Tödlicher Jahrgang - Harald Rudolf - E-Book

Tödlicher Jahrgang E-Book

Harald Rudolf

4,8

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Florian Buchmann, ehemaliger SC-Freiburg-Spieler, hat sich als Feinkost- und Weinhändler eine Existenz am Kaiserstuhl aufgebaut. Der Weingutbesitzer Ludwig Härringer aus dem Baden-Badener Rebland engagiert ihn für eine Laudatio mit Weinprobe zu seinem anstehenden 75. Geburtstag. Als Buchmann, der für seine Fußballkarriere sein Germanistikstudium aufgab, Härringer zu einem Gespräch aufsucht, findet er ihn erschlagen im Verkaufsraum seines Weinguts. Härringers Tochter bittet Buchmann mit einigem Abstand, eine Biografie über ihren Vater zu schreiben. Nach anfänglichem Zögern übernimmt der ebenso sprach- wie dribbelstarke Weinexperte den Auftrag und stößt im Leben des ermordeten Winzers auf einen tödlichen Jahrgang, eine Flasche Wein mit einem Geheimnis und einen über fünfzig Jahre zurückliegenden unaufgeklärten Mord …

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Seitenzahl: 372

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Harald RudolfTödlicher Jahrgang

Harald Rudolf

Tödlicher Jahrgang

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Harald Rudolf, Jahrgang 1965, ist in der Ortenau groß geworden. Nach Zivildienst in München und vielen Jahren in Berlin, wo er sich am Rande der Autorenfilmszene und inmitten der Off-Theater-Szene bewegte sowie als Taxifahrer den Mauerfall erlebte, zog es ihn nach Freiburg. Dort schrieb er Drehbücher für Lehr- und Informationsfilme der Polizeiakademie Baden-Württemberg. Nach Auslandsaufenthalten kehrte er zurück ins Badische. Rudolf ist verheiratet und lebt als Buchautor und Gerichtsreporter in Offenburg.

1. Auflage 2014

© 2014 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © clu – iStockphoto.Druck: CPI books, Leck.Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1654-0E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1655-7Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1351-8

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Inhalt

Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

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1

Er sah ihr nach, als sie die Wendeltreppe nach oben in seine Wohnung ging. Dann nahm er aus dem Weinkühlschrank eine Flasche Chardonnay, entkorkte sie und löschte das Licht im Laden. Das Geräusch des Entkorkens – er benutzte wie immer einen T-Korkenzieher mit Seele – hallte durch den mit Holzfässern und Holzregalen bestückten Laden. Der Schatten eines über der Frischtheke baumelnden Schwarzwälder Schinkens, von dem beleuchteten Rathaus gegenüber durch die Schaufenster angestrahlt, umhüllte ihn.

Florian, den gekühlten Wein noch in der Hand, hielt inne. Er glaubte, das Ploppen des Korkens noch einmal zu hören. Verwundert sah er sich in seinem Laden um und lokalisierte das Geräusch. An der Eingangstür hämmerte es nun mehrfach. Florian trat aus dem Schatten des geräucherten Schinkens, stellte die Flasche auf einem Weinfass ab und ging zur Tür. Das Licht ließ er aus.

»Es ist geschlossen. Schon seit einer Stunde.«

»Ich bin es, Flo.«

»Willi?« Er zuckte zusammen und sah erschrocken nach hinten zur Wendeltreppe. »Was gibt’s?«

»Jetzt mach doch mal auf.«

»Ich … ich …« Florian stammelte, da ihm keine Ausrede einfiel. Ins Bett gehen zu wollen, schien ihm zur noch nicht allzu weit fortgeschrittenen Uhrzeit keine gute Ausflucht zu sein.

»Mach endlich auf. Ich bin der Bürgermeister!«

Florian schaltete das Licht am Eingang ein, blickte die Wendeltreppe hoch, öffnete die Tür und sagte hörbar »Willi«.

»Hab ich doch gesagt, dass ich es bin. Nicht so laut.« Der Bürgermeister huschte an Florian vorbei in den Feinkostladen, in dem fast alle Weine aus dem Kaiserstuhl und dem Tuniberg zu finden waren. Er trug einen grauen Anzug mit einem schwarzen Hemd und Lackschuhe, die so poliert waren, dass sie das Licht am Eingang reflektierten. Die grauen Haare des Bürgermeisters waren ebenfalls über jedes Amt erhaben.

»Mach die Tür zu. Du bist wirklich schwerhörig, Flo. Dass du früher Flohä gerufen wurdest, wundert mich wirklich nicht.«

Florian stellte sich erneut schwerhörig. Er behielt die Klinke der schweren Holztür in der Hand und zeigte keine Absicht, sie zu schließen. »Flohä« war er in seiner Zeit als Fußballprofi beim SC Freiburg und später beim KSC zwar auch gerufen worden, weil er als Linksfuß eigensinnig gespielt und auf Zurufe seiner Mitspieler nicht immer reagiert hatte, die Namensgebung entsprang aber seinen wie von Heinz Flohe mit dem Außenrist geschlagenen Flanken.

»Mach doch jetzt endlich die Tür zu«, sagte der Bürgermeister, der auch ohne schicken Anzug mit seinen vierundfünfzig Jahren eine gute Figur machte.

Florian überhörte den Zuruf. »Was willst du? Ich erwarte einen wichtigen Anruf. Geschäftlich«, fügte er hinzu.

»Ich bin gleich wieder weg.« Der Bürgermeister drückte die Tür in die Falle, breitete seine Hände aus und grinste. »Ich will nur ein paar Flaschen Wein. Etwas ganz Besonderes, um mein Gegenüber zu beeindrucken. Ich habe auch einen Geschäftstermin.«

Florian nickte. »Natürlich. Was denn sonst.«

»Was kannst du mir empfehlen? Ich muss da dicke Bretter bohren. Bin da schon eine Weile dran. Es ist ein Kulturprojekt. Vielleicht für nächsten Sommer. Das wird unser Dorf beleben. So wie dein Laden hier für uns auch eine Bereicherung ist.«

Florian atmete erleichtert durch. »Weiß oder rot?«

»Eher weiß, auch wenn jetzt im Herbst der Spätburgunder lockt.«

»Zum Essen?«

»Danach. Als Geschenk.«

Florian ging durch seinen Laden und besah und berührte einige Flaschen, die auf den Holzfässern standen. Dann ging er zum Temperierschrank und entnahm den gleichen Wein, den er zuvor für sich herausgeholt hatte. »Wie alt?«

»Das ist doch egal. Tut nichts zur Sache.«

»Ich meine den Wein. Wie alt soll er sein?«

»Das überlasse ich dir. Du bist der Fachmann.«

Florian hielt die Flasche hoch. »Die Grande Dame der Weißweine. Von der Abfüllung gibt es nicht mehr viele. Was ganz Besonderes für besondere Anlässe.«

»Wie teuer?«

»Kannst du dir leisten. Aber sind ja Spesen. Ich schreib dir später eine Rechnung.«

»Brauche ich nicht. Geht aus meiner Tasche.«

»Reichen zwei?«

»Ja, ja.«

Florian nahm eine zweite Flasche aus dem Kühlschrank und reichte sie dem Bürgermeister. »Die sind perfekt temperiert. Falls du noch eine kippen willst, stell sie vorher in den Kühlschrank.«

»Ist eher als Geschenk gedacht. Was bin ich dir schuldig?«

»Verrechnen wir später.«

Florian fasste den Bürgermeister an der Schulter und drehte ihn sanft zum Ausgang. Dann begleitete er ihn zur Tür und öffnete sie komplett. Beim Hinausgehen strahlte ihn der Bürgermeister an.

»Dass ich mit Florian Buchmann mal befreundet sein würde …? Drei Tore! Ich erlebe den Hattrick beinahe jedes Mal, wenn ich dich sehe und bekomme Gänsehaut.« Er klemmte eine der beiden Flaschen unter den Arm und reichte ihm die Hand.

»Schönen Abend«, sagte Florian und schloss schnell die Tür, während der Bürgermeister zu seinem vor dem Rathaus geparkten Wagen ging.

Florian löschte das Eingangslicht, nahm seine bereits geöffnete Flasche und ging zur Wendeltreppe, die von der Wohnung aus beleuchtet wurde. Er ging nach oben und schnaufte tief durch, als er Ulla im Wohnzimmer auf der Couch sah.

»Der Geschäftstermin heißt Miriam«, sagte sie. »Wohnt in Breisach und ist zweiunddreißig Jahre alt. Er kennt sie noch nicht lange, aber alle wissen es schon.«

»Miriam ist mir neu.«

»Ich habe aufgehört, dich über die Affären meines Mannes auf dem Laufenden zu halten.« Sie rückte an den Rand der Couch und hielt ihm ihr Glas hin.

Er zögerte jedoch einzuschenken.

»Was ist?«

»Irgendwie fühle ich mich ertappt. Mir gegenüber ist er so freundlich und respektvoll.«

»Dir gegenüber!«

Sie forderte ihn mit einer Geste auf, einzuschenken, und er füllte den Boden der eleganten Weingläser. Als sie ihn küssen wollte, wich er zurück.

»Na, dann erst mal Prost«, sagte sie.

Sie tranken schweigend einen kleinen Schluck und kosteten den Nachgang.

»Der ist gut«, sagte Ulla. »Hast du ihm den gegeben?«

Florian nickte verhalten.

»Ich fürchte, damit wird er punkten.«

Trotz seiner gedrückten Stimmung konnte Florian sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ulla hatte ihn schon bei ihrer ersten Begegnung begeistert. Das Aufeinandertreffen mit ihrem Ehemann gerade im Laden trübte jedoch seine Freude auf den Abend. Obwohl sie im selben Dorf wohnten und sich beinahe täglich sahen, trafen sie sich in der Regel einmal die Woche, auch wenn Willi nahezu jeden Abend auf Achse war. Und nicht nur aus beruflichen Gründen. Seine Affären waren in ganz Gottratskirchen bekannt.

Eine Retourkutsche war er für Ulla aber nicht, das wusste Florian. Mit der achtundvierzigjährigen, sportlichen, schwarzhaarigen Frau, die im Kaiserstuhl fast nur mit dem Rad unterwegs war und beim Einkehren auch schon mal ein großes Bier trank, hatte er viel Gesprächsstoff. Und er schätzte ihre Bodenständigkeit und ihren Humor.

Gleich nachdem er vor zwei Jahren seinen Laden in dem Dorf am Kaiserstuhl eröffnet hatte, lernte er die Frau des Bürgermeisters kennen. Ulla war eine der ersten Kunden. Und obwohl sie sich gleich verstanden hatten und er als eine der ersten Informationen über Gottratskirchen von den Affären des Rathauschefs erfahren hatte, vergingen drei Jahreszeiten, bis es im vergangenen Sommer – das Dorf galt als einer der sonnigsten Orte Deutschlands – nach einem Picknick zum ersten Kuss auf dem Haselschacher Buck gekommen war.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er auch schon das Dorf und die nähere Umgebung für sich eingenommen. Aus Breisach und sogar aus Freiburg kam da bereits Kundschaft. In einem Reiseführer war er in jenem Sommer auch erwähnt worden. Viele Touristen nahmen bei ihm ein Stück Urlaub mit nach Hause.

Seinen Anfangserfolg hatte er aber nicht nur seiner Nase und seinem Gaumen – wie ein Trüffelschwein erschnüffelte er Köstlichkeiten aus der Region – zu verdanken, sondern auch seinem Linksfuß. Seine frühere Karriere als Fußballprofi nutzte ihm in seinem neuen Leben. Sein Hattrick beim 4:0-Sieg in Stuttgart – drei Spieltage vor Schluss im April 1994 in der ersten Bundesligasaison des SC Freiburg –, der die Wende im Abstiegskampf eingeleitet hatte, war in Südbaden allerdings auch ohne seine Vorlagen präsent. Auch Ulla, die sich damals trotz einer Zwillingsgeburt vom Fußballfieber hatte anstecken lassen, ließ sich das Spiel gerne in Gänsehaut erregende Erinnerung rufen. Florian zeichnete ihr oft die Spielzüge, die zu seinen Toren geführt hatten, auf ihrem Bauch oder ihrem Rücken nach. Manchmal in Zeitlupe, aber immer mit einem erfolgreichen Abschluss.

»Jetzt tu nicht so, als wenn dir zum ersten Mal bewusst wird, dass du mit der Frau des Bürgermeisters schläfst«, sagte Ulla.

Florian war in Gedanken abgedriftet und überlegte, welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, wenn seine Romanze auffliegen würde. Das kleine Fachwerkhaus vis-à-vis dem Rathaus war sein Leben geworden. Sein ganzes Geld hatte er hier hinein gesteckt, nachdem er seine Fußballkarriere in der Oberliga bei Waldhof Mannheim beendet hatte, mit seinem VW-Bus durch Südeuropa gereist war und anschließend zwei Jahre in der Toskana nahe Volterra gelebt hatte. Dort war er auf den Feinkost- und Weingeschmack gekommen, und die Erinnerung an glanzvolle Freiburger Zeiten hatte ihn dann auf die Insel vulkanischen Ursprungs zwischen Vogesen und Schwarzwald geführt. Wie auf einem Vulkan fühlte er sich nun auch gerade. Unruhig bewegte er sich auf der ausladenden Couch, die den offenen Wohnbereich über dem Ladengeschäft dominierte, hin und her.

Ulla rückte zu ihm auf und entschuldigte sich. »Ich weiß, dass du Willi magst. Ich mag ihn ja auch, obwohl er mich seit der Geburt unserer Zwillinge betrügt.«

»Euch beide gemeinsam zu treffen, bin ich ja gewohnt, aber jeder auf einer Etage, das ist neu.«

»Willi erkennt mein Parfum nicht.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht.« Er lachte auf. »Du liest zu viele Krimis.«

Sie küsste ihn, und er vertiefte das Thema nicht. Die Lust auf ein Schäferstündchen war ihm aber noch immer vergangen. Er überredete sie zum Ansehen einer jüngst gekauften DVD, und sie verbrachten den Abend Arm in Arm. Gegen Ende des Films schlief er ein. Als er aufwachte, war Ulla verschwunden. Der Fernseher und der DVD-Player waren ausgeschaltet. Auf seinem Weinglas prangte ein mit kräftigem Lippenstift gehauchter Kussmund. Florian schmunzelte und stellte die nicht ausgetrunkene Flasche Wein in den Kühlschrank seiner offenen Küche, in der Knoblauch, zu einem Zopf geflochten, und eine Handvoll zusammengebundene Peperoni an einem Regal neben Schwarzwälder Jägersalami hingen und reichlich Gemüse in einer Schale auf der Arbeitsplatte lagerte. Dann putzte er sich die Zähne und ging zu Bett.

Am anderen Morgen betrat er wie immer nach einer Tasse Milchkaffee, die er im Stehen in seiner Küche trank, den Laden um neun. Er hatte in der Regel bis um ein Uhr geöffnet und dann wieder ab zwei Uhr bis um sieben, im Sommer bis acht Uhr. Da er in seinem Geschäft auch eine Theke hatte, kamen einige Dorfbewohner nach ihrem Feierabend zu ihm, um bei einem Glas Wein ein paar Häppchen zu essen. Zweimal die Woche hatte er vormittags geschlossen, um seine Bestände aufzufüllen oder neue Delikatessen zu erschnüffeln.

Nachdem er die Eingangstür aufgeschlossen hatte, stellte er seine mit Kreide beschrifteten Tafeln auf die Pflastersteine und warf einen unsicheren Blick zu dem als Kornhaus erbauten Rathaus gegenüber. Auf dem Marktplatz waren vereinzelt ein paar Fußgänger zu sehen, am Brunnen spielten Kinder. Es war nach dem vielen Regen wieder ein warmer Oktobertag. Die Zeit – der Jahrgang 2013 war bereits überall gelesen und im Keller – war reif für Wein, dachte er. Er blieb einen Augenblick vor seinem schmucken Geschäft stehen, wurde gegrüßt und grüßte winkend auf den großräumigen Platz. »Morgen!«, »Hallo Flo!«, »Was hast du gesagt, hä?!«

Als das Telefon klingelte, ging er zurück in den Laden und griff zum Hörer. »Feinkost- und Weinhandel Wollkanisch.«

Seinen Laden hatte er weder Enoteca noch Vinothek oder sonst wie nennen wollen. Wie schon als Fußballprofi war ihm auch als Geschäftsmann ein eigenes Profil wichtig. Wollkanisch erschien ihm zur Zeit der Unternehmungsgründung passend. Das klang nach Vulkan, nach Volterra, aber auch nach wollen und volare.

»Grüß Gott, Herr Buchmann«, meldete sich der Anrufer so deutlich, dass es auch Schwerhörige vernommen hätten. »Der sind Sie doch?!«

»Ja, der bin ich.«

»Mein Name ist Ludwig Härringer.« Der Anrufer machte eine Pause, als müsste man ihn kennen.

»Grüß Gott, Herr Härringer«, sagte Florian. Den Namen hatte er noch nie gehört.

»Sie sehen, ich kenne Sie, aber Sie mich wohl nicht.«

»Müsste ich Sie kennen?«

»Sie sind doch Weinexperte.«

»Ich verkaufe gute Tropfen, ja.«

»Dann wird es Zeit, dass Sie mich kennen lernen.«

Härringer gab ausschweifend Auskunft über sein Weingut in Umweg bei Baden-Baden. »Sie schauen doch über den Kaiserstuhl hinaus?«

»Ich kann nicht alle Weine kennen und führen.« Bislang hatte Florian sich nur auf den Kaiserstuhl und Tuniberg konzentriert, offen für neue Ufer wollte er aber sein. Den Fehler, den er als Fußballprofi gemacht hatte, zu lange einem Verein treu zu sein, um dann aussortiert zu werden und gerade noch einen Vertrag in der zweiten Liga zu erhalten, den Fehler wollte er nicht noch einmal begehen. Verbraucher sind auch nicht ewig treu, dachte er.

»Ich bin aufgeschlossen. Es gibt nicht nur hier gute Weine«, erklärte er.

»Höre ich gerne.« Härringer begann erneut von seinem Weingut zu erzählen. Florian hörte zunächst geduldig zu, wurde aber zunehmend nervös, als ein offensichtliches Touristenpaar seinen Laden betrat. Er grüßte die Kunden und signalisierte Härringer, das Gespräch beenden zu müssen. »Bei Gelegenheit komme ich gerne einmal zu Ihnen.«

»Nicht bei Gelegenheit«, brummte Härringer. »Ich will mit Ihnen einen Termin vereinbaren. Deswegen rufe ich an! Ich will Sie engagieren – für eine Weinprobe und eine Laudatio.«

»Eine Laudatio? Auf wen?«

»Auf mich«, sagte Härringer und nannte Florian ein Datum. »Können Sie da kommen?«

Florian überlegte, einen Grund für eine Absage zu suchen. Der vorgeschlagene Termin traf jedoch mit einem seiner freien Vormittage überein. »Ja, da kann ich«, sagte er ohne Begeisterung und beendete zügig das Telefonat.

Während das Touristenpaar, das auf seine Nachfrage keine Beratung wünschte, sich weiter umsah, notierte er sich Härringers Namen. Den Termin trug er in seinen an der Registrierkasse liegenden Kalender ein. Er verspürte Appetit und blickte in seine Kühltheke. Er hatte das Gefühl, alles darin Befindliche verputzen zu können. In der Regel eilte er trotz geöffneter Tür um die Ecke zum Bäcker, um einen Elsässerweck, ein Holzofenbrot oder Körnerbrötchen zu holen. Mit Lamm-, Wildschweinsalami, luftgetrocknetem Fencheloder Korianderschinken war das stets ein Gedicht. Als das Touristenpaar grußlos und ohne etwas zu kaufen den Laden verließ, spurtete er zum Bäcker. An der Ladentheke erwartete ihn eine Schlange – und Ulla, die an deren Ende stand.

»Morgen.«

»Guten Morgen.«

Im Dorf aufeinanderzutreffen, fiel beiden nicht schwer, doch gestern hatten sie sich zum ersten Mal nach einem Treffen nicht »Gute Nacht« gesagt. Er spürte eine Unsicherheit in sich.

»Viel los hier«, sagte Ulla. »Ich bring dir was vorbei. Was willst du?«

»Zwei Elsässer«, antwortete er und trat aus der Bäckerei. Von der Gasse im verwinkelten Dorfzentrum rannte er zurück zu seinem Laden. »Gut in Form. Willst du noch einmal angreifen?«, hörte er jemanden rufen. Er sah sich nicht um, winkte ab und betrat schnaufend den ebenerdigen Eingang seines Häuschens, an dessen Fenstern wie fast überall am Fachwerk im Ortskern Geranien blühten.

Im Laden war bereits wieder Kundschaft, die Wein für einen besonderen Anlass suchte. Florian ließ sich wie immer Zeit mit der Beratung und entkorkte auch eine Flasche zum Probieren. Wie oft hatte er schon abends die Reste ausgetrunken. Die Kunden verließen mit einem Sechser-Karton das Geschäft, gerade als Ulla vom Bäcker kam.

»Ich danke dir.« Auch hier im Geschäft waren sie es gewohnt, nur freundlich zu sein. Er entnahm der kleinen Bäckertüte einen Elsässer, riss ihn mit dem Daumen auf und belegte ihn mit reichlich Salami.

»Willst du auch was?«

»Nein, ich gehe noch aufs Rad.«

Er nickte mit vollem Mund.

»Willst du wissen, wie der Film ausging?«

»Ich schau ihn mir heute Abend noch mal an.«

»Viel Erfolg.« Sie grinste und ging auf den Marktplatz hinaus. Kauend sah er ihr nach. Dann überprüfte er die Delikatessen in der Kühltheke. Bis zum Mittag verzeichnete er den üblichen Durchlauf. Trotz der raschen Bekanntheit seines Geschäfts war es ihm noch nicht möglich, eine Teilzeitkraft zu beschäftigen. Die Raten des Hauskaufs waren eine große Belastung. Die neun Jahre beim Sportclub hatten ihn bekannt, aber nicht reich gemacht. Die Mittagspause verbrachte er in den goldgelb und burgunderrot verfärbten Reben und den spätsommerlichen Abend in Breisach. Er flanierte durch die Altstadt und trank in einem gut besuchten Straßencafé ein Bier.

Am folgenden freien Vormittag machte er sich auf den Weg zu Härringer. Den Trip nach Norden nutzte er, um in Endingen einen seiner Wurstlieferanten zu besuchen. Die Fahrt durch das Zentrum des Kaiserstuhls vorbei an Alt-Vogtsburg begeisterte ihn auch noch nach zwei Jahren. Manchmal fuhr er zum Spaß mit seinem Lieferwagen, einem Ape Piaggio mit Kasten, über den Vogelsangpass. Hier in der Nähe hatte er Ulla zum ersten Mal geküsst. Obwohl die Beziehung durchaus als nicht einfach anzusehen war, sah er es als glückliche Fügung an, jemandem Platz in seinem Herzen geschaffen zu haben. Wie viele von seinen nun schon über vierzig Lebensjahren war er allein gewesen?

Auf der Fahrt vorbei an abgeernteten Rebhängen und Weinterrassen stieß er am Straßenrand auf zwei Winzer, deren Weine er ebenfalls verkaufte. Er stoppte seinen Alfa Romeo und erkundigte sich nach der Lese. Die Winzer zeigten sich nach dem vielen Regen mehr als zufrieden. Die Menge lasse zwar zu wünschen übrig, die geherbstete Qualität sei aber sehr gut. Florian wusste, dass sie ihm gegenüber nicht klagten, obwohl dies zu ihrem Handwerk gehörte. Sie wechselten noch ein paar Worte, und er fuhr weiter nach Endingen. Er parkte vor dem Obertor, schlenderte durch die Altstadt und betrat die Metzgerei Weinbrenner. Die beiden weiblichen Angestellten strahlten wie immer bei seinem Anblick und riefen wie gackernde Hühner nach ihrem Chef.

»Wer ist da?«

»Flo.«

»Hä!?«, schallte es aus dem Raum hinter der ausladenden Fleisch- und Wursttheke. Dann erschien lachend der Juniorchef Christoph im weißen, blutbefleckten Mantel. »Schon alles verkauft?«

Sie grüßten sich mit einem kräftigen Händedruck, und Florian erklärte, sein bester Wurstkunde zu sein. Christoph erwähnte eine neue Kreation und gab Florian eine Kostprobe. »Mit Salbei und weißem Pfeffer. Luftgetrocknet. Was meinst du?«

Florian probierte die zusammengerollte Scheibe Salami und zeigte sich beeindruckt. »Die nehme ich das nächste Mal mit.«

»Wenn ich hier einmal herauskäme, würde ich ja gerne bei dir vorbeischauen. Man redet auch hier oben von deinem Laden.«

»Vom Reden wird man aber nicht satt.«

»Wem sagst du das.«

Florian bestellte zwei belegte Brötchen – Kalbslyoner und die neue Salamikreation – und erklärte, auf dem Weg nach Baden-Baden zu einem Weingutsbesitzer zu sein. »Schloss Härringer. Schon mal gehört?«

Der kreative Metzger schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, ich trinke lieber Bier.«

Als Florian das eingetütete Vesper über die Ladentheke gereicht wurde, kramte er sein Portemonnaie aus der Innentasche seines Cordjacketts. Er trug wie immer Jeans und ein tailliertes Hemd über der Hose. Christoph winkte ab. »Lass stecken. Du bist doch mein bester Kunde.«

Auf dem Marktplatz setzte er sich in die Sonne und aß eines der Brötchen. Anschließend fuhr er über die A5 ins Baden-Badener Rebland. Über Härringer hatte er sich zuvor im Internet informiert. Der Vierundsiebzigjährige hatte das als Wasserburg erbaute Schloss 1990 gekauft und komplett saniert. Das Anwesen war in jener Zeit völlig heruntergekommen gewesen.

Florian freute sich auf die ihm bislang unbekannte badische Ecke. In seiner Zeit beim KSC und Waldhof Mannheim war er nie nach Baden-Baden gekommen. Frankfurt und sein Flughafen waren für ihn damals das Tor zur Welt. Jetzt, nach vielen Städtereisen und mehreren Jahren in Südeuropa, fühlte er sich zum ersten Mal mit seiner heimischen Landschaft verbunden. Er war ja ein richtiges Freiburger Bobbele aus Ebnet, wo das Dreisamstadion für ihn als Jugendspieler zum Greifen nah war, aber vor Volker Finke keine Bundesligakarriere versprach.

Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz vor der ehemaligen Wasserburg ab. Obwohl es zehn Minuten vor dem verabredeten Termin war, stand Härringer bereits vor dem Schloss. Florian erkannte den Winzer, den er auf einigen Fotos im Internet gesehen hatte. Ludwig Härringer war durchaus kein Unbekannter. Die letzten Jahrgänge seines Weinguts waren vielfach ausgezeichnet worden.

Härringer trug eine Cordhose mit Hemd und Hosenträgern und sah nach Geld und Geltungsbedürfnis aus. Er blieb reglos vor dem geöffneten Schlosstor stehen.

Florian ging zu ihm hin. Mit jedem Schritt, mit dem er sich dem imposanten Weingut und dessen Besitzer näherte, fühlte er sich Zentimeter um Zentimeter seziert.

Als er nach langen Schritten bei Härringer ankam, streckte dieser seine Hand aus. »Herr Buchmann!«

»Grüß Gott, Herr Härringer.« Florian ergriff die Hand. Er war auf einen kräftigen Händedruck vorbereitet und hielt dagegen.

Sie wechselten ein paar Worte über die Fahrt und die Umgebung. Dann führte Härringer Florian in den Schlosshof zum Verkaufsraum, an den die Probierstube des Weinguts grenzte. Auf einer Holzkommode standen Rotweinflaschen und in Kühlern Weißwein.

»Wir beginnen gleich mit den Weinen«, sagte Härringer. »Ich hoffe, dass sie Ihnen munden. Die Laudatio dürfte Ihnen dann leichter fallen, oder?«

Florian lachte auf. »Wohl wahr.«

Sein Blick streifte über die Flaschen: Riesling, trocken und als Beerenauslese, Weißer Burgunder, Sauvignon Blanc, Chardonnay, Rosé und Spätburgunder, Kabinett wie Spätlese. Der Aufmarsch an Flaschen beeindruckte ihn, und er bereute, das zweite Brötchen aus Endingen nicht auf der Fahrt gegessen zu haben. Er liebte Wein, war aber kein Freund von Weinproben, die mit Ausspucken verbunden waren. Die blumigen Umschreibungen der Weine, von gedeckten bis schwarzbeerigen Düften über florale Nuancen zu steiniger Mineralik, waren ihm außerdem suspekt. Die Weine, die er in seinem Handel verkaufte, präsentierte er bodenständig. Wenn ihm ein Wein schmeckte, trank er ihn. Und viele schmeckten ihm nicht, egal was Weinkritiker darüber dichteten.

»Ich erzähle Ihnen nichts über die Weine. Was darüber geschrieben wird, schmecke ich zum Teil selbst nicht«, sagte Härringer und reichte Florian ein Glas. »Hier ist Wasser und der Becher zum Ausspucken. Sie wollen doch sicher nach Hause fahren?«

»Ja, das will ich. Mit so einer schlagkräftigen Truppe habe ich nicht gerechnet. Ich dachte, Sie wollten mit mir reden.«

»Wenn Sie die Weine mögen. Ich gehe davon aus, dass Sie ansonsten auch keine Laudatio auf mich halten wollen, oder?« Er sah Florian mit einem nicht zu identifizierenden Grinsen an.

»Bingo«, erwiderte Florian. Härringer gefiel ihm. Er war keineswegs von dessen herrischer Art beeindruckt.

»Ich habe gelesen, dass Sie als Fußballer auch ein eigenständiger Kopf waren.«

Florian verstand es als Kompliment. Sie sahen sich einen Augenblick stumm an. Härringer nickte und drehte sich weg. »Ich lasse Sie nun allein. Ich warte draußen im Hof.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ er die Probierstube.

Florian blickte sich in dem rustikalen Saal um und ging zurück in den Verkaufsraum, der ihm beim Durchschreiten gefallen hatte. Der Raum hatte eine große Theke mit einer gläsernen Platte, die tief in am Boden stehende Weinkisten blicken ließ. Die Registrierkasse mit Touchscreen stand auf einer Ablage an der Rückwand, an der unzählige verstaubte Flaschen lagerten. Kleine Sitzgelegenheiten mit jeweils einem Tisch, die von Stehlampen warm angestrahlt wurden, waren in dem Verkaufsraum verteilt. An den Wänden hingen großformatige Fotos, die die Geschichte des Schlosses und des Weinguts dokumentierten. Auf einigen Fotos war Härringer mit wechselnden Personen zu sehen. Florian betrachtete die Bilder und ging zurück in die Probierstube, die ihm durch eine riesige bestuhlte Tafel wie ein Saal erschien.

Er betrachtete die aufgereihten Weinflaschen auf der Kommode. Die Flaschen waren ungeöffnet und mit Schraubverschluss und Korken versehen. Er überlegte, ob die Weinprobe ein Witz des Hausherrn war. Er blickte zur Decke und suchte eine Überwachungskamera. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, veräppelt zu werden. Er war doch nicht gekommen, um eine Prüfung oder ein Spiel zu absolvieren oder dem Weingutsbesitzer nach dem Mund zu reden. Er spürte, dass er keine Lust auf die Versuchsorgie hatte. Er nahm den Weißburgunder und ging hinaus in den Hof.

Härringer saß auf einer Bank im Schatten und schien überrascht, ihn schon zu sehen. »Ich probiere nur diese Flasche. Zusammen mit einem Salamibrot, das ich im Auto habe. Schmeckt mir dieser Wein von Ihnen nicht, gibt es keine Laudatio von mir. Die Wurst ist auf jeden Fall gut und perfekt zu Wein.« Er ging zu seinem Auto, nahm das belegte Brötchen und setzte sich auf die Mauer des Parkplatzes. Nach dem ersten Bissen öffnete er die Flasche, füllte das Glas, roch kurz daran und trank es in einem Zug aus. Der Wein hatte wenig Säure und keinen Spritz. Er breitete sich angenehm im Mund aus und lief in einem Guss den Gaumen hinunter. Er hatte eine schöne Länge. Im Abgang verschmolz der Wein noch mit einem Hauch Salbei der Salami seines Freundes Weinbrenner. Florian war angetan. Er schenkte sich nach und nahm erneut einen kräftigen Schluck. Dann aß er das Brötchen auf und trank zum Abschluss noch einmal einen ansehnlichen Schluck. Alles in allem hatte er ein gutes Viertel getrunken und das spürte er auch, als er aufstand und mit der Flasche und dem Glas in den Schlosshof zurückging.

Härringer saß noch auf der Bank und rückte sichtlich nervös hin und her, als Florian auf ihn zukam. Neben ihm saß ein Mann im weißen Hemd und Jeans und in Gummistiefeln. Florian schätzte ihn auf Mitte vierzig, so wie er selbst. Äußerlich waren sie sich auch ähnlich: mittlere Größe, sportlich wie kräftig.

»Mein Kellermeister, Sven Arnold«, stellte Härringer den Mann an seiner Seite vor.

Sie gaben sich die Hand. Arnold entschuldigte sich. »Ich bin gleich fertig, eine Sekunde.« Er teilte Härringer mit, dass der Pinot 2011 gerade unfiltriert nach zwei Jahren im großen Eichenfass und im Barrique auf die Flasche gebracht wurde. »Alles bestens. Ich habe jedes Fass noch in Ruhe verkostet. Ich bin begeistert«, sagte der Kellermeister.

Härringer bezog Florian in das Gespräch mit ein. »Von Sven können auch Sie etwas lernen.«

»Wie lange bleibt er in der Flasche?«, fragte Florian.

»Nach zwei Jahren Flaschenreife wird dieser Jahrgang erhältlich sein. Da wir zehn Wochen mit Stielen auf der Maische arbeiten, braucht es diese Zeit.«

Florian nickte und sah, dass auch Härringer beeindruckt wirkte. Das ist mein Kellermeister, schien sein Blick stolz zu sagen.

Arnold stand auf und verabschiedete sich. »Der Keller ruft.«

Florian setzte sich an seiner Stelle auf die Bank.

»Hört sich gut an und der hier schmeckt auch gut«, sagte er und hielt die verkostete Flasche hoch. »Nach meinem Geschmack. Mollig. Die Gegend hier ist ja nicht gerade prädestiniert für die weißen Burgundersorten. Am Wein wird die Laudatio also nicht scheitern.«

»Freut mich.«

»Die restlichen Weine probiere ich zu Hause. Jetzt erzählen Sie mir doch einmal, was Sie von mir wollen.«

Härringer erzählte ihm von seinem anstehenden fünfundsiebzigsten Geburtstag, einer Feier mit vielen Freunden im Schloss und einer Präsentation seiner Weine. Da er gelesen habe, dass Florian ein paar Semester Germanistik studiert habe, halte er ihn für den richtigen Mann. »Und dass Sie sich mit Wein auskennen, haben Sie gerade bewiesen.«

Wieder blitzte das nicht zu identifizierende Grinsen auf. »Ich zahle Ihnen tausend Euro für den Abend, das sollte für einen ehemaligen Fußballprofi eine standesgemäße Summe sein. Ich schmücke mich schließlich auch mit Ihrem Namen. Irgendwelche Nachrichtensprecher aus dem Fernsehen bekommen für eine Abendmoderation übrigens mehr als Zehntausend, falls Sie mein Angebot obszön finden.«

Florian dachte darüber nach. Für das Honorar musste er lange in seinem Laden stehen. An eine Vermarktung seines Namens in dieser Hinsicht hatte er bislang noch gar nicht gedacht. Ohne der Sache sein eigenes Profil zu geben, wollte er den Auftrag aber nicht annehmen. »In Ordnung. Ich mache das aber auf meine Art.«

»Das hoffe ich doch.«

»Um etwas über Sie zu erzählen, muss ich mehr über Sie erfahren. Mehr als das Offizielle, das auf Ihrer Internetseite oder in Zeitungsartikeln zu lesen ist.«

»Die inoffizielle Geschichte, meinen Sie?«

»Könnte man sagen, ja.«

»Wollen Sie meine Geheimnisse erfahren?«

»Nein, Ihr Leben, Ihre Biografie, Bausteine darin. Was hat Sie zum Wein und zu diesem Weingut gebracht? Es wurde Ihnen ja nicht in die Wiege gelegt.«

»Nein. Das ist Ergebnis meines Ehrgeizes. Waren Sie ehrgeizig?«

»Sie kennen doch meine Fußballkarriere.«

»Die offizielle.«

Er dachte darüber nach und wischte seine Vergangenheit beiseite. »Es geht um Ihre Geschichte. Sie wollen eine Laudatio zu Ihrem Jubiläum.«

Härringer atmete tief durch. »Das will ich, ja. Haben Sie noch Zeit?«

»Ich habe bis zum Nachmittag Zeit.«

»Gut, dann will ich Ihnen etwas zeigen. Ich sage meiner Frau kurz Bescheid, dass wir wegfahren. Sie können noch fahren?«

»Natürlich.«

»Und bleiben noch zu einem Kaffee, oder?«

»Wenn die Zeit reicht.«

Er streckte seine Hand aus, und Florian gab ihm die geöffnete Weinflasche samt Glas. Dann ging Härringer in das Wohngebäude, das um die Ecke des Verkaufsraumes lag. Florian hörte seine Schritte im Kies. Nach einer Viertelstunde kam der Weingutsbesitzer zurück und schloss den Verkaufsraum zu. Florian ging zu ihm hin.

»Vormittags bin ich für den Verkauf verantwortlich. In meinem Alter freue ich mich, täglich neue Menschen treffen zu können. Hier führt das oft zu guten Gesprächen. Menschen, die gerne trinken, die genießen können, die reden auch gerne.«

Die beiden verließen das Anwesen und gingen zum Parkplatz. »Wir fahren nicht weit«, sagte Härringer beim Einsteigen.

Auf der Fahrt zeigte er sich schweigsam. Er gab Florian nur die jeweilige Richtung an, ansonsten wirkte er in sich gekehrt. Florian hatte manchmal den Eindruck, dass er eingeschlafen war. Kurz vor einer Abbiegung oder Kreuzung nannte er jedoch immer rechtzeitig die Fahrtrichtung. Er dirigierte Florian schließlich zu einer Kapelle und wies sogar den Parkplatz an. »Hier können Sie halten.« Dann stieg er aus und betrachtete, sich am Auto stützend, die Umgebung.

Die Kapelle, deren heller Putz das Sonnenlicht reflektierte, war von herbstlich verfärbten Reben umgeben. Auf einem Weg in der Nähe stand ein Traktor, an dem ein Fahrrad lehnte. Von Fern hallte Hundegebell herüber. Florian holte aus dem Auto seine Sonnenbrille und ging ein paar Schritte zum Hang. Das Bellen des Hundes war stärker zu hören. Florian erkannte durch Rebzeilen hindurch die Umrisse eines Bauernhofs.

»Kommen Sie«, rief es hinter ihm. Härringer war bereits Richtung Kapelle gegangen und stehen geblieben. »Orte gehören zu einem Leben wie wichtige Ereignisse«, sagte er, als Florian bei ihm ankam. »Ein spezieller Ort kann sogar eine größere Bedeutung haben, als eine Hochzeit oder die Geburt des Kindes.«

»Bedeutet dieser Ort hier viel für Sie?«

Härringer überlegte. Dann nickte er und ging weiter zur Kapelle. Florian folgte ihm und vermied es, in dem kleinen Gotteshaus weitere Fragen zu stellen. Härringer zündete am Altar eine Kerze an und setzte sich in die erste Reihe. Florian blieb an der hinteren Bankreihe stehen. Nach einer Weile stand Härringer auf und verließ die Kapelle. Er ging an Florian vorbei, ohne ihn anzusehen.

Florian wartete einen Augenblick und ging ebenfalls hinaus. Härringer wartete im Schatten. »Ja, dieser Ort hat eine ähnliche Bedeutung in meinem Leben wie meine Hochzeit und die Geburt meiner Tochter. Nicht die Kapelle, aber die Anhöhe mit den Reben und dem Waldstück dort unten.« Er zeigte zum Wald. »Hier oben war früher auch ein Schloss. Hat die Zeit aber nicht überlebt. Auf den Ruinen sozusagen, die letzten Mauern wurden im 18. Jahrhundert abgerissen und der Platz eingeebnet, wurde nach dem Krieg lange Zeit immer ein Weinfest veranstaltet. Mit Tanz und viel Wein natürlich. Ungenießbarer Saft. Das können Sie sich vorstellen. Damals wurden die Trauben nicht ausgelesen. Menge zählte, auch wenn die Fäulnis sich breitgemacht hatte. Weißherbst erhielt den Namen Händelstifter. Wirklich kein Wunder, dass man davon aggressiv wurde. Früher war nicht alles besser, Herr Buchmann, auch wenn es auf manchen vergilbten Fotos den Anschein hat. Das ist aber Nostalgie. Die beherrscht das Alter.« Er hielt kurz inne. »Aber nicht meines. Gehen wir ein Stück.«

Sie gingen in den Wald hinein, in dem der Boden bereits mit Laub bedeckt war. »Ich konnte damals lange Zeit die Geräusche des Weinfestes von der Anhöhe hören, während ich mit dem Fahrrad durch den Wald nach Hause fuhr. Ich stamme aus der Stadt. Meine Eltern wohnten in Lichtental.« Er blieb stehen. »Ich kann manche Stimmen, die Musik, Gelächter sogar noch heute hören.« Er schien den Geräuschen des Weinfestes zu lauschen.

Florian beobachtete ihn. Diese Art des Hintergrundgesprächs hatte er nicht erwartet.

»Ganz deutlich höre ich die Akustik der vergangenen Zeit. Ist das Nostalgie?«

Härringer schien keine Antwort zu erwarten und ging weiter. Florian blieb schweigend neben ihm, während nach und nach Sonnenstrahlen durch die Bäume blitzten und grelle Streifen in den Wald zeichneten. An einer Lichtung passierten sie ein kleines Kreuz, an dem frische Blumen und ein Grablicht standen. »Wenn ich eines dieser Kreuze am Wegrand sehe, frage ich mich immer, wie viel nicht gelebtes Leben dahinter verborgen ist«, sagte Härringer.

»Ida 1939–1956« stand auf dem Schild.

Florian betrachtete das kleine Kreuz und dachte an die vielen Todeshinweise, die überall an Straßen zu sehen waren.

»Wenn man alt ist, zieht es einen an die Orte der Kindheit und der Jugend«, erklärte Härringer und erwähnte weitere Ecken im Rebland. Das Schloss, das er vor fast einem Vierteljahrhundert gekauft habe, sei auch ein magischer Ort seiner Kindheit gewesen. »Wie viele Geschichten haben wir als Kinder um die Burg gesponnen. Da wollte ich immer hin. Und jetzt bin ich da. Sie kennen doch das Gefühl, in der ersten Liga zu spielen. Ähnelt es nicht einem Traum?«

Florian antwortete nicht. Es ging hier nicht um ihn, und er empfand die Bundesliga oft als Alptraum.

»Wenn man das Ziel erreicht hat, ist es dann noch ein Traum?«, fragte Härringer, offensichtlich ohne eine Antwort zu erwarten. Er sinnierte augenblicklich weiter über seine Vergangenheit und seine Träume. Florian ließ ihn reden. Er wollte ihn nicht ausfragen und seine Stimmung beeinflussen. Wenn ihm etwas wichtig erschien, konnte er ihn ja später danach fragen. Von Nutzen und bedeutsam für die Laudatio schien es sowieso nicht zu sein. Der Mann, der von einem Augenblick auf den anderen alt, müde und dann jung und unternehmenslustig wirkte, war wohl im Angesicht seines Geburtstages von Nostalgie beherrscht. Kann man in der Kindheit oder in der Jugend wirklich das spätere Leben erkennen, fragte er sich.

Sie gingen noch ein paar Meter in den Wald hinein und kehrten um. Als sie das kleine Kreuz erneut passierten, entdeckte er in Härringers Gesicht ein Zucken. Hatte er wieder die Klänge aus der Vergangenheit gehört?

Härringer schwieg die gesamte Rückfahrt über und gab auch keine Fahrtrichtung mehr vor. Florian fand zum Schloss nach Umweg jedoch problemlos zurück. Als Fußballprofi hatte er auch von seinem visuellen Gedächtnis profitiert. Spielzüge, einmal im Video oder auf der Tafel gesehen, waren abgespeichert.

Als sie aus dem Wagen stiegen, verabschiedete sich Härringer zu Florians Überraschung sofort. Von einem Kaffee war keine Rede mehr.

»Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich einfach an. Es ist ja noch etwas Zeit bis zu meinem Jubiläum. Ich faxe Ihnen auf jeden Fall die Einladungsliste zu. Sie könnten mit dem einen oder anderen im Vorfeld ja noch reden. Weggefährten sind mindestens genauso wichtig im Leben wie Orte. Alle eingeladenen Gäste haben aber noch nicht zugesagt. Wenn die Liste steht, markiere ich ein paar Namen.« Er reichte Florian die Hand. »Vielleicht beauftrage ich Sie, eine Biografie über mich zu schreiben. Als Germanist, der Buchmann heißt, können Sie das bestimmt. Ich habe das Gefühl, dass ich Ihnen mein Leben anvertrauen kann. Auf Wiedersehen.«

Sie schüttelten sich lange die Hände. Florian wunderte sich wegen des überraschenden Abbruchs. Härringer war wohl müde. Der Ausflug in seine Jugend, die Zeitreise, von der er ja nur Auszüge mitbekommen hatte, hatte ihn wahrscheinlich erschöpft. Ganz unglücklich über das Ende der Recherche war er aber nicht. Die Eindrücke reichten ihm. Ob er als sein Biograf arbeiten wollte, konnte er so schnell nicht sagen, aber grundsätzlich war er immer neugierig auf Biografien und das Leben, das sich hinter den Eckdaten verbarg.

»Auf Wiedersehen«, sagte er und erinnerte den Weingutsbesitzer an die Weinprobe. Ohne alle probiert zu haben, wollte er sich nicht auf die Sache einlassen. Sein Ruf war ja immerhin auch vom Kaiserstuhl bis nach Umweg gedrungen.

»Holen Sie die Flaschen im Verkaufsraum«, erwiderte Härringer. »Jetzt ist meine Tochter dort. Sie wird auch das Weingut weiterführen. Es hat mich gefreut, Herr Buchmann.«

Er ging über den Hof und bog um die Ecke zum Wohntrakt. Florian hörte seine Schritte im Kies. Dann ging er selbst zum Verkaufsraum und hinein. Eine Frau war gerade im Gespräch mit einem Kunden. Florian schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie war attraktiv, schick gekleidet und sprach schnörkellos über den von ihr ausgeschenkten Wein. Sie nahm ihn wahr und nickte ihm zu.

Er wartete, sie beobachtend und ihr zuhörend. Nach dem Kundengespräch kam sie zu ihm. Er stellte sich vor und nannte sein Anliegen.

»Ah, Sie sind der Fußballer.« Sie packte die noch immer aufgereihten Flaschen in einen Karton und überreichte ihm den Wein. »Bin gespannt auf die Laudatio.«

2

»Spanring holte sich den Ball an unserem Sechzehner und passte zu Zeyer, der mit dem Ball weit in die gegnerische Hälfte lief. Ich war links, hier.«

Er nahm seine Hand von ihrem Bauchnabel, berührte ihren linken Hüftknochen und ging mit seiner Hand wieder zurück in ihre Körpermitte. Die erneute Berührung ließ den nackten Bauch zucken.

»Zeyer überlegte, nach rechts zu passen zum Kanzler. Da waren aber Dunga und Buchwald. Ich lief in den Strafraum und Zeyer passte in den Raum. Mit dem linken Außenrist versenkte ich den Ball im langen Eck im oberen Winkel.«

»Wie Flohe«, sagte Ulla und berührte seine Hand, die sich im Torraum befand.

»Ja, wie Flohe«, sagte er stolz und stellte sich den Spielzug wie den anschließenden Jubel noch einmal vor. »Das war das 3:0 in der 70. Minute. Es hat geschüttet ohne Ende. Die mitgereisten Freiburger Fans waren aus dem Häuschen, und die Stuttgarter, Spieler wie Fans, waren richtig angepisst. Da war das Ding gelaufen.«

»Ich will dennoch dein drittes Tor spüren. Ich bekomme immer wieder Gänsehaut davon.«

Er zeichnete das 4:0 auf ihrem nackten Körper nach, und Ulla ging mit ihm in die Verlängerung. Anschließend richtete er etwas zu essen und schenkte zwei Gläser Wein ein.

»Das ist noch einmal Härringer-Wein. Die letzte Flasche aus dem Karton«, sagte er und schlüpfte zu Ulla unter die Bettdecke.

»Die bisherigen waren ja ganz gut. Wenn du die Weinprobe mit der Leidenschaft des Fußballreporters machst, wird das ein Erfolg.«

»Weinprobe, Laudatio, eine Biografie schreiben – vielleicht wird das ein neuer Geschäftszweig? Dann könnte ich eine Zusatzkraft einstellen.«

»Habt ihr über die Biografie noch einmal gesprochen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir haben kurz telefoniert. Er kündigte mir das Fax der Einladungsliste mit zwei unterstrichenen Namen an. Seine wichtigsten Weggefährten. Ein Schulfreund und sein erster Kellermeister. Ich habe beide kontaktiert, aber nicht erreicht. Zurückgerufen hat niemand.«

»Probiere es doch noch einmal. Sei hartnäckig.«

»Für die Weinprobe und die Laudatio benötige ich keine weiteren Informationen. Ich kenne seinen Lebenslauf, alle Stationen. Meine Linie ist klar. Ich bespreche acht Weine, die ich jeweils einem Jahrzehnt zuordne. Mit der Beerenauslese mit viel Restsüße ende ich – in der Kindheit. Die ist doch süßer als das Alter, oder?«

»Schöne Idee. Du rollst das Leben von hinten auf.«

»Genau.«

»Schade, dass ich nicht dabei sein kann.« Sie lächelte ihm zu. »Bin auch gespannt, was für Leute zu dem Fest im Schloss kommen. Weggefährten sind genauso wichtig wie Orte. Hat er doch gesagt? Klingt bedeutungsschwer.«

»Der Mann wirkte sentimental, zuweilen verwirrt. Den Eindruck hatte ich auch, als wir jetzt noch einmal telefonierten. Er erwähnte einen neuen Wein. Aus diesem Jahrgang. Den will er schon im nächsten Jahr als Jubiläumsedition herausbringen. 243 soll er heißen. Als ich ihn nach der Bedeutung des Namens fragte, sagte er sinngemäß: Das Leben verlaufe nicht chronologisch.«

»Der Mann spricht in Rätseln.«

Florian nickte zustimmend und grinste.

»Was ist?«

»Uns umgibt auch ein Rätsel.«

»Das wäre?« Sie grinste ebenfalls.

»Ich und der Ort hier, mein Haus, könnten retrospektiv gesehen für dich von großer Bedeutung sein und ein bis dahin bewahrtes Geheimnis offenbaren.«

»Orte gehören zu einem Leben wie wichtige Ereignisse, das hat Härringer dir doch auch gesagt.«

»Ein spezieller Ort kann sogar eine größere Bedeutung haben als eine Hochzeit oder die Geburt des Kindes.«

»Der Mann spricht nicht in Rätseln, sondern die Wahrheit.«

Er dachte darüber nach. Dann prostete er ihr zu. Das Klingen der Gläser zauberte ein Lächeln in ihre Gesichter und sie küssten sich vor der Weinverkostung. Dann schmeckten und spürten sie dem Wein lange nach und vermissten eine Struktur und eine Länge.

»Der hat keinen Körper.«

»Bleibt auf der Strecke liegen, verliert sich auf der Zunge.«

»Nicht jedes Jahrzehnt eines Lebens ist eben prickelnd. Aber die Quote seiner Weine ist schon gut.«

»Finde ich auch«, erwiderte Florian.

Sie ließen den Wein stehen und aßen nur die Häppchen. Anschließend stieg Ulla aus dem Bett und zog sich vor ihm an. Dann verließ sie ihn wie immer durch die Hintertür. »Gute Nacht.«

Am folgenden freien Vormittag fuhr Florian spontan und unangemeldet zu Härringer. Der Geburtstag und die Weinprobe fanden am Wochenende statt, und er wollte den Jubilar noch einmal vorher sehen. Er hatte das Gefühl, noch etwas Persönliches von Härringer selbst erfahren zu müssen, um den Jahrzehnten zugeordneten Weinen eine menschliche Note zu geben. Ein oder zwei Sätze pro Jahrzehnt, spontane Äußerungen des Jubilars, würden reichen, rechtfertigte er für sich den Überfall. Er hatte inzwischen alles im Netz Verfügbare über ihn gelesen. Es war eine schnörkellose Erfolgsgeschichte. Vom Arbeiterkind über ein Betriebswirtschaftsstudium zum Personalchef einer Papierfabrik in Baden-Baden. Mit Anfang fünfzig sattelte er dann zum Schloss- und Weingutsbesitzer um. In Fachzeitschriften wurden seine Weine seit Jahren in der Art besungen, die Florian zuwider war. Härringers Weine gefielen ihm jedoch. Auch deswegen freute er sich auf die Weinprobe, die er für sich nutzen wollte. Weinverkostung ging auch anders. Der Auftritt im Schloss konnte eine berufliche Weichenstellung sein. Für den Auftrag hatte ihm Härringer bereits sein Honorar überwiesen. Der Mann redete nicht nur. Er war ein Macher. Auch deswegen wollte er ihn noch einmal vor dem Termin erleben.

Er parkte vor dem Schloss und ging über den Kies zum Verkaufsraum. Die Tür war angelehnt. Er fasste an die Klinke und schob die Glastür auf. Auf der Innenseite der Scheibe entdeckte er unter dem Türgriff einen dunklen Fleck, der wie Blut aussah. Vielleicht war es aber auch ein Tropfen Rotwein.

Er trat in den Verkaufsraum und blieb stehen. In dem Raum mit den kleinen, heimelig beleuchteten Sitzecken war niemand zu sehen. »Hallo? Herr Härringer?«, rief er in Richtung der Probierstube. Dort war es dunkel. Er ging zum Eingang und rief noch einmal nach Härringer. Hinten in dem Gewölbe brannte Licht, das sich in den Weingläsern, die auf dem langen Tisch vor jedem Stuhl eingedeckt waren, spiegelte. Draußen war es bedeckt und finster. Der Wetterbericht hatte Regen angekündigt. Florian ging die Tafel entlang nach hinten in den Raum und rief wiederholt Härringers Namen. »Ich bin es, Florian Buchmann. Sind Sie hier? Ist jemand da?« Er ging zum Licht, das in einer kleinen Kammer leuchtete. In dem Raum waren Gläser und Wein in Kartons gestapelt. An einer dicken Arbeitsplatte war ein Tischkorkenzieher angebracht. Es roch nach Wein. Zwei entkorkte, halbleere Flaschen standen am Rand der Arbeitsplatte neben einem Korb mit trockenem Weißbrot.