Dreisamnebel - Harald Rudolf - E-Book

Dreisamnebel E-Book

Harald Rudolf

4,8

Beschreibung

Florian Buchmann, ehemaliger Spieler des SC Freiburg und mittlerweile Feinkost- und Weinhändler in einem Ort am Kaiserstuhl, steht vor seinem nächsten aufregenden Kriminalfall: Ulla, die Frau des Dorf-Bürgermeisters und Geliebte Buchmanns, organisiert das Jubiläum "30 Jahre Weinprinzessinnen in Gottratskirchen". Doch eine frühere Weinhoheit bleibt der Veranstaltung überraschend fern – und scheint zudem spurlos verschwunden. Ulla bittet Buchmann um Hilfe. Die Vermisste arbeitete zuletzt als OP-Krankenschwester und Florian hat noch aus seiner Fußballerzeit Kontakte zur Uniklinik. Seine Suche führt ihn zunächst zu einem albanischen Fußballprofi, dann ins idyllische Glottertal, wo Albaner in kriminelle Machenschaften verstrickt waren. Buchmann, unterstützt von seinem Freund bei der Freiburger Kripo, verbeißt sich geradezu in den Fall. Da wird auf einmal eine weitere junge Frau vermisst …

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HARALD RUDOLF

Dreisamnebel

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Harald Rudolf, Jahrgang 1965, ist in der Ortenau groß geworden. Nach Zivildienst in München und vielen Jahren in Berlin, wo er sich am Rande der Autorenfilmszene und inmitten der Off-Theater-Szene bewegte sowie als Taxifahrer den Mauerfall erlebte, zog es ihn nach Freiburg. Dort schrieb er Drehbücher für Lehr- und Informationsfilme der Polizeiakademie Baden-Württemberg. Nach Auslandsaufenthalten kehrte er zurück ins Badische. Rudolf ist verheiratet und lebt als Buchautor und Gerichtsreporter in Offenburg.

Für meine Eltern

1. Auflage 2017

© 2017 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Chalabala – iStockphoto.

Druck: CPI books, Leck. Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1768-4

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1769-1

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-2029-5

Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:

www.silberburg.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

1

Die Großaufnahmen liefen in unterschiedlicher Bildqualität wie ein Daumenkino vor Florians geistigem Auge ab, als er wiederholt die an der Wand lehnenden Rahmen zählte. Die Schönheit der ersten Weinprinzessin 1986 war in der groben Auflösung des großformatigen Abzugs nur zu erahnen.

»Wieder nur neunundzwanzig«, brummte er vor sich hin und drehte sich zu Ulla, die inmitten der Gemeindehalle stand und die Tischdekoration mit herbstlich verfärbten Weinblättern und dünnen Zweigen betrachtete.

»Wo ist die Prinzessin des Jahrgangs 96/97?«, rief Florian mit gespielter Dramatik und nicht zu übersehendem Schmunzeln. »Sie ist die Einzige, die fehlt. Dürfte heute eine knackige Vierzigjährige sein.«

Er formte mit seinen Händen eine kurvenreiche Figur.

Ulla reagierte genervt. Sie hatte Florian zunächst nur einen kurzen Augenblick geschenkt. Nun blickte sie streng von den edel eingedeckten Tischen mit hundert brennenden Kerzen, die im Neonlicht der Halle kaum auszumachen waren, zu Florian hinüber. »Kann nicht sein. Zähl nochmal durch. Du hast dich bestimmt wieder verzählt.«

»Ich kann auf drei wie auf dreißig zählen.«

»Weiß ich doch.« Sie zeigte ihm drei Finger ihrer rechten Hand und streckte die Zunge heraus. »Hattrick!«

Florian, trotz Jackett und dickem Schal in der unbeheizten Halle fröstelnd, ging nicht auf das Geplänkel ein.

»Es sind definitiv nur neunundzwanzig«, sagte er ruhig und zupfte an seinem karierten Schal. »Eine fehlt. Oder hast du dich mit dem Jubiläum vertan?«

»Natürlich nicht. Wer fehlt?«

»Der Jahrgang 96/97. Habe ich doch schon herausgefunden.«

»Wie heißt sie?«

»Weiß ich nicht. Hast du die Namen der gekrönten Häupter nicht im Kopf? Die eine oder andere könnte doch auch von Willi geadelt worden sein.«

»Darauf kannst du Gift nehmen!«

»Wie lange ist er eigentlich schon Bürgermeister hier?«

»Zu lange!« Sie ging zu Florian, tippte einige Rahmen an und betrachtete die Fotos. »Eine schöner als die andere.«

»Und die alle kommen morgen zum Jubiläum?«

»Ja!«

Sie ballte die Faust wie nach einem erzielten Tor.

»Das hast du sehr gut gemacht. War überfällig.«

»Damit es ein unvergesslicher Abend wird, haben wir noch viel zu tun.« Sie küsste ihn und ging zum Ausgang der Halle.

Florian sah ihr überrascht nach. »Wo gehst du hin?«

»Ich hole die fehlende Prinzessin. Sie liegt bestimmt bei mir zu Hause. Ich weiß genau, dass ich dreißig Fotos eingerahmt habe. Häng doch schon mal die ersten auf.«

Sie knipste das grelle Deckenlicht aus, und der Raum erschien im Licht der Kerzen wie ein königlicher Saal.

»Wie sieht es aus?«, fragte sie mit einem Strahlen, das Florian in dem golden schimmernden Lichtermeer erkennen konnte. »Gefällt es dir?«

»Es sieht phantastisch aus«, erwiderte Florian. »Nach meiner Prinzessin!«

Sie nickte gerührt. Sie war geschmeichelt und hauchte ihrem Prinzen einen Kuss entgegen. Dann schaltete sie die Hallenbeleuchtung wieder ein. »Machst du die Kerzen aus? Wir haben zwar Nachschub, aber wir müssen sie ja nicht heute abbrennen lassen.«

»Werde ich tun. Lösch aber bitte nochmal das Licht.«

Sie schaltete die Deckenbeleuchtung wieder aus. Florian ging daraufhin zur Bühne und suchte am CD-Player nach einem Lied, während Ulla am Ausgang der Halle stehen blieb, die Inszenierung ahnend und sie genießend. Als die Musik ertönte, schritt Florian ihr entgegen und führte sie in die Mitte der Halle, wo sie im Licht der Kerzen einen Walzer tanzten, der unendlich langsam und geschmeidig schwebte und dessen Pausen den beiden den Atem raubte. Mit dem Schlusston erstarrten sie in opernhafter Geste. Dann lachten sie laut und küssten sich zärtlich. Florian führte Ulla wieder durch die Halle und zum Ausgang hinaus. Als sie gegangen war, schaltete er die Deckenbeleuchtung wieder ein und nahm flink das Löschen des Lichtermeers in Angriff. Er sprintete die beiden Tafeln entlang und machte sich ein Spiel aus der Aufgabe.

Die Dekoration trug eindeutig ihre Handschrift, sagte er sich dabei. Auch wenn sein Anteil nicht gering und nicht zu übersehen war. Sie ergänzten sich halt auf eine magische Art.

Beide hatten viel Zeit in die Organisation der Jubiläumsfeier, die ihnen auch Raum für Intimität gab, investiert. Dreißig Jahre Weinprinzessinnen war für das Dorf mit kleiner Winzergenossenschaft und zwei Weingütern eine große Sache. Über eine solch lange Zeit jedes Jahr eine junge, attraktive Frau zu finden, die mit Krone und Dirndl den örtlichen Wein präsentierte, war etwas Besonderes und in Baden nicht in jedem Weindorf zu finden. Die Liste der Bewerberinnen war in den letzten Jahren allerdings übersichtlich geworden. In manchen Jahren hatten der Bürgermeister und die örtlichen Winzer keine Auswahlmöglichkeit. Die Aufrufe im Gemeindeblatt erhielten zuletzt nach Florians Einschätzung sogar einen flehenden Ton. Winzertochter zu sein, war schon lange keine Bedingung mehr.

Mindestens vier Weinprinzessinnen hatte Florian in seiner Zeit als örtlicher Wein- und Feinkosthändler erlebt, und davon waren zwei definitiv von Ullas Ehemann nicht nur gekrönt worden. Das war in Gottratskirchen kein Geheimnis, wie auch die anderen unzähligen Frauengeschichten des Bürgermeisters, der sich im Dorf in vielfältiger Weise sehr fürstlich zeigte.

Willi hatte allerdings eine Aura, die es schwer machte, ihm etwas übelzunehmen. Selbst Ulla, die seit einer Ewigkeit – seit der Geburt ihrer Zwillinge – betrogene Ehefrau, nahm dem notorischen Schürzen- oder Prinzessinnenjäger sein Wesen nicht krumm. Dafür genoss sie ihre Affäre mit Florian, dem ehemals ewigen Fußballtalent, in vollen (Spiel-) Zügen. Er musste nach wie vor seinen legendären Hattrick aus der ersten Bundesligasaison des SC Freiburg auf ihrem knackigen Körper nachzeichnen.

»Affäre« ist aber nicht das richtige Wort, dachte er, als er bei der letzten Kerze ankam. »Romanze« oder »ein magisches Duo« gefiel ihm besser. Beide liebten ihre Verbundenheit und genossen die Treffen in seiner schmucken Wohnung über seinem Ladengeschäft am Marktplatz. Dass diese in dem Kaff noch nicht zum Ortsgespräch geworden waren, wunderte ihn immer wieder. Er glaubte oft, wenn er auf den Bürgermeister traf, in dessen Grinsen, in dessen unverfrorener Leichtigkeit das Wissen um ihre Liebschaft zu sehen und es bei jedem jovialen Schulterklopfen zu spüren. Und auf Willi traf er oft. Das Rathaus lag gegenüber seinem Geschäft, und der Bürgermeister ließ sich von ihm in schöner Regelmäßigkeit Präsentkörbe mit Wein und Feinkost für seine Eroberungen richten. Oder er bestellte den besten Winzersekt oder Crémant – manchmal, sehr selten, sogar Champagner – für eine besonders anspruchsvolle und wegen seines Amtes und Rufes zaudernde Bekanntschaft oder Affäre.

Bei Willi konnte man auf jeden Fall von Affären sprechen. Länger als eine Jahreszeit dauerte selten eine, und manchmal überschnitten sich die amourösen Geschäftsbeziehungen, für die er – mit unglaublich naiver Überzeugungskraft – seine Verabredungen stets ausgab. Dass seine äußerst attraktive Ehefrau keinen Sex mehr mit ihm wollte, schien ihm bei seinem prall gefüllten Terminkalender gar nicht aufzufallen.

»Da hängt ja noch gar kein Bild an der Wand!«, hörte Florian Ulla hinter sich rufen, und er erschrak. Er hatte sich in seinen Gedanken verstrickt und war bei der letzten Kerze, die er atemlos ausgepustet hatte, stehengeblieben.

»Ich dachte, wir könnten anschließend noch … im Kerzenschein …« Sie zwinkerte. »… na, du weißt schon.«

»Vor all den aufgehängten Prinzessinnen?«

»Ich glaube, eine knackigere Fünfzigjährige findest du nicht.« Sie zeigte ihm das fehlende Foto. »Bin wirklich gespannt, wie die heute alle aussehen. Erstaunlicherweise wohnen viele nicht mehr im Ort.«

»Nach einer Karriere als Weinprinzessin mit Bürgermeisterweihen gibt es in Gottratskirchen keine Steigerung mehr.«

»Die Stelle der Geliebten von Florian Buchmann ist halt besetzt.« Sie grinste. »Und jetzt machen wir weiter. Auf jede Seite kommen fünfzehn Bilder. Chronologisch natürlich.«

Mit Hammer und Nagel beförderten die beiden die Weinprinzessinnen an die Wand der Gemeindehalle. Ulla zeigte sich dabei nicht weniger geschickt als Florian, der sogar mehr Zeit benötigte, allerdings nur, weil er hin und wieder seine patente Geliebte mit einem stolzen Lächeln betrachtete.

Nachdem alle Rahmen befestigt waren, gingen sie gemeinsam an den beiden Seiten entlang.

»So schnell schreitet man an dreißig Jahren vorbei«, sagte Florian.

»Und hinter jedem Foto, hinter jedem Gesicht verbirgt sich eine Geschichte, ein Leben mit all seinen Geschichten«, erwiderte Ulla, und Florian dachte erneut über ihre Romanze nach, die bald nach seiner Ankunft in dem Dorf am südlichen Kaiserstuhl begonnen hatte.

Sie standen sich vor dem gekrönten Lächeln der amtierenden Weinprinzessin gegenüber und umarmten sich plötzlich. Sie drückten sich fest aneinander, Wange an Wange.

»Ich habe keine Lust auf Sex hier, und ich will auch die ganzen Kerzen nicht wieder an- und ausmachen«, sagte Florian, als sie sich lösten.

»War nur so ein Gedanke, ein Bild, das eben mal über einen kommt. Ist okay. Wir können ja noch zu dir gehen. Den morgigen Tag planen.« Sie grinste.

»Musst du unsere Stunden eigentlich immer für dich so erklären oder für Willi? Der macht sich doch überhaupt keine Mühe mehr mit seinen Liebschaften. Das sind mittlerweile einfach seine Geschäftskontakte.«

»Ich habe immer den Eindruck, dass du unsere Treffen für dich geklärt haben musst, Flo«, erwiderte Ulla.

Florian lachte auf. »Ich dachte, du brauchst das für dich und deinen Umgang mit Willi.«

»Nein, nicht mehr.« Sie lachte ebenfalls auf. »Ich bin langsam reif für offene Karten.«

Er schüttelte den Kopf und starrte verwirrt vor sich hin. So hatte er sich den Gesprächsverlauf nicht vorgestellt. Es war ein spontaner Gedanke gewesen, den er zwar oft dachte, aber nie aussprach. Nun bereute er, den Zauber des Augenblicks mit der Realität ihrer Ehe vermischt zu haben. Keine gute Cuvée! Ob es das schlechte Gewissen war oder das Bedürfnis, Ulla ganz für sich zu haben?

Er schüttelte wieder den Kopf. Er wollte das Thema nicht vertiefen. Spannungen zwischen ihm und Ulla gab es immer nur wegen seiner Zerrissenheit. Es war wie früher beim Fußball. Da hatte er ebenfalls zu oft über eine Situation nachgedacht, und dann folgte meist weder ein Torschuss noch ein Zuspiel. Seine Unentschlossenheit war sicher ein Grund für seinen Ruf als ewiges Talent, das ihn zum Schluss seiner Profikarriere in der Oberliga spielen ließ. Nur bei seinem größten Triumph, dem Hattrick beim 4 : 0-Sieg des SC in Stuttgart – wie lange lag das noch einmal zurück? Zwanzig Jahre! Mein Gott! –, hatte er aus dem Bauch gespielt und problemlos seinen Kopf ausschalten können.

Dass die drei Treffer noch immer in der Region hochgehalten wurden und seine zahlreichen schwachen Auftritte im heimischen Dreisamstadion, wie es zu seiner Zeit noch hieß, überstrahlte, nervte ihn inzwischen. Dass sie auch in sein Liebesspiel eingeflossen waren, ermüdete ihn sogar.

»Gehen wir zu dir«, sagte Ulla, die seine geistige Abwesenheit bemerkte. »Du hast mich schon lange nicht mehr mit deinem Hattrick verwöhnt.«

»Ich hoffe, du hattest dennoch ein bisschen Spaß.«

»Natürlich. Das habe ich ja auch nicht gesagt.« Sie sah ihm in die Augen und zog an seinem Schal. »Was ist los?«

»Das Festhalten an der Vergangenheit nervt mich.«

»Wir tauchen gerade tief in die Vergangenheit ein. Da hängen dreißig Jahre Weinprinzessinnen in Gottratskirchen.«

»Die meinte ich nicht. Meine.«

»Deine Vergangenheit? Den Hattrick?«

Er nickte.

»Das ist doch ein Spiel.«

»Wirklich?«

»Ja. Nimm das nicht so ernst. Wenn ich nur darauf aus wäre, hätte ich mich den Sommer über oft beschweren müssen.«

»Du hast recht.« Er lächelte. »Ich sehe zu schwarz. Aber kein Wunder, der November naht.«

»Zu viele einsame lange Abende?«

»Vielleicht. Wahrscheinlich.«

Sie nahm seine Hand. »Wir werden uns öfter sehen. Es wird Zeit, in die Zukunft zu blicken.«

»Hört sich gut an.«

»Aber jetzt und morgen versinken wir in der Vergangenheit.« Sie führte seine Hand zu ihrem Mund und küsste sie. »Verrate mir morgen Abend, wer für dich – neben mir – deine Principessa war. Bin gespannt, ob es eine knackige Vierzigjährige oder ein junges Gemüse ist.«

Sie räumten die Werkzeugkiste zusammen, schalteten die Musikanlage aus und löschten das Licht. Dann verließen sie die Gemeindehalle am Ortsrand in der Nähe des Sportplatzes und fuhren in Ullas Wagen zu Florians kleinem Fachwerkhaus. Seine Ape Piaggio ließ er vor der Mehrzweckhalle stehen.

Ulla parkte auf dem Hinterhof, und sie betraten das Haus durch den Hintereingang. Florian schaltete das Licht ein. »Ein paar Häppchen zum Wein?«

»Gerne.«

Während Ulla nach oben in die Wohnung ging, richtete Florian in seinem Geschäft im Schatten der über der Frischtheke baumelnden Schwarzwälder Räucherspezialitäten und Zapfensalamis eine Vorspeisenplatte mit Oliven, marinierten Pilzen, italienischen Kapern, Schinken, Salami, Käse und Brot. Lustvoll schnitt er mit einem riesigen Fleischermesser ein paar dünne Scheiben des geräucherten Schinkens seines Endinger Metzgerfreundes Weinbrenner ab. Dann nahm er eine Flasche Weißwein aus dem Temperierschrank und ging nach oben in seine offene Wohnküche.

Ulla stand an der Fensterfront des riesigen Raums und blickte auf den von Straßenlaternen beleuchteten Marktplatz. Das goldene Licht der altertümlichen Laternen fiel auf ihr Gesicht.

»Ich bin so froh, dass Willi auf mich gehört hat, als es um die Beleuchtung des Marktplatzes mit LEDs ging«, sagte Ulla mit glänzendem Blick. »Was wäre das für ein grauenhafter Anblick!«

Florian kam mit der Platte und zwei Gläsern zu ihr. »Nicht nur in dieser Lebensart haben uns die Italiener etwas voraus.«

»Immerhin konnte Willi den Gemeinderat überzeugen.«

»Das war dein Einfluss.«

»Und deiner im Hintergrund. Hättest du mich nicht darauf gebracht, wäre mir die Beleuchtung egal gewesen.«

»In Italien ist eine Stadtbeleuchtung ab einer gewissen Höhe verboten, habe ich mal gehört. Um den Zauber des Sternenhimmels nicht zu zerstören. Ist das nicht schön?«

»Wunderschön.«

Sie prosteten sich zu, tranken und blickten hinaus auf den zauberhaft beleuchteten Marktplatz.

»Erzähl mir mehr wunderschöne Dinge. Di più.«

Ulla führte ihn auf die Couch. Während sie die Antipasti aßen und ein weiteres Glas tranken, erzählte ihr Florian Geschichten aus Tausendundeiner Nacht – erfundene, gehörte und erlebte. Als Ulla an seiner Seite einschlief, deckte er sie zu und setzte sich mit einer zweiten Decke in den Sessel.

Nachdem er eingeschlafen war, schlummerte er in einem Traum inmitten von dreißig Prinzessinnen, jede nur mit einem Krönchen bekleidet. Als er aufwachte, sah er, dass seine Couch verlassen war. Auf Ullas Weinglas war ein mit Lippenstift gehauchter Kussmund. Er lächelte und richtete sich verspannt aus dem Sessel auf. Dann ging er ins Badezimmer, putzte sich geschwind die Zähne, zog seinen Schlafanzug an, schlurfte ins Bett und schlief selig.

Erst die Geräusche aus seinem Ladenlokal, die Stimme Lenas, das Knarren der Registrierkasse sowie das in seinen Ohren so vertraut klingende Ploppen beim Entkorken einer Weinflasche holten ihn aus dem Schlaf, von dem er in der letzten Zeit entschieden zu wenig bekommen hatte. Er sprang aus dem Bett, ins Badezimmer und dann in seine gestern getragenen Klamotten. In der Küche brühte er sich mit einem Espressokocher einen caffé und ging mit der Tasse nach unten.

»Morgen, Lena.«

»Morgen, du Langschläfer.«

»War wohl nötig. Alles klar?«

Er sah sich in seinem Wein- und Feinkostladen um und entdeckte ein Touristenpaar, das bereits die zweite Rebsorte probierte.

»Natürlich. Alles klar«, erwiderte Lena, die mittlerweile an drei Tagen den Laden schmiss. Ein Grund, weshalb Florian in Freiburg eine Filiale eröffnen wollte. Zuerst war dies nur eine Notlüge gewesen, die sich im Zusammenhang mit seinem ersten Fall ergeben hatte. Da sollte er wegen seiner Tätigkeit als Weinhändler mit abgebrochenem Germanistikstudium eine Biografie über einen ermordeten Weingutbesitzer schreiben. Dabei ermittelte er nicht nur dessen Mörder, sondern löste einen bis dahin unaufgeklärten Mord an einem Mädchen. Die damalige Notlüge hatte sich dann in den vergangenen beiden Jahren als Projekt herauskristallisiert. Auch wenn er lange gezögert hatte, weil er sich in der Zwickmühle zwischen wirtschaftlichem Wachstum und dem Schrumpfen seiner Freizeit und Lebensart sah, wollte er das Projekt angehen. Wenn er für Freiburg auch eine Mitarbeiterin wie Lena finden würde, hätte er bei größerem Umsatz und mengenbedingt günstigerem Wareneinkauf mehr Einkommen und sogar noch mehr Freizeit. Das könnte doch ein Treffer werden, hatte er sich gedacht. Nach langem Suchen hatte sich auch ein passendes Objekt in der Altstadt gefunden. Seinem Freund bei der Freiburger Kripo, Thomas Hofrichter, einem glühenden SC-Fan, war das Geschäft aufgefallen. Für den morgigen Samstag hatte er einen Termin mit dem Besitzer ausgemacht. Am Nachmittag, so dass ihm der Prinzessinnenabend nicht quer lag. Aufräumen war erst für Sonntag vorgesehen.

Apropos Prinzessinnen, sagte er sich und blickte auf die Uhr.

»Ich muss los. Brauchst du mich?«

»Nein. Ich habe alles im Griff.«

Er nahm sich einen frischen Elsäßer Weck, riss ihn auf, holte fein geschnittene Fenchelsalami aus der Vitrine und stopfte sie in das Brötchen. Er biss kräftig hinein und verabschiedete sich mit vollem Mund.

Er ging auf den Hof, öffnete die Garage und holte sein Mountainbike heraus. Dann radelte er, das restliche Salamibrötchen in großen Bissen verputzend, zum Sportgelände. Als er vor der Gemeindehalle ankam, sah er Ullas Wagen. Er stoppte an seiner Ape Piaggio, auf der seitlich der Name und die Adresse seines Wein- und Feinkosthandels angebracht war, verfrachtete das Fahrrad auf die Ladefläche und schloss es ab. Dabei entdeckte er in einer Ecke eine leere Literflasche Wein und zwei geleerte Wodkaflaschen. »Witzbolde, Idioten«, sagte er und betrat die Halle.

Ulla ging munter und wie immer hinreißend gekleidet durch die Reihen und legte die Menükarten auf die Tische.

»Buon giorno, principessa«, rief er und eilte zu ihr hin.

»Morgen!« Sie sah sich kurz um, ob sie jemand sehen könnte, dann küsste sie ihn auf den Mund. »Hast du gut geschlafen?«

Er nickte.

»Dachte ich mir. Du hast so friedvoll ausgesehen. Deswegen ließ ich dich im Sessel.«

»Wann bist du gegangen?«

»Es war nach zwei.«

»Bist du schon lange hier?«

»Nein. Ich habe mir das Menü nochmal bestätigen und auf die Karten drucken lassen. Die sind gerade geliefert worden.« Sie händigte ihm eine edel gestaltete Menükarte aus. »Deine Handschrift.«

Er überflog das Jubiläumsessen und die korrespondierenden Weine und entdeckte keine Fehler. Weinbrenner ließ sich nicht lumpen und wollte sich die Chance, am südlichen Kaiserstuhl für seinen Caterer-Service zu werben, nicht entgehen lassen. Es gab schottischen Lachs, gebratene Gänseleber mit Apfel- und Zartbitterschokolade, Wolfsbarsch mit Oliven-Tomaten-Sugo und Parmesan-Gnocchi, gebackenes Kalbsbries – mutig (oder boshaft?) für mächtig viele Prinzessinnen, dachte Florian –, dazu Rotweinschalotten und Trüffeljus. Anschließend Lammcarrée mit Basilikum-Polenta, und als Dessert Mousse au Chocolat und Crema Catalana.

»Das werden die Prinzessinnen nicht jeden Tag haben – Kalbsbries. Weinbrenners Idee?«

»Ja. War ihm nicht auszureden. Ist ja nur ganz klein. Und er hat ja recht, was Außergewöhnliches.« Sie lächelte unschuldig. »Machen wir weiter.«

Sie gingen die letzten Vorbereitungen an. Bis zum Empfang blieben ihnen noch knapp sieben Stunden – zum Gläsereindecken und Tischkartenaufstellen (der Saal war trotz des hohen Eintrittspreises ausgebucht), und das Personal musste auch noch eingewiesen werden. Dass alle Karten verkauft worden waren, hatte Florian überrascht. Nach seiner Erfahrung waren Badener nicht von Haus aus bereit, für exzellentes Essen und herausragende Weine auch den entsprechenden Preis zu bezahlen. Er hatte dennoch auf einem hohen zweistelligen Betrag bestanden. Ulla hatte, aus Angst, die Halle nur halb voll zu bekommen, gerade mal die Hälfte vorgeschlagen. Es hatte ihn viel Überzeugungskraft und einige Spielzüge gekostet, sie umzustimmen. »Wenn wir die Halle nicht voll bekommen, lacht Willi sich ins Fäustchen«, hatte Ulla befürchtet.

Sie hatte die Veranstaltung nämlich ohne das Rathaus geplant. Die Gemeinde fungierte zwar offiziell als Veranstalter und hatte den ehemaligen Prinzessinnen Einladungsschreiben mit offiziellem Briefkopf zugesandt. Sie stellte außerdem die Halle und den Hausmeister zur Verfügung, aber das war es dann auch. Ulla wollte den Bürgermeister und das Rathaus nicht in der Organisation haben. Sie schien sich durch die Veranstaltung von Willi emanzipieren zu wollen, schätzte Florian.

Sie arbeiteten Hand in Hand, als Willi – wie immer, bezogen auf sein kleines Dorf und Amt, eine Spur zu elegant gekleidet – die Halle unüberhörbar und raumfüllend betrat.

»Guten Morgen! Buon giorno!«

Er breitete die Hände zum Gruß aus, als wäre die Halle voll belegt und ihre Gäste würden ihn erwarten. Florian und Ulla, die ihn bereits am Klang seiner Lackschuhe und Schritte identifiziert hatten, drehten sich langsam zu ihm um.

»Guede Morge!«, rief Ulla.

»Morgen, Willi«, schmetterte Florian.

»Wie läuft’s, ihr zwei Turteltauben?« Willi kam zu ihnen. Er begrüßte Florian mit Handschlag und küsste seine Frau auf den Mund.

Florian musterte ihn. Dies waren die Momente, in denen er Willi nicht einschätzen konnte. Ahnte er etwas oder war er so naiv wie selbstverliebt?

»Ihr habt gestern ja noch lange getagt«, sagte der Bürgermeister.

»Die letzten Besprechungen«, erwiderte Florian.

»Ich weiß, was man alles vergessen kann. Aber du …«, er blickte zu seiner Frau, »… wolltest ja das Rathaus mitsamt seiner Erfahrung nicht im Boot haben.«

»Die Gemeinde ist offiziell der Veranstalter, und du hast persönlich alle eingeladen. ›Nicht im Boot haben wollen‹ ist nicht der richtige Ausdruck.«

»Dann halt nicht in der Orga haben wollen! Bin ja mal gespannt! Wann geht es los?«

»Müsstest du wissen!«

»Kennst du meinen Terminkalender?«

Ulla ging nicht darauf ein. »Um 17 Uhr«, erwiderte sie. »Dann kommt dein Auftritt.«

Er grinste. »Ist es nicht toll, wenn man eine Frau hat, die einem ermöglicht, dreißig Weinprinzessinnen zu küssen?«

»Ja.« Florian nickte und bemühte sich, nicht zu grinsen.

»Die offiziellen Präsente des Rathauses sind besorgt?«, fragte Ulla.

»Ich denke schon. Meine Sekretärin hat sich bestimmt darum gekümmert.«

»Bestimmt«, erklärte Ulla.

»Zur Sicherheit frage ich aber noch einmal nach. Will ja keinen Stress mit meiner Frau. Ich bin eh auf dem Weg ins Rathaus. Es ist Freitag, Arbeitstag. Wir sehen uns später! Macht keinen Fehler!« Er zwinkerte und verließ mit großen Schritten die Halle.

»Dein Mann«, stöhnte Florian.

»Dein Freund«, schnaufte Ulla.

Sie lachten lauthals und beschäftigten sich weiter mit den Vorbereitungen. Als ihre Liste abgehakt war, die verschiedenen Gläser poliert am Platz standen und das Personal von Ulla eingewiesen worden war, verabschiedeten sie sich, um sich umzuziehen. Während Ulla in ihrem Sportwagen voranfuhr, tuckerte Florian in seinem Zweitwagen mit schepperndem Rad und mit den leeren Flaschen auf der Ladefläche hinterher.

2

Er war früh vor der Halle, damit Ulla nicht auf ihn warten musste. Sie hatten ausgemacht, gemeinsam auf der Veranstaltung zu erscheinen. Schließlich waren doch sie beide die Organisatoren. Florian stand in bestem italienischem Outfit, auch wenn es kein Armani-Anzug war, neben seinem verbeulten Alfa Romeo und sah die Straße hoch, die zum Dorf führte. Der Kirchturm thronte über dem kleinen Ort, und die Glocken begannen schwer zu schlagen. Florian fiel ein, dass eine Beerdigung anstand. Der Termin um 16 Uhr war ihm zunächst unglücklich erschienen, doch dieser Gang gehörte eher zum Leben als die Zurschaustellung welchen Adels auch immer. Und die Besucher, die zur Beerdigung gingen, hatten ja noch Zeit, zum Jubiläumsfest zu kommen. In dieser Kleidung – elegantes Schwarz mit weißem Hemd – hätte er sogar zu der Trauerfeier gehen können. Allerdings kannte er den Verstorbenen nicht, einen alten Winzer, dessen Rebfläche längst seine Kinder bewirtschafteten.

Während er dem tiefen Geläut, in das immer wieder ein klagender, greller Ton fiel, zuhörte, sah er Ullas Wagen sportlich auf die Halle zufahren. Als sie ihn erblickte, blendete sie mehrfach auf. Er konnte hinter der Windschutzscheibe ihr Strahlen erkennen, obwohl sich die gemächlich hinter die Vogesen wandernde Sonne auf dem Glas spiegelte. Am Sonntag endet die Sommerzeit, fiel ihm ein, und der Gedanke an die damit verbundene frühe Dämmerung fröstelte ihn.

Als Ulla jedoch direkt neben ihm parkte, überkam ihn Dankbarkeit und die Wärme, die er fast immer in ihrer Nähe spürte. Er öffnete ihr die Tür, während die Kirchturmglocken langsam verstummten.

»Wow! Regina«, grinste er. »Du bist die Königin.«

Sie trug ein Wollkleid, atemberaubende Stiefel, einen üppigen Schal und eine Lederjacke, die jede Harley geadelt hätte. Die Ohrringe funkelten im Abendlicht.

Er reichte ihr die Hand. Sie griff danach und stieg aus, den Auftritt und das Kompliment sichtlich genießend.

Er ging einen Schritt zurück, noch immer ihre Hand haltend. Als er sie hochhielt, drehte sie sich um ihre Achse.

»Wollen wir ausbrechen und abhauen?«, fragte er.

»Eines Tages vielleicht.«

»Auf Nimmerwiedersehen verschwinden?«

»Würdest du das schaffen?«

Er überlegte. »Nur du hältst mich hier.«

»Glaube ich dir nicht. Ist aber auch gut so. Das sollte es nämlich nicht sein.«

»Dass du mich hier hältst?«

Sie nickte und lauschte dem Hall der letzten Glockenschläge.

»Ich wäre eigentlich gerne zur Beerdigung gegangen«, sagte sie.

»Kanntest du ihn?«

»Wer kennt schon jemanden?« Sie lächelte. »Ich winkte ihm immer zu, wenn ich mit dem Rad an seinem Haus vorbeifuhr.« Sie schien sich an eine dieser Begegnungen zu erinnern. »Ruhe in Frieden, Karl«, sagte sie dann und hakte sich bei Florian unter. »Gehen wir hinein. Es kommen schon die ersten Leute.«

Florian blickte zur Einfahrt auf den Parkplatz.

Zwei Fahrzeuge, in denen jeweils ein älteres Paar und ein Paar um die Vierzig saßen, fuhren vor die Halle.

»Die ersten Prinzessinnen«, sagte Florian.

»Mit Anhang«, erwiderte Ulla.

»Und da kommt auch ein Winzer zu Fuß.«

»Dann los!«

Sie hakte sich bei ihm unter. Dann schritten sie davon und betraten die Halle.

Die Kerzen auf den Tischen waren noch nicht entzündet. Das allmählich schwindende Tageslicht hauchte ein zartes Abendrot in die im Grunde äußerst öde Mehrzweckhalle, die durch Ullas und Florians Dekoration und in dem Licht nun märchenhaft erschien. Die Blumengebinde mit viel Weiß und Grün in eleganten Gläsern verstärkten das Prinzessinnenhafte und verströmten Hochzeitsflair. Ulla hatte strengstens verboten, das furchtbare Deckenlicht einzuschalten, und hatte zur Sicherheit sogar veranlasst, dass der Hausmeister die Sicherungen ausknipste. Dimmbare Strahler vor und auf der Bühne sowie in allen Ecken verschafften eine dezente Beleuchtung. Die dreißig Fotos der Weinprinzessinnen hingen beinahe überlebensgroß über den Tischreihen.

Als Ulla und Florian die Mitte des Saales erreichten, kam der dem Personal vorstehende Freund Florians, der Metzger Christoph Weinbrenner, in weißer Schürze aus dem Küchenbereich der Halle zu ihnen geeilt, verteilte Komplimente und gab Ulla einen Handkuss. »Für mich seid ihr schon das Paar des Abends.«

Florian winkte ab. »Ich hoffe, du wirst der Mann des Abends!«

»An mir wird es nicht scheitern«, erwiderte Weinbrenner. »Wir sind bereit.«

»Wir auch«, grinste Ulla. »Gutes Gelingen!«

Sie klatschten sich ab wie eine Fußballmannschaft nach dem Auflaufen. Während Weinbrenner zurück in den Küchenbereich ging, schritten Ulla und Florian vor die Bühne, wo das Bedienungspersonal nebeneinander aufgereiht stand.

»Ich wusste gar nicht, dass dein Freund fürs Strammstehen zu haben ist«, kommentierte Ulla das Aufgebot an freundlich lächelnden Menschen.

»Ich schon. In seiner Metzgerei und seinem Caterer-Service geht es schon mal zu wie beim Militär. Dagegen ist unsere Bundeswehr – ich habe zwar nicht gedient, maße mir aber ein Urteil an – eine Karnevalstruppe.«

Ulla gefiel die Parallele offensichtlich nicht. »Ich hoffe nicht, hier heute Abend einen Kasernenton zu hören.«

»Versprochen. Mach dir keine Sorgen. Für Christoph lege ich meine Hand ins Feuer. Der ruiniert uns nicht den Abend.«

Sie reichten dem Personal die Hand und wünschten einen wunderbaren Abend. »Fehler dürfen gemacht werden«, sagte Ulla, und Florian verstand dies als ihre Methode, den Kommiss-Küchenton zu neutralisieren sowie die damit verbundene Angst und Einschüchterung abzubauen, die Fehler heraufbeschwören könnten.

»Schön, dass Sie ein Teil dieser Veranstaltung sind«, fügte Ulla hinzu und hakte sich wieder bei Florian ein. Dann gingen sie zurück zum Eingang der Halle und erwarteten die Gäste.

Die Insassen der bereits vorgefahrenen Autos näherten sich schüchtern. Die jüngeren Frauen trugen Abendkleider, die Ehemänner und die Eltern waren ebenfalls sehr festlich gekleidet.

»Ob eine in ihrem Dirndl als Weinprinzessin erscheint?«, fragte Florian.

»Wenn, dann die Jüngeren.«

»Mit Prinzessinnen ist es vielleicht wie mit Bräuten«, erwiderte Florian. »Solange sie nicht verheiratet sind, machen sie bella figura, und dann gehen sie auf wie ein Hefeteig.«

Ulla boxte ihn gegen die Schulter. »Sprücheklopfer!«

»Du bist natürlich eine Ausnahme.«

»Ich bin ja quasi auch nicht verheiratet!«

Sie zwinkerte ihm zu und lächelte dann den Gästen entgegen. Sie stellte sich und Florian vor und grüßte mit Handschlag. Eine Weinprinzessin erkannte sie von den in der Halle aufgehängten Fotos. »Du bist Anja Riehle. Weinprinzessin des Jahrgangs 1994/95.«

»Stimmt.«

Anja lächelte und grüßte überschwänglich. Dann stellte sie ihren Ehemann und ihre Eltern vor.

Als Ulla einen Augenblick über den Namen der zweiten ehemaligen Weinhoheit nachdachte und ihr bereits die Hand reichte, kam ihr Florian zur Hilfe.

»Du bist die Sonja. 92/93. Stimmts?«

»Stimmt genau!«

Sonja lachte vergnügt und stellte ebenfalls ihre Begleiter vor.

»Wir haben Tischkarten und eine Überraschung an der Wand«, erklärte Ulla. »Fühlt euch wie daheim. Wir sehen und sprechen uns später. Begrüßungssekt wird gereicht.«

Die Gäste bedankten sich und betraten staunend die Halle, blieben stehen und zeigten hier und da auf einzelne Details der Dekoration.

Ulla zwinkerte Florian erneut zu und drehte sich in Position, als ihr Ehemann allein und wie aus dem Ei gepellt in die Halle schritt.

»Der Bürgermeister!«, rief Florian mit ausladender Geste.

Willi blieb vor den beiden stehen und breitete seine Hände aus.

»Ihr seid ja ein tolles Gastgeberpaar!« Er sah grinsend zu Florian und zeigte auf Ulla. »Ist das meine Frau?«

»Komm, stell dich dazu«, erwiderte Florian, und die beiden flankierten Ulla.

Nach und nach erschienen die Gäste. Weinprinzessinnen mit Begleitung, halb Gottratskirchen und Kaiserstühler Bekannte von Ihringen bis Endingen sowie alle örtlichen Winzer.

Ulla und Florian identifizierten gemeinsam die Weinprinzessinnen, während Willi von der Frauenpracht und dem Küssen – rechts und links, manchmal zwei-, manchmal einmal – völlig eingenommen war. Ulla und Florian achteten hin und wieder darauf, ob ein Wiedersehen zwischen dem Bürgermeister und den ehemaligen Weinhoheiten unangenehm oder verfänglich erschien. In den stets überschäumenden Begrüßungen konnten sie allerdings nichts ausmachen.

Nachdem, wie es aussah, die letzten Gäste eingetroffen waren, die amtierende Weinprinzessin staatstragend als letzte Hoheit aufmarschiert und die Halle proppenvoll war – die Geräuschkulisse übertönte den Smalltalk des Empfangskomitees am Eingang –, erklärte Ulla, nun in die Halle zu gehen und den Bürgermeister offiziell die Veranstaltung eröffnen zu lassen.

»Es sind alle da, denke ich.«

»Hast du mitgezählt?«

»Nein. Das waren aber viele. Ich denke, alle. Fällt dir noch ein Name ein?«

»Nein. Der Jahrgang 96/97, von dem wir das Bild zunächst nicht hatten, ist da. Die hatte ich mir gemerkt. Sieht knackig aus.«

»Gut, dann gehen wir hinein. Wir sehen ja nachher, ob alle gekommen sind.«

Sie betraten die Halle, schritten zur Bühne, auf der Ulla kurz das Wort ergriff und dann das Mikrofon an den Bürgermeister – »den Fürst von Gottratskirchen« – übergab.

Willi, um kein Kompliment verlegen, dankte seiner »wunderbaren und wunderschönen Frau« für die Ausrichtung des Festes. »Eine wunderbare Idee und ein wunderschöner Rahmen.«

Florian fiel wieder einmal auf, dass Willi zwar gerne viel redete, aber in seiner Wortwahl keinen großen Wert auf rhetorischen Glanz legte. Worte waren für ihn Mittel zum Zweck. Während Willis Rede betrachtete Florian die vor der Bühne aufgereihten Weinprinzessinnen und zählte neunundzwanzig. Er begann erneut zu zählen und kam wieder zu diesem Ergebnis. Neunundzwanzig.

Als der Bürgermeister zu Ende gesprochen hatte, schenkte die amtierende Weinprinzessin ein vinophiles Grußwort aus, und alle Gäste erhoben das Glas. Anschließend bat Ulla die Prinzessinnen, zu ihrem jeweiligen Foto zu gehen. Mit Florian und Willi an der Seite und einem Sektglas in der Hand, das immer wieder vom aufmerksamen Personal dezent befüllt wurde, schritt sie an den lächelnden Frauen entlang und verweilte unter jedem Bild, wie die englische Königsfamilie auf ein paar Worte, um dann weiterzugehen. Als das Grüppchen die 2000er Jahre erreichte, entdeckten Ulla und Florian bereits die Lücke. Nach dem Smalltalk mit Laura Zimmermann, der Weinprinzessin des Jahrgangs 2004/2005, standen sie einen Augenblick verloren unter dem Foto der Hoheit 2005/2006. Die Frau war offensichtlich nicht erschienen.

»Wie heißt sie nochmal?«, fragte Ulla.

»Eva. Eva Maria«, sagte ihre Vorgängerin Laura.

»Kennst du sie?«

»Aus der Zeit, ja. Sie hatte mich damals über das Amt befragt.«

»Ich kenne sie auch nur von dieser Zeit«, erklärte Miriam Vogel, Weinprinzessin 2006/2007 und Nachfolgerin von Eva Maria, die rechts von dem leeren Platz an der Wand stand.

»Hat sie sich entschuldigt?«, fragte Ulla Willi an ihrer Seite.

Der Bürgermeister zuckte unwissend mit den Schultern.

»Hmmh«, erwiderte Ulla. Dann reichte sie Miriam die Hand, plauschte kurz über ihre Amtszeit und setzte mit Florian und Willi den Gang bis zur aktuellen Prinzessin fort.

Anschließend wurden die Kerzen fast zur gleichen Zeit entflammt, was den Besuchern ein Raunen entriss, und das sechsgängige Menü begann. Das Personal ging, mit Weiß- und Rotweinflaschen bestückt, an den Tischen entlang und schenkte nach Wunsch aus. Zwischen den Gängen wechselten Ulla und Florian ihren Platz unter ihren Gästen, während Dinner-Jazz vom Band unaufdringlich durch die Halle wehte. Nach dem Essen legte ein DJ tanzbare Musik auf. Vereinzelt tanzten die Gäste. Ulla schickte Florian und Willi vor, denen sie die Pflicht auferlegt hatte, mit allen Prinzessinnen zu tanzen.

Als unbestrittene Königin dieser Nacht wandelte Ulla durch die Halle. Florian sah mit Stolz, dass sie diese Rolle so charmant wie gekonnt ausfüllte.

»Regina«, hauchte er ihr einmal ins Ohr, als sie sich im Gang zweier Tischreihen begegneten.

»Und wer ist deine Favoritin?«

»Na, wer schon?«

»Ich laufe außer Konkurrenz. Und mein Angetrauter schleimt schon genug, also Hand aufs Herz oder wohin auch immer: Wer ist deine Prinzessin?«

Florian überlegte, während sich eine ehemalige Hoheit mit ihrem beleibten Ehemann an ihnen vorbeidrängte. Es war die Prinzessin des Jahrgangs 90/91. Florian gestikulierte mit dem Kopf: die hier! »Eine knackige Fast-Fünfzigjährige und leichte Beute«, erwiderte er augenzwinkernd.

»Nicht für Willi. Zu alt«, sagte Ulla und sah Florian tief in die Augen. »Du hast Geschmack!« Sie lächelte ihm zu und ging dann weiter ihrer Rolle als Gastgeberin nach.

Mit dem letzten Gang stellte Ulla unter anhaltendem Applaus den Küchenchef und sein Team vor. »Wer es noch nicht weiß, Christoph Weinbrenner sitzt in Endingen. Bei unserem Flo im Feinkostladen sind seine Produkte aber ebenfalls erhältlich.« Damit bedankte sie sich bei ihrem »Orga-Partner«, wie sie Florian, ihm kräftig zuzwinkernd, nannte. Florian sah umgehend zu Willi, ob dieser nicht auch »Orgasmus-Partner« herausgehört hätte.

»Flohä! Flohä!«, rief der Bürgermeister jedoch lautstark in den Saal und forderte auch für ihn Beifall. Dann klärte er die Prinzessin an seiner Seite – Jahrgang 2012/13 – über den legendären SC-Fußballer Flo »Flohä« Buchmann auf. »Flohä wurde er genannt, weil er eigensinnig war und auf dem Platz schwerhörig agierte. Er sagte immer ›häh?‹, wenn er einen Mitspieler übersah oder überhörte. Den Namen erhielt er aber auch wegen seiner linken Klebe ähnlich der von Heinz Flohe. Du kennst Flohe?«

Die unverheiratete junge Frau, die mit ihrem Bruder gekommen war, verneinte.

»Flohe war ein riesiges Talent in den 1970ern, der es im biederen Deutschland oder im biederen DFB nicht leicht hatte mit seiner Kunst. Bis zu dem Elfmeterschießen jetzt bei der EM in diesem Jahr hatte Flohe für den letzten Sieg gegen die Azzurri gesorgt. Der Mann war zu gut für seine Zeit. Wie auch unser Flohä.«

»Den kenne ich auch nicht.«

»Naja. Wie alt bist du?«

»Zweiundzwanzig.«

»Schönes Alter.«

Der Bürgermeister legte seine Hand auf ihre Stuhllehne und erzählte weitere Geschichten von Flohä Buchmann aus Gottratskirchen.

Die Nacht verging, während die Kerzen zweimal ausgetauscht wurden. Ulla und Florian – Willi war längst gegangen; ob mit oder ohne die ebenfalls früh aufgebrochene Prinzessin des Jahrgangs 2012/13, konnten beide nicht sagen – verabschiedeten alle Gäste herzlich und gerührt. »Ich hoffe, wir sehen uns nicht erst in dreißig Jahren wieder«, wurde in jedes Ohr bei jeder Umarmung von allen Seiten gehaucht. »Ich vermisse euch jetzt schon«, sagte eine ältere ehemalige Hoheit, die bereits vor Jahren aus dem Dorf weggezogen war.

Mit Weinbrenner und dem Personal tranken Ulla und Florian einen letzten Schluck und verabschiedeten warmherzig dann auch die Helfer. Anschließend schritten sie im Schein der fast heruntergebrannten Kerzen durch die leere Halle, drehten sich immer wieder um die Achse wie bei einem Tanz und betrachteten die an der Wand aufgehängten Fotos.

»Dass diese Eva Maria nicht gekommen ist, unentschuldigt, wurmt mich schon ein bisschen. In der Anmeldungsliste ist hinter ihrem Namen ein Haken«, sagte Ulla.

»Ach was. Die Feier war wunderbar, da gibt es keinen Wermutstropfen. Die wird sich am meisten ärgern, wenn sie erfährt, was sie verpasst hat.«

»Wohnt in Freiburg. Ich habe in den Unterlagen nachgesehen. Heute waren Mädels da, die viel weiter weg wohnen.«

»Lass es gut sein. Ärgere dich nicht. Die hat niemand vermisst.«

»Du fährst doch morgen nach Freiburg? Das Geschäft ansehen?«

»Ja.«

»Ich fahre mit.«

»Schön. Ich hätte dich eh konsultiert, bevor ich es genommen hätte.«

»Dann schauen wir noch bei dieser Eva vorbei.« Sie nannte die Adresse.

»Ist im Stühlinger. Da wollte ich eh parken. Du weißt ja. In meiner aktiven Zeit beim SC habe ich mehr Strafzettel bekommen als gelbe Karten. Freiburg, der Alptraum der Autofahrer!«

»Dafür macht es Spaß, zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs zu sein.«

»Nicht für alle«, erwiderte Florian, an den gerade mal zwei Wochen zurückliegenden Mordfall an der Dreisam denkend. »Lass uns gehen.«

»Lass uns tanzen«, erwiderte Ulla und forderte ihn zu einem äußerst langsamen Walzer im golden flackernden Lichtermeer auf.

3

Florian parkte in der Eschholzstraße in einer engen Lücke auf einem der wenigen Nichtanwohner-Parkplätze und stieg mit Ulla aus. Die Oktobersonne schien warm. Beide setzten die Sonnenbrille auf.

Erstaunlicherweise waren sie nicht übernächtigt. Sie hatten den Abend über zwar vielen Menschen zugeprostet, aber nur wenig getrunken. Allerdings waren sie von ihrem letzten Tanz so berauscht und beseelt, dass sie – einsam in ihren eigenen Betten – lange Zeit keinen Schlaf gefunden hatten.

»Wie warm es ist«, sagte Ulla. »Außergewöhnlich.«

Florian antwortete nicht. Er sah sich um und fühlte ein Unbehagen.

»Alles klar?«, fragte Ulla.

»Ja, ja. Gehen wir.« Er schloss den Wagen ab, sah die Eschholzstraße hinauf und hinunter, wich einem nahe der geparkten Autos vorbeirasenden Fahrradfahrer aus und spürte eine gegnerische Energie, die ihn in seiner aktiven Fußballzeit so oft auf dem Platz aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Die Straße fühlte sich trotz milder Oktobersonne nicht harmonisch an. Aggressiv sogar. Er spürte das körperlich, wie früher im umkämpften Raum, den ihm ein Gegenspieler allein schon mit seinem als bedrohlich empfundenen Atem hatte streitig machen können.

Er verharrte mit dem Schlüssel in der Hand neben seinem Auto.

»Ist wirklich alles klar?« Ulla kam zu ihm hin.

»Ja, ja. Ich war in Gedanken. Gehen wir. Wir sind eh etwas spät.«

Er berührte sie am Rücken, und beide gingen Richtung Hauptbahnhof. »Nach der Prinzessin sehen wir auf dem Rückweg«, sagte er. Dann schwieg er, während sie die Brücke über die Gleise querten. Das Gefühl der Beklemmung verringerte sich jedoch nicht, und er war sicher, es hatte nichts damit zu tun, dass es kaum noch Spuren aus seiner Zeit als aktiver Spieler gab. Das Dreisamstadion hieß längst Schwarzwald-Stadion und der Neubau abseits der Dreisam war bereits per Bürgerentscheid genehmigt. Er fürchtete sich aber nicht vor Veränderungen. Und den Wandel der Stadt hatte er schon früher emotionslos wahrgenommen.

Doch heute beunruhigte ihn etwas, das er noch nicht benennen konnte.

»Ganz schön was los«, sagte er, um Ulla zu einer Äußerung zu bewegen.

»Wie immer, oder?«, antwortete sie, als sie den Bertoldsbrunnen passierten. »Sind vielleicht schon die Vorboten der Adventszeit.«

»Hmmh«, erwiderte Florian und betrachtete die Fußgängerzone. Das Unbehagen, das ihn in der Eschholzstraße und beim Bahnhof überkommen hatte, steigerte sich. Unzählige, ihm alterslos erscheinende Menschen in Jeans, trotz milder Luft in dicken, schwarzen Jacken und eingemummelt in dunklen Schals, hetzten über die Straße, zwischen bimmelnden Straßenbahnen hindurch. Für Florian, der blaue Baumwoll-Hosen und ein braunes Cord-Sakko trug – für Italo-Schick brachte er nicht immer den Mut auf –, wirkte die Masse wie eine gewaltige Strömung, die jederzeit in jede beliebige Richtung steuern und alles unter sich begraben konnte. Bloß weg hier, dachte er und sah zu Ulla, die wie immer eine gute Figur machte und wie so oft über den Dingen zu schweben schien. Sie wirkte angetan von der in seiner Wahrnehmung bedrohlichen Stimmung.

Deshalb wollte er das Thema nicht direkt ansprechen. Er grübelte jedoch weiter darüber nach.

Hatte sich Freiburg verändert oder seine Wahrnehmung der Stadt? Viele positive Nachrichten hörte man am Kaiserstuhl nicht gerade aus der sogenannten Breisgau-Metropole. Damals, als SC-Profi, als ganz Deutschland von den Breisgau-Brasilianern sprach, war er mächtig stolz auf die Stadt, deren mediterranes Flair im Sommer ihm wie nie enden wollende Urlaubstage erschienen war. Aber nun?

Nahm er diese Atmosphäre lediglich so wahr, weil vor einigen Tagen eine junge Frau in der Stadt getötet worden war? Reale Verbrechen, gerade in unmittelbarer Nähe, trafen ihn stets wie ein Steinschlag. War dies seiner Freundschaft mit dem Kommissar geschuldet? Der blutete innerlich bei jedem Verbrechen.

Schweigend und gedankenverwirrt ging er mit Ulla Richtung Schwabentor, in dessen Nähe die mögliche Filiale lag. Je näher er ihr kam, desto weniger attraktiv wollte sie ihm erscheinen.

»Alles klar?«, fragte Ulla. »Du bist so schweigsam und … Wo ist deine Euphorie?«

»Ich konzentriere mich, wie früher vor einem Spiel«, log er. »Das wird eine wichtige Entscheidung.«

»Selbst wenn es nicht läuft, man kann jederzeit aufhören. Das Risiko, einige Monatsmieten zu verlieren, dürfte sich in Grenzen halten.«

»Ich höre heraus, du rätst mir zu, ohne das Objekt zu kennen.«

»Die Lage ist schon einmal phantastisch. Dein Name, dein Nimbus …«

Er winkte kopfschüttelnd ab.

»Du kannst deinen Namen geschäftlich doch nutzen.«

»Du bist ja ganz schön dahinter her, dass ich mich hier niederlasse. Willst du mich loshaben oder suchst du einen Job, um aus Gottratskirchen herauszukommen?«

»Weder noch. Du hast mich um Rat gefragt, und ich sage dir meine Meinung. Wenn deine Überlegungen vom Sommer noch gelten, spricht nichts dagegen. Aber schauen wir uns doch erst mal den Laden an. Sieht von außen ansprechend aus.«

Sie standen vor dem Schaufenster eines ehemaligen Antiquitätengeschäfts. Das Ladenlokal war bereits geräumt, ein Schild »Zu vermieten« hing von innen im Schaufenster. Der Laden war kleiner als der am Kaiserstuhl, aber als Filiale und in Anbetracht der Mietpreise musste er nicht größer sein. Ein Geschäft hier könnte ihm auch viele Touristen nach Gottratskirchen bringen.

Er sah in Ullas Blick, dass sie dies ebenfalls dachte. Er zwinkerte ihr zu und ging mit ihr zur Glastür. Diese war jedoch verschlossen. Er blickte durch die Scheiben und entdeckte einen älteren Mann, der ihm aus dem hinteren Raum zuwinkte und dann nach vorn kam und aufschloss.

»Man kann nie wissen«, erklärte er die verschlossene Tür. »Selbst ein ausgeräumtes Geschäft schreckt manche nicht ab.«

Während Florian sich in seiner Anspannung bestätigt fühlte, fragte Ulla nach.

»Ist es hier gefährlich?«

»Wie man’s nimmt«, antwortete der alte Mann.

»Gab es Einbrüche?«

»Nein.«

»Einfach so?«

»Das ist subjektiv«, erwiderte der Mann. Er drehte sich in den Raum und breitete seine Hände aus. »Aber schauen Sie sich um. Das ist eine der besten Adressen der Stadt, und früher war es eine Goldgrube.«