Drei starke Geister - Alexandre Dumas - E-Book

Drei starke Geister E-Book

Dumas Alexandre

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Beschreibung

mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. In einem französischen Ort werden der Pfarrer von Lafou und seine Haushälterin ermordet. Der junge Jean Raynal wird als mutmaßlicher Mörder vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Acht Jahre später, im Oktober 1833, erfährt der angehende Priester Felician Pascal am Bord der "Nicolas", wo er sich mit Kommandant Durantin und Doktor Marechal sowie einen gewissen Valery befindet, dass dieser Valerfy am gelben Fieber leidet und nicht mehr lange zu leben hat. Valery gesteht in seiner Beichte, der er der wahre Mörder von Lafou ist und unterzeichnet ein Geständnis.

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Erster Theil.

Einleitung.

I.

An der Straße nach Nimes, bei der Brücke über den Gard — die man, im Vorbeigehen gesagt, mit Unrecht eine Brücke nennt, da es eine Wasserleitung ist, in der aber nichts, selbst kein Wasser mehr fließt — eine Viertelstunde ehe man an den Fluß und mithin an diese Brücke kommt, liegt ein freundliches Dörfchen, mit Namen Lafou. Wer etwa die Brücke über den Gard besucht, was ich Jedem rathe, der kehre zum Frühstück in dem Dörfchen Lafou ein. Es hat nur ein einziges Wirthshaus und man kommt daher nicht wegen der Wahl in Verlegenheit; aber man wird hier eben so gut und selbst besser bedient, als wenn eine Concurrenz zwischen mehreren Gastwirthen stattfinde. Man wird in ein großes Gastzimmer geführt, dessen Tapete die merkwürdigsten, mit ziegelrother Staffage von Menschen und Thieren belebten Weltansichten darstellt; man sieht hier die Statue Peters des Großen in St. Petersburg, den Westminsterpalast in London, die Börse von Paris, den Pozellanthurm in Peking, eine Tigerjagd, den Tod des Capitain Cook und das Grab des Kaisers in St. Helena. Geschichte, Denkmähler, Poesie, nichts fehlt hier; Alles ist auf einem rosenrothen Grunde gemalt und wird von blauen Bäumen beschatten Was aber noch besser sein wird, als dies Alles, obgleich es, wie ich glaube, schon sehr amüsant ist, wenn man lachen kann, indem man die Wände betrachtet, das ist das Frühstück, das man bekommt und das ein- für allemal aus folgenden Gerichten besteht: ein Schweinsfuß mit Trüffeln, Liebesäpfel mit Eiern oder Eier mit Liebesäpfeln, Erdbeeren im Sommer, Feigen, Mandeln, Rosinen und Haselnüsse im Winter, dazu eine Flasche ausgezeichneten starken Wein, mit einem Parfüm wie Alicante; und wenn man dann fragt, was man für diesen Schmaus schuldig ist, so erhält man zur Antwort: drei Franken! Man hat also hier für drei Franken besser gefrühstückt, als für fünfzehn Franken in Paris!

Leider sind es nicht diese erfreulichen Bilder, die Erinnerungen von einer Reise, die ich vor Kurzem durch jene Gegend gemacht habe, die ich dem Leser in der nachstehenden Erzählung vorführen werde; es ist eine sehr traurige, sehr Unglückliche Geschichte, die ich erzählen will und deren Schauplatz das Dörfchen Lafou war.

An einem heiteren Abende des Monats April 1825 wanderte ein noch junger Mann von kaum einundzwanzig Jahren, mit offenem, heiterm und sanftem Gesicht, allein auf der erwähnten Straße von Nimes nach der Gardbrücke zu. Es hatte eben sieben Uhr geschlagen, und der, in einen schwarzen Oberrock, ein ächtes Reisebeinkleid von grauer Leinwand, nebst einer Mütze von Zwillich gekleidete junge Reisende schritt rüstig, mit der einen Hand sich den Schweiß vom Gesicht trocknend und mit der andern den Reisestock schwingend, vorwärts.

Bald hatte er die ersten Häuser des Dörfchens Lafou erreicht, und zugleich griff er in die Tasche, zog eine Brieftasche hervor, nahm aus dieser einen Brief, den er in der Hand behielt und ging dann auf einen, vor seinem Hause stehenden Landmann zu.

»Könnt Ihr mir nicht sagen, Freund,« redete er ihn im richten pariser Dialect an, »wo Herr Raynal der Pfarrer von Lafou, wohnt.«

»Eben ging Herr Raynal hier vorbei,« antwortete ihm der Bauer mit sehr deutlichem südlichem Accent und indem er die rechte Hand ausstreckte; »kaum kann er sein Haus erreicht haben. Er wohnt dort in dem kleinen, an die Kirche angebauten Häuschen.«

Der junge Mann dankte für die erhaltene Auskunft und ging auf das bezeichnete Haus zu.

Er hatte nicht weit zu gehen, denn das Dorf ist nicht groß.

Das Haus des Pfarrers, das, wie der Bauer gesagt hatte, an die Kirche stieß, bestand aus einem Erdgeschoß, dem ersten Stockwerk und einer Art Dachboben. Es theilte mit dem Gottesacker den hinter der bescheidenen Kirche liegenden Raum.

Es ist nicht nöthig zu erwähnen, daß dieser Gottesacker nicht groß war, und daß zu dieser Tagesstunde die Kinder aus dem Dorfe in demselben spielten.

Ich habe es sehr gern, wenn ich in einem Dorfe die Kinder auf dem Gottesacker spielen sehe. Der Tod behält dadurch noch Einen gewissen Anschein von Leben, und wenn der Lärm, den sie machen, den Schlummer der Ruhenden stört, so muß ihnen dieses, durch unschuldige, frische Stimmen verursachte augenblickliche Erwachen angenehm sein, denn es erinnert sie an die glücklichsten der auf der Welt verlebten Jahre.

Unser Reisender zog ehrerbietig die Mühe vor der Ruhestätte der Todten, stieg dann die beiden Stufen vor der grau angestrichenen Hausthür hinauf und klopfte mit dem an derselben befestigten Hammer an.

Eine alte Frau öffnete ihm.

»Wohnt hier Herr Raynal?« fragte der junge Mann.

»Ja, mein Herr,« antwortete ihm die Alte.

»Kann ich ihn sprechen?«

»O ja.«

Die Dienerin verschloß die Thier wieder und ließ den Reisenden in ein Zimmer des Erdgeschosses treten, welches dem Pfarrer als Speisezimmer diente.

Hier saß an einem Tische, auf dem ein sehr bescheidenes Abendessen stand, der Pfarrer Raynal, ein Mann von ohngefähr fünfzig Jahren, dessen ruhig blickendes Auge Rechtschaffenheit und ein reines Gewissen verrieth. Seine Mahlzeit bestand aus einem Eierkuchen und aus einem Hühnerviertel. Seine alte Haushälterin, Toinette, stand am Fenster, bereit, ihren Herrn zu bedienen, sobald er etwas bedurfte. Ihre Kleidung bestand aus einer Haube mit breiten Flügeln und aus einem Kleide von gelbem Zeuge mit röthlichen Blumen, und sie war beschäftigt Wäsche auszubessern, als der Reisende geklingelt hatte. Seit zwanzig Jahren, die sie schon bei Herrn Raynal zubrachte, war sie gewohnt, in seinem Zimmer zu arbeiten, während er speiste. Es ging auf diese Weise keine Zeit verloren und sie unterhielt sich mit dem Pfarrer von allerhand Dingen, welche Gegenstand des Gesprächs zwischen einem braven Priester und einer braven Frauensperson sein können.

Der junge Mann begrüßte Herrn Raynal, welcher Aufstand, um ihn zu empfangen; aber der Angekommene bat ihn« sich nicht stören zu lassen und übergab ihm den Brief, den er in der Hand hatte.

»Ich bin beauftragt, Ihnen dies hier zu übergeben, Herr Pfarrer,« sagte er, während sein Blick mit einem Ausdruck von Ehrerbietung, der einige Aengstlichkeit beigemischt war, auf dem Gesicht der Priesters ruhte, der den Brief aus dem Couvert zog.

»Nehmen Sie doch Platz,« sagte Raynal, ehe er anfing, das Schreiben zu lesen; als er jedoch die Augen auf die ersten Worte desselben geworfen hatte, blickte er den Ueberbringer an und sagte mit bewegter Stimme zu ihm:

»Dieser Brief ist von meinem Bruder?«

»Ja« lieber Oheim.«

»Und Sie sind also..-.«

»Jean Raynal, der Sohn Ihres Bruders und Ihr Neffe.«

»So komm an mein Herz, junger Mann!« rief der Pfarrer, indem er aufstand und seinen Neffen umarmte.

Die alte Haushälterin, welche Zeugin dieser Scene war und die seit zwanzig Jahren Jeden gesehen hatte, der zu ihrem Herrn gekommen war, betrachtete staunend den großen Menschen, der ihr noch nie zu Gesicht gekommen und den der Pfarrer seinen Neffen nannte.

»Sie haben also einen Bruder?« sagte sie im vertraulichen Tone zu dem Geistlichen.

»Ja wohl, liebe Toinette.«

»Aber Sie haben mir nie etwas davon gesagt?«

»Weil mein Oheim glaubte, er habe meinem Vater etwas vorzuwerfen,« erwiderte Jean, »und da mein Oheim ein Mann von so edlem Herzen ist, so zog er es vor« gar nicht von diesem Bruder zu sprechen, als etwas Nachtheiliges über ihn zu sagen. Ist’s nicht so, lieber Oheim?«

»Was für ein hübscher Mensch Du bist! wie freut es mich, Dich kennen zu lernen! Komm, umarme mich noch einmal! Was macht Dein Vaters was ist aus ihm geworden? wo lebt er? wie befindet er sich? Beantworte mir schnell diese Fragen, lieber Junge! Ja, es ist heute ein glücklicher Tag für mich, es ist mir schon Alles nach Wunsch gegangen.« i

»Lesen Sie den Brief, lieber Oheim; er wird Ihnen Alles was Sie zu wissen wünschen, besser sagen als ich.«

»Du hast Recht,« erwiderte der Pfarrer, indem er den Brief, den er auf den Tisch gelegt hatte, wieder nahm. Mit lauter Stimme las er Folgendes:

»Mein lieber Valentin!

»Mein Sohn Jean hat sein einundzwanzigstes Jahr erreicht, und dies ist der Zeitpunkt, den ich erwartet habe, um ihn Dir vorzustellen. Ich rechnete auf ihn, um unsre Aussöhnung herbeizuführen, und ich wünschte, daß er in dem Alter war, wo man Alles sagen und Alles verstehen kann; er sollte die lebende Entschuldigung des Unrechts sein, dessen ich mich früher gegen unsren Vater schuldig gemacht habe. Er ist ein guter, braver Mensch, der etwas gelernt und mir stets Freude gemacht hat, und der, wie ich hoffe, auch indem lyoner Handlungshause, in das ich ihn sende, seinen Posten ausfüllen wird. Was mich betrifft, mein lieber Valentin, so hat mir Alles über mein Erwarten geglückt, und unsre Trennung allein hat einen Schatten von Betrübniß auf mein Leben geworfen. Indessen hoffte ich, daß ein Tag kommen werde, wo Du mir verzeihen würdest, und jetzt habe ich deshalb keinen Zweifel mehr. Jean wird mir unverzüglich das Resultat seines Besuchs melden und ich hoffe, ehe zwei bis drei Monate vergehen, Dich in meine Arme schließen und Dir selbst sagen zu können wie sehr ich Dich liebe.

»Dein Bruder »Onesimus Raynal.«

»Dies ist Alles, was mein Vater geschrieben hat?« fragte Jean.

»Es ist Alles,« antwortete der Pfarrer, indem er ihm den Brief reichte.

»Dann bat er mir Vieles Ihnen zu sagen und Ihnen Vieles mir mitzutheilen überlassen.«

»So sprich« mein Sohn« sprich!«

»Zuerst« lieber Oheim, bitte ich Sie, mir den Grund Ihres Zerwürfnisses mit meinem Vater zu erzählen.«

»Gut, höre mich an, lieber Jean. Onesimus sagt mir, daß Du im Stande bist, Alles zu verstehen, ich werde Dir also nichts verschweigen. Vor zweiundzwanzig Jahren war unser Vater in Folge schlechter Geschäfte, die er gemacht hatte, ruiniert; aber es zeigte sich für Onesimus eine Gelegenheit, ihm wenn auch nicht zu dem verlorenen Vermögen wieder zu verhelfen, aber doch zu den Mitteln, um seine Umstände wieder zu verbessern. Diese Gelegenheit war die Verbindung mit einem Mädchen, die ihm ihr Vater mit einem Vermögen von zweimal hunderttausend Livres zur Frau geben wollte. Aber leider hatte sich Onesimus in ein andres Mädchen verliebt, und alle unsere Vorstellungen vermochten nicht, ihn von dieser Liebe abzubringen. Er wollte die Geliebte heirathen, obgleich sie nichts besaß und auch er arm war. Mein Vater verbot dem Bruder sein Haus und ich mußte schwören, daß ich ihn nie wiedersehen wollte. Ich leistete diesen Eid, obgleich der Stand, für den ich mich bestimmt hatte, es mir hätte verbieten sollen. Ich hatte Theologie studirt und ein Jahr nach der Verheirathung meines Bruders, die wir durch sein Nachsuchen und des Vaters Einwilligung erfuhren, wurde ich Priester. Mein Vater zog zu mir, lebte noch sechs Jahre und ging zu Gott, ohne seinem Sohne verziehen zu haben, so sehr ich mich auch bemühte, ihn dazu zu bewegen. Wohin sich Onesimus gewendet hatte, was aus ihm geworden war, habe ich nie erfahren, und während ich in meinem Herzen die Liebe bewahrte, die ich ihm als meinem Bruder schuldig bin, und ihm die Verzeihung angedeihen ließ, die ich für meine Christenpflicht hielt, bemühte ich mich vergebens, Erkundigung über ihn einzuziehen. Indessen verging kein Tag, ohne daß ich den Himmel bat, mir Aufklärung darüber zu geben und jedenfalls meinem Bruder das Glück zu gewähren, das ich ihm wünschte. Jetzt weiß ich, warum er schwieg und ich mache ihm nur deshalb einen Vorwurf, daß er so lange hat glauben können, ich zürnte ihm noch, und daß er es so lange verschoben hat, Dich zu mir zu senden. Dies ist Alles, was ich Dir mitzutheilen habe, lieber Jean, und ich erwarte nun, daß Du mir erzählst, wie es meinem Bruder in dieser langen Zeit ergangen ist und wie er sich jetzt befindet.«

»Mein Vater hat mir immer den Grund Ihrer Trennung verschwiegen,« entgegnete der junge Mann; »ohne Zweifel in der Furcht, daß sich dadurch wider meinen Willen die Achtung vermindern möchte, die ich meiner Mutter schuldig bin. Von Zeit zu Zeit jedoch erwähnte er eines Bruders, über den er, ich weiß nicht auf welchem Wege, Nachrichten einzog. Er sprach immer von diesem Bruder, nicht allein mit Liebe, sondern auch milder Hochachtung, die man einem edlen, frommen Manne schuldig ist. Ich erinnere mich, denn so etwas gräbt sich tief in das Gedächtniß der Kinder ein, daß ich und meine Mutter während meiner ersten Kinderjahre oft schlimme Zeit hatten. Mein Vater war oft auf Reisen; er war in einem Handlungshause angestellt und hatte einen sehr mäßigen Gehalt, so daß wir fast in steter Bedrängniß lebten, aber meine Mutter, eine gute, vortreffliche Frau, arbeitete Tag und Nacht und erzog mich mit einer solchen Sorgfalt, als man einem Prinzen widmet. Sie aß trocknes Brot, aber ich erhielt bessere Nahrung und wurde gut gekleidet. Sie und mein Vater liebten mich mit der größten Zärtlichkeit. Ich war ihr Trost, ihre Hoffnung und ihre moralische Stütze; ohne mich würden sie vielleicht der Last ihrer Leiden erlegen sein.«-

»Armer Bruder!« sagte der Pfarrer gerührt. »Fahre fort, lieber Jean, fahre fort, denn ich sehne mich danach, von Dir zu erfahren, wann Gott ihn für alle diese Prüfungen entschädigt hat.«

»Mein Vater betrug sich so gut, er gewann so sehr das Vertrauen des Hauses, für das er,reiste, daß er nicht allein nicht wie ein gewöhnlicher Commis behandelt wurde, sondern daß man ihm einen Antheil am Geschäft gab, so daß er nach einigen Jahren eine hübsche Summe zurückgelegt hatte. Sein Prinzipal gab ihm hierauf den Rath, sich in der Provinz zu etabliren, fügte als Darlehn eine Summe von zehntausend Franken hinzu und wir zogen nach einer kleinen Stadt, wo mein Vater ein Geschäft anfing und dabei fortwährend mit dem Hause in Verbindung blieb, dem er Alles zu verdanken hatte. Der Himmel war uns günstig, das Geschäft hatte einen guten Fortgang und mein Vater erwarb ein kleines Vermögen. Ich kam auf die Schule, wo ich einen guten Unterricht genoß, der mich fähig machen sollte, in jedem Stande fortzukommen, den ich wählen würdet aber ich hatte von jeher den Gedanken, daß ich den Stand wählen müsse, dem mein Vater das zu verdanken hatte, was er war, und ich wünschte in die Dienste des Hauses zu treten, das meinen Vater unterstützt hatte. Ich bin also gegenwärtig Reisender bei Herrn Roussel und Compagnie, und als ich vor vierzehn Tagen eine Reise antreten wollte, schrieb mir mein Vater, das Erste was ich zu thun hätte, nachdem ich die Geschichte, mit dem Lyoner Handlungshause, mit dem wir in Verbindung stehen, abgemacht hätte, müsse sein, mich im Dorfe Lafou, in der Nähe von Nimes, nach dem Pfarrer Raynal zu erkundigen, ihm den Brief, den er mir überschickte und dessen Inhalt mir unbekannt war, zu übergeben, ihn dreist meinen Oheim zu nennen und ihm Alles mitzutheilen, was ich Ihnen erzählt habe.«

»Du siehst mein Sohn, der Himmel verläßt keines seiner Geschöpfe ganz, und Fleiß und gutes Betragen erhalten früher oder später ihren Lohn. Toinette, bringe das Parterrezimmer unter dem meinigen in Ordnung, denn Jean wird ohne Zweifel einige Tage bei uns bleiben und er soll in diesem Zimmer wohnen. Dann besorge uns auch eine gute Flasche Wein und Zwieback.«

Toinette verließ das Zimmer.

»Ich danke Ihnen, lieber Oheim,« sagte Jean, »aber ich muß Sie schon morgen früh oder eigentlich schon in dieser Nacht wieder verlassen, denn ich muß bei guter Zeit wieder in Nimes sein, wo ich noch eint Zahlung in Empfang zu nehmen habe, ehe ich nach Montpellier abreise. Ich bin von Nimes zu Fuße hierher gekommen und werde wohl auch den Rückweg zu Fuße machen müssen. Es ist aber ein starker Marsch.«

»Nein, Du sollst reiten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe ein Pferdchen, auf dem ich meine kleinen Touren in der Gegend mache. Ich empfehle Dir nur, nicht zu viel von ihm zu verlangen, denn das gute Thier ist gewöhnt, sich Zeit zu nehmen und nur im Schritt zu gehen, da ich, wie Du denken kannst, nicht der beste Reiter bin. Ich gebe es Dir auch nicht, damit Du Zeit ersparen, sondern nur, damit Du nicht müde werden sollst.«

»Aber was soll ich mit dem Pferde anfangen, wenn ich nach Nimes komme?«

»Weißt Du die Straße des Arénes?«

»Ja wohl.«

»In dieser Straße wohnt ein Bäcker, Namens Simon. Diesem übergieb das Pferde er schickt es mir morgen oder übermorgen zurück, was er schon oft gethan hat.«

»Gut, das werde ich thun.«

»Sieh,« sagte der Pfarrer, indem er aufstand und aus dem offnen Fenster zeigte, »Du gehst über den kleinen Hof und öffnest die Thür, die Du dort links siehst, das ist Coquets Stall. Mein Pferd heißt nämlich Coquet. Du sattelst und zäumst ihn, setzest Dich darauf und reitest aus der andren Thür fort, die auf das Feld führt. Auf diese Weise störst Du Niemanden, denn wir, Toinette und ich, schlafen bis sieben Uhr. Und jetzt, da wir dies Alles in’s Reine gebracht haben, umarme mich noch einmal, mein lieber Junge, denn ich kann es nicht beschreiben, wie glücklich ich bin, Dich zu sehen. Wir wollen noch von Deinen Eltern und von Dir sprechen.«

Jean umarmte seinen Oheim und sie begannen dann ein Gespräch über seine Familie. Bald darauf erschien Toinette und brachte die verlangte Flasche nebst etwas Backwerk.

»Du bleibst zwar jetzt nur einige Stunden bei mir,« sagte der Pfarrer, indem er sich niedersetzte und Jean neben sich Platz nehmen ließ; aber ich hoffe. Dich bald wiederzusehen und Dich länger bei mir behalten zu können. Und Deine Eltern müssen mich auch besuchen, denn ihnen wird es gewiß leichter, sich von ihrem Geschäft zu trennen, als mir, meine Heerde zu verlassen. Was sollte aus dieser werden, wenn sie keinen Hirten hätte!«

»Sie werden gewiß hier sehr geliebt, lieber Oheim?«

»Ja, das ist wahr, daß der Herr Pfarrer die allgemeine Liebe und Achtung genießt,« sagte Toinette, indem sie zwei Gläser auf den Tisch setzte. »Er ist auch ein seelenguter Mann. Werden Sie es wohl glauben, daß er seit acht Tagen die ganze Umgegend durchstreift hat, um Beiträge für die Armen einzusammeln, und daß er zwölfhundert Franken in schönen neuen Silbermünzen nach Hause gebracht hat, welche dort in einem Beutel stehen?«

»Zwölfhundert Franken?« rief Jean; »das ist sonderbar!«

»Was ist denn Sonderbares dabei?« fragte Reynal.

»Wenn Sie mir versprechen, mich nicht auszuschmälen, so will ich Ihnen ein Bekenntniß machen.«

»Dich ausschmälen, nach dem Briefe, den Dein Vater mir geschrieben hat, und heute, wo wir uns zum ersten Male sehen? Sprich, mein Sohn, und sei ganz ohne Sorgen, ich werde Dir nichts sagen, besonders da Du gewiß keinen großen Fehler begangen haben wirst.«

»O ja, lieber Oheim, ein Fehler ist es, aber ich habe ihn begangen fast ohne es zu wollen, und die Zahl von zwölfhundert Franken erinnert mich, daß ich Ihnen denselben bekennen muß.«

»Was ist es denn?«

»Denken Sie sich, lieber Oheim, an dem Tage, an welchem ich nach Lyon kam, luden mich die Commis des Handlungshauses, an das ich adressirt war, zu einem Diner ein. Sie tranken auf meine Gesundheit, ich auf die ihrige, und da ich die Gesundheit eines Jeden von ihnen erwidern, also so viel Glaser Wein allein trinken mußte, als sie zusammen getrunken hatten, so war ich nach der Mahlzeit ziemlich aufgeräumt.«

»Nun, das ist keine große Sünde.«

»Es ist auch noch nicht Alles, lieber Oheim. Nach dem Essen gingen wir fort und die Herren führten mich in ein Spielhaus.

»In ein Spielhaus?« sagte der Pfarrer, indem er mit einem schmerzlichen Ausdruck die Hände faltete.

Ja, lieber Oheim, aber nur um es mir zu zeigen und durchaus ohne die Absicht, selbst zu spielen oder mich dazu zu verleiten. Der Zufall wollte, daß ein Mann, der sehr ängstlich spielte und fünf Franken auf Roth gesetzt hatte, sein Geld wieder zurücknehmen wollte, ehe abgezogen war; aber der Croupier — ich weiß jetzt alle diese Namen,« sagte Jean lächelnd — »wollte es nicht erlauben, indem er sagte: gesetztes Geld sei gespieltes Geld. Der arme Mann schien darüber so betreten zu sein, daß er mich dauerte und daß ich zu ihm sagte, indem ich ihm fünf Franken gab:

»— Wenn Sie es erlauben, mein Herr, so will ich Ihren Platz einnehmen.«

»Er wllligte ein. Ich schwöre es Ihnen, lieber Oheim, daß sich bei dem, was ich that, eigentlich keine andre Absicht hatte, als dem armen Manne sein Fünffrankenstück zurückgeben zu können, das vielleicht sein ganzes Vermögen war, nicht aber mein Glück zu versuchen.«

»Und Du verlorst?« fragte der Pfarrer, welcher glaubte, dies sei das Verbrechen, welches sein Neffe begangen hatte.

»O nein, ich gewann. Ich ließ die zehn Franken stehen und gewann wieder. Jetzt wollte ich den Versuch aufs Aeußerste treiben und fuhr so fort. Wissen Sie was ich gewonnen habe, lieber Oheim?«

»Nun?«

»Rathen Sie!«

»Vielleicht fünfzig Franken.«

»Zwölfhundert Franken, lieber Oheim, zwölfhundert!« —

»Zwölfhundert Franken! wäre es möglich?« rief der Pfarrer erstaunt.

»Bei dem Anblick dieser Summe verließ mich der Muth, ich fürchtete sie wieder zu verlieren und raffte daher meine zwei Bankbillets von fünfhundert Franken und zehn Napoleons zusammen. Ich hatte sehr wohl daran, denn das nächste Mal gewann Schwarz. Dies ist der Fehler, den ich begangen habe, lieber Oheim und wenn Sie es erlauben, will ich ihn wieder gut machen, indem ich Ihnen die gewonnenen zwölfhundert Franken für Ihre Armen gebe.«

»Nein, mein Sohn, behalte sie, aber wende sie gut an und erinnere Dich dabei, daß das Spiel die schlimmste aller Leidenschaften und daß ein Spieler der gefährlichste aller Menschen ist.«

»Zwölfhundert Franken in zehn Minuten!« rief Toinette, welche diese Erzählung mit offnem Munde angehört hatte. »Wenn man bedenkt, daß es Menschen giebt, welche zwölfhundert Franken in zehn Minuten verdienen können, während der Herr Pfarrer, der heiligste Mann auf der ganzen Welt, diese Summe in einem ganzen Jahre erhält und ich sie erst in acht Jahren verdiene1«

»Du hörst, was Toinette sagt, mein Sohn,« sprach der Pfarrer; ich brauche nichts weiter hinzu zu fügen!«

Inhaltsverzeichnis
Erster Theil.
Einleitung.
I.
II.
III.
IV.
Erstes Kapitel. Der Nicolas.
Zweites Kapitel. Der Kranke.
Drittes Kapitel. Der Bettler.
Viertes Kapitel. Ein zu spät kommendes Bekenntnis.
Fünftes Kapitel. Die Wahrheit.
Sechstes Kapitel. Felician Pascal.
Siebentes Kapitel. Blanka.
Achtes Kapitel. Blanka’s Geheimnis.
Neuntes Kapitel. Robert.
Zehntes Kapitel. Was Friedrich in Paris wollte.
Zweiter Theil.
Erstes Kapitel. Erzwungene Geständnisse.
Zweites Kapitel. Kindische Plauderhaftigkeit.
Drittes Kapitel. Roberts Liebe.
Viertes Kapitel. Ja und Nein.
Fünftes Kapitel. Ein unerwarteter Besuch.
Sechstes Kapitel. Valery.
Siebentes Kapitel. Die Ordination.
Achtes Kapitel. Dir Kraft des Guten und die Kraft des Bösen.
Neuntes Kapitel. Die physische Kraft.
Zehntes Kapitel. Der Adel legt Verpflichtungen auf.
Elftes Kapitel. Schluß.
Impressum

Drei starke Geister

II.

Jean und sein Oheim, der während dieses Gesprächs seine Mahlzeit beendigt hatte, tranken jeder ein Glas von dem feinen Weine und der junge Mann aß einige Bissen dazu.

Toinette hatte während dieser Zeit das Zimmer in Ordnung gebracht, das der Pfarrer für seinen Neffen bestimmt hatte. Sie kam jetzt zurück und sagte:

»Aber, Herr Pfarrer, das Zimmer bedürfte wirklich einer Reparatur.«

»Warum denn?«

»Warum? Haben Sie denn die Decke nicht einmal angesehen?«

»Nein.«

»Sie ist in einem schönen Zustande.«

»Wie so denn?«

»Sie ist zwischen den Balken überall zersprungen und ist so dünn wie Papier; und wenn Sie sich nicht in Acht nehmen, bricht sie nächstens zusammen und Sie kommen mit sammt Ihrem Bette herunter, da Sie unmittelbar darüber schlafen.«

»Es ist gut, Toinette, ich werde es besorgen, und wenn Jean uns wieder besucht, soll er ein prächtiges Zimmer finden, das in jeder Beziehung seiner würdig ist.«

Jean ging hierauf mit seinem Oheim in das kleine Gesellschaftszimmer des Pfarrhauses, denn um diese Zeit erhielt Raynal jeden Abend den Besuch von zwei oder drei Freunden. Diese fanden sich bald ein und er erzählte ihnen, wie glücklich er gewesen sei, seinen Neffen kennen zu lernen, sowie die Schlichtung der Feindseligkeit mit seinem Bruder, lauter Dinge, welche zum Lobe des jungen Mannes und seines Vaters gereichten.

Gegen zehn Uhr trennte man sich, um zur Ruhe zu gehen und der Pfarrer führte selbst seinen Neffen in sein Zimmer, um sich zu überzeugen, daß es ihm an nichts fehlte und um nach einige Minuten länger mit dem jungen Manne beisammen zu bleiben, zu welchem er die aufrichtigste Zuneigung empfand.

»Ich bin sehr müde,,« sagte Jean; »wie werde ich es anfangen, damit ich morgen früh um vier Uhr erwache?«

»Zuerst hast Du eine Uhr in Deinem Zimmer mit einem Wecker, welcher zu der Stunde, auf die Du ihn stellst, Lärm machen wird. Dann ist aber auch morgen Markttag und Du wirst schon von drei Uhr an so viel Lärm hören, daß Du nicht länger wirst schlafen können.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, mein theurer Oheim. Vergessen Sie nicht an meinen Vater zu schreiben, er erwartet mit Ungeduld Ihren Brief.«

»Das thue ich noch heute, ehe ich zu Bette gehe und der Brief geht morgen ab. Gute Nacht, mein Sohn, gute Nacht!«

Sie umarmten einander noch einmal und der Pfarrer verließ seinen Neffen, nachdem er jedoch vorher noch zu ihm gesagt hatte:.

»Vergiß es nicht, es ist in der Straße des Arénes, beim Bäcker Simon, wo Du das Pferd abgeben und den Du bitten sollst, es mir mit der ersten Gelegenheit wieder zuzuschicken.«

»Gut, gut, lieber Oheim.«

Jean blieb allein und da er wirklich todtmüde war, ging er unverzüglich zu Bett und sank bald in tiefen Schlaf.

Sein Oheim hatte ihm keine Unwahrheit gesagt. Gegen drei Uhr Morgens wurde er durch das Geschrei der Verkäufer und besonders der Verkäuferinnen geweckt, die zum Markte kamen, und hätte er auch wieder einschlafen wollen, so würde es ihm nicht möglich gewesen sein. Er stand daher mit halb offenen Augen und noch etwas schwerem Kopfe auf, sattelte und zäumte Coquet, zog ihn mit so wenig Geräusch, als möglich, aus dem Hause, schwang sich darauf und schlug den Weg nach Nimes ein.

Coquet hatte den ächten Gang des Kleppers eines Dorfpfarrers, so daß Jean, nachdem er seine Füße gehörig fest in die Bügel gesetzt hatte,die Zügel nur aus Gewohnheit in den Händen behielt und die Augen schloß. Nach einigen Augenblicken war er völlig eingeschlafen; aber das kluge Thier, auf dem er saß, vermied, als wüßte es, daß sein Reiter nicht mehr im Stande war es zu leiten, jedes Hinderniß und jedes Begegnen, das ihn hätte wecken können und ging in einem ruhigen Schritte fort, der den Reiter recht angenehm wiegte.

Eine halbe Stunde vor Nimes machte sich jedoch ein Fuhrmann, der ihm mit seinem Geschirre entgegen kam und der es komisch fand, daß der Reiter so ruhig auf dem Pferde schlief, den Spaß, dem letzteren einen Peitschenhieb zu versetzen, so daß es einen Seitensprung that. Jean verlor das Gleichgewicht und erwachte in dem Augenblicke, wo er herabfallen wollte und wo Coquet schon dicht am Straßengraben stand. Er hatte jedoch noch so viel Zeit, die Mähne des Pferdes zu ergreifen und sich wieder in den Sattel zu schwingen, während der über seinen Scherz erfreute Fuhrmann laut lachend seinen Weg fortsetzte.

Jean freute sich eben so sehr, daß er geschlafen hatte als daß er geweckt worden war und indem er sich die Augen rieb, athmete er mit Entzücken die frische, reine Morgenluft ein. Er sah nach der Uhr und da er bemerkte, daß Coquet seinen Schlummer benutzt und ebenfalls ein wenig geschlafen hatte, wodurch einige Zeit verloren gegangen war, wollte er diese wieder einbringen und setzte seinen Gaul in einen kleinen Trab.

Coquet wunderte sich zwar nicht wenig, daß er eine Gangart annehmen sollte, die gar nicht in seiner Gewohnheit lag; allein er machte gute Miene zum bösen Spiel und erreichte trabend die historische Stadt.

Jean hatte gar nicht nöthig, ihn nach der Straße des Arénes zu lenken; Coquet wußte den Weg allein und brachte seinen Reiter auf dem gradesten Wege zu Meister Simon.

Der Bäcker stand an seiner Hausthür und erkannte den Gaul, der Reiter aber war ihm unbekannt.

»Ich bin der Neffe des Pfarrers Raynal,« sagte Jean zu ihm, nachdem er ihn begrüßt hattet; »er hat mir das Pferd geliehen, um nach Nimes zu retten, und mir aufgetragen, es Ihnen zu übergeben und Sie zu bitten, es ihm wieder zuzuschicken.«

»Sie sind der Neffe des Herrn Pfarrers Raynal?« erwiderte der Bäcker freundlich.

»Ja wohl.«

»Dann haben Sie einen würdigen Mann zum Oheim.«

»Ich weiß es, Herr Simon, und ich freue mich, daß mein Oheim die allgemeine Liebe und Achtung in eben so hohem Grade genießt, als ich ihn liebe und hochschätze.«

»Ja, Sie können mir Coquet anvertrauen,« erwiderte Simon; »ich werde ihn morgen durch einen meiner Leute, der ohnehin etwas in Lafou zu thun hat, zu seinem Herrn zurückschicken.«

Jean stieg vom Pferde und Simon rief in das Haus hinein:

»Franz!«

»Hier bin ich, —- Meister!« antwortete ein junger Mensch in der gewöhnlichen Kleidung der Bäckergehilfen.

»Führe das Pferd in den Stall.«

»Gut, Meister.«

Franz ergriff den Zügel des Pferdes, dem Jean liebkosend auf den Hals klopfte, als wollte er ihm für den geleisteten Dienst danken, und verschwand damit in der Hausflur.

»Und Herr Raynal befindet sich wohl.« fragte Simon.

»Ja, er befindet sich sehr wohl.«

»Wollen Sie nicht eintreten, um etwas zu genießen und mit uns zu frühstücken?« fragte der Bäcker mit provencialischer Herzlichkeit; »der Neffe des Herrn Raynal ist für uns so viel als Herr Raynal selbst.«

»Sie sind sehr gütig, Herr Simon; aber ich muß um zehn Uhr mit der Diligence von Beaucaire abreisen und vorher muß ich noch einen Gang besorgen und mein Gepäck aus dem Gasthofe holen. Ich habe aber nur eine halbe Stunde Zeit zu dem Allen. Indessen danke ich Ihnen nicht minder für Ihr freundliches anerbieten,« sagte er, indem er dem Bäcker die Hand schüttelte, »und wenn ich wieder nach Nimes komme, werde ich Sie um die Erlaubniß bitten, meinen Dank wiederholen zu dürfen.«

»Dann aber werden Sie meine Einladung annehmen?«

»Ich verspreche es Ihnen.«

Jean nahm Abschied und verließ den Bäcker.

Dieser blieb noch an seiner Thür stehen, um die Leute vorüber gehen zu sehen und seinen Bekannten einen guten Morgen zu wünschen. Kaum war eine Viertelstunde vergangen, seitdem Jean ihn verlassen, so sah er zwei Gensd’armen zu Pferde die Straße herausgesprengt kommen, welche vor seinem Hause anhielten.

»Wie lange stehen Sie schon hier?« fragte ihn einer derselben.«

»Ohngefähr seit einer halben Stunde,« antwortete Simon, ohne begreifen zu können, warum zwei Gensd’armen ihre Pferde in Galopp gesetzt hatten, um ihm diese Frage vorzulegen.

»Haben Sie einen jungen Mann auf einem kleinen Pferde hier vorbeireiten sehen?«

»Von welcher Farbe soll das Pferd sein?«

»Ein Schimmel.«

»Und wissen Sie den Namen des jungen Mannes.«

Der Gensd’arm blickte auf ein Papier.

»Jean Raynal,« sagte er dann.

»Jean Raynal,« erwiderte der Bäcker; »mit dem habe ich vor zehn Minuten gesprochen«

»Er war also bei ihnen?«

»Ja.«

»In welcher Absicht denn?«

»Um sein Pferd abzugeben, welches seinem Oheim, dem Pfarrer in Lafou gehört.«

»Und Sie haben ihn fortgehen lassen?«

»Warum hätte ich ihn zurückhalten sollen?«

»Es ist wahr, Sie wußten nichts.«

Während dieses Gesprächs hatten sich einige Vorübergehende um die Gensd’armen gesammelt und hörten neugierig und aufmerksam zu.

»Hat Ihnen Herr Raynal gesagt, wohin er ging?«

»Ja, er wollte in den Gasthof gehen, um sein Gepäck abzuholen und um zehn Uhr mit der Diligence nach Beaucaire fahren.«

»Wissen Sie das gewiß?«

»Ganz gewiß.«

»Um zehn Uhr, sagen Sie?«

»Ja wohl.«

»Es ist drei Viertel auf zehn Uhr, wir werden also noch Zeit genug kommen, wenn er nicht Etwas ahnet. Ich danke Ihnen.«

Mit diesen Worten gab der Gensd’arm seinem Pferde die Sporen.«

»Erlauben Sie,« sagte der Bäcker zu ihm, »eine Auskunft ist der andern werth. Was ist denn geschehen? ich interessire mich für den jungen Mann.«

»Wir haben nicht Zeit Ihnen dieses zu erzählen,« erwiderte der Gensd’arm,« indem er sich entfernte: »übrigens werden Sie es bald erfahren, Aber wenn Sie sich für den jungen Mann interessiren, so bedaure ich Sie, denn er hat eine schlimme Sache auf dem Halse.«

Die beiden Gensd’armen setzten ihre Pferde hierauf in Galopp und verschwanden auf der nach dem Bureau der Diligence führenden Straße, während die Weiber und Müssiggänger sich um Meister Simon drängten und Auskunft von ihm verlangten, da er die Ehre gehabt hatte, von den Gensd’armen ausgefragt zu werden.

Während dieser Zeit ging Jean, welcher keine Ahnung von dem hatte, was vorging, zu dem Correspondenten seines Hauses, empfing von demselben eine Tratte, die er sogleich nach Hause expedirte; dann lief er in den Gasthof, holte sein Gepäck und eilte hieraus nach dem Bureau der Diligence von Beaucaire.

Der Wagen war zum Abfahren bereit und die beiden Gensd’armen ließen sich die Pässe der Reisenden zeigen.

Jean nahm seinen Paß aus der Tasche und hielt ihn den Gensd’armen hin, um diese Formalität schnell zu beendigen.

»Sie sind also Herr Jean Raynal?«l fragte einer der Gensd’armen

»Ja wohl.«

»Der Neffe des Pfarrers Raynal in Lafou?«

»Das bin ich.

»Sie haben diese Nacht bei ihm gewohnt?«

»Ja.«

»Und wann sind Sie von Lafou fortgeritten?«

»Diesen Morgen um vier Uhr.«

»Ganz richtig. Folgen Sie uns, mein Herr.«

»Ich soll Ihnen folgen? Wohin denn?«

»Zum königlichen Procurator.«

»Aber meine Herren, ich muß abreisen. Ist mein Paß nicht in der Ordnung?«

»Von dem Passe ist nicht die Rede.«

»Von was denn?«

»Wir haben einen Vorführungsbefehl.«

»Einen Vorführungsbefehl?«

»Ja.«

»Gegen mich?«

»Gegen Sie.«

Jean sah die beiden Gensd’armen an; er glaubte, sie seien nicht bei Sinnen.

»Das ist nicht möglich,« sagte er.

»Sehen Sie.selbst.«

Zugleich hielt er ihm den Befehl vor die Augen.

»Das ist eine Verwechselung, meine Herren, ganz gewiß,« sagte Jean, indem er um sich blickte, um nicht allein die Gensd’armen, sondern auch die übrigen umstehenden Personen zu überzeugen, daß er das Opfer eines Irrthums sei. Die Ruhe des jungen Mannes machte die Gensd’armen zweifelhaft und sogar ängstlich; sie hatten in ihrem Leben viele Verbrecher gesehen und dadurch einen geübten Blick erhalten, und konnten daher nicht glauben, daß dieser junge Mann das Verbrechen begangen hatte, das man ihm Schuld gab.

»Steigen Sie ein, mein Herr,« rief der Schaffner, um die Gaffer zu entfernen, die sich schon im Hofe gesammelt hatten.

»Folgen Sie uns, mein Herr,« wiederholten die beiden Gensd’armen« indem sie Jean in die Mitte nahmen. »Wir sind nicht die Richter, wir müssen den erhaltenen Befehl ausführen. Der königliche Procurator wohnt ganz in der Nähe und wenn ein Irrthum stattfindet, wird er Sie sogleich wieder in Freiheit setzen.«

Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß die Gensd’armen fast immer mit der größten Würde, aber zugleich mit der größten Humanität ihre Pflicht thun. Ich glaube nicht« daß man jemals gesehen hat, daß ein Gensd’arm einen Angeklagten gemißhandelt hätte, wenn sich derselbe auch weigerte, ihm zu folgen, oder selbst wenn er sich Thätlichkeiten gegen ihn erlaubte.

»So kommen Sie,« erwiderte Jean voll Vertrauen, »denn auf meine Ehre, die Sache ist mir unerklärlich!«

»Wir glauben es,« versetzte der Gensd’arm, der ihn ausgefragt hatte, »denn wenn Sie etwas begangen hätten und Sie könnten eine solche Ruhe behalten, müßten Sie ein großer Bösewicht sein.«

Der andere Gensd’arm stimmte durch einen Blick der psychologischen Bemerkung seines Kameraden bei und alle Drei traten den Weg zu dem königlichen Procurator an.

Es versteht sich von selbst, daß die Straßenbuben ihnen nachliefen und daß die Bewohner der, wie alle Straßen von Nimes, sonst so ruhigen Straße an den Hausthüren standen und einander fragten, was der junge Mensch begangen haben müsse.

III.

Nach einigen Minuten wurde der Gefangene bei dem königlichen Procurator eingeführt. Eine weiße Halsbinde,.ein Ehrenlegionskreuz, ein Blick, welcher verschlagen sein soll, und eine feierliche Sprache sind die Kennzeichen aller königlichen Procuratoren und der von Nimes machte keine Ausnahme von seinen Kollegen.

»Ihr Vor- und Zuname?« fragte er den jungen Mann.

»Jean Raynal,« antwortete dieser.

»Woher kommen Sie?«,

»Zuerst von Paris, dann von Lyon.«

»Was hatten Sie in Lafou zu thun?«

»Meinem Oheim einen Brief meines Vaters zu überbringen.«

»Die beiden Brüder haben seit mehreren Jahren in Feindschaft gelebt?«-

»Seit zweiundzwanzig Jahren.«

»Und Sie beabsichtigten?«

»Eure Aussöhnung zwischen ihnen herbeizuführen.«

»Ganz recht,« sagte der Beamte, indem er ein Papier überblickte, welches das Protokoll einer Aussage zu sein schien. »Nun, mein Herr, Sie sind angeklagt, Ihren Oheim und die Frau, die er in seinem Dienste hatte, ermordet zu haben.«

»Ich?« erwiderte Jean lachend.

»O lachen Sie nicht,I denn die Sache ist höchst ernsthaft! Sie sind ferner angeklagt, Ihrem Oheim die Summe von zwölfhundert Franken entwendet zu haben, den Ertrag einer Sammlung, die er für die Armen seiner Gemeinde veranstaltet hat.«

»Herr Procurator,« erwiderte Jean, »was Sie mir da sagen, ist unmöglich, physisch unmöglich, und ich konnte mich nicht enthalten, zu lachen, weil ich nicht allein meinen Oheim und Toinette nicht ermordet habe, sondern weil ich weiß, daß sie sich in diesem Augenblicke so wohl befinden, wie Sie und ich.«

»Sie leugnen also diese That?«

»Zuerst leugne ich, daß ich der Thäter bin, und dann, ich wiederhole es Ihnen, leugne ich auch, daß sie begangen worden ist. Erlauben Sie mir, Ihnen eine Frage vorzulegen.«

»Sprechen Sie.«

»Wann soll mein Oheim und seine Haushälterin ermordet worden sein?«

»Diese Nacht.«

»Sie.sehen« Herr Procurator, daß dies ein Irrthum ist, da ich bei meinem Oheim übernachtet habe.«

»Eben deshalb wird Ihnen das Verbrechen zur Last gelegt.«

»Aber mein Herr, ich schwöre Ihnen, daß ich unschuldig bin und baß mein Oheim lebt und gesund ist. Ich habe gerade unter ihm geschlafen; wäre er ermordet worden, so hätte ich Geschrei oder sonst ein Geräusch vernommen, denn man kann nicht zwei Personen ermorden, ohne daß wenigstens Lärm im Hause entsteht.«

»Was soll ich Ihnen darauf sagen? Sie sind als der wahrscheinliche Thäter des Verbrechens denuncirt. Antworten Sie mir jetzt: wollen Sie mir die Papiere zeigen, die Sie bei sich haben?«

Jean zog seine Brieftasche hervor und übergab sie dem königlichen Procurator. Dieser untersuchte den Inhalt.

»Hier sind zwei Billets zu fünfhundert Franken und zehn Louisd’ors in ein Papier gewickelt,« sagte er.

»Nun?«

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Sie beschuldigt sind, Ihrem Oheim zwölfhundert Franken entwendet zu haben?«.

»Aber diese zwölfhundert Franken hier habe ich in Lyon gewonnen.«

»Wo denn?«

»In einem Spielhause,« antwortete Jean erröthend.

»Also Sie sind ein Spieler. In der That spricht Ihr Oheim in einem Briefe an Ihren Vater, den er ehe er zu Bette ging, geschrieben hat und der sich in unseren Händen befindet, von diesem Fehler. Er sagt Folgendes,« fuhr der Procurator, indem er ein Papier aus den vor ihm liegenden Acten nahm: »Jean spielte rathe ihm davon ab und lies ihm die Moral. Das Spiel ist eine Leidenschaft, welche zu allen Verbrechen führen kann.« — Ihr Oheim hat sich leider nicht geirrt!«

»Sie glauben also, daß ich der Urheber dieses schändlichen Verbrechens bin?«

»Es ist mir nicht erlaubt, eine Meinung darüber zu haben, aber ich sage, daß leider die schwersten Verdachtsgründe gegen Sie vorhanden sind. Die zweiundzwanzigjährige Feindschaft zwischen den beiden Brüdern, Ihr unerwarteter Besuch, der Mord, der nur durch einen Menschen begangen sein kann, der im Hause gewesen ist, da nirgends ein Einbruch von außen zu bemerken ist, die entwendete Summe von zwölfhundert Franken und eine gleiche Summe, die Sie bei sich haben, Ihre beabsichtigte Abreise von Nimes mit der ersten abgehenden Diligence, welche die größte Aehnlichkeit mit einer Flucht hat; dies Alles ist höchst verdächtigt.«

»Aber es ist entsetzlich, Heer Procurator,« rief Jean, indem er vernichtet aus einen Stuhl sank, »daß so viele Verdachtsgründe sich gegen einen Unschuldigen vereinigen können, denn ich schwöre es Ihnen bei Allem, was heilig ist, daß ich dies bin!«

Indem der junge Mann dies sagte, bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen, denn er lachte nicht mehr und konnte seine Thränen nicht zurückhalten.

»Aber das ist noch sonderbarer,« sagte der Procurator, indem er sich vorbeugte und einen Arm des Angeklagten mit ganz besonderer Aufmerksamkeit betrachtete, »kommen Sie doch näher.«

Jean näherte sich ihm, ohne zu begreifen, was er von ihm wollte.

»Geben Sie mir Ihren rechten Arm.«

Jean that es.

»Es ist Blut aus Ihrem rechten Aermel,« sagte der Beamte.

»Blut?«

»Hier sehen Sie.«

In der That sah man große Blutstropfen auf dem Aermel von Jean’s Oberrocke, die, obgleich jetzt getrocknet doch offenbar neu waren.

»Können Sie dagegen etwas einwenden?« fuhr der Procurator fort, durch diesen letzten Beweis vollkommen ueberzeugt, daß er den wirklichen Mörder des Pfarrers vor sich habe, der sich durch den zuverlässigen Ton der vollkommensten Unschuld, mit dem er leugnete, als ein um so größerer Bösewicht zeigte.

»Blut?« wiederholte Jean; »wissen Sie auch gewiß, daß es Blut ist, was Sie hier sehen? Ich sehe nichts mehr, Herr Procurator; die Sinne vergehen mir, es ist mir, als wollte es mir den Kopf zersprengen!. . . Blut!. . . mein Gott! wie ist das Blut hierher gekommen?. . . das ist ja entsetzlich!«

»Es ist gut,« erwiderte der Procurator, indem er sich wieder niedersetzte und in einem Tone, der nicht die geringste Theilnahme mehr verrieth; »ich will mein Protocoll machen, dann werden wir zur Confrontation schreiten.

»Zur Confrontation?« wiederholte Jean mechanisch.

»Ja, Sie müssen mit den beiden Leichnamen confrontirt werden.«

»Mein Oheim und Toinette sind also wirklich todt?«

»Nun, das wissen Sie doch?«

»Ich träume also nicht? fuhr der junge Mann fort, indem er um sich blickte; »ich bin wirklich angeklagt, zwei Menschen ermordet zu haben, ich, ich, Jean Raynal, der eben noch im Begriffe war, fröhlich und heiter abzureisen, der vor zwei Stunden noch ruhig schlief! und ich habe Blut an meinem Rocke!. . . und dies Alles ist wirklich wahr!. . . Darüber könnte man wahnsinnig werden, Herr Procurator« oder auf der Stelle des Todes sein!«

»Schon gut, schon gut,« erwiderte der Beamte, der immer fester von der Schuld des jungen Mannes überzeugt wurde; »das ist jetzt Sache der Justiz.«

»Und wozu soll diese Confrontation mit den Leichnamen nützen?«

»Die Justiz hofft, daß der Anblick der Schlachtopfer einen solchen Eindruck auf den Verbrecher machen wird, daß er eingesteht.«

»Aber es wird mir wohl erlaubt sein, den Leichnam noch einmal zu umarmen?«

»Sie wollen ihn umarmen?«

»Nun ja, meinen guten Oheim, der mich schon so lieb hatte, der so gut gegen mich war, der mich bei sich behalten wollte, und den ein Bösewicht nebst der guten alten Frau schändlicher Weise ermordet hat, um ihm eine elende Summe von zwölfhundert Franken zu rauben?. . . Warum hat man mich nicht ermordet?. . . Was wird mein Vater, was wird meine Mutter sagen, wenn sie den Tod des Bruders erfahren, wenn sie erfahren, daß ihr Sohn verhaftet und dieses entsetzlichen Verbrechens angeklagt ist!«

Heiße Thränen entströmten den Auen des jungen Mannes; Er war so fest überzeugt, daß Jedermann von seiner Unschuld überzeugt sein und daß er bei Jedem Theilnahme finden müsse, daß er, das Bedürfniß fühlend, seinen Schmerz in den Busen irgend eines Menschen auszugießen, den Kopf auf die Schulter des königlichen Procurators legte, der von seinem Sitze aufgestanden war.

Dieser stieß ihn sanft zurück. So sehr er auch an Scenen dieser Art gewöhnt war, so konnte er sich doch einer gewissen Rührung nicht erwehren.

»Dieser Mensch ist kein Mörder,« sagte der eine der beiden Gensd’armen« welche mit dem Gefangenen in das Kabinet des königlichen Procurators gekommen und an der Thür stehen geblieben waren, leise zu seinem Kameraden. »Wenn ich der königliche Procurator wäre, so würde ich es ohne Weiteres auf meine Gefahr nehmen und ihn entlassen.«

»O, o! erwiderte der Andere, was bedeutete: »Das wäre doch viel gewagt.«

»Besorgen Sie einen Wagen, Gensd’armen,« sagte der Procurator, und entfernen Sie die Menschen, die sich unten versammelt haben werden.«

»Ich danke Ihnen dafür,« sagte Jean.

Bald darauf stieg der angebliche Mörder und der königliche Procurator, sowie der Instructionsrichter und der Polizeicommissair, die man eingeladen hatte, in den herbeigeholten Wagen, welcher die Straße nach Lafou einschlug.

Bei der Ankunft in dem Dorfe sprach Jedermann nur von dem in der Nacht begangenen entsetzlichen Verbrechen.

Man hatte den Weg fast schweigend zurückgelegt. Was geschah, war für Jean so unerhört, so überraschend, so betäubend, daß er endlich vergaß, wohin er sich begab, daß sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, das was er bis zum heutigen Morgen gethan, mit dem, was er hatte thun wollen, in seinem Kopfe unter einander wirrte, so daß er auf der Straße nach Beaucaire zu fahren glaubte, daß er nicht mehr daran dachte, welches gräßlichen Verbrechens er beschuldigt wurde und daß er in Begleitung von zwei Gensd’armen und drei Gerichtspersonen reiste.

Er mußte sich auch wirklich einen Augenblick besinnen, ehe er sich die Bewegung erklären konnte, welche in dem Dorfe herrschte, das bei seiner Abreise an diesem Morgen so ruhig und friedlich gewesen war.

»Da kommt er! Der ist’s!« sagte eine Stimme aus dem vor der Thür des Pfarrhauses, welche von dem Feldhüter und zwei Gensd’armen besetzt war, versammelten Volke.

Jean blickte auf und erkannte den Bauer, den er gestern Abend nach der Wohnung seines Oheims gefragt hatte.

Dieser Mann suchte jetzt eine besondere Ehre darin, in der Untersuchung als Zeuge aufgerufen zu werden. Es giebt Menschen, welche ihrer Person eine Wichtigkeit zu geben glauben, wenn sie in einem Drama, wie das von dem wir sprechen, eine Rolle spielen können, sei sie auch noch so unbedeutend. Sie wollen öffentlich sprechen, sie wollen einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sie wollen einige Tage ein Gegenstand der Neugierde für die alten Weiber ihres Stadtviertels und für die Portiers ihrer Straße sein. Was sie sagen werden, wissen sie in der Regel noch nicht, was sie gesagt haben, wissen sie nicht mehr, aber ihr Zweck ist erreicht und besonders denken sie nicht daran, wie schwer ihre Aussage« so unbedeutend sie auch sein möge, in der Wage der Gerechtigkeit wiegt und wie sehr ihre kleinliche Eitelkeit oft die Lage eines Verbrechers verschlimmern, oder, >was noch viel trauriger ist, zu der Verurtheilung eines Unschuldigen beitragen kann.

Der königliche Procurator, der Instructionsrichter, der Polizeicommissair und Jean Raynal traten in das Pfarrhaus.

Wie viele von den draußen Stehenden wünschten mit ihnen gehen zu können!

»Erkennen Sie die Oertlichkeit?« fragte der Instructionsrichter den Angeklagten.

»Ja,« antwortete Jean mit Ruhe« denn je mehr er nachdachte, desto unmöglich, schien es ihm, daß seine Unschuld nicht selbst den Verblendetsten und den Böswilligsten, diesen freiwillig Verblendeten, in die Augen springen mußte.

»Schreiben Sie Alles nieder, was Sie hören werden,« sagte der Instructionsrichter zu dem Polizeicommissair; dann wandte er sich wieder mit den Worten an Jean:

« »Er zählen Sie uns Alles, was gestern seit dem Augenblicke Ihrer Ankunft in diesem Hause, bis Sie es wieder verlassen haben, geschehen ist.«

Jean erzählte offen und wahrheitsgetreu Alles, was wir schon wissen und der Polizeicommissair brachte seine ganze Erzählung zu Protokoll, ohne etwas daran zu ändern.

»Jetzt wollen wir hinauf gehen,« sagte der Instructionsrichter, indem er das Gesicht des Angeklagten genau beobachtete, um zu sehen, welchen Eindruck es auf ihn machte, daß er seinen Schlachtopfern gegenüber gestellt werden sollte. Aber die Züge des jungen Mannes zeigten keinen Ausdruck von Furcht, wie der Beamte erwartet hatte, sondern einen Ausdruck von Mitleid und Rührung.«

»Mein armer Oheim!« sagte er, sich die Thränen trocknend, und folgte dann dem königlichen Procurator, der vorausgegangen war.

Die drei Gerichtspersonen und Jean traten nebst einem Arzte, den man herbeigerufen hatte, in das Schlafzimmer des Pfarrers, wo ein gräßliches Schauspiel sie erwartete.

Der Pfarrer lag im Hemd auf dem Fußboden, mitten in einer großen Blutlache; sein Kopf und seine Brust waren von Messerstichen ganz zerhackt. Ob er nach der Ermordung aus dem Bett gezogen worden, ob er während des Kampfes mit dem Mörder herausgefallen war, dies konnte Niemand sagen, als der Mörder, und der Mörder war gewiß nicht da.

»Der Tod scheint augenblicklich erfolgt zu sein,« bemerkte der Arzt, nachdem er den Leichnam betrachtet hatte; »diese Wunde,« sagte er, auf einen Stich in der Gegend des Herzens zeigend, »ist ihm ohne Zweifel zuerst beigebracht worden und hat ihn getödtet; die übrigen wären nicht nöthig gewesen und der Mörder hat sie nur noch zu größerer Sicherheit oder aus einem Uebermaße von Barbarei hinzugefügt.«