Dschihad Online - Morton Rhue - E-Book

Dschihad Online E-Book

Morton Rhue

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Beschreibung

Er hat gute Noten, er geht auf Partys, er flirtet mit dem hübschesten Mädchen der Schule – auf den ersten Blick wirkt Khalils Leben wie das seiner amerikanischen Mitschüler. Doch der Schein trügt: Khalil und sein älterer Bruder Amir leben in einem heruntergekommenen Loch und halten sich nur notdürftig über Wasser. Amir sieht sich im Internet immer häufiger gewalttätige Videos von islamistischen Hasspredigern an. Außerdem twittert er über den Kampf gegen den "heuchlerischen Westen". Schon bald gerät auch Khalil in die Fänge der Islamisten. Der sechzehnjährige Khalil und sein Bruder Amir leben in den USA. Khalil ist dort geboren und hat auch eine amerikanische Freundin. Amir, noch aus der bosnischen Heimat geflohen, fällt es dagegen schwer, in dem neuen Land heimisch zu werden. Er ist in die Fänge radikaler Islamisten geraten und versucht, auch Khalil mithilfe islamistischer Propagandavideos vom Dschihad zu überzeugen. Als Khalils bester Freund abgeschoben wird und seine Freundin ihn verlässt, wird er für die Parolen seines Bruders empfänglich. Doch als er merkt, in was er da hineingeraten ist, nimmt die Katastrophe schon ihren Lauf …

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Impressum

Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2016 by Todd StrasserPublished by arrangement with Todd Strasser© der deutschsprachigen Ausgabe2016 Ravensburger Verlag GmbHÜbersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Nicolai von Schweder-SchreinerLektorat: Petra Deistler-KaufmannUmschlaggestaltung: Favoritbüro, MünchenVerwendete Fotos von © Stuart Monk/Shutterstock, © Stefano Cavoretto/Shutterstock und © GlebStock/ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47777-7www.ravensburger.de

Inhalt

( 1 )

( 2 )

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( 4 )

( 5 )

( 6 )

( 7 )

( 8 )

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( 10 )

( 11 )

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( 14 )

( 15 )

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( 20 )

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( 32 )

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( 40 )

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( 45 )

( 46 )

( 47 )

( 48 )

( 49 )

( NACHWORT )

( 1 )

»Wohin fahren wir?«, frage ich gähnend von der Rückbank. Es ist vier Uhr morgens und eiskalt im Wagen. Mein Atem bildet eine kleine Dampfwolke, Schneeflocken fliegen durch das offene Fenster. Draußen platzen die dichten Flocken aus der Dunkelheit ins Scheinwerferlicht.

»Keine Sorge«, antwortet Amir vom Beifahrersitz. »Tu einfach, was ich dir sage.«

Vor fünf Minuten schlief ich noch auf dem Sofa, bevor mein Bruder mich weckte und meinte, ich solle mich anziehen und Handschuhe mitnehmen. Jetzt sitze ich in diesem eiskalten Auto und habe keine Ahnung, wo mich Amirs zappeliger, kettenrauchender Freund Marat hinfährt. Vielleicht kann ich wenigstens herausfinden, wie lange es dauert.

»Ich muss später noch in die Schule«, sage ich. »Wir schreiben einen Test.«

»Bis dahin sind wir zurück.«

Amir friert lieber bei offenem Fenster, als die ganze Zeit den Qualm einzuatmen. Mir klappern die Zähne. Unter dem Parka habe ich nur ein T-Shirt an. »Geht die Heizung?«

Amir drückt einen Knopf, zieht dann den Handschuh aus und hält die Hand vor den Lüftungsschlitz. »Geht nicht.«

»Ich spür was«, sagt Marat. Die Glut seiner Zigarette glimmt im Dunkeln wie ein roter Laserpunkt.

»Da ist nichts.« Amir schlägt mit der Faust auf das Armaturenbrett. Der Knall dröhnt in meinen verschlafenen Ohren. Er legt die Hand wieder auf den Lüftungsschlitz. »Praktisch nichts. Tolles Auto hast du uns da organisiert.«

»Okay, nächstes Mal besorgst du den Wagen«, brummelt Marat, während er den Zigarettenrauch ausstößt.

»Dann geht jedenfalls die Heizung.«

»Als könnte ich von draußen mit der Taschenlampe sehen, ob die Heizung funktioniert«, verteidigt sich Marat.

Ihr nervöses Gequatsche sagt mir, dass sie etwas im Schilde führen. Niemand steht mitten in der Nacht auf und fährt durch einen Schneesturm, um mal eben einkaufen zu gehen. Jetzt fällt mir auch der Kindersitz auf und das Kreuz am Rückspiegel. Ich beuge mich vor und sehe einen Schraubenzieher unter dem Lenkrad rausragen, dort wo eigentlich der Zündschlüssel stecken sollte.

Es hat keinen Sinn zu fragen, was sie vorhaben. Ich werde es noch früh genug erfahren. Also ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf, lehne mich in die Ecke und schließe die Augen.

( 2 )

»Wach auf«, sagt Amir.

Es ist still und dunkel. Scheinwerfer und Motor sind ausgeschaltet. Wir stehen auf einem kleinen Parkplatz hinter einem flachen, fensterlosen Gebäude. Draußen rieselt leise der Schnee. Mein Bruder zeigt auf eine Tasche zwischen mir und dem Kindersitz. »Gib mal rüber!«

Ich reiche ihm die Tasche, und er holt eine schwarze Wollmütze und eine Sturmmaske raus. An beiden hängt noch das Preisschild. »Setz die auf.«

»Wo hast du die Sachen her?«, frage ich.

»Spielt das eine Rolle?«

Ich frage nicht weiter nach und folge seinen Anweisungen. Vorne ziehen Marat und mein Bruder ebenfalls ihre Sturmmasken über.

»Fertig?«, fragt Amir.

Marat macht die Tür auf. Schneeflocken wehen in den Wagen. Mein Bruder dreht sich zu mir um, ich kann nur seine Augen und seinen Mund erkennen. »Los geht’s!«

Die kalte Luft riecht frisch und sauber. Unsere Schuhe knirschen auf der dicken weißen Schneeschicht. Marat nimmt einen Werkzeugkasten aus dem Kofferraum und geht auf eine Tür zu, auf der in goldenen Klebebuchstaben LIEFEREINGANG steht. Er hockt sich vor das Schlüsselloch und stochert darin herum. Amir und ich warten, unsere behandschuhten Hände in den Taschen vergraben. Das einzige Geräusch ist das leise metallische Kratzen des Dietrichs im Schloss.

»Was ist damit?« Ich klopfe gegen das ausgeblichene rotweiße Alarmanlagenschild an der Tür.

»Die stellt sie nie an.«

»Sie?«, wiederhole ich und frage mich, was mich auf der anderen Seite der Tür erwartet.

»Die Besitzerin.« Amir nickt in Richtung Marat. »Er beobachtet den Laden seit Wochen.«

»Komm schon«, knurrt Marat und ruckelt mit seinem Dietrich.

»Was ist das Problem?«, fragt Amir.

Marat hat einen Tic. Er blinzelt dauernd, wenn er angespannt ist. »Kein Problem. Nur dass es ein gutes Schloss ist. Hab ich gleich.«

Amir nuschelt etwas über die blöden Amerikaner und ihre blöden Schlösser. Ich sehe auf mein Handy. Es ist 4:43 Uhr.

( 3 )

Als wir klein waren, bauten die Kinder in unserer Nachbarschaft Schneemänner oder machten Schnee-Engel. Nur Amir spielte immer Krieg. Groß angelegte Schneeballschlachten mit Burgen und Tunneln. Wenn er einem wehtun wollte, packte er ein Stück Eis in einen Schneeball und zielte auf dein Gesicht. Ein Junge namens Gary verlor auf diese Weise einen Milchzahn.

Eines Nachmittags waren Amir und ich draußen, und er fing an, mich mit Schneebällen zu bewerfen. Die ersten waren noch harmlos und flogen nur gegen meine Jacke. Aber dann traf mich einer am Ohr, sodass es brannte.

»Komm schon, wehr dich!«, rief er.

Als ich nicht reagierte, kam er näher und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor mich hin. »Na los. Du kannst mir auch einen ins Gesicht werfen.«

Aber das konnte ich nicht. Amir war mein großer Bruder. Er bestimmte, was wir machten. Er legte die Regeln fest. Er war der Anführer, der Chef. Ihn herauszufordern, war undenkbar.

Als ich mich immer noch nicht rührte, kniete Amir sich hin, nahm etwas Schnee und drückte ihn, so fest es ging, zusammen. Nur ein paar Schritte trennten uns. Als er ausholte, beugte ich mich vor und hielt mir die Hände vors Gesicht. Der Schneeball traf mich an der Schulter. Es tat nicht weh. Als ich hochsah, hatte Amir schon den nächsten Schneeball in der Hand.

Ich konnte mich nicht mehr rechtzeitig ducken. Der Ball traf mich an der Wange und hinterließ einen brennenden Schmerz. Eis und Schnee liefen mir übers Gesicht. Amir wusste genau, dass das verdammt wehtat.

»Jetzt wehr dich doch!«, rief er. Da ich immer noch nichts unternahm, formte er noch einen Schneeball und warf ihn nach mir. »Komm schon, du Mädchen. Na los, du Angsthase.«

Er warf einen Schneeball nach dem anderen und ließ eine Beleidigung nach der anderen los. Alle taten mehr oder weniger weh. Ich kämpfte mit den Tränen. Bei jedem anderen hätte ich den Kopf eingezogen und mich auf ihn gestürzt, egal, wie groß oder stark er war. Erfahrung hatte ich auch damals schon, ich weiß, wie man kämpft. Ich hatte keine Angst. Mit Angst hatte das nichts zu tun.

Irgendwann war Amir so frustriert, dass er einen Schneeball formte, herumwirbelte und ihn nach dem nächstbesten Auto warf. Der Ball klatschte gegen das Fahrerfenster. Der Mann am Steuer erschrak und trat auf die Bremse. Der Wagen kam schlitternd zum Stehen. Der Fahrer saß leichenblass und wie erstarrt da, als hätte er einen Herzinfarkt gehabt.

Dann drehte er sich plötzlich um und sah uns. Amir und ich rannten sofort los. Der Mann sprang aus dem Wagen und lief brüllend hinter uns her. Es war das erste Mal, dass ich von einem Erwachsenen verfolgt wurde. Mit dem Geschrei unseres Verfolgers in den Ohren sausten wir die Straße entlang, bogen um die Ecke in die nächste Straße, bis wir in eine Gasse kamen und uns hinter einem parkenden Auto versteckten.

Mein Herz pochte. Neben mir keuchte Amir und grinste. Nicht vor Erleichterung, dass wir entkommen waren, sondern triumphierend. Als hätten wir gewonnen.

Wir blieben lange dort hocken. Mir klapperten die Zähne, und ihm, glaube ich, auch. Aber die Kälte machte uns nicht so viel aus wie anderen. Unser Vater meinte, sie läge uns im Blut. Unsere Vorfahren hatten sich vor Hunderten von Jahren in den Bergen niedergelassen und sich so an die Kälte gewöhnt. Also zitterten wir und warteten. Es war Winter, die Tage waren kurz, und die Sonne würde bald untergehen. Endlich stand Amir auf. In der Dunkelheit waren wir sicher und konnten ungestört nach Hause laufen. Als wir aus der Gasse kamen, legte er den Arm um meine Schulter und drückte mich, als wollte er sagen: »Gut gemacht, kleiner Bruder.«

***

Das Schloss geht auf. Marat wischt sich den Schnee von den Schultern und drückt die Tür auf. Drinnen riecht es süßlich und parfümiert nach Kaugummi und Seife. Wir sind in einer Art Lagerraum. An den Wänden stehen Regale mit Schachteln voller Schokoriegel, Zigaretten, Batterien, Kautabak, Nudelsuppen, Softdrinks und Energydrinks. Mit einer Stiftleuchte führt Marat uns einen schmalen, ebenfalls mit Regalen vollgestellten Flur entlang und durch eine Schwingtür in den Laden. Die Deckenlampen leuchten nur schwach, aber durch die kleinen blauen, roten und gelben Lichter der Spielautomaten wirkt der Raum fast festlich. Neben dem Eingang steht ein Geldautomat. Marat und Amir hocken sich mit einem Bohrer und einem Hammer davor und machen sich an die Arbeit.

( 4 )

4:54 Uhr.

Amir schlägt mit dem Hammer auf den Geldautomaten ein. Nichts passiert. Keuchend stützt er sich auf den Knien ab und wirft Marat einen genervten Blick zu. »Ich dachte, du hast das schon mal gemacht?«

»Ist schon ein paar Jahre her. Offenbar werden die Dinger jetzt anders gebaut.«

»Und wie lange dauert das jetzt?«, fragt Amir.

»Vielleicht etwas länger, als ich dachte.«

»Ach, echt?« Amir nimmt den Hammer und schlägt weiter auf den Kasten ein.

***

5:06 Uhr.

Amir reicht mir den Hammer. Er ist schwer. Wiegt bestimmt fünf Kilo. »Versuch du mal.«

Das ist natürlich Schwachsinn. Mein Bruder schlägt seit zehn Minuten auf den Geldautomaten ein, ohne eine nennenswerte Delle fabriziert zu haben. Marat steht daneben und guckt genervt. Ich weiß nicht, ob ich ihm abnehmen soll, dass er das schon mal gemacht hat. Vielleicht kriegt er ein Türschloss auf, aber der Geldautomat ist wie ein Tresor gebaut. Kein Wunder. Wer immer die Dinger entworfen hat, hat wahrscheinlich mit idiotischen Einbruchsversuchen wie unserem hier gerechnet.

Amir schiebt mich vor. »Mach schon.«

Es ist reine Zeitverschwendung, aber was soll ich machen? Als ich zum Schlag aushole, sehe ich durchs Schaufenster in einiger Entfernung ein Licht durch das Schneegestöber schimmern. »Was ist das?«

Amir reißt den Kopf hoch. »Vielleicht ein Auto.«

Im nächsten Moment sind wir auf den Knien und sammeln das Werkzeug ein. Das schimmernde Licht wird heller, und als wir durch die Schwingtür nach hinten verschwinden, sind zwei daraus geworden – Scheinwerfer.

Wir sitzen im engen Flur und verschnaufen.

»Vielleicht sollten wir abhauen«, flüstert Marat und blinzelt hektisch.

»Zu spät«, flüstert Amir zurück. »Die sehen uns.«

Er drückt die Tür einen Spalt auf. Wir warten mit klopfendem Herzen, der säuerliche Geruch unserer nassen Wollmützen vermischt sich mit dem Duft von Süßigkeiten und Reinigungsmitteln.

Amir flucht leise.

»Was?«, fragt Marat.

»Polizei.«

Mein Puls jagt.

»Sicher?«, fragt Marat.

»Ob ich sicher bin? Bist du bescheuert? Glaubst du, ich weiß nicht, wie Bullen aussehen?«

»Was machen sie?«, frage ich.

»Leuchten mit einer Lampe aus dem Auto«, erwidert Amir. »Wir können nur hoffen, dass sie bei dem Wetter keine Lust haben auszusteigen.« Er schüttelt den Kopf. »Beknackte Bullen. Haben die nichts Besseres zu tun?«

»Die Werkzeuge sind alle weg«, erklärt Marat. »Eigentlich dürften sie keinen Verdacht schöpfen.«

Doch da täuscht er sich.

»Die Reifenspuren«, flüstere ich.

( 5 )

Wenn die Polizisten die Reifenspuren bemerken, die hinter den Laden führen … wenn sie den Spuren folgen und den Wagen finden, den Marat gestohlen hat …

Wir bleiben zwischen den Regalen hocken, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Amir späht immer noch durch die Tür. Der penetrante Geruch nach Süßigkeiten und Seife wird immer unerträglicher. Aber sollten wir hier heil herauskommen, muss ich daran denken, Futter für Mačka und Nudelsuppen mitzunehmen.

5:30 Uhr. Nachricht von Vitaly.

Steh auf.

Bin ich schon.

Quatsch.

Echt

Fertig?

Kann nicht.

?

Hab zu tun.

???

»Nicht jetzt!«, zischt Amir wütend, als er sieht, was ich mache.

»Ist nur Vitaly«, flüstere ich.

»Es ist immer Vitaly. Schreib ihm doch, er soll herkommen. Vitaly, mein lieber Freund, komm her und versteck dich mit uns vor der Polizei.«

Ich gehorche und stecke das Handy weg. In der Hosentasche vibriert es erneut. Als Amir das hört, sieht er mich böse an und schüttelt warnend den Kopf.

***

Ich war sechs, als mein Vater mich zum ersten Mal mit in den Zirkus nahm. Ich war völlig fasziniert von den Elefanten und Pferden. Den Clowns und Akrobaten. Von dem Mann, der aus einer Kanone geschossen wurde.

»Will jemand ein Eis?«, fragte Dad nach der Vorstellung. Was für eine Frage! Amir und ich liebten Eis mehr als fast alles andere auf der Welt.

Wir mischten uns unter die Leute, die dicht gedrängt vor einem Glastresen standen. Als wir endlich vorne waren, presste ich die Hände gegen das kalte, feuchte Glas und sah zu, wie ein Mann und zwei Frauen in Höchstgeschwindigkeit Waffeln und Becher füllten. Ich war zu klein, um über den Tresen zu gucken, und überlegte stattdessen, was ich nehmen sollte. Cookie-Dough war meine Lieblingssorte, aber jedes Mal, wenn der Eislöffel in einen der Behälter fuhr, fragte ich mich, ob ich nicht lieber etwas anderes ausprobieren sollte. Schokolade-Karamell, Erdbeer-Joghurt? Das grüne Zeug mit den Nüssen? (Nein, das nicht.)

Es schien endlos zu dauern. Andere Kinder mit ihren Eltern drängten sich neben uns, bekamen ihre Waffeln und verschwanden wieder. Dann hörte ich, wie Dad seine raue Stimme erhob: »Entschuldigen Sie? Können wir bitte ein Eis bekommen? Hallo?«

Ich sah nur, wie die Hände hinter der Glasscheibe das leckere Eis in Kugeln herausschaufelten.

Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und sah hoch in das gerötete Gesicht meines Vaters. Er hatte Lippen und Augen zusammengekniffen. Kopfschüttelnd zog er mich weg.

»Aber was ist mit meinem Eis?«, fragte ich mit der Verzweiflung eines Sechsjährigen, als er mich aus der Menge führte.

»Wir holen uns eins auf dem Heimweg«, grummelte er.

Das war nicht dasselbe.

»Ich will aber das Eis da.« Ich versuchte stehen zu bleiben, aber er packte fester zu und lenkte mich weiter. Ich stemmte mich dagegen und wollte mich aus seinem Griff winden. »Nein! Das andere will ich nicht …«

Eine Hand packte mich an der anderen Schulter. Ich sah in Amirs rot angelaufenes Gesicht. Auch er hatte die Lippen zusammengepresst, die Augen waren zwei Schlitze. Warnend schüttelte er den Kopf.

Diesen Blick würde ich noch öfter zu sehen bekommen.

***

Amir späht noch durch die Tür. »Sie hauen ab.«

Ich atme erleichtert auf. Marat will aufstehen.

»Noch nicht«, befiehlt Amir.

»Warum nicht?«

»Ich will nur sichergehen.«

Ich sehe auf mein Handy. 5:35 Uhr. »Wann geht die Sonne auf?«

»Nicht vor sieben«, sagt Marat.

»Aber es wird schon vorher hell«, erinnere ich sie.

Amir flucht und steht auf. »Okay. Ab jetzt hört ihr auf mein Kommando.«

( 6 )

10:38 Uhr.

Eine Nachricht von Vitaly weckt mich. Ich liege wieder zu Hause auf dem Sofa unter der Decke.

Wo bist du?

Müde. Sprechen später.

Komm in die Schule!

Nee

Chemie-Arbeit!!

Mein Gehirn ächzt unter dem Gewicht der schlafarmen Nacht. Das mit der Chemie-Arbeit ist sowieso schon ein Nachschreibtermin. Die Nachricht heute Morgen um 5:30 Uhr hat Vitaly mir geschrieben, damit ich vorher noch lerne. Er wollte sich sogar an den Computer setzen und mir helfen.

Hast du gelernt?

Nee

Komm in die Schule!!!!

Wozu, Mann?

Nenn mich nicht Mann!

Ich mache das Handy aus, rolle mich auf die andere Seite und ziehe mir das Kissen über den Kopf. Draußen rumpelt ein Schneepflug durch die Straße. Das Geräusch erinnert mich an die Panzer in Kriegsfilmen. Dad hat immer von den Panzern in den Straßen erzählt, bevor Mom und er aus Srebrenica geflohen sind. Artillerieangriffe. Ganze Wohnblöcke gingen in die Luft, Hunderte von Männern und Jungen zogen in den Kampf, wurden abgeschlachtet und in engen Gruben platt gewalzt. Die Frauen und Kinder blieben halb verhungert zurück, aßen ihre Haustiere und erfroren in der Kälte. Schule? Wer hatte dafür schon Zeit, wenn man den ganzen Tag in den Trümmern nach Essensresten und Feuerholz suchen musste? Einmal sah Dad eine Familie in Tränen aufgelöst zum Friedhof fahren, der ganze Wagen war voller Angehöriger und der Tote – ein junger Kämpfer in zerrissenen, blutverschmierten Tarnklamotten – oben auf dem Dach festgebunden.

Mačka läuft über meinen Kopf und miaut. Ich schiebe sie weg, aber sie ist sofort wieder da. Sie hört erst auf, wenn ich sie füttere.

»Okay, okay.«

Ich stehe auf, die Decke um die Schultern gewickelt. Seit letzter Woche ist es eiskalt hier. Keine Heizung. Amir hat sich bei unserem Vermieter Mr Zent beschwert, der gleich damit drohte, ihn bei der Einwanderungsbehörde zu melden, wenn er weiter nervt.

Auf Mačkas Wasserschüssel in der Küche hat sich eine dünne Eisschicht gebildet. Ich steche sie mit dem Finger durch und öffne eine Dose Friskies, die ich vorhin aus dem Laden mitgenommen habe. Eigentlich will ich mich wieder hinlegen, aber jetzt habe ich doch Hunger. Tee kochen geht auch nicht, da kein Wasser aus dem Hahn kommt. Wahrscheinlich sind die Rohre eingefroren. Kaum etwas im Kühlschrank ist nicht mit einem graugrünen Flaum belegt. Ich weiß nicht mal, ob das Ding überhaupt funktioniert. Jedenfalls kommt es mir darin wärmer vor als in der Küche.

Mein Magen rumort. Wenn ich jetzt gehe, schaffe ich es vielleicht noch rechtzeitig zum Mittagessen in die Schule.

( 7 )

Tash sitzt an seinem Tisch und isst, als ich mich durch den Seiteneingang bei der Laderampe schleiche. Tash ist der Hausmeister unserer Schule und ein Freund von meinem Vater. Sie kommen aus demselben Viertel in Srebrenica. Wie immer trägt Tash eines seiner karierten Hemden unter einer hellgrauen Strickjacke. Seine Sachen stammen alle aus dem Secondhandladen.

Mit starkem Akzent sagt er: »Ah, Khalil, früh dran heute.«

»Sehr witzig, Tash.« Gleich ist Mittagspause.

Auf seinem Schreibtisch liegen Teile von einem Händetrockner. »Was machst du da?«, frage ich, während ich meinen Parka in den Rucksack stopfe.

»Direktor Walsh sagt: ›Tash, heilmachen ist Zeitverschwendung. Kauf einfach neu.‹ Niemand macht irgendwas heil in diesem Land. Kaputt? Schmeiß weg. Kauf neu. Ich nicht.« Mit seinem dicken, schwieligen Finger tippt er gegen einen offenen Karton. Darin liegt etwas, was aussieht wie eine Metallfeder, die auf einen runden Rahmen gespannt ist. »Ich bestell Teil und tausch aus. Gut wie neu.«

»Dafür hast du Zeit?« Ich weiß, dass er sowieso schon von morgens bis abends in der Schule hockt.

»Ist meine Mittagspause«, sagt er. »Ich will das heilmachen, das ist meine Arbeit.«

»Ich schätze, du sparst denen eine Menge Geld.«

»Und wie! Aber dankt man mir? Nie. Immer es heißt nur: ›Verschwende nicht deine Zeit, Tash. Kauf einfach neu.‹ Ich sag dir, Khalil, die Leute hier sind verrückt. Niemand macht irgendwas heil. Reifen platt, Kühlschrank, Computer kaputt? Kauf neu.«

»Nicht so wie zu Hause, was?«

Er grinst. »Nein, gar nicht. Besser. Viel besser. Hier bestellst du Ersatzteil, kein Problem. In zwei Tagen ist da. Du hast Job. Wohnung. Zweihundert Programme im Fernsehen. Wenn du in Supermarkt gehst, ist immer Essen im Regal. Wenn du krank bist, es gibt Arzt. Und das Beste? Die Leute bringen sich nicht gegenseitig um.«

Tash war genau wie meine Eltern Mitte zwanzig, als die Moslems in ihrer Heimat massakriert wurden. Dad entkam mitten in der Nacht mit Mom und Amir, der gerade ein Jahr alt war. Sie hatten Glück. Mehr als 8000 muslimische Männer und Jungen wurden niedergemetzelt. Meine Eltern landeten in den USA und baten um Asyl. Sie bekamen eine »unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigung«, schafften es aber nie, die Staatsbürgerschaft zu beantragen, weil ihr Englisch zu schlecht und der Papierkram zu kompliziert für sie war. Außerdem spielte es keine große Rolle. Als Asylbewerber konnten sie so lange bleiben, wie sie wollten.

Tashs braune Gebetsperlen liegen wie ein kleiner Haufen auf dem Arbeitstisch, der Gebetsteppich steht zusammengerollt in der Ecke. An die Wand gemalt ist ein grüner Qibla-Pfeil. Die meisten Leute wissen nicht, dass er die Richtung anzeigt, in der man nach Mekka betet.

»Vielleicht bringen sie hier niemanden um, aber was ist mit drüben?«, frage ich.

Tashs Grinsen verblasst. Er weiß, was ich meine. Als Moslem in Amerika weiß man das. Mit gedämpfter Stimme erwidert er: »Der Koran sagt, Friedlichkeit ist stärker als Waffen. ›Die auf Allah hörten … nachdem sie eine Niederlage erlitten hatten, die Gutes taten und gottesfürchtig waren, für die ist großer Lohn bestimmt.‹«

Wir alle wissen, was der Koran sagt. Meine Familie hat vielleicht nicht regelmäßig gebetet und ist nicht oft in die Moschee gegangen, aber das sind die Zitate, über die beim Essen und bei starkem schwarzem Tee gestritten wird, dort, wo man unter sich ist und die Ungläubigen einen nicht hören.

»Der Koran sagt auch: ›Die Erlaubnis, sich zu verteidigen, ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah‹«, erinnere ich ihn. »Wie lange führt dieses Land schon Krieg gegen die Moslems, offen oder heimlich?«

Tash runzelt die breite Stirn und sieht mich mit gequälter Miene an. »Wissen deine Eltern, dass du so redest?«

»Sie haben genauso geredet … Manchmal. Und du auch.«

Tash sammelt seine Gebetsperlen auf und rollt sie in der Hand. »Du solltest mit dem Imam sprechen. Morgen Abend, zum Maghrib-Gebet. Dein Bruder ist auch da. Komm mit ihm. Versprochen?«

In die Moschee gehen, ist so ziemlich das Letzte, wozu ich an einem Freitagabend Lust habe.

Tash sieht mir meinen Widerwillen offenbar an. »Denk daran, was deine Eltern durchgemacht haben, um herzukommen, Khalil.«

Sie waren aus Bosnien nach Italien geflohen und hätten auch dort bleiben können, aber Amerika war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Schlaraffenland, in dem ich zur Welt kommen und dessen Staatsbürger ich werden sollte.

»Okay, Tash, wenn es dir so viel bedeutet, verspreche ich es.«

Die Glocke läutet. Zeit fürs Mittagessen. Als ich nach meinem Rucksack greife, packt mich Tash mit seiner kräftigen Hand am Arm. »Denk nicht, dass ich richtig finde, was Amerika dort macht. Kein Moslem tut das. Aber was ist besser, Khalil? Hier leben oder dort sterben?«

( 8 )

Wenn man die Abkürzung durch den Bandraum nimmt, kommt man direkt vom Verwaltungsbereich in die Cafeteria, ohne lange durch die Flure laufen zu müssen, wo man mich erwischen kann.

Als ich mich an unseren Tisch setze, blinzelt Vitaly mich durch seine Brille überrascht an. »Ich glaub, ich seh nicht richtig.«

»Ich muss die Arbeit nachschreiben, falls du dich erinnerst.«

»Ich dachte, du hättest nicht gelernt.«

»Stimmt, diesmal weiß ich aber, welche Antworten falsch sind.«

Vitaly putzt sich die Brille mit dem Zipfel seines hellblauen Oxford-Shirts, das seine Mutter für ihn ausgesucht hat. Bevor er nachher nach Hause geht, wird er die Krawatte wieder umbinden, die er heute Morgen beim Aus-dem-Haus-Gehen getragen hat. Vor sich hat er eine Tupperdose mit Djepelgesch, eine Thermoskanne schwarzen Tee und ein paar in Frischhaltefolie eingewickelte Karotten. Ich nehme mir etwas Djepelgesch. Selbst kalt schmecken die Kartoffelfladen mit Zwiebeln und Butter köstlich.

Vitaly setzt die Brille wieder auf. »Und warum konntest du nicht lernen, als ich dir geschrieben habe?«

»Ist was dazwischengekommen.«

»Um halb sechs Uhr morgens?«

Ich zucke mit den Schultern und trinke einen Schluck von seinem starken, süßen Tee.

Vitaly wird ernst. »Bro, du musst deinen Abschluss machen. Das ist Teil des Plans.«

»Welcher Plan?«, frage ich. »Sportmanagement? Cupcakes verkaufen? Verlorene Socken ersetzen? Ich hab den Überblick verloren.«

»Wir studieren. Ich Informatik, du Marketing. Wir starten die Firma über ein Crowdfunding. Ich bin Back Office, du Front Office.«

»Sag noch mal, was das bedeutet.«

»Ich bin der Kopf, du das Gesicht.«

»Warum kann ich nicht der Kopf sein?«

»Könntest du, aber wer soll dann das Gesicht sein? Ich? Dann können wir den Laden gleich zumachen.«

Kennt ihr das, wenn jemand wie eine Klette an einem hängt? Und immer wenn man sich umdreht, ist er da? Anfangs denkt man noch: »Wer ist der Typ? Lass mich in Ruhe.« Es wäre nicht ganz falsch, Vitaly als kleinen Gnom zu bezeichnen. Und mit seinen Zähnen sieht er aus wie eine Ratte. Man ist also erst mal skeptisch. Aber nach einer Weile stellt man fest, dass er ein wirklich guter Typ ist, lustig, voller Energie und Fantasie – und hilfsbereit. Außerdem ist er Moslem, und seine Eltern sind Einwanderer, genau wie meine. Dass er sich »an mich gehängt« hat, gehört zu den positiven Dingen, die mir an dieser Schule widerfahren sind.

»Was muss das Gesicht machen?«, frage ich.

»All das, worin du gut bist. Mit den Leuten reden. Deinen Charme spielen lassen. So sein, dass sie dich mögen und unser Produkt kaufen.«

»Wir haben ein Produkt?«

Vitaly sieht mich verwundert an. Er beugt sich vor und flüstert mir ins Ohr, nur für den Fall, dass sich Industriespione in der Cafeteria rumtreiben. »Die RumMach-App. Auf der kannst du sehen, wo der Rest der Familie ist, damit sie dich nicht erwischen, wenn du zu Hause auf dem Sofa rummachst.«

Das ist zwar lustig, aber irgendwie auch traurig. Wenn es eine App gäbe, die Vitaly gern benutzen würde …

»Weißt du, dass ein Typ seine App für dreißig Millionen an Yahoo verkauft hat?«, fährt Vitaly aufgeregt fort. »Dreißig Millionen! Eine einzige App, und wir haben ausgesorgt!«