Drei Weihnachtsgeschichten - Charles Dickens - E-Book

Drei Weihnachtsgeschichten E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Dieses Buch vereint die Geschichten "Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste", "Die Silvesterglocken" und "Auf der Walstatt des Lebens". Es sind phantastische Geschichten, die sich besonders für eine Lektüre zur Weihnachtszeit eignen.

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DREI

WEIHNACHTSGESCHICHTEN

VON

 

CHARLES DICKENS

 

ÜBERSETZT VON

GUSTAV MEYRINK

 

 

 

 

 

 

SKRIPTART EDITION 

 

 

 

 

 

Buchgestaltung: SKRIPTART

 

www.skriptart.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

© SKRIPTART 2018

 

 

 

 

ISBN 9783748141716

 

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

DREI WEIHNACHTSGESCHICHTEN

Impressum

Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Die Silvesterglocken

Erstes Viertel

Zweites Viertel

Drittes Viertel

Viertes Viertel

Auf der Walstatt des Lebens

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

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Links für AutorInnen und LeserInnen

 

 

 

Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste

Eine phantastische Weihnachtsgeschichte

Erstes Kapitel

Die Gabe

 

 

Jeder sagte es.

Es sei fern von mir, zu behaupten, daß richtig sein müsse, was »jeder« sagt.

Was »jeder« sagt, kann ebensogut falsch sein.

Es ist kein Verlaß auf solche Autorität. Sehr oft hat man schrecklich lang gebraucht, um das einzusehen.

Was »jeder« behauptet, kann zuweilen richtig sein, aber Regel ist es nicht, wie der Geist des Giles Scroggins in der Ballade sagt.

Ja richtig: »Geist«; das bringt mich wieder auf meine Geschichte.

Also jeder sagte, er sähe aus wie ein Behexter. Das stimmt: Er sah wirklich so aus.

Hohle Wangen, eingesunkene funkelnde Augen, ebenmäßig gewachsen zwar, aber immer schwarz gekleidet und immer mürrisch. Die grauen Haare wirr ins Gesicht hängend wie Seegras. Wie eine Klippe sah er aus, an der die Wogen branden aus der Tiefe der Menschheit.

Wer hätte sein Wesen beobachten können, seine seltsame verschlossene Art, düster und immer in Gedanken verloren, stets im Geiste in einer vergangenen Zeit und an fremdem Ort, unablässig in sein Inneres horchend, als ertöne da ein geheimnisvolles Echo – ohne sagen zu müssen, er ist behext?

Wer ihn sah in seinem Studierzimmer – halb Bibliothek, halb Laboratorium – er war ein weltberühmter Gelehrter und Chemiker, und täglich hingen Hunderte an seinen Lippen –, wer ihn dort sah in einsamer Winternacht – unbeweglich, umgeben von seinen Giften und Instrumenten und Büchern, wenn der Schatten seiner Schirmlampe wie ein riesiger Käfer an der Wand hockte und der flackernde Schein des Feuers gespenstische Gestalten malte auf die Wandungen der fremdartigen, seltsam aussehenden Phiolen, der fühlte, der Mann ist behext und das Zimmer dazu.

Wenn dann die Phantome sich in der Flüssigkeit der Gläser spiegelten und zitterten wie Dinge, die wohl wußten, daß er die Macht besaß, sie in ihre Bestandteile aufzulösen und in Feuer und Dampf davonfliegen zu lassen, wenn er dann wieder grübelnd in seinem Stuhle saß vor den roten Flammen in dem rostigen Kamin und flüsternd die dünnen Lippen bewegte, da konnte es einen wohl beschleichen, als werde alles ringsum zu Spuk – als stünde man auf behextem Grund.

Und wie er seine Stimme niederhielt in langsamer Rede und ihren natürlichen Wohlklang erstickte! Wer hätte da nicht gesagt, es ist die Stimme eines Verwunschenen?!

Sein Wohnhaus war so einsam und gruftartig – ein alter abgelegener Teil eines ehemaligen Stifts für Studenten, einstens ein braves Gebäude auf freiem Platze, jetzt nur noch die veraltete Grille eines vergessenen Architekten, von Alter, Rauch und Wetter gebräunt. Auf allen Seiten eingeklemmt von der alles überwuchernden Stadt und wie ein alter Brunnen erstickt von Steinen und Ziegeln. Die kleinen Höfe lagen tief unten in wahren Schlünden von Straßen und Häusern, die im Laufe der Zeiten emporgewachsen waren und seine schwerfälligen Schornsteine überragten. Die altgewordenen Bäume plagte schwer der Rauch der benachbarten Essen, wenn er sich schwarz und schwer herabsenkte bei trübem Wetter, und die Grasflecken kämpften hart um ihr Leben unter dem Mehltau der unfruchtbaren Erde. Das verödete Pflaster hatte den Tritt der menschlichen Füße vergessen und war den Blick von Augen nicht mehr gewöhnt, außer es sah einmal ein vereinzeltes Gesicht aus der obern Welt herunter, verwundert, was für ein seltsamer Winkel das wohl sei. Eine Sonnenuhr stand eingezwängt in einer halbvermauerten Ecke, wohin sich Hunderte von Jahren kein Lichtstrahl mehr verirrt, wo als Ersatz für die Sonne wochenlang der Schnee noch lag, wenn er überall längst verschwunden war, und wo sich wie ein gewaltiger Brummkreisel der Ostwind drehte, wenn er sonst an allen Plätzen schwieg.

Die Stube in des Gebäudes innerstem Herzen war so duster und alt, so verfallen und doch so fest mit ihrem wurmstichigen Gebälk in der Decke, mit der derben Holzverkleidung, die sich von der Tür herabsenkte bis zu dem Kaminstück aus Eichenholz. Mitten im umarmenden Drucke der Großstadt und doch so weit weg von Mode, Zeit und Sitte; so ruhig und doch so reich an hallenden Echos, wenn sich eine ferne Stimme erhob oder Türen ins Schloß fielen – Echos, die nicht bloß in den vielen niedern Gängen und leeren Räumen wohnten, sondern fortmurrten und knurrten, bis sie in der dicken Atmosphäre der vergessenen Krypta erstickten, deren normannische Bogen halb in der Erde staken.

Ihr hättet ihn nur sehen sollen zur Dämmerstunde im tiefen Winter. In der toten Winterszeit, wenn schrill und schneidend der Wind der Sonne ein Abschiedslied singt und ihr Bild schimmernd durch den Nebel taucht. Wenn es eben noch so halbdunkel ist, daß die Formen der Dinge zu verschwimmen beginnen und anschwellen und doch noch nicht ganz verschwinden. Wenn die Menschen am Kamin sitzen, wilde Gesichter und Gestalten, Berge und Abgründe, Wegelagerer und Heere in der Kohlenglut zu sehen beginnen – – die Leute auf den Straßen die Köpfe senken und vor dem Wetter herlaufen und die, die entgegenkommen, an den sturmumtosten Ecken haltmachen, geblendet von den irrenden Schneeflocken, die sich ihnen an die Augenwimpern heften und spärlich fallen und zu rasch, als daß von ihnen auf dem gefrorenen Boden eine Spur bliebe, wieder verwehen. Wenn die Fenster der Häuser sorgsam und luftdicht verschlossen werden und die Gaslaternen in den lauten und den ruhigen Straßen aufleuchten und es schnell finster wird, wo sie fehlen. Wenn vereinzelte Fußgänger zitternd durch die Straßen eilen, auf die in den Küchen glühenden Feuer hinunterstarren, während ihnen das Wasser im Munde zusammenläuft bei dem Speisenduft, der meilenweit die Luft durchströmt.

Wenn Reisende auf dem Lande bitterlich frierend, verdrießlich auf die düstere Landschaft hinblicken, die im Sturmwind zittert und bebt, Seeleute, an vereisten Rahen hängend, hoch über der tosenden See hin und her geschleudert werden und die Leuchttürme auf Felsen und Vorgebirgen wachsam aufflammen, daß die von der Nacht überraschten Vögel mit der Brust gegen die schweren Laternen fliegen und tot niederfallen. Wenn die kleinen Märchenleser beim Ofen zitternd an Cassim Baba denken, wie er gevierteilt in der Räuberhöhle hing, oder eine unklare Furcht nahen fühlen, die schreckliche Alte mit dem Krückstock, die immer im Schlafzimmer des Kaufmanns Abdullah aus der Kiste sprang, könne ihnen in einer dieser Nächte auf der Treppe begegnen auf der langen kalten dunklen Reise ins Bett.

Wenn auf dem Lande das letzte Glimmern des Tages erstirbt in den Enden der Alleen und die Gipfel der Bäume in trübem Schwarz verschwimmen. Wenn in Park und Forst das nasse hohe Farnkraut und dickes Moos und die Schichten gefallener Blätter und die Baumstümpfe sich in undurchdringlichen Schattenmassen verstecken – Nebel aufsteigen aus Graben, Moor und Fluß und fröhlich die Lichter glänzen in den alten Hallen und an den Fenstern der Bauernhäuser.

Wenn die Mühle feiert, Stellmacher und Grobschmied die Werkstatt schließen, der Schlagbaum rastet, Pflug und Egge einsam schlafen auf dem Felde, wenn abends die Kirchturmuhr dumpfer schlägt als mittags und für die Nacht das Kirchturmpförtchen versperrt steht! –

Ihr hättet ihn sehen sollen, als die Dämmerung allerorten die Schatten befreite, die den ganzen langen Tag über eingekerkert gewesen waren und die sich jetzt zusammenschlossen und zusammendrängten gleich Scharen sich sammelnder Gespenster, sich in die Zimmerecken duckten und hinter halboffenen Türen hervorstierten; als sie dann vollen Besitz ergriffen von all den leeren Räumen des Hauses und in den Wohnstuben über Decke, Wände und Fußboden tanzten, wenn das Feuer ersterben wollte, und wie ebbende Wellen zurückfuhren, loderte es wieder auf. Wie sie phantastisch die Formen vertrauter Geräte nachäfften, aus der Amme eine Kinderfresserin machten, das Schaukelpferd in ein Ungeheuer verwandelten und das erregte Kind bald in Schrecken versetzten, bald ihm groteske Späße vormachten, bis es sich selbst wie etwas ganz Fremdes vorkam. Nicht einmal die Feuerzange in Ruhe ließen – aus ihr einen spreizbeinigen Riesen mit eingestemmten Armen machten, der bestimmt nach Menschenblut roch und nur darauf wartete, den Leuten die Knochen zu Mehl und Brot zu zerreiben.

Ihr hättet ihn nur sehen sollen um die gewisse Zeit, wo den alten Leuten diese Schatten ungewohnte Gedanken wachriefen und ihnen fremde Bilder zeigten, wo sie aus ihren Schlupfwinkeln hervorschlichen, angetan mit den Konterfeis vergangener Gesichter und Gestalten, vom Grabe her, aus dem tiefen Abgrund kommend, darinnen die Dinge umherirrten, darinnen sie sind und doch nicht sind. Hättet ihn nur sehen sollen, als er so dasaß und in das Feuer starrte, während mit dem Steigen und Sinken der Glut die Schatten kamen und gingen.

Wie er sie nicht beachtete mit seinem leiblichen Auge und immer nur ins Feuer starrte, mochten sie nun kommen oder gehen.

Verwehte Klänge drangen hervor aus ihrem Versteck auf des Zwielichts Ruf und machten die Stille ringsum nur noch tiefer. Der Wind rumorte im Schornstein und stöhnte und heulte im Hause umher. Er schüttelte draußen die alten Bäume, daß die grämliche Krähe, im Schlafe gestört, mit schwachem, verträumtem Krah Krah aus den Wipfeln herunterschimpfte. Zuzeiten erzitterten die Fenster, die verrostete Wetterfahne auf dem Turmdach ächzte, und die Uhr darunter verkündete, daß wieder eine Viertelstunde verflossen war.

Das Feuer sank zusammen, und prasselnd fielen die Scheite übereinander.

Da klopfte jemand an die Türe, und er fuhr aus seinem Grübeln auf. »Wer ist da?« fragte er. »Herein!«

Bestimmt hatte keine Gestalt hinter seinem Stuhle gestanden, kein Gesicht auf ihn herabgeblickt. Bestimmt berührte kein gleitender Tritt den Fußboden, als er aufschreckend das Haupt erhob und sprach.

Es war kein Spiegel im Zimmer, auf den seine eigene Gestalt auch nur einen Augenblick hätte fallen können, und doch war etwas vorübergedunkelt und verschwunden.

»Ich bitte ergebenst um Verzeihung, Sir«, sagte ein rotbäckiges zappliges Männchen, das mit einem Tablett hereinkam, die Türe vorsichtig mit dem Fuße haltend, damit sie nicht geräuschvoll zufalle, »wenn es heute abend ein bißchen spät geworden ist, aber Mrs. William ist so umgeworfen worden – –«

»Vom Wind? Ja, ich habe ihn heulen hören.«

»Vom Wind, Sir – es ist ein wahres Glück, daß sie überhaupt nach Hause gefunden hat. O du liebe Zeit, ja. Vom Wind, Mr. Redlaw. Ja ja, vom Wind.«

Das Männchen hatte unterdessen das Servierbrett hingesetzt und begann die Lampe anzuzünden und den Tisch zu decken. Augenblicklich ließ es aber wieder davon ab, um zum Feuer zu laufen, zu schüren und nachzulegen. Dann nahm es seine frühere Beschäftigung wieder auf. Die brennende Lampe und das aufflackernde Feuer gaben dem Zimmer so rasch ein anderes Aussehen, daß der bloße Eintritt dieses frischen roten Gesichtes die angenehme Veränderung bewirkt zu haben schien.

»Mrs. William ist natürlich zu jeder Zeit der Möglichkeit ausgesetzt, von den Elementen aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Sie ist ihnen nicht gewachsen.«

»Nein«, sagte Mr. Redlaw freundlich, aber kurz.

»Nein, Sir, Mrs. William kann durch Erde aus dem Gleichgewicht gebracht werden, wie zum Beispiel am Sonntag vor acht Tagen, wo es so naß und schlüpfrig war und sie mit ihrer neuesten Schwägerin zum Tee ging; sie war gerade so schön stolz auf sich und fleckenlos, trotzdem sie zu Fuß ging. Mrs. William kann durch Luft aus dem Gleichgewicht kommen, wie damals auf dem Peckhamer Jahrmarkt, wo sie sich überreden ließ, einmal eine Schaukel zu versuchen, was auf ihre Konstitution wirkte wie ein Dampfboot. Mrs. William kann durch Feuer das Gleichgewicht verlieren, wie damals bei ihrer Mutter, als der blinde Feueralarm war und sie eine halbe Stunde Wegs in der Nachtmütze zurücklegte. Mrs. William kann durch Wasser aus dem Gleichgewicht kommen, wie neulich in Battersea, wo sie sich von ihrem zwölfjährigen Neffen Charley Swidger junior, der keine Ahnung vom Rudern hat, in den Hafen rudern ließ. Aber das sind eben die Elemente. Mrs. William muß den Elementen entrückt sein, soll ihr Charakter zur Geltung kommen.«

Als er innehielt und eine Antwort erwartete, ertönte ein »Ja«, genau wie vorhin.

»Ja, Sir, o du liebe Zeit, ja«, sagte Swidger, immer noch den Tisch deckend und jedes einzelne Stück beim Namen nennend, das er hinsetzte. »Ja ja, so ist's, Sir. Viele, viele Swidgers sind wir. – Pfeffer! Da ist zuvörderst mein Vater, Sir, pensionierter Kastellan und Kustos des Stifts, siebenundachtzig Jahre alt. Er ist ein Swidger! – Löffel.«

»Jawohl, William«, war die ruhige und zerstreute Antwort, als der Diener wieder innehielt.

»Ja, Sir«, sagte Mr. Swidger. »Das sage ich auch immer, Sir. Man kann ihn den Stamm des Baumes nennen! – Brot. Dann kommen, der nächste, nämlich meine Wenigkeit – Salz –, und Mrs, William: beide Swidgers. – Messer und Gabel! Dann kommen alle meine Brüder und deren Familien, lauter Swidgers, Mann und Frau, Knaben und Mädchen. Na, und wenn man dann all die Vettern und Onkel, Tanten und Verwandten in diesen und jenen und andern Graden und was weiß ich für Graden noch und all die Hochzeiten und Entbindungen mitrechnet, dann könnten die Swidgers – Weinglas – eine Kette um ganz England bilden, wenn sie sich die Hände reichten.«

Da gar keine Antwort erfolgte, trat William an den in Gedanken Versunkenen näher heran und stieß wie zufällig mit einer Karaffe an den Tisch, um ihn aus seinem Brüten zu erwecken. Als ihm dies gelungen, fuhr er eilfertig fort zu reden, genau als habe er eine Antwort erhalten.

»Ja, Sir! Genau das sage ich selber auch immer. Mrs. William und ich haben das schon oft gesagt. Swidgers gibt's schon genug, sagen wir. Da brauchen wir gar nicht mehr mitzutun. – Butter. – Ja, Sir, mein Vater ist schon an und für sich eine Familie – Plate de Menage –, für die zu sorgen ist; und eigentlich ist es recht gut, daß wir selber keine Kinder haben, wenn auch Mrs. William dadurch ein bißchen still geworden ist. Bitte, halten Sie sich bereit für das Huhn mit Kartoffeln, Sir, Mrs. William sagte, sie wolle in zehn Minuten auftragen.«

»Ich bin bereit«, sagte der andere wie aus einem Traum erwachend und ging langsam auf und ab.

»Mrs. William war wieder an der Arbeit, Sir«, sagte der Diener und wärmte einen Teller am Kamin, sich neckisch das Gesicht damit beschattend. Mr. Redlaw blieb stehen, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck von Teilnahme an.

»Ich sag's, wie's ist, Sir. Sie muß es tun! Mrs. William hegt Muttergefühle in ihrer Brust, und sie muß sich Luft machen.«

»Was hat sie denn getan?«

»Ja, Sir, nicht zufrieden, all die jungen Herren zu bemuttern, die aus allen möglichen Gegenden herbeiströmen, um Ihre Vorlesungen in dem alten Stift zu hören – – – – merkwürdig, wie bei diesem kalten Wetter das Porzellan schnell die Hitze annimmt. Eigentümlich.« Er drehte den Teller um und blies sich auf die Finger.

»Nun?« sagte Mr. Redlaw.

»Sehen Sie, das sage ich auch immer, Sir«, entgegnete Mr. William über die Schulter hin und als ob er voll Bereitwilligkeit und Entzücken irgendeinem Urteil zustimmen wollte. »Genauso und nicht anders, Sir. Alle Studenten ohne Ausnahme sieht Mrs. William offenbar mit den Augen einer Mutter an. Jeden Tag, den ganzen Kursus hindurch, steckt einer nach dem andern den Kopf zur Tür herein, und jeder hat ihr etwas zu sagen oder sie etwas zu fragen. ›Swidge‹ oder ›Bridge‹ nennen sie Mrs. William, wenn sie unter sich sind. Wenigstens hat man mir das erzählt. Aber das sage ich immer, Sir, besser anders genannt werden, wenn auch noch so falsch – wenn's nur in wirklicher Liebe geschieht –, als mit großtuerischen Phrasen betitelt zu werden und dabei doch bei niemand gut angeschrieben zu sein! Wozu ist denn ein Name da? Damit man eine Person daran erkennt. Wenn Mrs. William eines Besseren als ihres Namens wegen geschätzt wird – ich meine Mrs. Williams Eigenschaften und Gemütsart –, so kommt's nicht auf ihren Namen an, wenn er auch von Rechts wegen Swidger ist. Sollen sie sie ruhig ›Zwitscher‹ nennen, oder Kitsch oder Bridge, oder wie sie sonst mögen. Meinetwegen London Bridge, Blackfriars-, Chelsea-, Putney-, Waterloo- oder Hammersmith- ›Bridge‹!«

Gleichzeitig mit dem Schluß dieser glänzenden Rede kam er mit dem Teller zum Tisch und ließ ihn mit einer lebhaften Geste, als sei das Porzellan glühend heiß, halb fallen, halb stellte er ihn hin. In demselben Augenblick trat der Gegenstand seiner Lobeshymne mit einem Tablett und einer Laterne bewaffnet herein, von einem würdigen Greis mit langem, grauem Haar begleitet. Mrs. William war wie Mr. William eine schlichte Person von unschuldsvollem Äußerem, auf deren glatten Backen sich das heitere Rot der Bedientenweste ihres Gatten lieblich wiederholte. Aber während Mr. Williams blonder Schopf ihm auf dem ganzen Kopfe zu Berge stand und sogar seine Augenbrauen in einem Übermaß geschäftlicher Bereitwilligkeit mit sich in die Höhe zu ziehen schien, war das dunkelbraune Haar von Mrs. William sorgsam glatt gekämmt und floß unter einer schmucken knappen Haube in der bescheidensten Weise, die man sich nur denken konnte, zusammen. Während selbst Mr. Williams Hosen sich an den Knöcheln emporkrempelten, als liege es nicht in ihrer stahlgrauen Art, sich ruhig zu verhalten, ohne umherzuschauen, war Mrs. Williams niedlich geblümtes Kleid – rot und weiß, wie ihr eigenes hübsches Gesichtchen – so nett und ordentlich, als könnte selbst der Wind, der draußen so wild brauste, nicht eine ihrer Falten aus der Fassung bringen. Während sein Rock um Brust und Schultern hing, als ob er halb und halb gesonnen sei, jeden Augenblick davonzufliegen, war ihr Leibchen so glatt und nett, daß es gewiß auch von dem Rauhesten Schutz erzwungen hätte, hätte sie dessen bedurft. Wer konnte das Herz haben, einen so ruhigen Busen vor Gram anschwellen, vor Furcht erzittern oder gar in Scham erbeben zu machen, oder hätte seine Ruhe und seinen Frieden nicht beschirmt gegen jede Störung und behütet wie den unschuldigen Schlummer eines Kindes!

»Pünktlich natürlich, Milly«, sagte ihr Gatte und nahm ihr das Tablett ab, »oder du wärst nicht du. Hier ist Mrs. William, Sir! – Er sieht heute einsamer aus als je«, flüsterte er seiner Frau zu, »und womöglich noch geisterhafter als sonst.«

Ohne die geringste Hast an den Tag zu legen, ohne eine Spur von Lärm, ja, ohne daß man von ihr selbst irgend etwas merkte – so sanft und ruhig ging ihr alles von der Hand –, setzte Milly die Gerichte, die sie gebracht hatte, auf den Tisch. Mr. William hatte schließlich nach vielem Herumklappern und Herumlaufen nichts weiter als eine Schüssel mit Bouillon erwischt, die er nun dienstbereit servierte.

»Was hält der Alte dort im Arm?« fragte Mr. Redlaw, als er sich zu seinem einsamen Mahl hinsetzte.

»Stechpalme, Sir«, antwortete Millys ruhige Stimme.

»Ich sage immer«, fiel Mr. William ein und reichte die Schüssel hin, »Beeren passen so gut zur Jahreszeit! – Braune Sauce?«

»Wieder ein Weihnachten da, wieder ein Jahr vorbei!« murmelte der Chemiker mit einem trüben Seufzer. »Immer mehr Ziffern in der immer länger werdenden Summe der Erinnerungen, die wir zu unserer Qual beständig nachrechnen, bis der Tod alles untereinanderwirft und wegwischt! Philipp!« sagte er abbrechend und erhob die Stimme, als er den Alten anredete, der im Hintergrunde stand, auf dem Arm das glänzende dunkelgrüne Laub, aus dem Mrs. William ruhevoll kleine Zweige abbrach, sie geräuschlos mit der Schere beschnitt und damit das Zimmer ausschmückte, indes ihr alter Schwiegervater der Zeremonie mit großem Interesse zusah.

»Gehorsamster Diener, Sir«, sagte der Alte. »Hätte schon längst etwas gesagt, Sir, aber ich kenne Ihre Art, Mr. Redlaw. Bin stolz darauf – warte, bis man mich anredet! Fröhliche Weihnachten, Sir, und glückliches Neues Jahr – möge es noch recht, recht oft wiederkehren. Habe selbst eine hübsche Anzahl davon erlebt, ha ha! – und darf mir die Freiheit nehmen, es auch andern zu wünschen. Bin siebenundachtzig!«

»Haben Sie viele erlebt, die fröhlich und glücklich waren?« fragte der andere.

»Ja, Sir, sehr viele«, entgegnete der Alte.

»Hat sein Gedächtnis vom Alter gelitten? Es wäre zu erwarten«, sagte Mr. Redlaw leise zum Sohn gewendet.

»Nicht die Spur, Sir«, erwiderte Mr. William. »Ich sag' es immer, Sir. So ein Gedächtnis, wie mein Vater eins hat, war überhaupt noch nicht da. Er ist der wunderbarste Mensch von der Welt. Er weiß überhaupt nicht, was Vergessen ist. Und das sag' ich auch immer zu Mrs. William, Sir, Sie können's mir glauben.«

In seinem Bestreben, um jeden Preis den Eindruck des Beistimmens zu erwecken, brachte Mr. Swidger diese Rede vor, als sei kein Jota von Widerspruch darin.

Der Chemiker schob den Teller zurück, stand vom Tische auf und ging nach der Tür, wo der Alte stand und einen kleinen Zweig Stechpalme, den er in der Hand hielt, betrachtete.

»Es erinnert Sie an die Zeit, wo viele dieser Jahre alt und neu waren!?« sagte er, indem er ihn aufmerksam betrachtete und ihm auf die Schulter klopfte. »Nicht wahr?«

»O viele, viele!« sagte Philipp, halb erwachend aus seinen Träumen. »Ich bin siebenundachtzig.«

»Fröhliche und glückliche, nicht wahr?« fragte der Chemiker leise. »Fröhliche und glückliche, Alter?«

»Vielleicht so groß, nicht größer«, sagte der Alte, gab mit der Hand die Höhe seines Knies an und blickte den Fragenden mit einer Miene an, die die Erinnerung belebte.

»Vielleicht so groß war ich an dem allerersten, auf das ich mich zu besinnen weiß. Ein kalter, sonniger Tag war's. Ich war spazieren gewesen, da sagte mir jemand – es war meine Mutter, so gewiß Sie jetzt dort stehen, aber ich kann mich nicht mehr darauf besinnen, wie ihr liebes Gesicht aussah, denn sie wurde an diesen Weihnachten krank und starb –, da sagte sie mir, diese Beeren wären Vogelfutter. Der hübsche kleine Kerl – ich nämlich, verstehen Sie wohl –, der dachte damals, daß die Augen der Vögel so glänzten, weil die Beeren, von denen sie im Winter lebten, so glänzend sind. Ich erinnere mich noch ganz genau, und bin doch siebenundachtzig.«

»Fröhlich und glücklich«, sagte der andere vor sich hin und richtete die dunklen Augen auf die gebückte Gestalt mit einem Lächeln voll Mitgefühl. »Fröhlich und glücklich – und besinnen sich noch darauf?«

»Ja, ja, ja«, sagte der alte Mann, die letzten Worte auffangend, »ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich zur Schule ging, Jahr für Jahr, und was die schöne Zeit immer für Spaß und Freuden mit sich brachte. Ich war ein kräftiger Bursche damals, Mr. Redlaw, und glauben sie mir, zehn Meilen im Umkreis hatte ich meinesgleichen nicht im Fußballspiel. Wo ist mein Sohn William? – – – Hatte nicht meinesgleichen im Fußballspiel, William, zehn Meilen im Umkreis!«

»Das sag' ich immer, Vater«, entgegnete der Sohn rasch und mit großer Ehrerbietung. »Du bist ein echter Swidger, wie's je einen in der Familie gab.«

»O mein«, sagte der Alte und schüttelte den Kopf und blickte wieder auf die Stechpalme. »Seine Mutter und ich – mein Sohn William ist der jüngste –, wir haben manches Jahr mitten unter ihnen gesessen, den Knaben und Mädchen, den kleinen Kindern und Säuglingen – – manches Jahr, wo die Beeren – solche Beeren hier – nicht halb so glänzten wie ihre blanken Gesichter. Viele von ihnen sind dahin, sie ist dahin, und mein Sohn Georg, unser Ältester, der vor allen andern ihr Stolz war, ist sehr tief gesunken. Ich sehe sie vor mir, wenn ich diesen Zweig ansehe, lebendig und gesund, wie sie in jenen Tagen waren. Und, Gott sei Dank, auch ihn kann ich noch sehen, wie er damals war in seiner Unschuld. Das ist ein Segen für mich bei meinen siebenundachtzig Jahren.«

Der scharfe Blick, der mit so großem Ernst auf ihm geruht, hatte allmählich den Boden gesucht.

»Als sich meine Verhältnisse nach und nach verschlechterten, weil man nicht ehrlich mit mir verfuhr, und ich zuerst hierherkam als Kastellan«, sagte der Alte – »das ist mehr als fünfzig Jahre her – – – wo ist mein Sohn William? – – mehr als ein halbes Jahrhundert, William!«

»Das sag' ich auch immer, Vater«, entgegnete William so rasch und ehrerbietig wie vorhin. »Es stimmt genau. Zwei mal null ist null, und zwei mal fünf ist zehn, macht hundert.«

»Es war ordentlich eine Freude, zu wissen, daß einer unserer Gründer, oder richtiger gesagt«, fuhr der Alte fort und widmete sich mit Feuer dem Gegenstand, anscheinend nicht wenig stolz, daß er so genau darin Bescheid wußte, »einer der gelehrten Herren, die zur Zeit der Königin Elisabeth unser Stift beschenkten – denn wir waren viel früher schon gegründet –, uns in seinem Testament neben andern Schenkungen so viel aussetzte, daß man jede Weihnachten Stechpalme zum Ausschmücken der Wände und Fenster kaufen könne. Es lag darin so etwas Freundliches, Gemütliches. Wir waren damals noch fremd und kamen zur Weihnachtszeit her, aber wir faßten ordentlich eine Liebe zu seinem Bilde, das in dem Saale hängt, der ehemals, bevor unsere zehn armen Herren sich lieber ein jährliches Stipendium in Geld geben ließen, unser großer Speisesaal war. Ein gesetzter Herr mit Spitzbart und Halskrause, und unter dem Bilde mit gotischen Buchstaben: Herr, erhalte mein Gedächtnis jung. Sie kennen es ja, Mr. Redlaw.«

»Ich weiß, daß das Porträt dort hängt, Philipp.«

»Ja, es ist das zweite rechter Hand über dem Eichengetäfel. Ich wollte eben sagen: Er hat mir das Gedächtnis jung erhalten. Ich danke es ihm, denn wenn ich alljährlich so wie heute durch die alten Gemächer gehe und sie auffrische mit diesen Zweigen und Beeren, dann frische ich auch dabei mein altes Gehirn auf. Ein Jahr bringt dann das andere wieder, das andere wieder andere, und dieses ganze Scharen. Zuletzt wird mir, als wäre der Geburtstag unseres Herrn der Geburtstag aller, die ich je geliebt, je betrauert, jemals gerne gehabt hätte. Und das sind ihrer eine hübsche Menge, denn ich bin siebenundachtzig.«

»Fröhlich und glücklich«, murmelte Mr. Redlaw vor sich hin.

Das Zimmer fing an, seltsam dunkel zu werden.

»So sehen Sie, Sir«, sagte der alte Philipp, und seine gesunden alten Wangen nahmen einen rötern Schein an, seine blauen Augen einen hellern Glanz, »ich hab' 'ne Menge zu feiern, wenn ich dieses Fest feiere. Aber wo ist denn meine kleine, stille Maus? Schwatzen ist die Untugend meines Alters, und es ist noch die Hälfte der Zimmer zu schmücken, wenn wir bei der Kälte nicht vorher erfrieren, der Wind uns nicht wegbläst oder die Dunkelheit uns nicht verschlingt.«

Die kleine, stille Maus stand neben ihm mit ihrem ruhigen Gesicht und nahm schweigend seinen Arm, ehe er ausgesprochen hatte.

»Komm und laß uns gehen, mein Liebling«, sagte der alte Mann, »Mr. Redlaw kommt sonst nicht eher zum Essen, als bis es so kalt geworden ist wie der Winter draußen. Ich hoffe, Sie werden mir mein Geschwätz verzeihen, und ich wünsche Ihnen gute Nacht und nochmals eine fröhliche – –«

»Bleiben Sie«, sagte Mr. Redlaw und setzte sich wieder an den Tisch, mehr um den alten Kastellan zu beruhigen, wie es schien, als aus Appetit. »Noch einen Augenblick, Philipp. – William! Sie wollten eben noch etwas Ehrenvolles über Ihre treffliche Gattin sagen. Es wird ihr gewiß nicht unangenehm sein, ihr Lob aus Ihrem Munde zu hören. Was war es denn?«

»Ja, sehen Sie, Sir, das ist so eine Sache«, entgegnete Mr. William Swidger und sah seine Frau beklommen an. »Mrs. William sieht mich so an.«

»Fürchten Sie sich denn vor Mrs. Williams Blick?«

»Ach nein, Sir, ich sag's wie's ist –«, erwiderte Mr. Swidger. »Dazu ist ihr Blick nicht geschaffen, daß man sich davor fürchten sollte. Wäre das beabsichtigt gewesen, wäre er nicht so sanft ausgefallen. Aber ich möchte nicht gern – – – – Milly! Der – – –, weißt du! Der da unten im Hause –«

Mit großer Befangenheit in dem Geschirr herumkramend, warf Mr. William aufmunternde Blicke hinter dem Tisch hervor auf Mrs. William, beredt mit Kopf und Daumen auf Mr. Redlaw deutend, als wolle er sie aufmuntern.

»Der da unten, mein Herz«, fuhr er fort, »unten im Hause. So sag's doch, Kind. Du bist doch im Vergleich zu mir wie Shakespeares Werke. Der unten im Hause, du weißt doch, mein Kind – na, der Student.«

»Ein Student?« Mr. Redlaw hob den Kopf.

»Ich sag's wie's ist, Sir«, rief Mr. William eifrig beistimmend. »Wenn's nicht der arme Student unten im Hause wäre, warum sollten Sie es denn aus Mrs. Williams Munde zu hören wünschen?«

»Mrs. William, mein Kind – so sprich doch.«

»Ich wußte nicht«, sagte Milly mit einer ruhigen Offenheit und frei von jeder Unruhe oder Verwirrtheit, »daß William etwas davon verraten hat, sonst wäre ich nicht gekommen. Ich hatte ihn gebeten, es nicht zu tun. Er ist ein kranker junger Herr, Sir, und sehr arm, fürchte ich. Zu krank, um zum Feste nach Haus zu fahren. Er ist ganz verlassen und wohnt in einem Zimmer, das für einen vornehmen Herrn ziemlich ärmlich ist, unten im Jerusalemstift. Das ist alles, Sir.«

»Warum hab' ich nie von ihm gehört?« fragte der Chemiker und erhob sich rasch. »Warum hat man mich nicht von seiner Lage unterrichtet? Krank! Geben Sie mir meinen Hut und meinen Mantel. Arm? Wo wohnt er? Welche Hausnummer?«

»Sir, Sie dürfen nicht hingehen«, sagte Milly, ließ ihren Schwiegervater los und trat dem Gelehrten mit entschlossenem Gesicht und gefalteten Händen in den Weg.

»Nicht hingehen?«

»Um Gottes willen nicht«, sagte Milly und schüttelte den Kopf wie über eine selbstverständliche Unmöglichkeit. »Daran ist gar nicht zu denken.«

»Was meinen Sie? Warum denn nicht?«

»Ja, sehen Sie, Sir«, sagte Mr. Swidger eindringlich und wichtig »ich sag's auch immer. Verlassen Sie sich darauf, der junge Herr hätte nie einer Mannsperson seine Lage anvertraut. Mrs. William hat sein Vertrauen gewonnen, aber das ist auch etwas ganz anderes. Mrs. William vertrauen sie alle. Zu ihr haben sie alle das größte Zutrauen. Ein Mann, Sir, würde keinen Laut aus ihm herausgebracht haben. Aber eine Frau, Sir, und noch dazu Mrs. William –!«

»Es liegt viel Wahres und Zartes in dem, was Sie sagen, William«, gab Mr. Redlaw zur Antwort und betrachtete das sanfte und stille Gesicht neben sich. Und den Finger auf den Mund legend, reichte er ihr heimlich seine Börse.

»O Gott, ja nicht, Sir«, rief Milly und gab sie wieder zurück. »Das wäre noch viel schlimmer. Daran ist nicht im Traum zu denken.«

So gelassen und ruhevoll war ihr Temperament, daß sie nicht einen Augenblick aus dem Gleichgewicht kam und bereits im nächsten Augenblick in ihrer Hausfrauenart schon wieder ein paar Blätter auflas, die beim Anstecken der Stechpalme zwischen Schere und Schürze durchgeschlüpft waren.

Als sie wieder aufsah und bemerkte, daß Mr. Redlaw sie noch immer zweifelnd und erstaunt betrachtete, wiederholte sie ruhig, während sie umhersah, ob nicht vielleicht doch noch etwas ihrer Aufmerksamkeit entgangen sei: »O Gott nein, ja nicht, Sir, er sagte, von allen Menschen auf Erden dürften Sie am allerwenigsten seine unglückliche Lage erfahren, und er wolle um alles gerade von Ihnen keinen Beistand haben, obwohl er Student in Ihrer Klasse sei. Ich habe Ihnen zwar nicht das Wort abgenommen, daß dies alles ein Geheimnis bleiben solle, aber ich verlasse mich auf Ihre Ehrenhaftigkeit, Sir.«

»Warum hat er das gesagt?«

»Das kann ich wirklich nicht wissen, Sir«, gestand Milly, nachdem sie eine Weile nachgedacht, »dazu bin ich nicht scharfsinnig genug, wissen Sie. Ich wollte mich ihm auch bloß nützlich machen und alles um ihn reinlich und hübsch halten und alles ein bißchen behaglicher einrichten und habe das bis jetzt getan. Aber eines weiß ich, daß er arm und verlassen ist und daß sich niemand um ihn kümmert – Wie finster es nur ist!«

Das Zimmer wurde dunkler und dunkler. Es war, als ob ein trüber Schatten sich hinter dem Stuhl des Chemikers bilde.

»Was wissen Sie weiter von ihm?« fragte er.

»Er ist verlobt und will heiraten, sobald er die Mittel dazu hat«, sagte Milly, »und studiert, glaube ich, um sich später eine Lebensstellung schaffen zu können. Ich sehe schon lange zu, wie viel er sich versagt und wie angestrengt er studiert. Wie dunkel es nur ist!«

»Es ist auch kälter geworden«, sagte der alte Mann und rieb sich die Hände. »Es ist so schaurig und unheimlich hier drinnen. Wo ist mein Sohn William? William, mein Sohn, schraube die Lampe auf und schüre das Feuer!«

Millys Stimme ertönte wieder wie sanfte leise Musik: »Er sprach gestern aus unruhigem Schlummer, nachdem er meinen Namen genannt (das sagte sie zu sich selbst), etwas von einem Verstorbenen und von einem großen Unrecht, das niemals gesühnt werden könne; ob das aber ihm oder jemand anderem widerfahren ist, das weiß ich nicht. Er hat es nicht getan, das weiß ich.«

»Kurz, Mrs. William, – – sehen Sie, – sie würde es nicht eingestehen, Mr. Redlaw, und wenn sie das ganze nächste Jahr bleiben müßte –«, flüsterte William dem Chemiker ins Ohr, »hat ihm unendlich viel Gutes getan. Wirklich unendlich viel Gutes. Dabei merkt man zu Hause nichts – mein Vater hat es immer noch so behaglich und bequem wie früher, kein Stäubchen ist in der Wohnung zu sehen und zu finden, und wenn Sie es mit fünfzig Pfund aufwiegen wollten. Immer ist Mrs. William da, wenn sie gebraucht wird, treppauf, treppab; – sie ist wie eine wirkliche Mutter zu ihm.«

Immer dunkler und schauriger wurde das Zimmer, und der dunkle Schatten hinter dem Stuhle wurde immer dichter und schwerer.

»Und nicht genug damit, Sir, geht Mrs. William heute abend aus und findet auf dem Heimweg – noch ist es nicht ein paar Stunden her – ein Geschöpf, das eher einem wilden Tier als einem Kinde gleicht, frierend auf einer Türschwelle sitzend und vor Kälte zitternd. Was tut Mrs. William? Sie nimmt es nach Hause, gibt ihm zu essen und behält es bei sich, bis morgen am Weihnachtstag die übliche Spende an Essen und Flanell verteilt wird. Wer weiß, ob das Geschöpf je Wärme gefühlt hat? Jetzt sitzt es an dem alten Kamin und starrt das Feuer an, als wolle es die gierigen Augen nie wieder zumachen. Es muß wenigstens noch dort sitzen«, sagte Mr. William, »wenn es nicht ausgerissen ist!«

»Der Himmel erhalte Sie glücklich«, sagte der Chemiker laut, »und auch Sie, Philipp und Sie, William. Ich muß nachdenken, was hier zu tun ist. Ich werde wohl diesen Studenten doch besuchen müssen. Aber ich will euch jetzt nicht länger aufhalten. Gute Nacht!«

»Vielen Dank, Sir, vielen Dank im Namen unserer kleinen Maus und meines Sohnes William und in meinem Namen. Wo ist mein Sohn William? William, nimm die Laterne und geh voraus durch die langen, dunklen Gänge, wie wir's im vorigen Jahr und das Jahr vorher getan haben. Ha, ha! Ich erinnere mich noch ganz gut daran, wenn ich auch siebenundachtzig bin. Der Herr erhalte mein Gedächtnis jung. Das ist ein sehr gutes Gebet, Mr. Redlaw, das von dem gelehrten Herrn mit dem spitzen Bart und der Halskrause – er hängt als zweites Bild rechter Hand über dem Getäfel in dem Zimmer, das, ehe unsere zehn armen Herrn sich für das Geldstipendium entschieden, der große Speisesaal war. Der Herr erhalte mein Gedächtnis jung! Das ist sehr gut und sehr fromm, Sir. Amen, Amen!«

Sie gingen hinaus, und so vorsichtig sie auch die schwere Tür schlossen, so wachte doch eine lange Reihe dröhnender Echos auf.

Das Zimmer wurde noch dunkler.

Als der Chemiker in seinem Stuhl sich wieder dem Grübeln überließ, da schrumpfte die frische Stechpalme an der Wand zusammen und fiel herab – als totes Blattwerk.

Wie das Dunkel und der Schatten hinter ihm sich immer mehr verdichteten, entstand daraus – langsam und allmählich durch einen jener unwirklichen unstofflichen Prozesse, die kein Menschenauge bewachen kann – ein grausiges Konterfei seines eigenen Selbst! Geisterhaft und kalt, farblos das bleierne Antlitz und die Hände – mit seinen Zügen aber und seinen funkelnden Augen und seinem ergrauenden Haar und angetan mit seinem schwarzen Schattenkleid –, nahm es einen grauenhaften Schein von Leben regungslos und lautlos an. Während er den Arm auf die Polster seines Stuhles stützte und grübelnd vor dem Feuer saß, lehnte sich das Phantom auf die Rückenlehne dicht über ihn und blickte mit dem grausigen Abbild seines Gesichts dorthin, wohin auch seine Augen sahen, und nahm den Ausdruck an, den auch er trug.

Das war also das Etwas, das vorhin vorübergehuscht und verschwunden war! Es war der grauenhafte Doppelgänger des Behexten.

Eine Weile lang schien es ihn nicht mehr zu beachten als er das Phantom. Die Weihnachtsmusikanten spielten irgendwo in der Ferne, und er schien mit träumenden Sinnen der Musik zu lauschen. Das Phantom tat dasselbe.

Endlich begann er zu sprechen, ohne sich zu bewegen oder aufzublicken.

»Wieder hier!« sagte er.

»Wieder hier«, antwortete das Gespenst.

»Ich sehe dich im Feuer«, sagte der Behexte, »ich höre dich in der Musik, im Winde, in der Totenstille der Nacht.«

Das Phantom nickte zustimmend mit dem Kopf.

»Warum kommst du, warum verfolgst du mich?«

»Ich komme, wenn man mich ruft«, sagte der Geist.

»Nein, ungerufen!«

»Sei es, ungerufen«, sagte der Spuk, »genug, ich bin da.«

Bisher hatte der Schein des Feuers die beiden Gesichter beschienen, sofern die schrecklichen Umrisse hinter dem Stuhl ein Gesicht genannt werden durften. Beide hatten wie zuerst sich nach dem Feuer hingewandt und einander nicht angesehen. Jetzt aber drehte sich der Behexte plötzlich um und starrte den Geist an. Ebenso rasch huschte das Phantom vor den Stuhl und starrte den Chemiker an.

Es war, als wenn der Lebendige und das belebte Bild seiner eigenen Leiche einander in die Augen blickten. Ein grausiges Schauspiel in diesem einsamen und entlegenen Teil des alten, kaum bewohnten Gebäudes an einem Winterabend, wo auf seiner geheimnisvollen Reise der laute Wind vorbeibraust, von dem seit Weltbeginn keiner weiß, von wannen er kommt und wohin er geht, und wo die Sterne in Milliarden herniederglitzern aus dem ewigen Weltenraum, dem der Erde Koloß ein Sandkorn ist und ihr graues Alter wie Kindheit.

»Sieh mich an«, sagte der Spuk, »ich bin der, welcher, vernachlässigt in der Jugend und elend und arm, strebte und litt und immer strebte und litt, bis er das Wissen aus der Tiefe geholt, wo es begraben gelegen, der sich rauhe Stufen schlug, wo sein wunder Fuß ruhen und emporklimmen konnte.«

»Ich bin der«, antwortete der Chemiker.

»Keiner Mutter selbstverleugnende Liebe«, fuhr das Phantom fort, »keines Vaters Ratschlag halfen mir. Ein Fremder trat an meines Vaters Stelle, als ich noch Kind war, und leicht war ich meiner Mutter Herzen entfremdet. Meine Eltern gehörten, mild beurteilt, zu denen, deren Sorge bald aufhört und deren Pflicht bald getan ist – – die ihre Sprößlinge früh hinaus in die Welt stoßen, wie die Vögel – –, die das Verdienst ernten, wenn sie gut werden, und das Mitleid beanspruchen, wenn sie mißraten.«

Das Phantom schwieg und schien ihn reizen zu wollen mit seinem Blick, mit dem Ton seiner Rede und seiner eigenen Art zu lächeln.

»Ich bin der«, fuhr es fort, »der während des heißen Ringens, aufwärts zu klimmen, einen Freund fand. Ich hob ihn empor und gewann ihn, fesselte ihn an mich. Wir arbeiteten zusammen, Seite an Seite. Alle Liebe und alles Vertrauen, das seit meiner frühesten Jugendzeit sich nicht hatte äußern dürfen, schenkte ich ihm.«

»Nicht alles«, sagte Redlaw heiser.

»Nein, nicht alles«, antwortete das Gespenst, »ich hatte eine Schwester.« Der Behexte stützte das Gesicht auf seine Hände und wiederholte: »Ich hatte eine Schwester.«

Tückisch lächelnd trat das Phantom näher an den Stuhl, stützte das Kinn auf die gefalteten Hände, beugte sich über die Stuhllehne und sah mit forschenden Augen, die vom Feuerglanz zu leben schienen, in sein Gesicht herab und fuhr fort:

»Die spärlichen Lichtstrahlen eines Heims, die ich jemals gekannt, waren von ihr gekommen. Wie jung sie war, wie schön und liebreich! Ich nahm sie mit an den ersten armseligen Herd, der mein gehörte und machte ihn reich dadurch. Sie trat in die Finsternis meines Lebens und machte es hell. So steht sie vor mir.«

»Ich habe sie im Feuer gesehen, – – soeben. Ich höre sie in der Musik, im Wind, in der Totenstille der Nacht«, sagte der Behexte.

»Hat er sie geliebt?« fragte das Gespenst in demselben nachdenklichen Tone. »Ich glaube, er liebte sie einst.«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Besser wär's gewesen, sie hätte ihn weniger geliebt, weniger heimlich, weniger innig, aus den seichteren Tiefen eines geteilten Herzens.«

»Laß es mich vergessen«, sagte der Chemiker mit einer abwehrenden Bewegung der Hand, »laß es mich ausreißen aus meinem Gedächtnis.«

Ohne sich zu regen und die grausamen Augen starr auf sein Gesicht geheftet, fuhr das Phantom fort:

»Ein Traum, dem ihren gleich, stahl sich auch in mein Leben.«

»Ja«, sagte Redlaw.

»Eine Liebe, der ihren so ähnlich, wie es meiner gröbern Natur nur möglich war«, fuhr der Schemen fort, »entkeimte meinem Herzen. Ich war zu arm damals, um durch ein Band des Versprechens oder durch Bitten die Geliebte mit meinem Geschick zu verflechten. Ich liebte sie viel zu sehr, als daß ich es hätte versuchen dürfen. Aber mehr als je in meinem Leben mühte ich mich ab, emporzukommen. Jeder gewonnene Zoll brachte mich dem Gipfel näher. Ich quälte mich empor. Wenn ich in jener Zeit in später Stunde von meiner Arbeit ausruhte, teilte meine Schwester, meine liebliche Gefährtin, mit mir die Stunden der verglimmenden Asche und des erkaltenden Herdes. Wenn der Tag graute, welche Bilder der Zukunft gaukelte ich mir vor!«

»Ich habe sie im Feuer gesehen – die Bilder, eben wieder«, murmelte der Chemiker vor sich hin. »Sie kommen zu mir in der Musik, im Wind, in der Totenstille der Nacht, Jahr um Jahr.«

»Zukunftsbilder meines eigenen Familienlebens in späterer Zeit, zusammen mit ihr, die mich begeisterte in meiner Arbeit. Bilder von meiner Schwester als Gattin meines teuren Freundes, Bilder von ruhigem Alter und stillem Glück und dem goldenen Band, das uns und unsere Kinder in strahlendem Glanz vereinigen sollte«, sagte das Phantom.

»Bilder«, sagte der Behexte, »Trugbilder, warum ist es mein Verhängnis, daß ich ihrer stets gedenken muß.«

»Trugbilder!« echote das Phantom mit einer Stimme, die keinen Tonfall hatte, und starrte ihn an mit Augen, die den Ausdruck nicht wechselten, »mein Freund, vor dem ich kein Geheimnis hatte, trat zwischen mich und den Mittelpunkt meiner Welt, um den sich all meine Hoffnungen und Kämpfe drehten, gewann die Geliebte für sich und zertrümmerte mein zerbrechliches All. Meine Schwester, zu mir jetzt doppelt liebevoll, doppelt hingebend, doppelt lieblich in meinem Heim, sah mich noch berühmt werden, – – sah, wie mein Ehrgeiz Früchte trug, als alle Spannkraft längst in mir zerbrochen, und dann – –«

»Dann starb sie«, unterbrach der Behexte, »starb sanft wie immer, glücklich, bekümmert nur um ihres Bruders willen. Ruhe! Ruhe!«

Das Phantom belauerte ihn schweigend.

»Ein Angedenken«, rief der Behexte nach einer Pause. »Ja, ein so gutes Angedenken, daß selbst jetzt, wo Jahre verstrichen sind und mir nichts törichter und schattenhafter vorkommt als diese längst verflogene Liebe meiner Knabenjahre, wo ich daran nun noch teilnahmsvollen Herzens denke, als ob es die Liebe zu einem Jüngern Bruder sei. Manchmal frage ich mich sogar, wann ihr Herz sich ihm wohl zum erstenmal zugeneigt haben mochte. Und wie tief wohl ihre Liebe zu mir gewesen! Nicht wenig einstmals, glaube ich. Doch das ist nichts. Frühes Unglück, eine Wunde von einer Hand, die ich liebte und der ich vertraute, und ein Verlust, den nichts ersetzen kann, leben länger als solche Phantasien.«

»So – –«, sagte das Phantom, »trage ich Kummer und erlittenes Unrecht mit mir herum. So zehre ich an mir selbst. So ist mein Gedächtnis mein Fluch, und wenn ich Kummer und Unrecht vergessen könnte, ich würde es tun.«

»Boshafter Spötter«, rief der Chemiker, sprang auf und wollte mit grimmiger Hand sein anderes Selbst an der Gurgel packen. »Warum tönt mir immer dies Gestichel in den Ohren?«

»Zurück!« rief der Spuk drohend. »Legst du die Hand an mich, stirbst du.«

Als hätten ihn die Worte des Gespenstes gelähmt, hielt er inne und starrte es an. Es war von ihm weggeglitten und hatte den Arm warnend hoch emporgereckt, und ein böses Lächeln flog über seine unirdischen Züge, als es seine dunkle Gestalt triumphierend aufrichtete.

»Könnte ich Kummer und Unrecht vergessen, ich würde es tun«, wiederholte der Spuk.

»Böser Geist meines Ich«, antwortete der Behexte mit leiser zitternder Stimme, »mein Leben wird verdüstert durch dieses unaufhörliche Flüstern.«

»Es ist ein Echo«, sagte das Phantom.

»Wenn es ein Echo meiner Gedanken ist, wie jetzt, und ich weiß gewiß, daß dem so ist«, sagte der Behexte, »warum werde ich denn so gepeinigt? Es ist kein selbstsüchtiger Gedanke, ich will die Wohltat auch andern zukommen lassen, alle Menschen haben ihren Kummer, müssen an erlittenes Unrecht denken – Undankbarkeit und schmutziger Neid und Eigennutz rasten auf allen Stufen des Lebens. Wer würde nicht gern Kummer und Übel vergessen?«

»Wer würde es nicht gern vergessen und dann glücklicher sein?« sagte das Phantom.

»Diese Jahreswende, die wir feiern, was soll sie? Gibt es denn Menschen, denen sie nicht Erinnerungen bringt an Kummer und Sorge? Was ist die Erinnerung des Alten, der heute abend hier war? Ein Gewebe von Kummer und Sorge.«

»Aber gewöhnliche Naturen«, sagte das Phantom, und das böse Lächeln kroch wieder über sein gläsernes Gesicht, »Gemüter ohne inneres Licht und alltägliche Geister fühlen diese Dinge nicht wie Männer höherer Bildung und tieferen Verstandes.«

»Versucher!« antwortete Redlaw. »Deinen hohlen Blick und deine tonlose Stimme fürchte ich mehr, als Worte sagen können. Dunkle Vorahnung und tiefe Furcht beschleichen mich. Derweil ich spreche, höre ich wiederum das Echo aus meinem Geist.«

»Nimm es hin als einen Beweis meiner Macht«, gab der Geist zur Antwort. »Vernimm, was ich dir bringe. Vergiß Kummer und Sorge und das Unrecht, das dir widerfahren.«

»Sie vergessen!« wiederholte er.

»Ich habe die Macht, die Erinnerung an sie zu tilgen, daß nur eine schwache verwischte Spur zurückbleibt, die auch bald erlöschen wird«, sprach der Schemen. »Sag, soll es geschehen?«

»Halt!« rief der Behexte und streckte die Hände aus mit entsetzter Gebärde. »Ich zittere vor Argwohn und Zweifel an dir, und die undeutliche Angst, die mich bei deinem Anblick beschleicht, wächst an zu einem namenlosen Entsetzen, das ich kaum ertragen kann. Nicht einer einzigen freundlichen Erinnerung, nicht einer einzigen Regung von Teilnahme, die mir und andern Gutes bringen kann, will ich mich berauben lassen. Sag! Was verliere ich, wenn ich einschlage? Was wird sonst noch aus meinem Gedächtnis verschwinden?«

»Kein Wissen – nichts, was du dir durch Forschung errungen, nichts als die festgeschmiedete Kette von Gefühlen und Gedanken, von der jedes einzelne Glied abhängt und genährt wird von der Erinnerung. Diese nur werden verschwinden.«

»Sind deren so viele?« fragte der Behexte bestürzt nachsinnend.

»Sie haben sich gewöhnt, sich im Feuer zu zeigen, in der Musik, im Wind und in der Totenstille der Nacht, im Lauf der wechselnden Jahre«, erwiderte das Phantom höhnisch.

»In sonst nichts?«

Das Phantom schwieg.

Aber als es eine Weile schweigend vor ihm gestanden, bewegte es sich nach dem Feuer hin und blieb dann stehen.

»Entscheide dich!« sagte es, »ehe die Gelegenheit schwindet.«

»Einen Augenblick! Ich rufe den Himmel zum Zeugen an«, sagte der andere erregt, »nie habe ich meinesgleichen gehaßt, nie war ich gleichgültig oder hart gegen irgend jemanden in meiner Umgebung. Wenn ich hier in meiner Einsamkeit zuviel Gewicht auf das gelegt, was war und hätte sein können, und zuwenig auf das, was ist, so ist das Leid auf mich gefallen und nicht auf andere. Aber wenn Gift in meinem Körper ist, soll ich nicht Gegengift gebrauchen, wenn ich die Kenntnis besitze, – – ist Gift in meiner Seele, und ich kann es heraustreiben durch diesen furchtbaren Schemen, soll ich es dann nicht tun?«

»Sprich!« sagte das Phantom, »soll es geschehen?«

»Noch einen Augenblick!« antwortete er hastig. »Ich möchte vergessen, wenn ich könnte! – – Habe ich das gedacht, ich allein, oder ist es der Gedanke von Tausenden und Abertausenden, von Generationen und Generationen gewesen? Alles menschliche Gedenken ist trächtig von Kummer und Sorge. Meine Erinnerungen sind gleich denen anderer Menschen, nur wird andern diese Wahl nicht geboten. Ja, ich schließe den Pakt! Ja, ich will Sorge, Unrecht und Leid vergessen.«

»Ist es geschehen?« fragte der Schemen.

»Es ist geschehen.«

»Es ist geschehen, und nimm dies mit dir, du Mensch, von dem ich mich hiermit lossage. Die Gabe, die ich dir verliehen, sollst du verbreiten, wohin du gehst; ohne selbst die Kraft wiedererlangen zu können, der du entsagt hast, sollst du sie hinfort in allen vernichten, denen du dich näherst. Deine Weisheit hat dir verraten, daß die Erinnerung an Kummer, Unrecht und Leid das Los der ganzen Menschheit ist und daß die Menschheit glücklicher wäre ohne diese Erinnerung. Geh hin, sei ihr Wohltäter! Von Stunde an frei von solcher Erinnerung, trage den Segen der Freiheit stets mit dir herum. Sie ausgießen zu müssen, ist untrennbar von dir. Geh hin, sei glücklich in dem Heil, das du gewonnen, und in dem Segen, den du spenden wirst.«

Das Phantom hatte seine blutlose Hand über ihn gehalten, während es sprach, als vollzöge es eine finstere Beschwörung und spräche einen Bann aus. Allmählich waren die Augen der beiden einander so nahe gekommen, daß er wahrnehmen konnte, daß die Augen des Spukes nicht teilnahmen an dem gräßlichen Lächeln des Antlitzes, sondern starres, unwandelbares, stetiges Grausen waren. Dann zergingen sie vor ihm in der Luft und waren verschwunden.

Als er wie angewurzelt dastand, starr vor Furcht und Erstaunen, da war ihm, als hörte er in melancholischen Echos, die schwächer und schwächer wurden, noch immer die Worte:

»Die Kraft, der du entsagt hast, sollst du hinfort in allen vernichten, denen du dich näherst.«

Und plötzlich schlug ein schriller Schrei an sein Ohr. Er kam nicht aus den Gängen vor der Tür, sondern aus einem andern Teil des alten Gebäudes und klang wie der Schrei eines Menschen, der im Dunkel den Weg verloren.

Er sah verwirrt auf seine Hände und Glieder, um sich zu versichern, daß er bei Sinnen, dann schrie er eine Antwort, laut und wild, denn es lag wie furchtbares Grauen auf ihm, als ob auch er sich verirrt habe. Wieder kam der Schrei, jetzt in größerer Nähe. Da ergriff er die Lampe und hob eine schwere Portiere an der Wand auf. Die Türe führte in den Hörsaal, der neben seinem Zimmer lag. Der Ort, der sonst so voller Jugend und Leben war und wie ein hohes Amphitheater voll von Gesichtern, die im Augenblick seines Eintritts sich mit Spannung erfüllten, war jetzt, wo alles Leben daraus verschwunden, schauerlich anzuschauen und starrte ihn an wie ein Sinnbild des Todes.

»Hallo!« rief er. »Hallo! Hier entlang, dem Lichte zu!« Und plötzlich, während er die Portiere in der einen und die erhobene Lampe in der andern Hand hielt und die Finsternis, die den Platz erfüllte, zu durchdringen suchte, huschte etwas wie eine wilde Katze an ihm vorüber ins Zimmer hinein.

»Was ist das?« fragte er hastig. Hätte er es auch genau erkannt, wie einen Augenblick später, so hätte er dennoch fragen können: »Was ist das?« Er stand da und sah es an, und das Ding drückte sich in eine Ecke.

Ein Lumpenbündel, zusammengehalten von einer Hand, die an Größe und Form wie eine Kindeshand schien, aber durch die krampfhafte Energie, mit der sie sich ballte, zur Hand eines alten, bösen Mannes geworden war. Ein Gesicht, von einem halben Dutzend Jahren gerundet und geglättet, jedoch gefurcht und verzerrt durch die Erfahrungen eines ganzen Lebens. Klare Augen und doch nicht jugendlich. Nackte Füße, schön in ihrer kindlichen Zartheit, häßlich von Schmutz und Blut, die in Krusten darauf klebten. Ein kleiner Wilder, ein jugendliches Ungeheuer, ein Kind, das nie ein Kind gewesen, ein Geschöpf, das die äußere Form eines Menschen angenommen hatte, aber im Innern wohl als bloßes Tier fortleben und verenden mußte.

Daran gewöhnt, wie ein Tier gepeinigt und gehetzt zu werden, duckte sich der Junge, als ihn der Chemiker ansah, und erwiderte den Blick bösartig und hob den Arm, wie um einen erwarteten Schlag abzuwehren.

»Ich beiße«, sagte er, »wenn Sie mich schlagen.«

Vor wenigen Minuten noch hätte dem Chemiker bei einem Anblick wie diesem das Herz geblutet. Jetzt sah er kalt und teilnahmslos hin und fragte mit einer heftigen Anstrengung, sich auf etwas zu besinnen, den Jungen, was er hier suche und woher er käme.

»Wo ist die Frau?« antwortete das Kind. »Ich will zu der Frau.«

»Zu welcher Frau?«

»Zu der Frau, die mich hergebracht und an das große Feuer gesetzt hat. Sie war so lange fort, daß ich sie suchen gegangen bin, und da habe ich mich verlaufen. Ich will nichts von Ihnen. Ich will zu der Frau.«

Er machte plötzlich einen Satz, um zu entkommen. Als das dumpfe Klatschen seiner nackten Füße auf dem Boden schon dicht vor der Portiere ertönte, erwischte ihn Redlaw noch bei seinen Lumpen.

»Lassen Sie mich los!« knirschte der Junge, sich windend, und fletschte die Zähne. »Ich hab Ihnen nichts getan, lassen Sie mich los. Ich will zu der Frau!«

»Das ist nicht der rechte Weg, hier ist's näher«, sagte Redlaw, immer noch bemüht, sich auf etwas zu besinnen, das ihm beim Anblick dieses schrecklichen Geschöpfs in die Erinnerung kommen wollte. »Wie ist dein Name?«

»Ich habe keinen.«

»Wo wohnst du?«

»Wohnen? Was ist das?« Der Knabe schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht, sah ihn einen Augenblick an, dann stellte er ihm ein Bein und wollte sich losreißen:

»Lassen Sie mich los! Ich will zu der Frau.«

Der Chemiker führte ihn zur Tür. »Hier entlang«, sagte er und betrachtete ihn noch immer verwirrt, aber voll Widerwillen und Abscheu. »Ich will dich zu ihr führen.«

Die scharfen Augen des Kindes wanderten im Zimmer umher und erspähten auf dem Tisch die Überreste des Mahles.

»Geben Sie mir etwas davon«, sagte er lüstern.

»Hat sie dir noch nichts zu essen gegeben?«

»Morgen bin ich doch wieder hungrig. Man ist doch jeden Tag hungrig.«

Als er losgelassen war, sprang er auf den Tisch zu wie ein kleines Raubtier, riß Brot und Fleisch an seine zerlumpte Brust und sagte: »So. Jetzt führen Sie mich zu der Frau.«

Voll Abscheu vor seiner Berührung winkte der Chemiker ihm schroff zu, er solle ihm folgen.

Schon war Redlaw fast zur Tür draußen, da blieb er bebend stehen.

»Die Gabe, die ich dir verliehen, sollst du verbreiten, wo du gehst und stehst.«

Die Worte des Gespenstes wehten im Winde, und der Wind wehte sie ihm eiskalt entgegen.

»Ich will heute abend nicht hingehen«, murmelte er leise, »ich will heute abend nirgendwo hingehen. Junge, geh diesen langen gewölbten Gang hinab, an der großen dunklen Tür vorbei, in den Hof! – Dort wirst du das Feuer durch das Fenster sehen!«

»Das Feuer der Frau?« fragte der Junge. Der Chemiker nickte. Und die nackten Füße sprangen davon. Redlaw kam mit der Lampe zurück, verriegelte rasch die Tür und setzte sich in seinen Stuhl, das Gesicht mit den Händen bedeckend, wie jemand, der sich vor sich selbst fürchtet.

Denn jetzt war er wirklich allein. Allein, allein!

Zweites Kapitel

Die Verbreitung

 

 

Ein kleiner Mann saß in einer kleinen Stube, die von einem kleinen Laden durch eine kleine spanische Wand abgeteilt war.