügend Zutaten für eine neue Sauce?«

»Wir haben sämtliche Vorräte verwendet«, sagte der kopfschüttelnd. »Es ist nicht ein Pilz mehr da. Von den Maronen ganz zu schweigen.«

»Mademoiselle Marie-Laure wird mich umbringen«, stieß der Lehrling aus. »Wir können ja schlecht nur den Gästen die Bratensauce servieren und die Braut auf dem trockenen Fleisch herumkauen lassen.«

»Wenn sie jemanden umbringt, dann mich.« Charlotte stützte die Hände in die Hüften. »Los, steh hier nicht rum, die Märkte haben noch geöffnet. Beeil dich!« Damit wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Pierre stand im Türrahmen – noch immer unentdeckt – und beobachtete die Szenerie. Das war ein denkbar falscher Zeitpunkt, um sich zu entschuldigen, er sollte besser ein anderes Mal wiederkommen. Die Blumen würde er an der Rezeption abgeben, mitsamt einer kleinen Notiz und der Bitte, sie Charlotte zu überreichen, wenn der Abend zu Ende war.

Bevor Pierre die Domaine des Grès verließ, warf er noch einen Blick in das festlich gestaltete Restaurant. Die Dekoration war ausgesprochen elegant, in Weiß, Grün und Violettblau gehalten. Auf den Tafeln standen üppige Hortensiensträuße, Silberleuchter waren von Efeu umrankt. Eine Serviererin band Lavendel an Leinenservietten und legte mit Zuckermandeln gefüllte Gazesäckchen neben die Tischkarten, während eine andere die Lieferung der Hochzeitstorte quittierte, einer pièce montée.

Pierre betrachtete das mit bunten Zuckerblumen übersäte Kunstwerk. Die Torte war eine jener Pyramiden, die auf keiner Hochzeit fehlen durften. Sie bestand – ganz traditionell – aus in Karamell getunkten, mit Vanillecreme gefüllten Windbeuteln auf einem Sockel aus Krokant, und auf der Spitze thronte die Figur eines Brautpaars. Ein Meisterwerk der Backkunst, passend zur perfekten Inszenierung des bald eintreffenden jungen Glücks.

Pierre lockerte den Kragen seines Hemdes.

Wunderhübsch, keine Frage, aber irgendwie auch zu perfekt für seinen Geschmack – fast wie in einem Buch für Fotokunst. Charlotte hatte auf Anweisung von Marie-Laure sogar alle schmiedeeisernen Sitzgruppen von der Außenterrasse entfernen und gegen Stehtische mit weißen Hussen austauschen lassen, auf denen nun Windlichter und kleine Olivenbäumchen standen. Auf einer nagelneuen Gartenbank lagen violette Kissen, die mit dem Lavendel korrespondierten, den man in der Gärtnerei besorgt und in von jeglicher Patina befreite Blumenkübel gepflanzt hatte. Alles war glatt und symmetrisch, ohne die provencetypischen Brüche, und herausgeputzt, als gelte es, die Königin von Saba zu empfangen.

Immerhin, der Duft, der sich bis zu Pierre ausbreitete, war köstlich. Durch die offene Flügeltür konnte er einen riesigen Grill sehen, über dem sich ein ganzes, mit einer ölglänzenden Würzmarinade bestrichenes Wildschwein an einem Spieß drehte. Irritiert fragte er sich, ob er etwas durcheinanderbrachte. Hatte Charlotte ihm nicht erzählt, es gebe Perdreaux aux marrons – Rebhühner mit Maronen?

Gedankenverloren wandte er sich wieder ab und ging über den Kiesweg in Richtung Tor, als er ein leises Klopfen aus Richtung der Nebengebäude vernahm.

»Monsieur Pabion?«, rief jemand. »Sind Sie da drin?«

Seitlich des Weges, dort wo die neu gestalteten Suiten lagen, stand Harald Boyer, der Direktor der Domaine des Grès, und pochte gegen eine Tür. Erst vorsichtig, dann immer lauter.

»Monsieur Pabion, bitte öffnen Sie mir.«

Diesen Namen kannte Pierre, die Braut hieß auch so. Und ihren Vater hatte er heute auf dem Platz vor dem Bürgermeisteramt gesehen. »Entschuldigen Sie bitte, aber vielleicht kann ich Ihnen helfen«, sagte er an den Direktor gewandt.

Harald Boyer, ein mittelgroßer, drahtiger Mann in einem eleganten dunkelblauen Anzug, zuckte zusammen und drehte sich ihm zu. »Monsieur Durand! Sie haben mich aber erschreckt.« Er musterte den Policier mit erhobener Augenbraue. »Sie sind nicht dienstlich hier, oder?«

»Nein, keine Sorge.« Pierre erinnerte sich nur zu gut an Boyers Bestreben, sämtliche Unannehmlichkeiten von seinen Gästen fernzuhalten, und sei es nur der Anblick eines Streifenwagens auf dem Hotelparkplatz. »Ich habe gehört, wie Sie den Namen Pabion riefen. Wenn Sie den Brautvater suchen, der ist beim Bürgermeister oder vielleicht sogar schon mitsamt der Hochzeitsgesellschaft in der Kirche.«

»Aber nein, ich suche nicht Frédéric Pabion«, entgegnete der Direktor mit einem Ausdruck höchster Verzweiflung, »sondern seinen Sohn Franck. Er ist nicht zur Trauung erschienen, und Mademoiselle Marie-Laure weigert sich, den Bund der Ehe zu schließen, solange ihr Bruder und Trauzeuge nicht anwesend ist. Der Bürgermeister hat mich gerade angerufen, ich solle zusehen, dass ich den Kerl herbeischaffe, sonst geschehe ein Unglück. Genau das waren seine Worte.« Boyer verzog den Mund. Dann senkte er die Stimme, als gelte es ein Geheimnis zu wahren. »Wahrscheinlich schläft der junge Mann noch. Bei dem Junggesellenabschied gestern Abend muss es hoch hergegangen sein. Der Bräutigam selbst war erst gegen halb sechs zurück, ich bin ihm bei meinem morgendlichen Rundgang begegnet.«

»Ein Junggesellenabschied am Abend vor der Trauung? Was für eine absurde Idee!«

»Das ist hier so üblich«, erklärte der Direktor. »Normalerweise wird der Bräutigam sogar beerdigt. Natürlich nur symbolisch, sozusagen als Abschied von der Junggesellenzeit. Aber diese Burschen hier haben dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Irgendjemand hatte den verrückten Einfall, ein Wildschwein für das Hochzeitsessen zu schießen, mitten in der Nacht! Sie haben es einfach vor der Küche abgelegt. Eine Riesensauerei, wenn Sie mich fragen. Ich habe sofort jemanden holen müssen, der das Blut beseitigt, bevor es in den Boden eindringt.«

»Das Schwein, das auf dem Spieß rotiert, ist selbst erlegt?«

»Ja. Noch dazu mit Schrot«, antwortete Boyer, während er noch einmal an die Tür der Suite klopfte. »Damit schießt man vielleicht auf Hasen oder Fasane, aber doch nicht auf Wildschweine. So wie das Tier aussah, waren die Herren viel zu betrunken, um sauber zu treffen. Der arme Küchenjunge musste jede Kugel einzeln mit der Pinzette herausholen. Ich kann nicht garantieren, dass er alles entfernen konnte.« Der Direktor hob die Schultern. »Der Bräutigam sah furchtbar aus. Mademoiselle Pabion kann von Glück reden, wenn er ein halbwegs vernünftiges oui zustande bekommt. Dass junge Männer sich vor ihrer Eheschließung immer derart betrinken müssen …«

Es wird schon einen Grund haben, dachte Pierre, das Bild der zierlichen, aber überaus energischen Marie-Laure Pabion vor Augen. »Sie sollten besser etwas lauter klopfen, damit der Trauzeuge aufwacht.«

Der Direktor nickte und wummerte schließlich kraftvoll mit der Faust an die Tür. Nichts geschah. Kein Geräusch drang nach draußen, niemand öffnete.

»Gucken Sie doch von der Rückseite ins Zimmer, ob Sie ihn sehen«, schlug Pierre vor.

»Bei allem Respekt, das kann ich nicht machen. Die Privatsphäre der Gäste ist unantastbar.«

»Das sollte in diesem Fall zweitrangig sein«, entgegnete Pierre. »Wenn Sie wollen, übernehme ich das.«

Damit ließ er den Direktor stehen und folgte dem schmalen Weg entlang des Gebäudes zu dessen rückwärtigem Teil, wo die Terrasse der Suite lag. Behände schlüpfte er durch kugelförmig geschnittene Buchsbäume und Lorbeerbüsche, umrundete eine Korbgeflechtliege und presste das Gesicht an das große Panoramafenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen, man konnte direkt in den Raum sehen. Durch das Glas erkannte Pierre sofort, dass das Bett unbenutzt war. Auch im angrenzenden Zimmer, das beinahe vollständig mit einer Sofalandschaft ausgefüllt war, war niemand zu sehen.

»Er ist nicht da«, sagte er zu dem Direktor, der zögernd vor der akkurat geformten Buschlandschaft stehen geblieben war. »Vielleicht hat er woanders übernachtet. In diesem Bett hat jedenfalls niemand geschlafen.«

»Und was nun?« Boyer klang verzweifelt. »Ich kann doch dem Bürgermeister nicht einfach sagen, er solle mit einem anderen Trauzeugen fortfahren.«

Pierre verstand die Nöte des Direktors und selbstverständlich auch die des Bürgermeisters. Aber er steckte nicht drin, was sollte er dazu schon sagen? »Vielleicht ist er noch im Wald? Das unebene Gelände ist an einigen Stellen abschüssig, was schon in nüchternem Zustand nicht ganz ungefährlich ist. Wissen Sie, in welchem Gebiet die jungen Männern gejagt haben?«

»Nein«, seufzte Boyer laut. »Ich werde den Forstbeamten fragen, ob er der Sache nachgehen kann.«

»Tun Sie das«, antwortete Pierre, der mit den Gedanken bereits ganz woanders war. Der Duft des sanglier rôti hatte ihn so richtig hungrig gemacht. Vielleicht sollte er sich im Café le Fournil ein belegtes Sandwich bestellen, eines aus dem wunderbar saftigen Olivenbrot, das der Besitzer zu dieser Jahreszeit aus den ersten frisch geernteten Früchten buk. Am Ende des Tages, so nahm er sich vor, wenn das halbe Dorf auf der Hochzeitsfeier tanzte, würde er die ungewohnte Ruhe genießen und den Abend in der Bar du Sud ausklingen lassen.

3

Als Pierre die schwere Holztür öffnete, schlug ihm ein enormer Geräuschpegel entgegen, vermischt mit dem Geruch von frisch gebackener fougasse. Hatte er erwartet, die Bar du Sud sei an diesem Samstagabend weniger gut besucht als sonst, so musste er feststellen, dass er sich gründlich geirrt hatte. Einige der Dorfbewohner, die er eigentlich auf der Hochzeitsfeier wähnte, saßen in lautstarke Diskussionen vertieft zusammen.

Eine seltsam angespannte Stimmung lag in der Luft, deren Ursache Pierre nur schwer ausmachen konnte. Es erinnerte ihn an die Abende, an denen die Männer des Dorfes zusammenkamen, um die Meisterschaftsspiele im Fußball zu verfolgen. Vor allem wenn der AC Arles-Avignon auf den FC Istres traf, wurde es oft richtig dramatisch, denn beide Mannschaften hatten in etwa gleich viele Anhänger im Dorf. Heute allerdings war der Fernseher aus, und als Pierre sich im Raum umsah, musste er zugeben, dass der Vergleich mit dem Fußballspiel hinkte.

Direkt neben der Eingangstür saß ein junger Mann mit Vollbart regungslos vor einem großen Glas Wein. Er starrte darauf, als habe man alles Unglück dieser Welt hineingegossen. Ihm gegenüber befand sich ein Cousin der Braut, der nun den Kopf auf die Tischplatte sinken ließ und herzzerreißend schluchzte. Andere Gäste hingegen wirkten beinahe überdreht. Einer der Älteren rief aus, er habe gewusst, dass es so kommen würde, das sei die gerechte Strafe. Der neben ihm Stehende nickte heftig und prostete ihm zu, als gäbe es etwas zu feiern.

Das Lokal summte wie ein Bienenhaus, man steckte die Köpfe zusammen und redete aufeinander ein. Nur Philippe, der Besitzer der Bar, stand sichtlich unbeeindruckt da. Der Wirt würde ihm sicher einige Fragen beantworten können.

Kaum war Pierre bis zum Tresen vorgedrungen, bemerkte er, dass sich eine noch größere Menschenansammlung weiter hinten nahe der Tür zum Lagerraum gebildet hatte. Mitten in der Menge stand ein kräftig gebauter Mann mit stoppeligem Haar und wettergegerbter Haut, den er hier noch nie gesehen hatte. Er trug einen Blouson der police rural, was ihn als Garde champêtre auswies. Als Feldhüter war er für den Schutz von Umwelt und Natur zuständig. Die anderen Gäste drängten sich um den Mann, schienen jedes seiner Worte inhalieren zu wollen, die er wild gestikulierend unterstrich. Seine Ausführungen wurden immer wieder von ungläubigen Ausrufen unterbrochen, weshalb Pierre von dem Gesagten kaum ein Wort verstand.

»Wer ist das?«, fragte er Philippe, nachdem er sich ein Glas Hauswein, ein paar Oliven und frisch gebackenes Kräuterbrot bestellt hatte, dessen köstlicher Duft ihm seit Betreten der Bar nicht mehr aus der Nase gewichen war.

»Das ist Christophe Rousset vom Gemeindeverband der Pays des Sorgues et des Monts de Vaucluse.«

»Und was macht er hier?« Er sah hinüber und begegnete dem Blick des Redners, flüchtig nur, bis der Mann sich wieder seinem Publikum zuwandte.

»Er hat eine schlimme Nachricht überbringen müssen.« Philippe stellte ein Glas auf den Tresen und füllte es mit einem fruchtigen Côtes du Rhone, bis dieser beinahe den Rand berührte, und noch ehe er fortfuhr, ahnte Pierre, was nun kam. »Sie haben Franck Pabion tot im Wald gefunden.«

»Merde!«, stieß Pierre aus. »Ein Unfall?« Warum erfuhr er erst jetzt davon?

»Vielleicht. Es heißt, er sei jemandem vor die Flinte gelaufen.«

»Er wurde erschossen?«

»Das war bestimmt kein Zufall«, mischte sich Didier Carbonne ein, der verwitwete Uhrmacher, der wie aus dem Nichts neben Pierre aufgetaucht war und sofort Oliven und Brotscheiben begutachtete, die Philippe gerade neben dem Wein abstellte. »Ein Jäger, der freiwillig nackt und mit wehender Büchse durch den Wald läuft?« Er ließ den kleinen Finger auf Höhe des Hosenschlitzes tanzen. »Nee, nee, ganz sicher nicht. Da hat sich jemand einen höllischen Spaß daraus gemacht, ihn zu piesacken.«

»Er war nackt?«

»Splitterfasernackt«, bestätigte Carbonne und rieb sich den schlecht gestutzten Bart, ohne die Häppchen aus den Augen zu lassen. »Unser Jäger wurde gejagt, als sei er das Wild. Der Feldhüter dort drüben meint das auch.«

»Ein Mord also.« Pierres Ermittlerinstinkt war erwacht. »Wie kommt er zu dem Schluss?«

»Das kann ich dir ganz genau sagen, ich höre mir seine Schilderungen nun schon zum dritten Mal an«, tönte es von der Seite. Es war Luc, der offenbar bereits eine ganze Weile neben den beiden stand und den Zeigefinger hob wie ein übereifriger Schüler. »Also, der Garde hat Franck Pabion in der Nähe des Plateaus oberhalb der Quelle gefunden und sofort die Gendarmerie gerufen. Dann hat er die Familie informiert. Die arme Marie-Laure, was für ein Schicksal.« Luc setzte eine mitleidsvolle Miene auf. »Stell dir mal vor, du willst heiraten, und dann bringt plötzlich jemand deinen Bruder um. Schlimmer kann es doch wohl nicht kommen, oder kannst du dir …«

»Der Tod eines Angehörigen ist immer furchtbar«, unterbrach Pierre ihn barsch, was ihm sofort leidtat. Also setzte er freundlicher hinzu: »Man hat Pabion im Zuständigkeitsbereich von L’Isle-sur-la-Sorgue gefunden?« Der Teil des Waldes gehörte nicht mehr zu seinem Gebiet, was erklärte, warum man ihn nicht darüber informiert hatte. Obwohl in diesem Fall eine gemeindeübergreifende Kommunikation sicher angebracht gewesen wäre.

»Genauso ist es.« Luc blickte um sich und fuhr dann flüsternd fort: »Ich kenne die Gegend gut. In der Nähe liegen mehrere Felsspalten und Gänge, die tief hinab in die Unterwelt führen. Als Jugendliche haben wir da oft gespielt, und einmal haben wir eine Gruppe Vagabundinnen entdeckt, die sich dort verborgen hatte. Unheimlich, nicht wahr? Wer weiß, was in der vergangenen Nacht so alles geschehen ist …«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe keine Ahnung, was da vor sich geht, aber mir kommt das Ganze irgendwie seltsam vor. Warum sollte jemand sich nackt ausziehen, mitten in der Nacht im Wald, verstehst du?« Er nickte, als wolle er die Ungeheuerlichkeit dessen, was nun im Raum stand, betonen: Franck Pabion als Opfer wollüstiger Zigeunerinnen!

Pierre verstand vor allem eines, nämlich dass Luc dazu neigte, Dinge zu dramatisieren. Daher wischte er das Gesagte mit einer abweisenden Handbewegung weg und wiederholte seine vorherige Frage. »Warum glaubt der Feldhüter, man habe den jungen Pabion wie ein Stück Wild gejagt?«

Luc verzog den Mund, ehe er monoton und in normaler Lautstärke antwortete: »Na, wegen der Einschusslöcher. Sie sind entlang einiger Baumstämme zu sehen. Das waren Schrotkugeln, davon sind gleich mehrere Ladungen abgegangen. Es sieht danach aus, als sei er verfolgt worden.« Luc hielt einen Moment inne und wackelte dann mit dem Kopf. »Obwohl, ich kenne schon eine ganze Menge schlechter Schützen. Manche sind ja wirklich alt, weit über siebzig. Ich habe selbst gesehen, wie jemand aus Versehen fast auf einen Kameraden geschossen hätte, weil der plötzlich aus dem Gebüsch kam. So ähnlich könnte es auch Pabion ergangen sein. Immerhin hat er keine farbige Warnweste getragen.«

»Der Junge redet Unsinn«, brummte Carbonne an Pierre gewandt und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Als ob ein Jäger einen nackten Mann nicht von einem Tier unterscheiden könnte. Einmal kann man ja aus Versehen danebenschießen. Aber gleich so oft? Nein, den hat jemand absichtlich zur Strecke gebracht.« Er zuckte mit den Schultern, fingerte beiläufig nach den Oliven auf Pierres Teller und steckte sich ein paar in den Mund. »Für mich war es Mord«, schloss er kauend.

»Du hast bestimmt schon einen konkreten Verdacht, wer es gewesen sein könnte, hm?«

Der Alte riss die Augen auf. »Ich? Nein. Ganz bestimmt nicht, von mir wirst du keine Namen hören. Wenn ich irgendwann zufällig erfahren sollte, wer es gewesen ist, dann geb ich ihm einen aus, so wahr ich hier stehe.«

»Du mochtest den Toten wohl nicht besonders?«

Ganz langsam beugte Carbonne sich vor und zeigte grinsend seine Zahnlücken. »Sagen wir es mal so: Als Franck Pabion damals Sainte-Valérie verlassen hat und nach Saumane gezogen ist, haben einige hier ein kleines Freudenfest gefeiert.«

»Ja, das stimmt. Beliebt war er nicht gerade«, warf Luc ein. »Ein furchtbarer Mensch, das kann ich dir sagen. Bestimmend und aufbrausend. Na ja, ich habe ihn mal bei einem Jagdausflug kennengelernt. Ein echter Kotzbrocken, sage ich dir. Dem konnte man gar nichts recht machen. Der hat dich offen ausgelacht, wenn du mal danebengetroffen oder eine Anweisung nicht sofort verstanden hast.« Lucs Stimme klang beleidigt, so als habe er die Kränkung noch genau im Ohr. »Ein echter Kotzbrocken«, wiederholte er.