Du kennst sie - Meagan Jennett - E-Book

Du kennst sie E-Book

Meagan Jennett

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Beschreibung

Ein Katz-und-Maus-Spiel zweier Frauen, die in einer besseren Welt beste Freundinnen wären

Sophie Braam ist Barkeeperin in einem eher gehobenen Etablissement, irgendwo in Virginia. Sie ist die Chefin hinterm Tresen und Übergriffigkeiten der männlichen Kundschaft gewöhnt. Aber als ein Ekel-Typ ihr erst den Lieblingsrotwein wegsäuft und dann auch noch massiv zudringlich wird, hat sie die Schnauze voll.
Nora Winter ist Polizistin, die es, weil schwarz und weiblich, mit ihrer Karriere nicht leicht hat. Zufällig freundet sie sich mit Sophie an, wenngleich sie wittert, dass mit der rätselhaften Barkeeperin etwas nicht stimmt. Denn Sophie hat inzwischen Freude an finalen Lösungen gefunden und macht fröhlich weiter. Nora leidet unter Albträumen von getöteten Frauen, muss aber nach der Männer-Mörderin fahnden, während ihr eigener Mann ins Visier von Sophie gerät …

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Seitenzahl: 476

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Cover

Titel

Meagan Jennett

Du kennst sie

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Birgit Salzmann

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel You Know Her bei MCD, einem Imprint von Farrar, Straus and Giroux, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5421.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Copyright © 2023 by Meagan Jennett

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfotos: Ryan Matthew Smith/Stocksy (Cocktailglas); Magdalena Russocka/Trevillion Images (Frauengesicht); FinePic®, München (Kratzer)

eISBN 978-3-518-77898-2

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Jeffrey und Arada, die ich sehr vermisse.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Danach. (Vor dem Ende)

DEZEMBER

Sophie

Sophie

JANUAR

Sophie

Ein Zootier

Eine Sphinx stellt eine Frage

Nora

Persephone sieht sich selbst

Judith tötet Holofernes

Nora

Eine Harpyie lässt Gerechtigkeit walten

Eine Sphinx

Eine Sphinx zweifelt an sich

Eine Außenseiterin

Sophie

FEBRUAR

Nora

Sophie

Charybdis

Nora

Die Neue

Sophie

MÄRZ

Stechapfel

Eine Anatomin

Eine Frau in Schwarz

Eine erschöpfte Seele

Sophie

Nora

Eine Frau

Ein Selkie

APRIL

Sophie

Sophie

Die Neue

Sophie

Persephone

Eine müde Frau

Nora

Nora

Eine Freundin

Eine Anatomin

Nora

Sie

MAIUNDJUNI

Die Neue

Psyche betet in den Nonen

Nora

Eine verliebte Frau

JULI

Ein Geist nimmt sich zusammen

Circe

Eine Spinne

Ein Geist legt sich zur Ruhe

Nora

Sophie

AUGUST

Eine Freundin

Sophie

Nora

Die Neue begehrt auf

SEPTEMBER

Sophie Braam

Eine Unmöglichkeit

Eine Mänade

Sophie

Nora

Sophie

Klotho an ihrem Spinnrad

Nora

Eine sehr müde Frau

Sophie

Eine Hexe im Wald

Eine einsame Frau

Nora Martin

Danach. (Das Ende)

Dank

Informationen zum Buch

Du kennst sie

Danach

(Vor dem Ende)

Es ist fast schon Oktober.

Falls die Bienen um mich herum das wissen, zeigen sie es nicht. Stattdessen tänzeln und taumeln sie in der dunstigen Luft, berauscht von der Hitze des Sommers, der sich schon viel zu lange hinzieht. Sie schweben von Blüte zu Blüte und sammeln klebrige Batzen Pollen an schwarzen Beinen. Ein paar von ihnen haben meinen Picknickkorb entdeckt und sich über mein offenes Glas Brombeermarmelade hergemacht, fahren mit gierigen Zungen über den Rand. Eine von ihnen kriecht ins Glas, gefährlich nah ans gelierte Verderben. Eine andere prallt gegen eine Blume, gerät ins Trudeln und rollt in die Mitte des schaukelnden Blütenkopfs. Ihr Verhalten wirkt irgendwie ungestüm, ganz untypisch für die gelassenen Summtierchen, für die wir sie halten. Und doch leben die Blumen dafür, für diese aggressive Art der Bienen.

Über mir fällt Sonnenlicht durch die knorrigen Zweige eines Apfelbaums. Ich habe mich zwischen seine Wurzeln gelegt und bin kurz darauf halb eingedöst, versunken in der monotonen Symphonie der Flügelschläge und dem sanften Streicheln der Spätvormittagssonne auf meiner Haut. Irgendetwas stört mich allerdings.

Unter dem süßlichen Gestank faulender Äpfel liegt noch etwas Durchdringenderes, ein Geruch, den ich beinah greifen kann; ein Hauch nur, aber er wird immer stärker.

Zum Summen der Bienen hat sich ein neuer Klang gesellt. Ein beharrlicheres Sirren, höher als der Bariton der Bienenflügel; eine Flöte, die den Gleichklang der Celli durchkreuzt. Kurz darauf landet etwas, leicht und zart, auf meinen Lippen.

Die Flöte verstummt.

Winzige Füßchen tippeln über meinen Mund. Ich spitze die Lippen und befördere den Besucher mit einem Atemstoß in die Luft. Die Flöte setzt wieder ein. Sie ist jetzt über meinen Augen, und wenn ich aus dem richtigen Winkel hinaufschaue, kann ich sie sehen.

Eine Schmeißfliege.

Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es wohl dieses Mal dauern würde, bis sie auftauchen. Ich beobachte, wie sie umherfliegt, landet und langsam über die bläulich verfärbte Leiche läuft, die neben mir liegt.

DEZEMBER

Sophie

Meine Geschichte beginnt wie so oft: Ich ignorierte einen Mann an einer Bar. Ich übersah ihn absichtlich, ehrlich gesagt, weil er in all den Monaten, in denen er nun schon herkam und kaum einen halben Meter entfernt mir gegenüber an der Kupfertheke saß, nicht ein einziges Mal nach meinem Namen gefragt hatte. Dafür rächte ich mich gewissermaßen, indem ich seinen vergaß, ihn aus der Tasche zog und auf den Boden fallen ließ, damit er am Ende des Abends mit den Essensresten weggefegt werden konnte. Er selbst wurde einfach zu Bud Light, bekam den Spitznamen, den ich ihm angesichts der einzigen Worte verpasste, die er je in meine Richtung geworfen hatte. Er gehörte in dieselbe Kategorie wie Whisky Ginger, Beer Is the Only Thing That Can Have Too Much Head und Give Me a Smile Girl.

Als ich noch jung und neu im Geschäft war, hielt ich solche Typen bloß für Müll, üble Rückstände, wie schmierigen Schimmel unter der Spüle, etwas, das es nur in den schäbigen Spelunken gab, in denen ich zu meinen Anfangszeiten abends Cocktails mixte. Ekelhaft, aber mit ausreichend scharfen Mitteln leicht zu entfernen. Doch bald schon begriff ich, dass sie in jeder Bar existierten, von College-Partyhöhlen mit klebrigen Fußböden bis zu eleganten Nachtklubs. Sie gehören ebenso zur Ausstattung wie die Fruchtfliegen. Früher dachte ich, sie wären harmlos, und lachte über sie. Doch dann lösten sie sich aus dem Schimmel wie die Maden und flogen mir in den Mund. Tausende züngelnder Zungen legten ihre Stimmen wie Eier an die weichen Stellen in mir, wo sie dann schlüpften; mit jedem schmierigen Kompliment, das mir über den Oberschenkel glitt, mit jedem unverschämten Witz, der mir in die Taille kniff. Ein ganzes Universum von Milben kam zum Vorschein und machte sich kriechend und krabbelnd unter meiner Haut breit.

Sie hätte es besser wissen müssen. Das sagen sie immer. Sie hätte nicht so dumm sein dürfen, hätte nicht spätabends alleine unterwegs sein dürfen, nicht diesen Rock tragen, nicht diesen Stimmen ihren lachenden Mund öffnen dürfen. (Auch nicht, wenn das Lachen ihr Schutzschild war, was oft genug zutraf.) Hätte sie ihren Mund, ihre Schenkel, ihr Herz geschlossen gehalten, wären sie niemals hineingekommen.

Ich hätte es besser wissen müssen, denn ich kannte sie, auch wenn ich mich nicht sofort daran erinnerte. Als Mädchen war ich im Wald hinter unserem Haus oft stundenlang durchs hohe Gras und dichte Unterholz gestreift. Meine Beine, bis auf ein paar zerrissene Shorts nackt, bildeten ein leichtes Ziel für Sandflöhe und Kleemilben. Als ich die winzigen Tiere zum ersten Mal meine Knöchel hinaufkrabbeln und sich in meine noch blasse Frühlingshaut fressen sah, fing ich an, laut zu schreien. Mein Vater lachte, als ich ihm die Bisse zeigte. Milben, sagte er, seien der Preis, wenn man hinaus ins raue Leben ging. Wenn ich den nicht zahlen wollte, müsse ich mich warm anziehen oder nicht vor die Tür gehen. Dann zeigte er mir, wie man farblosen Nagellack auf die Löcher auftrug, die sie gebohrt hatten. Die Milben unter meiner Haut seien zwar lebendig, erklärte er, könnten aber durch einen Pfropf getrockneten Lack ganz einfach erstickt werden. Ich pinselte und wartete ab, während mein Körper zu einem Friedhof wurde, und nach ein paar Tagen hörte der Juckreiz auf. Bevor er mir auch noch zeigen konnte, wie man die Löcher zupinselte, die Männerzungen bohrten, war mein Vater weg.

Nachdem ich Bud Light und seinesgleichen jahrelang zugenickt, mir lächelnd das Gejammer über ihre belanglosen Sorgen angehört und über ihre geschmacklosen Witze gelacht hatte, während sich ihre Stimmen immer lauter unter meine Haut gruben, bin ich zu einem Scheusal geworden, das sich hinter einer freundlichen Fassade versteckt.

Lächle, sagen sie mir, und ich lasse die Milben an meinem zerfressenen Kieferbogen entlang nach hinten krabbeln und mir den Mund zu einer Halloweenmaske verziehen. Voilà, mein grinsender Schädel.

Es kam eine Zeit, da nervten mich ihre Stimmen nicht mehr so sehr; seit ich merkte, wie viel Macht mir der beengte Raum hinter einem Bartresen verlieh. Männer reichen dir, öfter als sie glauben, das Seil, das du brauchst, um sie zu erhängen, verstehst du?

Jener Abend, der letzte Abend des Jahres, war wie ein Atemzug, der mir in der Kehle stecken blieb. Unser nettes kleines Städtchen Bellair, Zuhause von gerade einmal 7000 Seelen, ist kein Partyort. Wer hier Silvester feiern will, verschwindet über die dornige Stadtgrenze in den Glanz des nahe gelegenen Charlottesville oder in den Schmutz und Glimmer von Richmond. Ein paar investieren vielleicht sogar das Geld für eine Reise nach Washington D.C. Ein paar weitere ziehen es vor, ihre eigene Party zu feiern, schauen mal kurz rein, um diejenigen Mitarbeiter einzuladen, die sie mögen (Komm vorbei, wenn du Feierabend hast! Bei uns geht dann immer noch was ab!). Alle anderen bleiben zu Hause und kämpfen vor plärrenden Fernsehern gegen den Schlaf. Später dann durchstreifen Cops, deren grell erleuchtete Zellen darauf warten, gefüllt zu werden, auf kurvigen Sträßchen die Dunkelheit wie hungrige Haie, auf der Suche nach Verirrten. Sauf-Feiertage sind nun mal nichts für eine Kleinstadt.

Wir saßen in diesem kleinen Lokal fest, dem Blue Bell, und warteten auf den riesigen Andrang, der kommen würde oder auch nicht. Auf die Menschenmassen, die jeden Moment hereinplatzen würden, da war unser furchtloser Restaurantleiter Ty sich sicher. Denn »das eine Mal«, rief er uns zum hundertsten Mal vom Ende der Theke aus in Erinnerung und zog seine Krawatte gerade, »Silvester 2015, als wir nicht vorbereitet waren. Da haben sie uns den Arsch poliert. Erinnerst du dich noch, Soph?«

Woran ich mich erinnerte, waren ein verkaterter Tellerwäscher, der nicht hinterherkam, und ein Hilfskellner, der zu sehr damit beschäftigt war, mit dem weiblichen Bedienpersonal zu flirten, um sich auf seinen Job zu konzentrieren, aber ich ließ Ty reden. Seine Stimme ist wie eine Mücke, die mir um den Kopf schwirrt, leicht auszublenden. Unterdessen standen die Kartons mit den neuen Champagnerflöten, die er extra für den Abend bestellt hatte, noch da, wo er sie abgestellt hatte, ungeöffnet unter der Eiswanne. Mein Barhelfer hätte sie schon längst auspacken und spülen sollen, aber er war vor zwanzig Minuten nach unten gegangen, um Limetten zu holen und noch nicht wieder aufgetaucht. Höchstwahrscheinlich tratschte er irgendwo. Wenn Ty die Gläser selbst säubern und polieren wollte, bitte. Ich würde es ganz bestimmt nicht tun.

Irgendwer, wahrscheinlich die Empfangshostess, hatte Luftschlangen aufgehängt. Im Licht der niedrigen Deckenlampen golden und silbern glänzend schlangen sie sich quer durch den Raum. Riesige Luftballons wippten am Ende dünner Schnüre, die an Stuhl- oder Tischbeinen befestigt waren. Die Servicekräfte machten sich einen Spaß daraus, sich gegenseitig mit einem Ballon vorm Gesicht zu erschrecken oder ihn jemandem so kräftig über die wohlfrisierten Haare zu reiben, bis sie sich elektrisch aufluden. Nach einer Weile sahen sie mit ihren hochstehenden Flusen alle aus wie Küken mit wehenden Flaumkronen auf den Köpfen. Kreischen und Gelächter schallten durchs Lokal, und irgendwer erwischte meinen Barhelfer, als er aus dem Keller hochkam, die dürren Arme mit Flaschen beladen und schwere Tüten mit Obst an den Händen baumelnd. Er stolperte, fing sich wieder und lief rot an. Ich versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. Was mir schwerfiel angesichts des »Happy New Year«, das auf dem albernen Haarreif prangte, den Ty mir verpasst hatte. Ich machte mich genauso lächerlich wie alle anderen.

Eine Viertelstunde vorm Aufmachen tauchte Chefkoch aus seiner Küche auf, verkündete die Spezialgerichte des Tages und schubste einen Teller mit irgendeinem toten Fisch über meine saubere Arbeitsfläche. Kurz vor meinem Ellbogen kam er schlitternd zum Stehen, der Fisch starrte mit glasigen Augen auf die schimmernden Luftschlangen über sich. Die Leute vom Service versammelten sich, sahen das Tier mit gierigen Blicken an und hörten halbherzig der Lektion über die Aussprache des Namens einer bestimmten Sorte Pfeffer zu, der rund um den Tellerrand gestreut war.

»Goldstück«, säuselte Chefkoch und reichte mir eine Gabel. Das ist ein Spielchen, das die Kerle aus der Küche alle spielen, ein verbaler Ausrutscher, ein Versprechen mit Haken. Goldstück nennen sie einen, solange sie in guter Stimmung sind. Wenn wir erst drei Stunden in der Abendschicht und knietief in der Scheiße stecken, verwandelt sich ihre Liebeserklärung schnell in scheppernde Töpfe und verdammtes Miststück, um dann wieder in Süßholzraspeln umzuschlagen, wenn sie zehn Minuten später Eiswasser brauchen. Goldstück Nummer eins bin ich, weil ich die Kontrolle über die nächste Sodapistole habe und, was noch wichtiger ist, über den Alkohol. Das macht mich wahrscheinlich auch zum Miststück Nummer eins.

Die restlichen Gabeln wurden unsanft neben den Teller geworfen, damit die Servicekräfte darüber herfallen und sich glibberige Fischstücke in die Münder schaufeln konnten. In Minutenschnelle war der Teller leer, Ty wischte mit dem Finger den letzten Soßenrest auf und nahm ihn weg.

Schlachtpläne wurden gemacht, Tische aufgeteilt, letzte Schliffe verpasst. Um fünf atmeten wir tief durch und schlossen in voller Garnitur strahlend die Tür zu einem verlassenen Ort auf, zu einem Wartesaal, einem leeren Restaurant an Silvester.

Sophie

Mit wem ich nicht rechnete, war Bud Light, der kurz nachdem wir aufgemacht hatten, reinmarschierte. Einmal das Übliche, sagte er und lümmelte sich auf seinen Lieblingsbarhocker. Dessen wackelige Holzbeine knarzten unter der Wucht seines Gewichts, und ich wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass er zusammenbrach. Aber leider hielt der Hocker stand. Enttäuscht über Buds Glück reichte ich ihm eine Flasche Bier, stellte am Fernseher das Footballspiel an und wandte ihm den Rücken zu, bis er vielleicht irgendwann ein bisschen interessanter werden würde.

Und dann öffnete die Nacht ihr träges Maul und lullte uns alle in den Schlaf. Während der Cocktail Hour drehten wir Däumchen, die Servierkräfte scharten sich um die Computer, bis Ty sie mit dem lächerlichen Spruch verscheuchte, den sämtliche Restaurantchefs draufhaben: »Wer Zeit hat, um zu ruhn, der kann auch etwas tun. Sucht euch ne Beschäftigung, Leute.«

Sie liefen auseinander, für den Moment. Zwei, um zu tratschen und vorzugeben, sie würden die Terrasse fegen, ein weiteres Paar ging in die Küche, um zu sehen, was sie von den Sous schnorren konnten. Mein Barhelfer, der offenbar fürchtete, die Aufforderung würde auch ihm gelten, sortierte ein paar meiner Cocktailkarten und setze sich dann mit einem Stirnrunzeln an den äußeren Rand der Theke, was er wahrscheinlich für einen Ausdruck von Konzentration hielt. Der Karton mit den Gläsern, der jetzt unter meinem Ende des Tresens stand, wartete weiter ungeöffnet. Immerhin warf er einen Blick darauf, wobei man ihm ansah, dass er mit dem richtigen Gedanken spielte, bevor er ein Poliertuch nahm und stattdessen nur daran herumfummelte. Es gab mal eine Zeit, da hätte ich den Karton einfach selbst ausgepackt. Zwei Minuten, und die Sache wäre erledigt gewesen. Kein Ding also – genau wie diesen Socken aufzuheben, den dein Mann auf dem Schlafzimmerboden hat liegen lassen und an dem er, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, vorbeiläuft; genau wie den Klositz runterzuklappen, wenn er es mal wieder vergessen hat. Aber ich habs satt, für Männer verantwortlich zu sein. Der Barhelfer war mein Hilfspersonal, ich hatte nicht vor, diesen Frauenjob für ihn zu übernehmen.

Also blieb der Karton stehen.

Ein paar Gäste tröpfelten herein und tröpfelten wieder hinaus. Bud leerte ein Bier, dann ein zweites und noch eins, bestellte Steak mit Pommes, dann noch ein Bier. Sein Blick klebte immer am Fernseher. Wenn er mich brauchte, grunzte oder winkte er oder machte sonst irgendwas Nerviges, bis ich Notiz von ihm nahm. Dieses Spielchen, das wir für die paar Dollar Trinkgeld spielten, die er mir gab, hätte die ganze Nacht so weitergehen können, wenn der Wind, der uns umwehte, sich nicht irgendwann gedreht hätte.

Vier Stunden vor Mitternacht fing Bud an, mit seiner letzten fast leeren Bierflasche zu wedeln. Das hätte das Zeichen sein können, dass er eine neue wollte. Oder es war ein Zucken, ausgelöst durch den Tackle, der den Ball seiner Mannschaft kurz vor der benötigten Yardline stoppte. Third Down. Wie frustrierend.

Während er Spandex-gepolsterten College-Jungs dabei zusah, wie sie ineinanderkrachten, sah ich dabei zu, wie der letzte Schluck Bier den glatten Flaschenhals entlangrann und in seiner Kehle verschwand. Als er die Flasche wieder auf die Theke stellte, hörte ich eine Spur Unmut im Klopfen des Glases auf Kupfer, ein Klopfen an meiner Tür. Er schob sie mit seiner schwieligen Fingerspitze noch ein paar Zentimeter in meine Richtung. Den Blick weiter auf den Bildschirm gerichtet, auf die Jungs, die schon wieder ihre Offensive vermasselt hatten und nun die Köpfe zusammensteckten, um eine neue Strategie auszuhecken. Bud fluchte leise, tippte mit den Fingern gegen den Flaschenboden. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis er sie über den Thekenrand geschubst hatte. Jetzt war er interessant, die Schlinge legte sich um seinen Hals.

Mein Barhelfer erspähte die Chance, etwas Sinnvolles zu tun, und nahm die Flasche von der Theke, um sie wegzuwerfen. Er vergaß allerdings zu fragen, ob Bud Light noch irgendetwas wollte, weshalb die Hände das Mannes nun leer herumzuckten. Die Schlinge zog sich zu.

Gerade als im Fernseher Werbung lief und es aussah, als müsste er tatsächlich mit mir sprechen, schoben sich zwei fette rosa Hände durch den schweren Vorhang vor unserer Eingangstür.

Ty hängt dieses fürchterliche Ding pünktlich jeden Herbst nach dem ersten Frost auf. »Um die Leute warm und die Kälte draußen zu halten«, sagt er. Kann schon sein. Hauptsächlich eignet er sich aber dazu, alte Damen in Wogen aus schweren Stoff zu fangen, sie so lange in ein Meer aus schwarzem Filz zu hüllen, bis sie wie angestochen auf der anderen Seite wieder herausstolpern; angriffslustige Bienen, bereit, den erstbesten bedauernswerten Kellner zu stechen, der vergisst, ihnen Wasser mit Zitrone zu bringen. Wenig Eis. Unsere Hostess, ein nettes kleines Ding direkt aus der örtlichen Highschool, war inzwischen an diesen Irrsinn gewöhnt und trat beim ersten Anzeichen von Händen sofort in Aktion.

Ihre Maßnahmen waren einfach: vorsichtig den Vorhang zur Seite ziehen, um den armen Ankömmling nicht in Verlegenheit zu bringen, ihn freundlich begrüßen, während sie ihn oder sie hereinführte, und dann den Vorhang wieder schließen. Danach streckte sie die dünnen Arme aus, fing bereitwillig jedes Schnauben und jeden abgelegten Wollmantel auf, der ihr zugeschleudert wurde, und verbarg die Anstrengung, die sie das kostete, während sie ihn auf den Garderobenständer hängte.

Es folgten die üblichen Fragen: »Sie sind nur zu zweit? Sehr schön. Bevorzugen Sie einen Tisch oder einen Platz an der Bar? Oder an einem unserer neuen Bartische vielleicht? Dann haben Sie von allem etwas und einen wunderschönen Blick auf die Berge. Hätten Sie heute Abend gern die Speisekarte oder nur Getränke und Dessert? Speziell zu Silvester bieten wir Ihnen frischen Rotbarsch an. Der Koch hat mich vorhin einen Happen probieren lassen, einfach köstlich! Außerdem natürlich ein Glas Champagner aufs Haus für alle, die mit uns das neue Jahr einläuten!«

Um in diesem Geschäft Erfolg zu haben, musst du gut lügen können, eine Eigenschaft, die wir wahrscheinlich mit Kindergärtnerinnen und Callgirls gemeinsam haben. Lächle, verberge, was du denkst, hebe deine Stimme. Es kommt darauf an, gerade so viel von dir selbst hinter deiner Maske zu zeigen, nur so viel von der Wahrheit preiszugeben, dass die Gäste unvorsichtig werden.

Man sollte keiner von uns jemals trauen.

Dieses bestimmte Paar Hände war mit einer grauen Tonne verbunden, die auf zwei dünnen Stelzen saß. Hellbraune Docksider, Oakely Brille und knallbunt gestreifte Krawatte vervollständigten das Ganze. Ich kannte diesen Typen. Ich hatte ihn schon unzählige Male gesehen, bei Footballspielen und Verbindungsfeiern und Country-Club-Mittagessen. Er ist der Stiefbruder von Whisky Ginger und der Cousin von Too Much Head. Das ist Jungle Juice in seiner Pi-Kappa-Partykeller-Kluft, obwohl er, seit er nun erwachsen und frisch gebackener Doktor der Rechtswissenschaft ist, versucht, sein Daddy zu sein und sich deshalb Maker’s Mark Old Fashioned nennt, wenn ich bitten darf.

Falls das welkende Veilchen hinter ihm so typisch ihre Mutter war wie die Perlen, die sie um den Hals trug, wäre sie Pinot Grigio gewesen, aber ich setzte auf Rosé, weil das rosa Getränk das Gesöff erster Wahl für die spießigen Damen der amerikanischen Generation Y darstellte.

Ich beobachtete, wie die Hostess auf sie zuging, ihnen mit einem strahlenden Lächeln die hingehaltenen Mäntel und Handschuhe abnahm, während sie hinter sich nach dem Stapel Speisekarten auf ihrem Empfangstisch griff. Aber dieser Junge, der uns glauben machen wollte, er wäre ein Mann, rauschte, die Hand auf dem Rücken seiner Partnerin, einfach an ihr vorbei und steuerte auf meine Bar zu.

Unter meinem rechten Schulterblatt brannte es plötzlich, mitten in der Verhärtung, die sich vor ein paar Jahren dort gebildet hatte und die ich seitdem nicht mehr lösen konnte, wie sehr ich mich auch anstrengte. Bis zu diesem Silvesterabend hatte sie sich durch Zungen und Zähne und dumpfen Muskelschmerz so verfestigt, dass sie sich nie wieder lockern würde.

Barhocker schrammten über den Boden, das Paar nahm Platz.

Bud hüstelte.

»Happy New Year.« Ich schob ihnen Getränkekarten hin. Die außer Acht gelassene Hostess presste sich die Speisekarten an die flache Brust und blieb zurück. Sie wusste, wann sie sich unsichtbar machen musste. Und doch sah ich ihre Enttäuschung; daran, wie sie sich auf die Lippe biss, bevor sie lächelte, am kurzen Wippen ihres Pferdeschwanzes, als sie, durch ihre Missachtung abgewiesen, wieder in ihren Empfangsstand trat. Auch in ihr hatten die Milben sich schon breit gemacht, sie merkte es nur noch nicht.

»Wir waren den ganzen Tag auf Weinproben«, verkündete Old Fashioned, als ich ihn fragte, was ich ihnen anbieten darf. Als wäre das eine Antwort, mit der ich etwas anfangen könnte.

Im Augenwinkel sah ich, dass sich noch weitere Hände durch den Vorhang tasteten und sich noch mehr verwirrte Gesichter hereindrängten. Langsam fragte ich mich, ob wir an dem Abend doch mehr zu tun kriegen würden als gedacht, ob der gefürchtete Ansturm mit Verspätung kam. Immerhin bringt es Geld, oder? Volles Lokal, Trinkgeld von überall. So heißt doch die alte Volksweisheit. In Wahrheit sind die späten Gäste eine Strafe. Mit jedem neuen von ihnen kommt Chaos durch die Tür, die Stimmung wird gereizt, Fehler passieren, und die Leute, die um diese verspätete Essenszeit hungriger und ungeduldiger sind, meckern und nörgeln, während ihre Großzügigkeit gleichzeitig schwindet.

Noch mehr Hände, noch mehr Mäntel, die an einer immer dicker anschwellenden Garderobe landeten. Servicekräfte, die sich um die Sodastation drängelten und Tabletts mit Mineralwasser beluden. Im Fernseher über mir wurde der Spielstand eingeblendet, das Spiel war fast vorbei. Gleich würde ich auf einen anderen Sender schalten müssen.

Ich wandte mich wieder Old Fashioned zu und verwandelte seine Aussage in eine Frage. »Klingt nach einem schönen Tag. War vielleicht ein besonders guter Tropfen dabei, den Sie auch hier gern trinken würden? Oder hatten Sie erst einmal genug Wein?«

»Irgendwas Nettes, denke ich«, antwortete er in trägem Tonfall. Die Zähne, die in meine Schulter bissen, ließen los und Tausende winzige Lebewesen bewegten sich mit der schleimigen Absonderung seiner Stimme Wirbel für Wirbel an meinem Rückgrat hinunter.

»Etwas zum Feiern – wir haben uns nämlich gerade verlobt!«, quiekte sie und streckte mir ihre Hand über die Theke entgegen.

»An Weihnachten, genau genommen«, fügte er hinzu.

Vorn im Restaurant zog die Hostess ihren Notizblock hervor, um eine Warteliste anzulegen. Hinter mir begann die Bonmaschine Bestellungen auszuspucken.

»Oh! Wow.« Ich weiß nie, wie ich auf so was reagieren soll. Ich legte ein strahlendes Lächeln über mein Gesicht. »Na dann, herzlichen Glückwunsch. Wie wunderbar.«

Es war alles andere als das. Verlobungen bedeuteten Dessert und ein Glas Champagner aufs Haus. Verlobungen sind schlecht für Barkeeperinnen, die auf Umsatz und Trinkgelder angewiesen sind. Aber hast du schon vergessen? Ich bin eine gute Lügnerin.

»Sophie«, flüsterte die Hostess‚ die plötzlich wie aus dem Nichts neben mir stand. Sie hatte den Telefonhörer am Ohr und ein Stück Papier in der Hand und nickte in Richtung des Paares. »Sein Dad ist am Telefon, sagt, er übernimmt die Rechnung. Ich hab mir seine Kreditkartendaten notiert.« Sie bekam leicht feuchte Augen. »Ja, Sir, sie steht direkt neben mir … Ob du sonst noch irgendwas von ihm brauchst?«

Ich warf einen Blick auf den Zettel in ihrer Hand, auf die Ziffern in der ordentlichen Mädchenschreibschrift.

»Nee. Das reicht, junge Dame. Danke.«

»Dein Vater lädt uns ein?«

»Sieht so aus.«

Bud sah zu mir und setzte zum Sprechen an, als würde er tatsächlich versuchen, sich an meinen Namen zu erinnern. »Ich bin gleich für dich da«, zwitscherte ich und überging ihn. Sollte er sich doch selbst erhängen.

Es gibt einen Trick, den wir Barleute anwenden, wenn wir etwas wollen. Wir unterscheiden uns nämlich nicht von dir – wir wollen das, was wir nicht haben können; so wie diese Flasche Wein an den Mann bringen, die unser Boss nicht glasweise verkauft, die er bei Steak mit Pommes frites und Fladenbrot mit seinen Kumpels trinkt, von der er seinem Personal nicht mal ne kleine Kostprobe gönnt.

Du musst deine Kunden bloß richtig einschätzen. In einer Kleinstadtbar wie dieser werden die meisten vor dem Preis der Flasche zurückschrecken, die ich für sie ausgewählt habe. Diejenigen, die über ihren Schatten springen und sie kaufen, leeren sie gewöhnlich auch. Aber diese beiden hier hatten schon den ganzen Tag lang getrunken, was an dem glänzenden Film auf ihren Augen und den rot blühenden Flecken auf ihren Wangen zu erkennen war. Daddy würde garantiert wollen, dass er seiner Verlobten den passenden Wein zu dem teuren Klunker an ihrem Finger kauft. Und wenn sie genug für ihre Barkeeperin übrig hatten, würden sie ihr vielleicht den letzten Schluck übrig lassen. Das ist eine andere Schlinge, feiner und schwieriger umzulegen.

Ich stellte meine Falle, platzierte die Flasche vor ihnen auf der Theke, so dass sie sich vorstellen konnten, sie gehörte schon ihnen. Ein weiteres Paar schob sich neben Bud auf zwei Barhocker. Der Bondrucker sprang an und ratterte noch mehr Bestellungen raus.

»Service!« Chefkoch rief nach jemandem, der Essen abholte. »Tisch 3, Tisch 4, Tisch 7!«, donnerte seine Stimme durch die Schwingtür, die zur Küche führte.

»Der ist rot.« Old Fashioned zog einen Flunsch. »Claire ist kein großer Fan von Rotwein. Haben Sie vielleicht einen schönen Rosé. Oder einen trockenen Weißwein. Irgendwas aus Fox Hall. Da waren wir heute, die Weine waren vorzüglich.«

»Entschuldigung, Miss!« Miss. Ich hasse dieses Wort. Ich bin erwachsen. »Hallo. Können wir etwas Wasser bekommen?« Der Mann links neben Bud pochte ungeduldig auf die Theke. Wo war mein Barhelfer? Er hätte sich darum kümmern müssen.

»Ah, ja. Fox Hall«, stimmte Rosé zu, die offenbar Claire hieß.

»Miss?«

Die Bonschlange hinter mir plumpste über den Druckerrand und taumelte abwärts, während die Glocke über der Tür schon wieder läutete. Weitere Hände tasteten sich herein. Am Ende meiner Theke stapelten sich langsam schmutzige Gläser. Wo war bloß mein verdammter Barhelfer?

»Können wir bitte die Getränkekarte haben?«

Da drüben, er räumte Tische für die Leute vom Service ab. Warum zum Teufel war er im Restaurant? Wo war Ty?

»He, Sophie, hast du was dagegen, wenn ich rasch die zwei Bier fertig mache, die ich bestellt habe? Tisch elf wird langsam unruhig.« Einer der Kellner tippte mich an den Ellbogen.

»Nur zu. Aber vergiss nicht, den Bon aufzuspießen.«

»Service! Essen abholen!«

Im Notfall wenden Ärzte die Methode der Triage an, um festzulegen, um welche Patienten sie sich wann kümmern. In überfüllten Restaurants läuft es ziemlich nach demselben Prinzip. Erst kommt dein Sterbender an die Reihe: der Mann, der Wasser und eine Speisekarte braucht, bevor er einen richtigen Aufstand macht. Dann dein Verletzter: Ich machte Bud noch ein Bier auf, stellte es ihm vor die Nase und zog meine Bons aus der Maschine. Schließlich: die mit den kleinen Wehwehchen.

Und bevor du überhaupt irgendetwas tust: tief durchatmen. Such die Ruhe im Auge des Sturms.

Vergiss nicht zu lächeln, Sophie.

»Weißwein?«, wandte ich mich an das Paar, während ich flüssige Zutaten in einen leeren Shaker goss. Zwei Teile Wodka, ein Teil Cointreau. Limette. Cranberry. Ein dermaßen einfacher Cocktail, dass es mich langweilt. Weiter. Ich stellte den Drink an der Servicestation ab, kam zurück, nahm die unliebsame Weinflasche und drehte sie in den Händen. Sie waren der Schlinge schon so nah. Ich konnte diese Schlacht gar nicht verlieren, schließlich hatte ich eine Waffe.

Ich suchte Claires Blick. Sie musste glauben, wir wären Freundinnen, sie könnte mir vertrauen.

»Sie haben völlig recht. Virginia ist nicht unbedingt für seine Rotweine bekannt, ich kann verstehen, dass Sie keine mögen. Der hier allerdings? Der ist etwas ganz Besonderes – wurde bei der königlichen Hochzeit serviert. Ein Geschenk der ersten Kolonie der zukünftigen britischen Königin.« Dass diese Hochzeit schon Jahre zurücklag, dass sich niemand außerhalb unseres kleinen Winkels der Welt dafür interessierte, spielte keine Rolle. Was diese Frau brauchte, war die Chance, sich wichtig zu fühlen. Und was ihr Verlobter brauchte, war die Chance, ihr dieses Gefühl zu geben. Die Menschen sind einfach zu leicht zu durchschauen.

Der nächste Bon. Rum. Coke. Weiter. Double-Shot Wodka, gekühlt. Ein Spritzer Zitrone. Einfacher Sirup. Gezuckerter Rand. Jetzt bin ich klebrig. Das nervt. Weiter. Bier. Mist. Das Bier war einen Schritt entfernt, ich drehte mich um, verschwendete Sekunden, um einen Zapfhahn zu betätigen. Zeit für den nächsten Spielzug.

»Sie meinen … doch nicht etwa die königliche Hochzeit. Die von Kate und William?«

Das ist der Augenblick, in dem du ihn ansiehst, um ihn in die Verschwörung mit einzubeziehen. Bei Paaren kommt es darauf an, das richtige Gleichgewicht zu finden, damit keiner sich übergangen fühlt. Und wenn ich mich weiter auf die beiden konzentrieren würde, könnte ich vielleicht den Blicken von Glas Wasser einen Moment länger aus dem Weg gehen.

Sie brauchten zu lange. Irgendwelche Finger trommelten einen ungeduldigen Wirbel auf meine Theke. Mein Barhelfer schob sich hinter mir herein. Zwischen seinen Fingern baumelten jede Menge schmutzige Gläser, und weitere hatte er sich unter den Arm geklemmt. Ich presste mich nach vorn, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Sein Ellbogen fuhr mir über den Rücken.

»Ich mach schnell das Bier hier fertig.« Ich hielt den Bon in die Höhe, verwandelte meinen Blick in eine Bitte. »Überlegen Sie es sich, ich bin gleich wieder für Sie da.« Ein Anflug von Leichtsinn überkam mich und »Soll ich vielleicht schon mal zwei Gläser bereitstellen, nur für den Fall?«, platzte ich heraus.

»Hunter, wir müssen!«

»Ganz wie du willst, Claire-Bärchen.«

Überall um mich herum füllte es sich, und ich merkte, wie das hektische Gedrängel eines unerwarteten Ansturms das Lokal in den Würgegriff nahm. Wenn ich es schaffen würde, ruhig zu bleiben, hübsch lächelnd das nervöse Kribbeln zu ignorieren, das mir die Beine hochkroch, Meckern und mürrische Gesichter und betrunkenes Lachen an mir abperlen zu lassen, dann hätte ich in ein paar Stunden vielleicht auch etwas zu feiern. Dieser Wein machte sich verdammt gut in einem Glas.

»Na dann, zum Wohl!«

Ich hatte mit einem öden Abend gerechnet, stattdessen ging es von null auf hundert, während sich immer mehr Gäste ins Blue Bell drängten. Um in Erfahrung zu bringen, woher sie kamen und warum sie ausgerechnet in diesem Jahr hier auftauchten, blieb mir keine Zeit, denn ich hastete von einem Gast zum anderen, nach hinten in die Küche, um nach einem Teller zu fragen (»He, Goldstück, reservierst du mir einen Neujahrskuss?«), zu Bud, der immun gegen das Chaos zu sein schien, das ihn umgab, und schließlich zur Bonmaschine, die nicht aufhörte, quietschend eine Bestellung nach der anderen auszuspucken. Unterdessen begann die Verhärtung in meiner Schulter zu glühen und zu brennen, das lädierte Schulterblatt verwandelte sich in Feuerstein, meine Lippen verzogen sich zu ihrem knöchernen Grinsen.

Es dauerte keine zwanzig Minuten, bis der Karton mit den Sektflöten hastig aufgerissen, bis Pappe, unter dem plötzlichen Angriff ächzend, zerfetzt wurde. Ty rammte wie ein Soldat in irgendeinem Kriegsfilm die Hände hinein, zog jedes Glas mit einer schnellen, präzisen Bewegung heraus, um es dem Barhelfer zu reichen, der es im Eiltempo spülte. Wenn der Boss in der Nähe war, arbeitete er immer besser.

Gereinigt, getrocknet und gefüllt landeten die Gläser auf Serviertabletts und in dem Meer aus leeren, ungeduldigen Händen, die mir hinter der Theke entgegengestreckt wurden.

Zehn … neun … Paare fanden sich zusammen … acht … sieben … sechs … die Leute vom Service schnappten sich schnell irgendein herumstehendes Glas und füllten einen Spritzer Champagner hinein … fünf … vier … Ich machte dasselbe … drei … Bud nahm sein Bier … zwei … eins …

Wir kippten über das wackelnde Drahtseil der Mitternacht, und plötzlich fühlte sich die Welt leer an, die Stunden gespannter Erwartung fielen in sich zusammen und brachten nichts weiter hervor als ein halbherziges »Auld Lang Syne« und einen Kuss auf die Wange von Chefkoch, der aus seiner Küche geeilt war, als der Countdown begann, um sich den letzten Rest aus einer Champagnerflasche in den Mund zu schütten.

Feierlichkeiten beendet.

JANUAR

Sophie

Das Schließritual begann.

Als sie merkten, dass sie nicht mehr wirklich erwünscht waren, schwärmten unsere mitternächtlichen Gäste zur Hostess am Eingang. Mit heiterem Dauerlächeln und höflichen Abschiedsfloskeln wich sie aus, während alle um sie herumschwirrten und nach Mänteln, Schals und Mützen griffen.

Im Restaurant stürzten sich derweil die Kellner auf Tische, räumten eiligst Champagnergläser ab und stellten sie mir zum Spülen auf die Theke, bevor sie erneut ihre Runde machten, um Essensreste von klebrigen Tischplatten zu wischen. Jemand holte Eimer und Besen hervor, um Champagnerflötenscherben aufzufegen, die funkelnd in einer warmen Lache auf dem Boden lagen. Ballons wurden von Stuhllehnen geschnitten, und wieder zerriss kreischendes Kichern die Luft, als sie in müde Gesichter gepresst oder über inzwischen erschlaffte Haare gerieben wurden. Nicht mehr lange, dann würden diese gackernden Kellner und Kellnerinnen um einen Platz an den Computern rangeln und ausgehungert in den Küchengängen auf jeden Happen Essen lauern, den der Koch ihnen vielleicht zukommen ließe, sobald er mal eine Pause vom Töpfe- und Pfannenklappern einlegen und nicht mehr in seinem selbst erfundenen Spanglish unter Einsatz unanständiger Gesten mit seinem Küchenpersonal scherzen würde. Mein Barhelfer stand in der Ecke und starrte in die Ferne, während er mit einem Geschirrtuch ein Whiskyglas polierte. Mit dem typischen Blick eines Kriegsversehrten. Ich ließ ihn einen Moment in Ruhe; der Schock, mal eine Stunde nützlich sein zu müssen, saß sicher tief. Im Augenwinkel sah ich, wie Ty durch den Flur in sein ruhiges Büro entschwand, wie immer, wenn der Abend vorbei war.

Bud, noch immer bei uns, warf ein, zwei Blicke auf die wachsende Kolonie schmutziger Gläser, die sich langsam seinem Ellbogen näherte, bevor er ein Bündel Geldscheine auf seine Rechnung warf, von seinem Barhocker kletterte und verschwand, wohin auch immer. Kaum war er draußen, läutete die Glocke über der Tür. Alle zuckten zusammen, Pawlowsche Reaktion auf das Geräusch eines Eindringlings nach einer sehr langen Schicht.

Falscher Alarm. Wohltuende Stille trat ein.

Wieder läutete es.

»Ich komm doch nicht etwa zu spät?« Eine Stimme, die ich nur zu gut kannte, sickerte mir am Ohr entlang und den Nacken hinunter. Der Knoten unterhalb meines Schulterblatts begann zu brennen wie Feuer. »Ihr macht doch nicht etwa schon zu?«

»Aber nein, Mr Dixon«, flötete die Hostess am Empfang. »Die Küche ist zwar schon geschlossen, aber Sophie hat sicher noch ein bisschen auf, falls Sie sich an die Bar setzen wollen. Brauchen Sie die Cocktailkarte?«

Ich hätte sie umbringen können, so nett die Kleine auch war. Stattdessen hob ich den Blick und lächelte den Mann an, der sich auf Buds frei gewordenen Platz schob.

»Wie gehts meiner Lieblingsbarkeeperin?«, fragte Mark Dixon und ließ die geweißten Zähne blitzen. »Hast du’s gut angefangen?«

»Ich hab gearbeitet, Mark.« Um meine Antwort zu unterstreichen, schob ich die Tür der Spülmaschine zu und stellte sie an. Lautes Rumpeln und Zischen ertönte aus dem stählernen Gehäuse und unterbrach die Unterhaltung. Mein Barhelfer spürte meine stählerne Ausstrahlung und verschwand in den Keller, um Getränkenachschub zu holen.

»Letzte Runde«, sagte ich. »Was darfs sein?«

»Arbeit würde ich das nicht direkt nennen, Sophie«, sagte Mark und strich mit dem Finger über die Kante meiner Theke.

»Ich schließe jetzt, Mark.«

»Komm schon! Entspann dich. Es ist Neujahr. Warum immer so ernst, Sophie. Hör zu, mach mir einen Drink, und mach dir doch auch einen. Lindsey hat sicher nichts dagegen.« Er warf mir mit einer lässigen Handbewegung den Namen meines Chefs hin. »An so einem Abend hast du doch bestimmt irgendwas übrig. Noch einen Schluck Schampus im Kühlschrank vielleicht? Oder sonst irgendwas, das noch weg muss? Ich bin nicht wählerisch.«

Ekel kroch mir übers Schlüsselbein.

Im Lauf der Jahre war ich zu Marks Lieblingsspielzeug geworden. Manchmal fragte ich mich, ob er den Knoten wohl sah, der sich unter anderem durch ihn in meinem Rücken gebildet hatte, so tief verborgen, dass selbst ich ihn nicht erreichte. Auf jeden Fall hatte er irgendwie Spaß daran, einen Schlüssel hineinzuschieben und mich aufzuziehen, was er sich erlauben konnte, weil er ein Freund des Besitzers war, und zwar ein echter.

Keiner von denen, die glauben, sie würden den Boss kennen, weil er mal an ihrem Tisch vorbeigeschaut und sich erkundigt hat, wie ihr Abendessen war. Keiner von denen, die die Empfangsdame anbrüllen, weil sie nicht gleich platziert werden, wenns mal rappelvoll ist, denn »Wir kennen den Chef, wissen Sie das nicht?!« Nein, das hätte Mark niemals nötig, denn er würde bereits auf seinem Platz an der Bar sitzen, der ihm jederzeit zur Verfügung stand, egal, wie viel wir zu tun hatten. Mit einem kostenlosen Drink in der Hand.

Mark Dixon war ein Freund, den Lindsey zwanzig Jahre zuvor im Verbindungshaus einer riesigen Uni kennengelernt hatte, deren offizielles Maskottchen ein zwar karikaturartig verzerrtes, aber die Sitten und Gebräuche der Studentenschaft angemessen widerspiegelndes Bierfass war. Er gehörte zu den Freunden, die bei Wohltätigkeits-Golftournieren in Lindseys Mannschaft spielten, die mit ihm in die Karibik flogen, wenn sie mal eine Woche frei nehmen und sich volllaufen lassen wollten, während ihre aktuellen Freundinnen kichernd das Chaos, das sie hinterließen, wieder in Ordnung brachten und sich »typisch Jungs eben« sagten.

Mark nannte sich Investor in lokale Unternehmen, was bedeutete, dass er mit seinem vielen Geld nicht wusste, wohin, und dass sein einziges Lebensziel daher die Suche nach dem nächsten perfekten Barhocker war. In jeder anderen Kneipe wäre er sicher ein Tequila Tonic gewesen, doch hier im Blue Bell war er Premium-Gast: Was immer er will, wann immer er es will, und wie wäre es mit einem Lächeln, Sophie?

Es ist eben nicht leicht, für jemanden zu lächeln, der es sich zur Gewohnheit macht, kurz vor Feierabend noch reinzuschneien, während er ganz genau weiß, dass jeder andere Kunde abgewiesen werden würde; der verlangt, dass du für ihn schon weggepackte Säfte aus dem Kühlschrank nimmst und neue Flaschen vom Regal; der, ohne mit der Wimper zu zucken, deine frisch polierten Gläser wieder einsaut. Hätte er mir jemals ein Trinkgeld gegeben, wären wir vielleicht ins Geschäft gekommen. Aber seine Bezahlung bestand offenbar aus seiner Anwesenheit, über deren Wert wir unterschiedliche Ansichten hatten.

Irgendwas fertig Gemixtes oder der letzte Schluck Schampus würden nicht reichen, das wussten wir beide. Also goss ich zwei Fingerbreit von dem neuen Mezcal auf meine letzten Eiswürfel, den Lindsey bestellt hatte, um ihn über die Feiertage auszuprobieren, warf ein Stück Orangenschale dazu und schob Mark das Glas hin. In der Hoffnung, es würde ihn beschäftigen, bis er genug davon hatte, mich zu nerven. Mezcal schmeckt rauchig und brennt im Mund, so dass die Leute ihn gewissermaßen kontemplativ geschlossen halten. Manchmal musst du eben dafür sorgen, dass du deine Ruhe hast.

Der Drink würde ihn zumindest so lange beschäftigen, bis die Servicekräfte sich quasselnd um meine Theke versammeln und auf ihren Feierabenddrink warten würden. Dann konnte er sich mit denen unterhalten. Ich hatte in der Zwischenzeit die Abrechnung zu machen, das Bargeld zu zählen und wegzuschließen, Obst einzupacken, Flaschen abzuwischen und jede Menge Gläser zu polieren. Ich wandte Mark den Rücken zu. Das war ein Fehler.

Seit ich hinter dem Tresen stehe, halte ich eine bestimmte Ordnung in meiner Kasse: die größten Scheine links, die kleinsten rechts, der Rest in absteigender Reihenfolge dazwischen. Alle müssen mit dem Gesicht nach oben zeigen, das Präsidentenkinn nach links. Jeder Abweichler wird sofort wieder auf Linie gebracht. So entsteht kein Chaos, wenn ich sie am Ende des Abends herausnehme. Keiner ist in die Ecke gerutscht oder zerrissen. Keiner ist feucht geworden. Keiner liegt im falschen Fach, um meine sorgfältige Zählung zu torpedieren. Alles ist sinnvoll geordnet, und meine Geldscheine gleiten mir trocken und sauber mit einem befriedigenden Knistern durch die Finger, wenn ich sie zähle.

Ich zog die Kassenschublade auf.

Ein großer Hunderter … hundertfünfzig.

Barhockerbeine schrammten über den Boden, tausend Stimmen erwachten plötzlich zum Leben, begannen, mir in den Nacken zu schwafeln; Zähne und Füße robbten sich meine empfindlichen Halswirbel hinauf. So dringen Männer wie Mark Dixon in mein Hirn.

Hundertsiebzig … neunzig … zwei-zehn.

Derbe Gummisohlen pressten sich auf die Fußmatte neben mir. Sein Rasierwasser schlang mir einen holzig-scharfen Schleier ums Gesicht.

Konzentrier dich. Zweihundertdreißig … zwei-vierzig … fünfzig … sechzig.

Ein schmatzendes Geräusch, dann ein kalter Luftzug, der auf mein Bein traf, als er den Weinkühlschrank öffnete. Flaschen klirrten, als sie von fremden Händen herumgeschubst wurden.

»Was machst du hinter meiner Theke, Mark?«

»Nur mal sehen, was du hier Schönes hast, Darling.«

»Nenn mich nicht Darling.«

Fünfundsechzig … siebzig … fünfundsiebzig.

»Schätzchen.«

Der Knoten, der inzwischen kein Knoten mehr war, sondern hart wie ein Feuerstein, verwandelte sich in ein Messer. Das sich glühend heiß durch Muskeln und Knochen bohrte und mich (Musculus subscapularis und Musculus infraspinatus) mit seiner glänzend scharfen Klinge durchtrennte, an deren Spitze meine Würde baumelte. Mark erhob sich hinter mir, sein Atem streifte eine meiner Haarsträhnen, während er mühsam von den nicht mehr ganz so jungen Knien hochkam. Ich hörte sie knarzend und knacksend aufbegehren, dann Stille. Und dann: Anspannung. Der Raum zwischen uns nahm plötzlich Gestalt an, wurde zu etwas Festem, Starrem, Körperlichem, elektrisch aufgeladen wie ein Gewitter. Ich presste mich dicht an die Kasse, doch es gab kein Entkommen. Rühr mich nicht an, warnte ich Mark im Stillen, während ich zu Ende zählte.

Zwei-achtzig … fünfundachtzig …neunzig … eins-zwei-drei.

Er langte über meinen Kopf, um die Flasche Mezcal aus dem Regal zu holen, streckte den anderen Arm knapp an meiner Hüfte vorbei, um ein Glas von der Theke zu nehmen.

Vier-fünf-sechs.

Das Gluckern des Tequilas beim Einschenken war ein Finger, der mir über die Hüfte strich. Wieder streifte sein Atem meine Haare, als er die Flasche an ihren Platz zurückstellte. Die Luft knisterte, ein Gewittersturm erhob sich zwischen meinen Wirbeln.

Siebenachtneun.

»He, Sophie.« Seine Schuhe quietschten, als er sich wieder auf den Barhocker hievte. »Schälst du mir noch ein bisschen mehr von der Orange, bevor du das Obst wegpackst? Oder vielleicht Limette. Limette passt besser zu Tequila, oder?«

Mezcal ist nicht bloß irgendein Tequila, Mark. Die Orange nimmt dem Raucharoma die Schärfe. Limette würde sich damit beißen. Man sollte meinen, bei deiner ganzen Kohle hättest du so was wie Geschmack entwickelt …

»Und hast du das Eis schon weggekippt?«

Dreihundert.

Einmal hatte ich mich beim Restaurantleiter über Mark beschwert, nachdem ich zwei oder drei Mal das Vergnügen gehabt hatte. Nachdem er Bemerkungen über meinen Körper gemacht hatte, bei denen ich am liebsten im Erdboden versunken wäre.

»Was soll ich machen?«, hatte Ty von seinem Platz an dem wackeligen Tisch in der Bar auf der anderen Straßenseite aus gefragt, einer Kaschemme mit dem Namen Tap House, die auch den übelsten Vorlieben ihrer Gäste gerecht wurde. Angeblich war ihr Besitzer, ein stämmiger Bursche namens Joe, in seiner Jugend durch Europa gereist und hatte erfahren, dass TAP die Kurzbezeichnung für »Typical American Prick« war. Und so wurde eine Bar geboren.

Zuerst dachte ich, die Sorge in Tys Blick gelte mir, bis ich bemerkte, wie oft er zu dem Fernseher hinaufzuckte, der an der Wand hing. Tiger hatte ein Comeback, und es sah aus, als hätten die Amerikaner eine Chance, dieses Jahr den Ryder Cup zu gewinnen.

»Kannst du mal mit Lindsey reden? Ihm sagen, dass sein Freund ein Widerling ist?«

Ty seufzte. »Hör zu. Tut mir leid, wenn du das so siehst, aber mir sind die Hände gebunden, das musst du verstehen. Ich weiß, dass er manchmal ne große Klappe hat, mich nervt er auch, glaub mir, aber er ist harmlos. Er hat dich doch nicht etwa angefasst?«

»Nein, aber –« Wie hätte ich ihm sagen sollen, dass Mark mich eines Nachmittags von oben bis unten gemustert hatte, um zu erklären, wie niedlich meine Figur doch sei und dass meine Brüste genau die richtige Größe für ihn hätten: »Ne Handvoll, Sophie. Was immer die Kerle behaupten, sie wollen nichts, was sie nicht mit einer Hand packen können.«

»Soph.« Ty seufzte wieder. »Tut mir leid. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ignorier ihn einfach und mach deinen Job.«

Sein Blick wanderte über meiner Schulter nach oben. Irgendwo in Europa versenkte Tiger den Ball.

»Lächle, Sophie.«

Marks leeres Glas schlidderte auf mich zu. Ich streckte automatisch die Hand aus, fing es auf, bevor es über den Thekenrand fliegen konnte, und stellte es in den Geschirrkorb. Das mit der Kontemplation, das hatte ich vergessen, funktioniert nur bei Leuten, die nicht jedes bisschen Alkohol, das man ihnen hinstellt, auf ex trinken. Der ganze Rauch, samt Zeit und Handwerkskunst der Barkeeperin, zack, einfach runtergekippt. Zwei zerfledderte Stücke Orangenschale lagen auf dem Tresen. Ich sammelte sie auf. Sie lagen klebrig in meiner Faust.

»Hast du sonst noch was? Irgendwas, was du bloß wegtun würdest? Du musst doch noch Champagner übrig haben.«

»Die Bar ist geschlossen, Mark. Geh doch rüber ins Tap House. Die haben sicher noch ne Weile auf.«

»Ich will aber lieber hierbleiben und meine Lieblingsbarkeeperin nerven.«

»Also, da solltest du dir vielleicht was anderes einfallen lassen.«

Wie gerufen strömten in diesem Moment die Servicekräfte zu meiner Theke, stapelten Stempelkarten, Trinkgeld und das Bargeld fürs Haus ans Ende, bevor sie der Reihe nach auf Barhocker kletterten und dasaßen wie die Hühner auf der Stange. Mark begrüßte einen nach dem anderen und lud alle auf einen Drink ein, um das neue Jahr zu feiern, was sie bereitwillig annahmen. Hatte ich irgendetwas anderes erwartet? In meiner ganzen Zeit an der Bar hatte ich es nicht ein Mal erlebt, dass ein Kellner einen kostenlosen Feierabenddrink ablehnt.

Die Krawatten gelöst, die Hemdkragen geöffnet, saßen sie rechts und links neben ihm und strahlten erleichtert, weil ein langer Abend zu Ende ging. Irgendwer verlangte eine Reihe Shots, und innerhalb kürzester Zeit war meine saubere Theke wieder mit Whisky, Wodka und Tequila versifft, während sie den Inhalt ihrer Gläser in die aufgesperrten Münder kippten. Eine von ihnen zog eine halb geleerte Flasche Champagner aus ihrer Serviertasche, die sie herumreichten, um sich ausgelassen Luxusschaumwein die Kehlen runterlaufen zu lassen. Chefkoch, der sie lärmen hörte, kam aus der Küche, um auch einen Schluck zu nehmen. Ein kurzer Blick zur Seite verriet mir, dass mein Barhelfer nervös in der Nähe des Empfangstischs stand und von einem Fuß auf den anderen trat. Ich nickte. Sollte er abzischen.

Ty wartete in seinem Büro auf mich, mit seiner üblichen Tasse Kaffee und einem Glas Jameson daneben.

»Mischst du sie heute nicht?«, fragte ich und nickte in Richtung der Getränke.

»An Neujahr will ich meinen Whisky schmecken«, antwortet er nur. »Wie viel hast du draußen noch zu tun?«

»Hängt davon ab, wie schnell die Leute vom Service sich verziehen. Sie haben mir die Bar wieder eingesaut. Und Mark hat seinen Hintern zwischen ihnen geparkt.«

»Wenn sie verschwinden, geht er auch.« Während er mit mir sprach, zählte er das Geld in seiner Hand, prüfte Bons nach, zeichnete jeden einzeln ab. »Kannst du alleine zumachen oder soll ich dableiben?« Eine Frage, die eigentlich keine war.

»Ich krieg das schon hin.«

»Super. Danke, Soph.« Er sah mich an. »Du bist die Beste.«

Ich weiß.

Ein Zootier

»Sophie.«

Eine Drohung, ein Erstickungsgefühl, eine unangenehme Verpflichtung klopfte ans Fenster. Ich sah nicht hoch.

»Sophie.«

Als kleines Mädchen unternahm meine Mutter mit mir einmal einen Ausflug in den National Zoo oben in D.C. Um die Mittagszeit des Tages, den wir damit verbracht hatten, über verschlungene Kiespfade zu laufen, waren wir im lauten Getümmel des Affenhauses gelandet. In der darauffolgenden Stunde bestaunten wir singende Gibbons, tollpatschige Orang-Utans und Lemuren mit geringelten Schwänzen, die länger waren als ihr ganzer Körper. Über unseren Köpfen feixten Kapuzineräffchen, während sie sich durch die Reihe Bäume hangelten, die den Mittelgang säumte. Ein paar Wochen später, nachdem einer von ihnen entwischt und auf den verstopfen Straßen D.C.s verschwunden war, sperrte man sie in einen Käfig, doch an diesem Nachmittag glotzten sie uns noch von ihren Zweigen aus an und verzogen die kleinen Schnauzen zu breitem Grinsen; wie das, das ich mir eines Tages selbst ins Gesicht schmieren würde.

Zur Hauptattraktion gelangten wir, als wir den Horden von Kindern zu einer großen Glasscheibe folgten, die von fettigen Gesichtern ganz verschmiert war. Dahinter saß im Halbdunkel eines Betongeheges der alte Silberrücken, ein riesiger Gorilla. Zusammengekauert, mit verschränkten Armen wandte er sich trotzig von den ganzen Rotznasen ab, die ihn rufend und grölend dazu bringen wollten, in ihre Richtung zu schauen und sie so zu unterhalten, wie schon seine Cousins es getan hatten. Doch er rührte sich nicht, blieb einfach stur sitzen und zeigte sich selbst den lautesten Schreihälsen nur von hinten. Noch lange Zeit später musste ich bei dem Gedanken an dieses Tier lächeln, das sich wie ein Kind benommen hatte, das glaubt, es sei unsichtbar, wenn es sich nur die Bettdecke übers Gesicht zieht.

Das war lange bevor ich anfing, im Gastgewerbe zu arbeiten; bevor ich es mit meinen eigenen Horden zu tun bekam, die sich gegen die Scheibe der Eingangstür pressten, mit den Händen das Glas verschmierten, darauf warteten, dass wir öffneten und sie hereindrängen konnten. Nachdem ich jetzt selbst zu einem Zootier geworden bin, verstehe ich die wahre Stärke, die darin liegt, wegschauen, die lästigen Eindringlinge eine Weile in irgendeinen anderen Winkel der Wirklichkeit verbannen zu können.

Ich richtete den Blick auf meine Arbeit

»Sophie.« Es pochte, Knöchel auf Glas.

Nein. Würde ich hochsehen, würde, wer immer es war, das als Einladung verstehen. Jeder wäre gern der eine Gast, der nach Geschäftsschluss noch reinkommen darf. Wir hatten zwei Uhr früh, die Tür war verschlossen, mein Licht schon gelöscht. Alles, was ich wollte, war in Ruhe gelassen zu werden.

»Sophie!«

Die Bar war fast schon sauber. Noch ein Durchgang mit dem Lappen, dann würde sie blitzblank auf den nächsten Tag warten. Noch eine Runde Wischen, dann konnte ich endlich das Glas Wein trinken, für das ich so hart gearbeitet hatte; all die Stunden, die mir vorkamen, als lägen sie schon Tage zurück. Der Mann vor dem Fenster ging nicht weg. Seine Gestalt verschwamm im Dunkeln, blieb mir im Augenwinkel hängen. Winzige Füße schlichen mir auf Zehenspitzen den Hals hinunter, die glatte Oberfläche des Platysma entlang, über den Musculus sternohyoideus und den Musculus sternocleidomastoideus; über die ganzen riskanten Stellen, an denen die Atmung beschleunigt oder unterbrochen werden kann. Ich spürte, wie sie anhielten, sich in der weichen Vertiefung über meinem Schlüsselbein sammelten.

Das Pochen wurde noch fester, beharrlicher. Es wanderte an der Scheibe entlang auf das Ende meiner Theke zu. Ich versuchte, mich zu beherrschen; unter meiner Haut kribbelte es.

»Sophie, ich seh dich. Lass mich rein!«

Als ich den Kopf hob, erblickte ich Marks Gesicht, das sich nur wenige Zentimeter von meinem entfernt an die Glasscheibe presste. Seine Augen tränten, er konnte nicht geradeaus schauen, seine Wangen waren gerötet. Das war es also, was der Gorilla gesehen hatte, als er auf die ganzen dämlichen Touristen blickte, die seine Aufmerksamkeit wollten. Er hätte lachen sollen. Ich hätte lachen sollen. Endlich sah Mark wie das Schwein aus, das er war.

Zufrieden, dass ich ihm endlich Beachtung schenkte, hämmerte er wieder ans Fenster.

»Ich habe geschlossen, Mark.« Zuckersüß lächelnd ließ ich jedes einzelne Wort von der Zunge rollen.

»Ich muss pinkeln!« Wieder ein Rumms, ein lauter, dumpfer Schlag, der die Scheibe erzittern ließ. »Bitte! Ich kanns nicht mehr halten. Wenn du mich nicht reinlässt, piss ich euch auf den Bürgersteig.«

Scheiße.

Kaum hatte ich ihm aufgemacht, torkelte er herein, murmelte ein kurzes Danke und wankte, die Hände zwischen die Beine gepresst wie ein Kleinkind, das sich gleich in die Hose macht, Richtung frisch geputzter Toilette. Der Klositz wurde hochgeklappt, den Rest versuchte ich zu überhören; sein Bedürfnis war so dringend gewesen, dass er vergessen hatte, die Tür hinter sich zuzumachen.

»He, Sophie«, sagte er, als er kurz darauf wieder zum Vorschein kam, während er sich die nassen Hände an der Hose abwischte. Er zog einen meiner Barhocker heraus, dessen Metallbeine laut über den Boden schrammten, und ließ sich darauf nieder. Jetzt kam sie, die Frage, von der ich wusste, dass er sie stellen würde. Der eigentliche Grund, weswegen er wieder hier war.

»Ja, Mark?«

»Hast du noch was gefunden, was du loswerden willst?«

Ich nahm den Korb Gläser, den ich in der Spülmaschine vergessen hatte, als Entschuldigung, nicht gleich zu antworten, trat die Stahltür auf und blieb einen Moment in der wirbelnden Dampfwolke stehen, während ich jedes Wort, das ich sagen würde, sorgfältig wählte, wie ich Äpfel beim Pflücken auf Faulstellen und Makel im Farbton überprüfte. Es kam darauf an, das Richtige zu sagen. So betrunken, wie er war, standen die Chancen zwar gut, dass Mark vergaß, dass dieses Gespräch jemals stattgefunden hatte; wenn allerdings nicht, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich von Ty hören würde.

Ich entschied mich für die einfache Wahrheit. »Ich glaube, du hattest genug.«

»Was ist mit dem Wein, den du da hinten stehen hast?« Er nickte in Richtung Claires und Hunters Flasche, die halb verdeckt hinter der Kasse wartete. Die inzwischen geleert war, bis auf diesen letzten Rest. Ihr Glas schimmerte dunkelgrün im matten Licht, ein samtiges Friedensangebot. Während wir sie nachdenklich betrachteten, regte sich so etwas wie Resignation in meiner Brust.

»Der gehört mir, Mark.«

»Hat deine Mutter dir nicht beigebracht zu teilen?«

»Natürlich.« Ich ließ meine Stimme flöten, um ihn zu verwirren. »Natürlich hat sie das. Aber heute bin ich ausnahmsweise egoistisch. Für diese Flasche hab ich hart gearbeitet, und ab und zu sollte eine Lady sich auch mal was gönnen, meinst du nicht?«

Hochgezogene Braue, koketter Schmollmund, mein Schwert und Schild in Situationen wie dieser.

»Na ja, dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte Mark, dessen sonst so breiter Südstaatenakzent vom Alkohol ganz schlaff geworden war; träge rannen ihm die Worte über die Lippen. Mit hängenden Lidern sank er auf seinem Barhocker zusammen und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tresen ab, um nicht mit dem Gesicht nach unten darauf zu landen.

Ich ließ ihn vor sich hin lallen, während ich die Gläser aus dem Korb räumte. Bei jeder Berührung verfärbten sich meine Fingerspitzen rot, doch ich spürte keinen Schmerz. Jahrelanges Hantieren mit heißem Geschirr und Glas hatte mich taub dagegen gemacht. Mit der Zeit gewöhnst du dich an alles.

Highballgläser wurden einfach kopfüber auf die Abtropfmatte gestellt. Wenn sie nur als Wassergläser dienten, mussten sie nicht poliert werden und konnten über Nacht an der Luft trocknen. Die Weingläser, die Whisky-Tumbler und die Snifter dagegen mussten blank poliert werden, bevor sie schlafen gelegt wurden. Ich zählte im Stillen die Zeit runter. Noch zehn Minuten. Zuerst mussten sie etwas trocknen, sonst würde es beim Polieren Streifen geben. Wäre ich allein gewesen, hätte ich mir jetzt das Glas Wein eingeschenkt. Stattdessen stand es nun hinter der Kasse, unerreichbar, es sei denn, ich hätte teilen wollen.

»Sophie.«

»Mark.« Ich werkelte herum, versuchte noch irgendetwas anderes zu finden, das die Zeit ausfüllte, versuchte, die kleine Meute zu beschwichtigen, die an den Fasern meines Musculus supraspinatus entlangkroch. Ich spürte, wie Marks Blick abwärts glitt, sich schwer wie eine Hand auf meinen Rücken legte.

»Kannst du mich nach Hause fahren?«

Mir verschlug es die Sprache. »Ist das dein Ernst? Kannst du nicht jemand anderen bitten?«

Die Frage, ob er ein Taxi gerufen hatte, sparte ich mir. Es war schon an gewöhnlichen Abenden schwer genug, sie dazu zu bringen, bis hier raus zu kommen. Kurvenreiche Nebenstraßen und zwanzig Minuten bis zum nächsten Kunden schreckten die meisten Taxifahrer ab. Schaffte man es dennoch, eins zu ergattern, hieß das lange warten und viel zahlen. An Silvester, wenn sie in Charlottesville kurze Fahrten zu fetten Preisen machen konnten, dachten sie nicht im Traum an unser kleines Bellair. Was ich ihnen nicht verdenken kann. Und wer sich jetzt, liebe Großstädter, vielleicht fragt: Und was ist mit Uber? Also, an dem Tag, an dem Uber oder schnelles Internet unser verschlafenes Nest erreichen, werden sie garantiert mit Glanz und Gloria begrüßt. Diese Aussicht scheint sie aber bisher noch nicht gelockt zu haben.

Nein, wer hier lebt, ist es gewohnt, selbst mit dem Auto nach Hause zu fahren, dabei höllisch aufzupassen und Stoßgebete gen Himmel zu schicken, dass er nicht den Graben oder ein Stück Wild erwischt. Heute Nacht würde da keine Ausnahme bilden.