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Kann ein Spiel Leben verändern? Gemeinsam mit seiner Lehrerin hat Caleb eine E-Sport-AG an der Ironville Middle School gegründet. Interessierte Schülerinnen und Schüler sind schnell gefunden. Genauso wie das Spiel, das sie für die nächsten Wochen spielen werden. ›The Good War‹ basiert auf dem Zweiten Weltkrieg, über den die Siebtklässler kaum etwas wissen. Noch nicht. Sie teilen sich in Alliierte und die Achsenmächte auf, und zwischen Mobbing, Freundschaft und Siegeslust verhärten sich die Fronten. Je tiefer sie sich im Spiel verstricken, desto mehr wird ihnen klar, dass sie sich nicht nur mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen müssen, sondern auch mit sich selbst.
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Seitenzahl: 213
An der Ironville Middle School gibt es eine neue E-Sport-AG. Neun Wochen lang spielen die Teilnehmer das angesagte Computerspiel The Good War, das auf dem Zweiten Weltkrieg basiert. Es ist ein Krieg, über den die Spieler noch kaum etwas wissen. Dennoch teilen sie sich in zwei Teams auf – Achsenmächte und Alliierte. Die Fronten verhärten sich schnell, nicht nur auf den Bildschirmen. Denn Uniformen, unerwartete Bündnisse und gegenseitiges Misstrauen beginnen, das Leben der Siebtklässler zu bestimmen. Und dann treibt einer von ihnen das Spiel zu weit …
Morton Rhue
Wenn aus Spiel Realität wird
Aus dem Englischen von Angela Lück
Für Barb, Lia, Geoff, Julia und Ben
Die Schulglocke läutete zum ersten Mal. Goofy Foot alias Zach Cook bahnte sich einen Weg durch die Schülermassen der Ironville Middle School. Mit einem Rucksack über der Schulter und einem Skateboard unter dem Arm schlängelte er sich durch die Menge. Als er versehentlich ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren anrempelte, fauchte es ihn an: »Pass doch auf, wo du hinläufst.« Andere Kinder warfen ihm finstere Blicke zu, während er sich an ihnen vorbeidrängelte. Aber das waren die Gegner. In Gedanken befand sich Goofy Foot im Computerspiel The Good War, und die ganze Schule war feindliches Gebiet.
Goofy Foot verstaut sein Skateboard im Schließfach und betritt das Jungsklo. Strenger Geruch schlägt ihm entgegen. Er versteckt sich in einer Kabine und wartet das nächste Klingeln ab. Goofy Foot will nicht riskieren, am Urinal in einen Hinterhalt der Feinde zu geraten.
Die Toilettentür öffnete sich knarrend, und die Stimmen von Gavin Morgenstern und Ratface Fugard waren zu hören. Zach hielt den Atem an. Ratface, eigentlicher Name Crosby, schikanierte Zach bei jeder Gelegenheit. Wenn Ratface ihn hier erwischte, war Zach so gut wie tot.
Goofy Foot kauert sich in der Kabine zusammen. Durch den Spalt zwischen Kabinentür und Türrahmen beobachtet er die Feinde.
»Ich habe gehört, dass Robbies Eltern nach Franklin gezogen sind, damit Robbie dort im Footballteam spielen kann«, sagte Ratface. Er stand vor dem Spiegel und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar. Seine lange Nase erinnerte Zach an eine Ratte.
»Ja«, brummte Gavin am Urinal.
»Ich wünschte, meine Mom würde auch so etwas tun«, fuhr Ratface fort. »Voll ätzend, dass Ironville Football gecancelt hat. Stell dir vor, wir könnten alle nach Franklin ziehen und dort spielen.«
»Das ist eine große Schule«, gab Gavin zu bedenken. Er hatte rote Haare und Sommersprossen. »Glaubst du echt, du würdest es dort ins Team schaffen?«
»Hey, ich bin vielleicht nicht groß, aber ich bin schnell«, erwiderte Ratface.
Versteckt in seiner Kabine, dachte Zach darüber nach. Ratface mochte zwar schnell sein, aber er war klein. Sogar kleiner als Zach. Es gab viele Kinder, die genauso schnell waren, aber dazu noch größer. Gavin wiederum war der größte Junge des Jahrgangs. Er erinnerte Zach an Duke Nukem. Niemand würde denken, dass ein so stämmiger Junge wie Gavin auch schnell und wendig sein konnte, aber wenn sie Football oder Basketball im Sportunterricht spielten, gewann sein Team immer.
Gavin trat vom Urinal zurück. Er räusperte sich und starrte zur Decke hinauf.
In seiner Kabine blickt Goofy Foot nach oben. Seine Augen nehmen etwas Erstaunliches wahr. An der Decke kleben Dutzende getrocknete bräunlich grüne, herabhängende Klumpen. Wie eine Höhle aus schleimigen Stalaktiten.
Mit zurückgelegtem Kopf zog Gavin Schleim hoch und feuerte ab. Platsch. Sein Rotz klatschte gegen die Decke und blieb kleben.
Aber in der Mitte hing er durch, dehnte sich wie Knete, bis er mit einem Plopp zu Boden fiel.
»Mist«, brummte Gavin.
»Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte Ratface.
Die Schulglocke läutet, und Gavin und Ratface verlassen das Klo. Wieder allein tritt Goofy Foot aus der Kabine. Aber bevor er in seine Klasse geht, bleibt er mitten im Raum stehen und legt den Kopf in den Nacken. Es ist zu verlockend, um es nicht zu versuchen. Er zieht seinen eigenen Kloß schleimiger Munition hoch, zielt, feuert ab!
Doch leider fehlt es seinem Rotzgeschoss an Feuerkraft. Es schafft nicht einmal den halben Weg bis zur Decke, bevor es sich in Tropfen auflöst und zurückfällt.
Es stürzt ab und platscht Goofy Foot ins Gesicht.
Jeden Moment würde es läuten. Ms Peterson hatte es endlich geschafft, die Schulleiterin, Ms Summers, in den Computerraum zu locken, um ihr die acht frisch eingetroffenen, glänzenden Providia-Gaming-Computer zu zeigen.
Ms Summers, eine zierliche, adrett gekleidete Frau mit kurzen schwarzen Haaren, war eine strenge, aber stets faire Rektorin. Mit einem glänzend roten Fingernagel fuhr sie an der oberen Kante von einem der 24-Zoll-Monitore entlang. »Wie können die uns nichts kosten?«, fragte sie.
»Wir haben sie als Fördermittel zur Digitalisierung von Schulen mit geringem Budget bekommen«, sagte Ms Peterson. »Dazu gehört sogar ein Upgrade für unsere Internetverbindung, außerdem neue Router und diese Gaming-Set-ups.«
Die Schulleiterin nickte vorsichtig. Sie hatte eindeutig Zweifel an der Einführung von E-Sport an der Schule. »Können wir sie auch für etwas anderes außer für Spiele verwenden?«
»Auf jeden Fall«, sagte Ms Peterson. »Wenn sie nicht von der E-Sport-AG genutzt werden, stehen sie für Schulprojekte zur Verfügung. Und sie können dreidimensionale Modellierungsprogramme und Photoshop, dafür sind unsere bisherigen Computer nicht geeignet.«
Ms Summers griff nach einem der neuen Headsets, die mit den Providias geliefert worden waren. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie eine E-Sport-AG jemals das Footballteam ersetzen kann.«
»Es ist furchtbar, dass die Schulbehörde Football streichen musste«, sagte Ms Peterson, »aber hoffentlich finden die Schülerinnen und Schüler durch die neue AG etwas, das ihr Schulleben bereichert – und für das sie sich begeistern.«
Die Schulleiterin lächelte dünn, so als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob das stimmen konnte. »Tun Sie mir einen Gefallen? Das Kollegium soll wissen, dass diese Computer aus einem Förderprogramm finanziert wurden. Ich will nicht, dass irgendjemand denkt, wir gäben unsere spärlichen Mittel für eine E-Sport-AG aus.«
Ms Peterson versicherte es ihr. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass es riskant war, sich an einer Schule für E-Sport zu engagieren. Aber da die Schule nun kein Footballteam mehr besaß, wollte sie alles tun, um den Schulgeist zu stärken.
Die Schulglocke läutete. Die Schulleiterin musste für die Morgendurchsage zurück in ihr Büro. Ms Peterson ging zu ihrer Klasse. Obwohl das Schuljahr erst vor wenigen Wochen begonnen hatte, brauchte sie den Sitzplan nicht mehr, um zu wissen, wer nicht da war. Eine Schülerin fehlte seit zwei Tagen wegen einer Erkältung. Die Mutter eines anderen Schülers hatte am Morgen gemailt, dass es ihrem Sohn nicht gut ging. Und dann war da noch Zach Cook, der immer zu spät zum Unterricht kam.
Ms Peterson setzte sich ans Pult, gespannt darauf, wie die Kinder auf die Morgendurchsage reagieren würden.
Caleb Arnett saß in Ms Petersons Klasse in der ersten Reihe und kaute nervös auf einem Stift herum. Erst vorhin im Schulbus hatte er zufällig mitbekommen, wie Crosby Gavin von seinem Plan erzählt hatte, bei der Mathearbeit am Nachmittag zu schummeln. Caleb hielt sich zwar nicht für einen Engel, aber er hasste es, wenn Klassenkameraden betrogen. Er würde es in Ordnung finden, wenn es jeder dürfte. Denn dann wären die Bedingungen für alle gleich. Aber die meisten Kinder schummelten eben nicht. Nicht unbedingt, weil sie es für falsch hielten, sondern weil sie erwischt werden konnten und das ihrem Ruf schadete. Und diesen Ruf, ein Betrüger zu sein, wurde man nie wieder los. Caleb war zwar erst in der siebten Klasse, aber er war schlau genug, um das verstanden zu haben.
Caleb dachte gerade darüber nach, was er wegen Crosby tun sollte, als die Klassenzimmertür aufflog und Zach hereinstürmte – wie immer zu spät. Er schleifte seinen Rucksack hinter sich her und wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab.
»Warum kommst du dieses Mal zu spät, Zach?«, fragte Ms Peterson.
Zach war ein eigenartiger Junge, der einem nie in die Augen sah. Er sprach kaum und hatte mehr nervöse Angewohnheiten als jeder andere, den Caleb je gekannt hatte. Er knabberte an seinen Nägeln, kaute auf seiner Lippe, zupfte an seiner Kopfhaut, blinzelte ständig und konnte nicht stillsitzen. »Tut mir leid, Ms Peterson«, sagte Zach. »Ich habe mich angerotzt.«
Die Klasse brach in Gelächter aus. Typisch Zach Cook. Noch während er sprach, versicherte er sich mit einem Blick zur Klasse, dass alle ihm zuhörten.
Ms Peterson erstarrte. »Zach!«, sagte sie streng. »Was hast du gerade gesagt?«
»Ich sagte, ich habe mich angerotzt.« Zach wiederholte das Wort mit Nachdruck.
Die Klasse kicherte immer noch, aber Ms Peterson entspannte sich. »Oh, ich dachte, du hättest etwas anderes gesagt. Setz dich auf deinen Platz. Und vielleicht könntest du morgen, wie durch ein Wunder, pünktlich sein?«
Zach ging zu seinem Tisch im hinteren Teil des Raumes. Caleb dachte wieder darüber nach, was er gegen Crosbys Betrugspläne unternehmen sollte.
Die Klasse mochte über Zachs Eigenheiten lachen, aber Emma Lopez fand sie einfach nur irritierend. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf diese Weise im Mittelpunkt zu stehen. Schon allein bei dem Gedanken an all die starrenden Augenpaare wollte sie von ihrem Stuhl rutschen und sich auflösen. Was würde man wohl über sie sagen, wenn sie sich zum Gespött der Leute machte? Was, wenn jemand sein Handy zückte und die Aufnahme auf Snapchat postete? Man stelle sich die Memes vor! Sie fürchtete sich davor, dass jemand etwas über sie postete und sie dadurch online auffallen könnte.
In diesem Moment begann die morgendliche Durchsage. »Schon von der neuen E-Sport-AG hier an der Ironville Middle School gehört?«, fragte der Schülersprecher. »Was? Hast du E-Sport gesagt? Richtig gehört. Wir haben gerade acht brandneue, voll ausgestattete Providia X-Master Gaming-PCs bekommen. Nur dank Ms Peterson und Caleb Arnett. Wenn du also gern zockst und mehr wissen willst, komm zur Infoveranstaltung heute nach der Schule im Computerraum.«
Wie immer hörte die Hälfte der Klasse nicht zu, aber Emma wurde hellhörig. Eine E-Sport-AG? Sie schaute ein paar Plätze weiter zu Caleb. Er war ein großer, schlanker Junge mit hellbraunen Haaren und ein wenig abstehenden Ohren. In diesem Augenblick grinste er voller Stolz. Als hätte er Emmas Blick gespürt, drehte er sich um und sah sie an. Emma merkte, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. Hoffentlich wurde sie nicht rot. Mit den Lippen formte sie das Wort »Danke« zu Caleb. Sein Grinsen wurde breiter.
Diejenigen, die bei der Durchsage zugehört hatten, begannen, mit ihren Sitznachbarn zu schwatzen. Einige Reihen von ihr entfernt, sagte Crosby mit lauter Stimme: »Was soll das denn? Wir können doch zu Hause so viel zocken, wie wir wollen.«
Eine Antwort kam unerwartet von dem Neuen in der Klasse, Nathan. »Auf einem Providia X-Master? Das ist der schnellste und leistungsstärkste Gaming-PC, den es gibt. Den benutzen die Profis.«
Crosby hob seine Hand. »Ms Peterson, wie schnell sind die Prozessoren?«
»Wie hoch ist die Bildwiederholrate der Monitore?«, fragte Nathan.
»Gibt es dazu auch Gaming-Mäuse?«
»Und diese coolen LED-Tastaturen?«
»Besucht die Infoveranstaltung und findet es heraus«, sagte Ms Peterson und freute sich über das Interesse. Sie erhob sich von ihrem Pult. »So, jetzt mal zuhören. In der Sporthalle findet eine Versammlung statt. Gehen wir.«
Die Klasse stellte sich in einer Reihe auf und verließ den Raum, gefolgt von Ms Peterson. Als Letzte vergewisserte sie sich, dass das Klassenzimmer leer und niemand mehr da war. Das war es nicht. In der letzten Reihe saß Zach, vertieft in ein Notizbuch, das er gegen die Kante seines Tisches gelehnt hatte. Dass der Rest der Klasse weg war, hatte er gar nicht bemerkt, so konzentriert las er.
»Zach?«, sagte Ms Peterson von der Tür.
Zach hob seinen Kopf und blinzelte erstaunt. Ms Peterson sah die plötzliche Panik in seinen Augen, als er sich umsah und vermutlich fragte, wo alle anderen geblieben waren.
»Die Versammlung?«, erinnerte sie ihn.
Zach steckte das Buch schnell in seinen Rucksack und ging zur Tür.
»Einen Moment«, sagte Ms Peterson. »Ich würde das Notizbuch gerne sehen.«
Der Flur war voller Schüler, die zur Versammlung in die Sporthalle liefen. Gavin und Crosby gingen ein paar Schritte vor Caleb. Caleb dachte erneut an Crosbys Betrugspläne für die Mathearbeit. Jeden Morgen stiegen Gavin und Crosby wenige Haltestellen nach Caleb in den Bus ein. Zwei Sechstklässler saßen normalerweise hinter Caleb, und Gavin und Crosby wiederum hinter diesen. Die Sechstklässler waren von Gavin sowohl beeindruckt als auch eingeschüchtert. Sie plapperten immer wie zwei Erdmännchen miteinander, aber sobald Gavin und Crosby sich hinsetzten, hielten sie die Klappe und lauschten. Crosbys Stimme war kräftig, und Caleb konnte ihn selbst dann hören, wenn er leise sprach. An diesem Morgen hatte Crosby Gavin erzählt, wie er betrügen wollte. Die meisten Betrugsversuche, von denen Caleb hörte, beinhalteten ein Handy oder einen Taschenrechner. Crosbys Plan jedoch war so low-tech, dass er fast genial war.
Caleb störte, dass Crosby wahrscheinlich damit durchkommen würde, wenn er nichts unternahm. Als er mit der Menge in Richtung Sporthalle ging, schaute sich Caleb um. Er erwartete, Ms Peterson zu sehen, aber sie war nicht bei ihrer Klasse. Jetzt könnte also der perfekte Zeitpunkt sein, um sie zu suchen und ihr zu berichten, was Crosby plante. Danach würde Caleb trotzdem zurückkehren und während der Versammlung bei seiner Klasse sitzen müssen. Dann bemerkte er Emma hinter sich. Sie war nett, eine der Klügsten ihres Jahrgangs und ziemlich zurückhaltend. Aber bei der Durchsage über die E-Sport-AG hatte sie ihm als Einzige zugelächelt und sich bedankt.
»Emma?«, fragte Caleb.
Emma sah mit großen, erschrockenen Augen zu ihm herüber. »Ja?«
»Ich muss zurück in die Klasse«, sagte Caleb. »Hältst du mir einen Platz frei?«
Bevor Emma antworten konnte, drehte er sich um und lief den Flur runter.
Als Caleb den Klassenraum erreichte, sprach Ms Peterson gerade mit Zach. Sie hielt ein aufgeschlagenes Notizbuch in der Hand. Caleb war überrascht, zu sehen, dass ein Handy in einer Aussparung lag. Zach musste die Vertiefung mit einem Cutter in die Seiten geschnitten haben, um es dort zu verstecken.
Sobald sie Caleb sah, klappte Ms Peterson das Notizbuch zu. »Warum bist du nicht bei der Versammlung?«, fragte sie.
»Ähm, es gibt etwas, worüber ich mit Ihnen reden muss«, sagte Caleb.
Ms Peterson zog unschlüssig eine Augenbraue hoch. »Warte auf dem Flur. Es dauert nur eine Minute.«
Sie schloss die Tür. Während er im Flur wartete, dachte Caleb über Zachs Handy-Trick nach. Das war ziemlich clever für einen Jungen, der mit einer fest zugezogenen Kapuze, aus der nur die Nase und ein Auge herausguckten, durch die Gänge lief. Für einen Jungen, dem in der fünften Klasse praktisch jeden Tag die Hose runtergezogen worden war und den manche einen Spinner nannten, weil er so seltsam sein konnte.
Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür, und Zach und Ms Peterson kamen heraus. »Du solltest dich besser beeilen«, sagte Ms Peterson. Zach rannte in Richtung Aula. »Zach!«, rief Ms Peterson. Zach bremste abrupt ab. Ms Peterson zeigte den Flur hinauf. »Es ist in der Sporthalle.«
Zach wirbelte herum und raste in die andere Richtung. Nun wandte sich Ms Peterson an Caleb.
»Wir sind spät dran«, sagte sie. »Reden wir beim Gehen.«
Auf dem Weg zur Sporthalle erzählte Caleb ihr von Crosbys Betrugsplänen für die Mathearbeit am Nachmittag.
»Das weiß ich schon«, sagte Ms Peterson. »Aber danke, dass du es mir gesagt hast.«
Ms Peterson war überrascht. Gleich zwei Schüler hatten ihr an diesem Morgen erzählt, was Crosby vorhatte. Eine der Quellen war Caleb, was sie nicht verwunderte. Aber über die andere Quelle hatte sie sich gewundert. Und zwar sehr.
Der Flur vor der Sporthalle war übersät mit Rucksäcken. Man hatte alle aufgefordert, sie dort abzustellen, weil die Tribüne ansonsten überfüllt sein würde. Plötzlich hockte sich Caleb hin und begann, seine Schnürsenkel zu binden. »Gehen Sie vor, Ms Peterson. Ich brauche noch einen Moment.«
Ms Peterson steuerte auf die Sporthalle zu. Sie wusste genau, warum Caleb sie gebeten hatte vorzugehen. Er wollte nicht dabei gesehen werden, wie er mit ihr die Sporthalle betrat. Caleb war klug und reif für sein Alter. Letztes Jahr hatte er angefangen, ihr Zeitungsartikel und Videos über E-Sport zu zeigen. Zuerst war Ms Peterson skeptisch gegenüber E-Sport an der Schule gewesen, so wie die Schulleiterin an diesem Morgen im Computerraum. Aber Caleb hatte nicht nachgegeben und sie schließlich dazu gebracht, ihm bei dem Antrag für das Providia-Förderprogramm zu helfen. Selbst jetzt war sie noch erstaunt darüber, dass sie die Computer kostenlos bekommen hatten.
Und das brachte ihre Gedanken zurück zu Zach. Ms Peterson kannte Jungen wie ihn. Jungen, die ihr Sorgen machten, weil sie ständig verloren oder einsam wirkten, unter schlechter Impulskontrolle und geringem Selbstwertgefühl litten. Jungen, die sich mit nichts und niemandem in der Schule verbunden fühlten. Aber was Zach mit seinem Notizbuch gemacht hatte, war auf seltsame Weise ermutigend. Die Arbeit war so sorgfältig. So präzise. Die Ecken des ausgehöhlten Rechtecks für das Handy waren perfekt rechtwinklig. Die Ränder akribisch geschnitten. Die Seiten klebten mit gerade genug Kleber zusammen – ohne einen einzigen Tropfen oder Klecks. Die Arbeit verriet ein Maß an Sorgfalt und Geschicklichkeit, das sie nie mit ihm in Verbindung gebracht hätte. Als sie ihn gefragt hatte, wofür er das Handy benutzt habe, sagte er etwas über ein Computerspiel. Das brachte sie auf die Idee, dass er vielleicht gut in die E-Sport-AG passen könnte.
Emmas Klasse saß Schulter an Schulter und Oberschenkel an Oberschenkel hoch oben auf der Tribüne der Sporthalle. Emma legte ihren Hoodie neben sich, um einen Platz für Caleb freizuhalten. Alle um sie herum schauten heimlich auf ihre Handys. Eigentlich sollten die Geräte in den Schließfächern gelassen werden, aber kaum jemand tat das. Und in einer überfüllten Versammlung wie dieser war es nicht wahrscheinlich, dass die Lehrkräfte über die voll besetzten Bänke klettern würden, um Handys einzukassieren.
Unten in der Sporthalle stand die Schulleiterin an einem Mikrofon und forderte alle Anwesenden auf, sich so eng wie möglich zusammenzudrängen. »Wir müssen die ganze Schule hier reinbekommen. Nehmt also bitte all eure Sachen auf den Schoß.«
»Hey, Emma, hast du nicht gehört, was Ms Summers gerade gesagt hat?«, fragte jemand.
Emma erkannte die Stimme sofort. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Die Person, die auf der anderen Seite ihres Hoodies saß, musste natürlich ausgerechnet Mackenzie »Meisterin der Mikroaggressionen« Storrs sein.
Emma hätte Mackenzie am liebsten gefragt, seit wann sie sich dafür interessierte, was Ms Summers sagte. Aber sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Denn dann müsste sie mit ihr einen Streit anfangen – und davor fürchtete sie sich. Jetzt mischte sich auch noch Mackenzies beste Freundin, Isabella Reed, ein. »Lass sehen, für wen sie den freihält.«
Ein Schauer lief Emma über den Rücken. Wenn die beiden sahen, für wen sie den Platz belegte, würden sie sich über sie lustig machen. Manche mochten Caleb, andere nannten ihn hinter seinem Rücken Schleimer oder Streber. Er erinnerte Emma an ihre ältere Schwester Sarah. Letztes Jahr, in ihrem Abschlussjahr, wurde sie zur Schülerin mit den besten Erfolgsaussichten gewählt. Allein aus diesem Grund hatten einige aus ihrer Stufe Sarah nicht gemocht. Caleb kam immer ordentlich gekleidet zur Schule, und Emma fand ihn sympathisch. Insgeheim freute sie sich darüber, dass er sie gebeten hatte, einen Platz für ihn freizuhalten. Aber jetzt fürchtete sie sich vor Mackenzies Sticheleien.
Die Tür der Sporthalle öffnete sich. Emma hielt den Atem an. Aber es war Zach, nicht Caleb, der hereinkam. Crosby saß wenige Reihen vor Emma. Er stieß Gavin an und sagte laut genug, dass alle um ihn herum es hören konnten: »Wir müssen ihn dazu bringen, sich vor uns zu setzen.«
Emma wusste, dass das Ärger bedeutete. Zach war etwas größer als Crosby, aber das hielt Crosby nicht davon ab, auf ihm herumzuhacken. Vermutlich kam Crosby damit nur deswegen durch, weil Gavin ihm den Rücken freihielt. Das war neu. Noch im letzten Schuljahr war Robbie Jones der beste Freund von Gavin gewesen. Sie waren zwei der besten Spieler des Footballteams gewesen, und auf dem Flur und beim Mittagessen hatte man sie immer zusammen gesehen. Doch diesen Sommer war Robbie nach Franklin gezogen, um dort im Schulteam Football zu spielen.
Emma beobachtete, wie Crosby die Kinder vor ihm zum Platzmachen aufforderte. Da Gavin neben ihm saß, rückten sie sofort auseinander. »Hey, du Spinner, setz dich hierher!«, rief Crosby. »Wir haben dir einen Platz freigehalten.«
Zach war bereits auf dem Weg zur Tribüne. Doch als er Crosby rufen hörte, blieb er stehen und schien zu schrumpfen.
»Du hast mich gehört, Spinner«, knurrte Crosby und zeigte auf den Platz vor ihm. »Ich will dich hierhaben.«
Zach ließ den Kopf hängen und kletterte auf den von Crosby zugewiesenen Platz. Emma fühlte sich schlecht. Programme gegen Mobbing existierten an der Schule schon, solange sie denken konnte. Die Lehrer sprachen im Unterricht darüber, und es gab keinen Flur, auf dem man keine Anti-Mobbing-Poster sah. Wenn Crosby die Botschaft nicht verstanden hatte, dann nur, weil er sie nicht verstehen wollte.
Die Tür der Sporthalle öffnete sich wieder, und Caleb kam herein. Er blieb am unteren Ende der Tribüne stehen und scannte die Menge. Emma wusste, dass er nach ihr suchte. Sie wollte ihm gerne zuwinken, doch sie fürchtete sich vor Mackenzies Gemeinheiten. Ganz bestimmt würde sie ein Foto von ihr und Caleb machen und es mit einem fiesen Kommentar posten. Also duckte sie sich und hoffte, dass Caleb sie nicht sehen würde.
Caleb hatte die Sporthalle noch nie so voll erlebt. Die Versammlung sollte gleich beginnen, und als er Emma in der Menge nicht finden konnte, setzte er sich in den Gang zwischen den Sitzreihen. Eigentlich durfte man dort nicht sitzen, aber niemand schien sich mehr um Regeln zu kümmern.
Während Ms Summers alle aufforderte, ruhig zu sein und sich auf »eine schöne und inspirierende Versammlung« zu freuen, dachte Caleb an das zurück, was gerade passiert war. Als er Ms Peterson von Crosbys Betrugsplänen für die Mathearbeit erzählt hatte, hatte sie gesagt, dass sie bereits davon wusste. Aber woher? Wer hätte es ihr vor ihm sagen können? Er betrachtete die vielen roten und weißen Footballbanner, die an den Wänden der Sporthalle hingen: Middle School State Champions. Conference Champions. State Vizemeister. Es war nicht leicht, sich für die Schule zu begeistern, jetzt, wo sie ihr Footballteam verloren hatten.
»Hallo, alle zusammen«, rief die Schulleiterin enthusiastisch, »bitte einen tosenden Applaus für einen unserer berühmtesten Ironville-Absolventen, Harry the Hoopster!«
Aus der Jungenumkleide kam ein dünner, krummbeiniger, grauhaariger Mann in langen weißen Basketballshorts und einem ausgebeulten weißen Trikot. Er dribbelte mit zwei Basketbällen gleichzeitig. Auf der Tribüne wurde es still. Caleb ahnte, was fast alle aus dem Publikum gerade dachten: Echt jetzt?
Er hatte noch nie von Harry the Hoopster gehört. Harry sah so alt und knochig aus, als könnte er sein Großvater sein. Falsch. Harry sah so alt aus, als könnte er Calebs Urgroßvater sein. Seine faltige und schlaffe Haut hatte praktisch die Farbe von Milch. Er war so blass, als wäre er seit der Erfindung von Pac-Man nicht mehr in der Sonne gewesen. Haarbüschel ragten aus dem Halsausschnitt seines Trikots wie kleines weißes Unkraut.
Caleb konnte verstehen, dass die Schule ihre Schülerschaft bei der Stange halten wollte, nachdem Football bis auf Weiteres nicht mehr stattfinden würde. Aber war dieser alte Kauz, der kaum noch aufrecht stehen konnte, wirklich der beste Weg, um dies zu erreichen? In diesem Moment versprang einer von Harrys beiden Basketbällen, und er musste ihm hinterherlaufen. Ein Kichern lief über die Tribüne.
Es dauerte eine Weile, bis Harry beide Bälle zum Mikrofonständer gedribbelt hatte. Dann sagte er ins Mikrofon: »Warum wollte der Basketballtrainer einen Frosch im Team haben? Weil er von seinem tollen Jump Shot gehört hat!«
Der Witz erntete Stöhnen, doch das hielt den alten Mann nicht auf. »Habt ihr von dem Basketballspieler gehört, der sich für einen Bastelkurs angemeldet hat? Er wollte lernen, wie man Körbe macht!«
Das Publikum stöhnte noch mehr. Aber Harry machte weiter, drehte einen Basketball auf seinem Finger, dann auf seinem Ellbogen und dann auf seinem Kopf. All das, während er über Charakterbildung, Teilen, Fürsorge und Freundlichkeit sprach. Caleb fragte sich, ob es tatsächlich jemanden gab, der es für eine gute Idee hielt, sie nun alle für Basketball statt Football begeistern zu wollen. Und ob man deshalb den alten Harry angeheuert hatte, damit er sie mit seinen meisterhaften Basketballkunststückchen beeindruckte.
Es war unerträglich.
Plötzlich wurde überall um Caleb herum getuschelt und gekichert. Handys vibrierten, und Kinder schielten heimlich auf die Displays. Caleb schaute über die Schulter des Jungen vor ihm. Jemand hatte per AirDrop das GIF eines knochigen alten Mannes übertragen, der eine knappe Badehose anhatte und seine dürren Muskeln anspannte.
Die Menge verbrachte den Rest der Versammlung damit, auf ihre Handys zu schauen. Zuerst war Caleb überrascht, dass Ms Summers nicht versuchte, sie davon abzuhalten. Aber vielleicht war ihr klar geworden, dass diese Versammlung ein Fehler gewesen war. Und solange sich die Kids mit ihren Handys beschäftigten, waren sie wenigstens ruhig.
Die Vorführung endete, und Harry the Hoopster stand für Fragen bereit. Es folgte eine peinliche Stille. Das einzige Geräusch war das Knarren der Tribüne. Dann beugte sich Crosby vor und flüsterte Zach etwas ins Ohr. Als Zach den Kopf schüttelte, ballte Crosby drohend die Faust und hielt sie so tief, dass nur Zach und die um ihn herum sie sehen konnten.
Zach hob zögerlich die Hand. »Mr Hoopster, Sir. Meinen Sie nicht, es sollte ein Gesetz geben, das alten Männern das Tragen von kurzen Hosen verbietet?«
Die Versammlung war vorüber, und Zach steckte wieder einmal in Schwierigkeiten. Zurück im Klassenzimmer fragte sich Ms Peterson, warum sie sich so um ihn sorgte. Er war schließlich nicht der einzige Schüler an der Schule, der Unfug anstellte. Doch sie hatte während der Versammlung gerade hochgeschaut, als Crosby etwas in Zachs Ohr flüsterte. Natürlich hatte sie nicht hören können, was Crosby gesagt hatte. Zach mochte