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Am Anfang war ein Traum. Und dann war Leben! Wenn ihr Leben ein Buch wäre, sagt Madeleine, würde sich beim Rückwärtslesen nichts ändern: Heute ist genau wie gestern und morgen wird sein wie heute. Denn Madeleine hat einen seltenen Immundefekt und ihr Leben lang nicht das Haus verlassen. Doch dann zieht nebenan der gut aussehende Olly ein - und Madeleine weiß, sie will alles, das ganze große, echte, lebendige Leben! Und sie ist bereit, dafür alles zu riskieren. So hat man die Liebe noch nie gelesen! Eine außergewöhnlich berührende Liebesgeschichte für Fans von Jojo Moyes und John Green mit besonderen Illustrationen, Skizzen, Notizen und E-Mails.
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Viel Spaß beim Lesen
Ihr Dressler Verlag
Für meinen Mann David Yoon, der mir mein Herz gezeigt hat. Und für meine kluge und hübsche Tochter Penny, die es noch größer gemacht hat.
»Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach:
Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«
Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz
ICH HABE VIEL mehr Bücher gelesen als du. Es spielt keine Rolle, wie viele du gelesen hast. Bei mir sind es mehr. Glaub mir. Ich hatte genügend Zeit dazu.
In meinem weißen Zimmer mit den weißen Wänden und den strahlend weißen Bücherregalen sind die Buchrücken die einzigen Farbtupfer. Die Bücher sind alle nagelneu – verkeimte Secondhandausgaben kommen für mich nicht infrage. Meine Bücher stammen aus der Welt draußen, und zwar desinfiziert und steril in Plastikfolie eingeschweißt. Ich würde zu gern die Maschine sehen, die dafür zuständig ist. Ich stelle mir vor, wie jedes Buch über ein weißes Förderband an weiße Arbeitsplätze transportiert wird, wo es von weißen Roboterarmen eingenebelt, besprüht und sonst wie sterilisiert wird, bis es schließlich sauber genug ist, um zu mir nach Hause geliefert zu werden. Immer, wenn ich ein neues Buch bekomme, entferne ich als Erstes die Folie, was nur mit einer Schere geht und mich schon mehr als einen Fingernagel gekostet hat. Die nächste Amtshandlung ist dann, dass ich meinen Namen ins Buch schreibe.
Eigentum von: Madeline Whittier
Keine Ahnung, wieso ich das mache. Außer meiner Mutter, die nicht liest, und meiner Krankenschwester Carla ist hier niemand, und Carla hat keine Zeit zum Lesen, weil sie ihre ganze Zeit damit verbringt, mich beim Atmen zu beobachten. Ich bekomme nur selten Besuch und kenne deswegen auch keinen, dem ich meine Bücher leihen könnte. Es gibt auch niemanden, den ich daran erinnern müsste, dass ein längst vergessenes Buch in seinem oder ihrem Regal mir gehört.
Dieser Teil dauert immer am längsten, weil ich in jedes Buch etwas anderes hineinschreibe. Manchmal sind die Belohnungen ziemlich abgefahren:
Picknick mit mir (Madeline) auf einer pollenverseuchten Wiese voller Mohnblumen, Lilien und Unmengen von Ringelblumen unter einem klaren blauen Sommerhimmel.
Tee mit mir (Madeline) in einem Leuchtturm mitten im Atlantik während eines Hurrikans.
Schnorcheln mit mir (Madeline) vor Molokini, auf der Suche nach dem hawaiianischen Wappenfisch, dem Humuhumunukunukuapua’a.
Manchmal sind die Belohnungen nicht ganz so verrückt:
Ein Ausflug mit mir (Madeline) in ein Antiquariat.
Ein Spaziergang mit mir (Madeline), nur die Straße hinunter und wieder zurück.
Eine kurze Unterhaltung mit mir (Madeline) über ein Thema deiner Wahl, auf meiner weißen Couch in meinem weißen Zimmer.
Manchmal ist die Belohnung aber auch nur:
Ich (Madeline).
MEINE KRANKHEIT IST total selten und doch allgemein bekannt. Es ist eine Form des schweren kombinierten Immundefekts, die jeder sofort mit einem Baby in einem keimfreien Plastikzelt verbindet.
Im Grunde bin ich allergisch gegen die Welt. Alles kann einen Anfall auslösen. Es könnten die Chemikalien im Putzmittel sein, mit dem der Tisch abgewischt wurde, den ich gerade berührt habe. Es könnte das Parfüm von irgendwem sein. Oder das exotische Gewürz in meinem Essen. Es könnte eines davon, alles auf einmal, nichts davon oder etwas ganz anderes sein. Niemand weiß, was die Auslöser sind, aber alle kennen die Konsequenzen. Meine Mom sagt, dass ich als Kleinkind ein paarmal beinahe gestorben wäre. Und deswegen sitze ich im SCID-Gefängnis. Ich verlasse das Haus nicht, habe es in den letzten siebzehn Jahren noch nie verlassen.
»FILMABEND, EHRENWORT-PICTIONARY oder Buchklub?«, fragt meine Mutter, während sie die Blutdruckmanschette an meinem Oberarm aufpumpt. Ihr Lieblingsspiel hat sie nicht erwähnt – phonetisches Scrabble. Ich schaue zu ihr auf und das verschmitzte Funkeln in ihren Augen spricht Bände.
»Phonetisches Scrabble«, sage ich.
Sie hört auf, die Manschette aufzublasen. Normalerweise misst Carla, meine Vollzeitkrankenschwester, meinen Blutdruck und füllt das tägliche Krankenblatt aus, aber meine Mom hat ihr den Tag freigegeben. Es ist mein Geburtstag, und den verbringen wir immer gemeinsam, nur wir beide.
Mit dem Stethoskop kontrolliert sie meinen Herzschlag. Ihr Lächeln verschwindet und sie setzt dieses ernste Arztgesicht auf. Das ist der Ausdruck, den ihre Patienten meistens zu Gesicht bekommen – etwas distanziert, professionell und besorgt.
Ohne lange nachzudenken, drücke ich ihr einen Kuss auf die Stirn, um sie daran zu erinnern, dass ich es bin, ihre Lieblingspatientin, ihre Tochter.
Sie öffnet die Augen, lächelt und streicht mir über die Wange. Ich finde, wenn man schon mit einer Krankheit geboren wird, die ständige Kontrolle erfordert, ist es nicht schlecht, wenn die eigene Mutter Ärztin ist.
Ein paar Sekunden später setzt sie ihr bestes Ich-bin-die-Ärztin-und-ich-habe-schlechte-Neuigkeiten-Gesicht auf. »Heute ist dein Geburtstag. Warum spielen wir nicht lieber etwas, bei dem du wenigstens eine kleine Chance hast zu gewinnen? Ehrenwort-Pictionary?«
Da man das normale Pictionary nicht zu zweit spielen kann, haben wir das Ehrenwort-Pictionary erfunden. Dabei zeichnet der eine, und der andere gibt sein Ehrenwort, vernünftig zu raten. Wird der Begriff erraten, bekommt die Zeichnerin die Punkte.
Ich mustere sie streng. »Wir spielen phonetisches Scrabble und diesmal gewinne ich«, verkünde ich zuversichtlich, obwohl ich wirklich nicht die geringste Chance habe. In all den Jahren, in denen wir nun schon phonetisches Scrabble oder fonetisches Skräbbel spielen, habe ich sie noch nie besiegt. Beim letzten Mal lag ich tatsächlich in Führung. Aber dann hat sie mich mit ihrem letzten Wort vom Platz gefegt und für JIENS den dreifachen Wortwert eingeheimst.
»Also gut.« Sie schüttelt den Kopf und heuchelt Mitgefühl. »Wie du willst.« Dann schließt sie die Augen und konzentriert sich wieder auf ihr Stethoskop.
Den Rest des Vormittags verbringen wir damit, meinen traditionellen Geburtstags-Vanillekuchen mit Cremefüllung zu backen. Nach dem Abkühlen überziehe ich den Kuchen mit einer hauchdünnen Schicht Zuckerguss, gerade genug, um ihn damit zu bedecken. Wir essen beide gern Kuchen, aber Zuckerguss ist eigentlich nicht so unser Ding. Trotzdem darf die Deko natürlich nicht fehlen. Aus dem Zuckerguss forme ich achtzehn Gänseblümchen mit weißen Blütenblättern und an den Seiten des Kuchens noch einen gerafften weißen Vorhang.
»Perfekt.« Meine Mom schaut mir über die Schulter. »Das passt zu dir.«
Ich drehe mich zu ihr um. Sie lächelt mich stolz an, doch in ihren Augen schimmern Tränen.
»Du. Bist. Eine. Heulsuse«, sage ich und spritze ihr einen Klecks Zuckerguss auf die Nase, was sie noch ein bisschen mehr zum Lächeln, aber auch zum Weinen bringt. Normalerweise ist sie nicht so rührselig, nur an meinem Geburtstag wird sie immer ziemlich sentimental. Und wenn bei ihr die Tränen laufen, ist es bei mir genauso.
»Ich weiß«, sagt sie und hebt hilflos die Hände. »Ich bin einfach zu nah am Wasser gebaut.« Sie zieht mich an sich und nimmt mich in den Arm. Der Zuckerguss verklebt meine Haare.
Mein Geburtstag ist der einzige Tag des Jahres, an dem wir uns meiner Krankheit besonders bewusst werden. Es liegt wohl daran, dass man merkt, wie die Zeit vergeht. Wieder ein ganzes Jahr krank ohne die Hoffnung auf Heilung. Ein ganzes Jahr, in dem ich all die Dinge versäumt habe, die andere in meinem Alter normalerweise tun – Führerschein machen, den ersten Kuss bekommen, Abschlussball, Liebeskummer oder die erste Beule im Auto. Wieder ein Jahr, in dem meine Mutter nichts anderes getan hat, als zu arbeiten und sich um mich zu kümmern. An allen anderen Tagen des Jahres ist es einfach, oder zumindest einfacher, das alles zu ignorieren.
Dieses Jahr ist es noch ein bisschen schwieriger als zuvor. Vielleicht, weil ich jetzt achtzehn bin. Eigentlich bin ich jetzt erwachsen. Ich sollte zu Hause ausziehen und aufs College gehen. Meine Mom sollte sich davor fürchten, im leeren Nest zurückzubleiben. Aber wegen meiner Krankheit gehe ich nirgendwohin.
Später, nach dem Essen, schenkt sie mir ein wundervolles Set Pastellstifte, die ich schon seit Monaten auf meiner Wunschliste hatte. Wir gehen ins Wohnzimmer und setzen uns im Schneidersitz an den niedrigen Couchtisch. Auch das ist ein Teil unseres Geburtstagsrituals: Sie zündet eine einzelne Kerze an, die in der Mitte des Kuchens steckt. Ich schließe die Augen und wünsche mir etwas. Dann puste ich die Kerze aus.
»Was hast du dir gewünscht?«, fragt sie sofort, als ich meine Augen wieder öffne.
Eigentlich habe ich nur einen Wunsch – eine wundersame Selbstheilung, die es mir erlaubt, in der Welt draußen in Freiheit herumzurennen wie ein wildes Tier, aber diesen Wunsch äußere ich nie, weil er unmöglich zu erfüllen ist. Es wäre dasselbe, als wünschte man sich, dass es Meerjungfrauen, Drachen und Einhörner wirklich gibt. Also wünsche ich mir stattdessen etwas, das wahrscheinlicher ist als meine Heilung. Etwas, das uns beide weniger traurig macht.
»Ich wünsche mir Weltfrieden.«
Drei Stücke Kuchen später beginnen wir mit unserem Phonetik-Spiel. Ich gewinne nicht. Nicht einmal annähernd.
Sie benutzt alle acht Buchstaben und legt POKALIPS neben ein E. POKALIPSE.
»Was soll das sein?«, frage ich.
»Apokalypse«, sagt sie grinsend.
»Nein, Mom. Auf keinen Fall. Das geht so nicht.«
»Doch« ist alles, was sie sagt.
»Mom, du brauchst noch ein A. Vergiss es.«
»Pokalipse«, sagt sie wie zum Beweis und deutet auf die Buchstaben. »Das hört sich total richtig an.«
Ich schüttele den Kopf.
»POKALIPSE«, wiederholt sie energisch und zieht das Wort absichtlich in die Länge.
»Mein Gott, du gibst wohl nie auf«, sage ich und hebe entnervt die Hände. »Meinetwegen. Ich lasse es durchgehen.«
»Ja!« Sie ballt triumphierend die Faust, grinst mich an und notiert ihren nicht mehr einholbaren Punktestand. »Du hast dieses Spiel nie wirklich begriffen«, stichelt sie. »Es geht dabei nur um Überzeugungskraft.«
Ich schneide mir noch ein Stück vom Kuchen ab. »Das war keine Überzeugung, das war Schummeln«, werfe ich ihr vor.
»Das ist doch dasselbe«, sagt sie, und wir müssen beide lachen.
»Morgen darfst du mich dann beim Ehrenwort-Pictionary schlagen«, bietet sie an.
Nachdem ich haushoch verloren habe, setzen wir uns auf die Couch und schauen unseren Lieblingsfilm Frankenstein Junior. Dieser Film ist ebenfalls ein Teil des Geburtstagsrituals. Ich lege meinen Kopf auf ihren Schoß, sie streichelt über meine Haare und wir lachen an denselben Stellen wie immer. Alles in allem gar nicht schlecht, so den achtzehnten Geburtstag zu feiern.
ICH SITZE AUF meiner weißen Couch und lese, als Carla am nächsten Morgen hereinkommt.
»Feliz cumpleaños«, begrüßt sie mich.
Ich lasse das Buch sinken. »Gracias.«
»Wie war der Geburtstag?«
»Es hat Spaß gemacht.«
»Kuchen mit Vanillecreme?«, fragt sie.
»Na klar.«
»Frankenstein Junior?«
»Ja.«
»Und du hast das Spiel verloren?«
»Wir sind ziemlich vorhersehbar, oder?«
»Mach dir nichts draus«, sagt sie mit einem Lächeln. »Ich bin nur neidisch auf das gute Verhältnis, das du und deine Mama habt.«
Sie nimmt das Krankenblatt von gestern in die Hand, überfliegt die Einträge meiner Mom und befestigt ein neues Blatt am Klemmbrett. »Zurzeit empfindet es Rosa schon als Zumutung, mir die Uhrzeit zu sagen.«
Rosa ist Carlas siebzehnjährige Tochter. Carla zufolge standen sie sich sehr nahe, bis sich die Hormone und die Jungs zwischen sie gedrängt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir und meiner Mom so etwas jemals passiert.
Carla setzt sich neben mich auf die Couch und ich halte ihr die Hand für die Blutdruckmanschette hin. Ihr Blick fällt auf mein Buch.
»Schon wieder Blumen für Algernon?«, fragt sie. »Bringt dich das Buch nicht immer zum Weinen?«
»Eines Tages wird es das nicht mehr tun«, erwidere ich. »Und ich will unbedingt sichergehen, es genau an diesem Tag zu lesen.«
Sie verdreht die Augen und nimmt meine Hand.
Natürlich war das eine ziemlich verrückte Antwort, aber dann frage ich mich, ob es wohl möglich sein kann.
Vielleicht darf ich wirklich hoffen, dass sich eines Tages etwas ändert.
Spoiler-Bemerkungen von Madeline
Blumen für Algernon von Daniel Keyes
Achtung, Spoiler-Alarm: Algernon ist eine Maus. Die Maus stirbt.
ICH BIN GERADE an der Stelle, wo Charlie erkennt, dass das Schicksal der Maus vielleicht sein eigenes ist, als ich draußen ein lautes Rumpeln höre. Meine Gedanken driften sofort in den Weltraum. Ich stelle mir ein riesiges Mutterschiff vor, das über uns am Himmel schwebt.
Das Haus wackelt und in meinen Regalen vibrieren die Bücher. Als sich zu dem Rumpeln auch noch ein taktmäßiges Piepen gesellt, weiß ich, was es ist. Ein Lastwagen. Hat sich bestimmt nur verfahren, rede ich mir ein, um nicht wieder enttäuscht zu werden. Wahrscheinlich auf dem Weg nach Irgendwo falsch abgebogen.
Doch dann verstummt der Motorenlärm. Türen werden geöffnet und wieder zugeschlagen. Ein Moment vergeht, dann noch einer, und schließlich ruft eine Frauenstimme: »Willkommen in unserem neuen Zuhause, ihr Lieben!«
Carla mustert mich ein paar Sekunden lang. Ich weiß genau, was sie denkt.
Es passiert wieder.
»CARLA«, SAGE ICH, »es wird nicht so sein wie beim letzten Mal.« Ich bin nicht mehr acht Jahre alt.
»Ich möchte, dass du mir versprichst …«, beginnt sie, aber ich bin schon am Fenster und ziehe die Gardine zurück.
Auf die grelle kalifornische Sonne bin ich nicht vorbereitet. Nicht auf ihren Anblick, nicht auf die Hitze und das gleißende Licht am weißen Himmel. Ich bin blind. Aber dann verschwindet der weiße Film, der sich über alles gelegt hat, und ich kann wieder etwas sehen, obwohl alles immer noch von einem grellen Lichtrand umgeben ist.
Ich sehe den Möbelwagen und den Umriss einer älteren Frau – die Mutter. Hinten am Wagen steht ein älterer Mann – der Vater. Dann ist da ein Mädchen, vielleicht etwas jünger als ich – die Tochter.
Dann entdecke ich ihn. Er ist groß und schlank und ganz in Schwarz gekleidet – schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, schwarze Sneakers und eine schwarze Wollmütze, die seine Haare vollständig bedeckt. Er hat einen honigfarbenen Teint und sein Gesicht ist unglaublich kantig. Er springt von der Sitzbank des Möbelwagens und gleitet die Auffahrt hinauf, als würden die Gesetze der Schwerkraft für ihn nicht gelten. Er bleibt stehen, hält den Kopf schräg und betrachtet sein neues Zuhause, als wäre es ein Rätsel, das er lösen muss. Nach ein paar Sekunden beginnt er, leicht auf den Fußballen zu wippen. Plötzlich sprintet er los und rennt tatsächlich fast zwei Meter an der vorderen Hauswand hoch. Er greift nach dem Fenstersims, baumelt ein paar Sekunden daran, lässt sich dann fallen und landet mit gebeugten Knien wieder auf dem Boden.
»Nicht schlecht, Olly«, sagt seine Mutter.
»Hab ich nicht gesagt, dass du diesen Blödsinn lassen sollst?«, knurrt sein Vater.
Er ignoriert beide und bleibt weiter in der Hocke.
Ich drücke meine Handfläche an die Fensterscheibe und bin so außer Atem, als hätte ich diesen verrückten Stunt abgezogen. Ich schaue von ihm zur Hauswand und dem Fenstersims und dann wieder zurück zu ihm. Er hat sich mittlerweile wieder aufgerichtet und starrt zu mir hoch. Unsere Blicke treffen sich. Ich frage mich, was er wohl in meinem Fenster sieht – ein seltsames, weiß gekleidetes Mädchen mit weit aufgerissenen Augen. Er grinst zu mir hoch und jetzt sieht sein Gesicht gar nicht mehr so streng und kantig aus. Ich versuche zurückzulächeln, aber ich bin so von der Rolle, dass ich ihn nur anstarre.
IN DIESER NACHT träume ich, dass das Haus mit mir atmet. Ich atme aus und die Wände schrumpfen wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gestochen hat, und sie drohen mich zu zerquetschen. Ich atme ein und die Wände weichen wieder zurück. Noch ein Atemzug und mein Leben wird endlich, endlich zerplatzen.
6:35 – Taucht mit einem dampfenden Becher auf der Veranda auf. Könnte Kaffee sein.
6:36 – Starrt auf das unbebaute Grundstück gegenüber und nippt an ihrem Becher. Vielleicht Tee?
7:00 – Kehrt ins Haus zurück.
7:15 – Wieder auf der Veranda. Gibt Ehemann einen Abschiedskuss. Sieht ihm hinterher, wie er davonfährt.
9:30 – Arbeitet im Garten. Sucht, findet und entsorgt Zigarettenkippen.
13:00 – Fährt mit dem Auto weg. Zum Einkaufen?
17:00 – Bittet Kara und Olly, ihre häuslichen Pflichten zu erledigen, bevor »euer Vater nach Hause kommt«.
10:00 – Stürmt in schwarzen Stiefeln und einem braunen Frotteebademantel nach draußen.
10:01 – Checkt die Nachrichten auf ihrem Handy. Sie bekommt viele Nachrichten.
10:06 – Raucht im Garten zwischen unseren Häusern drei Zigaretten.
10:20 – Bohrt mit der Spitze ihres Stiefels ein Loch in den Boden und versenkt die Kippen darin.
10:25–17:00 – Simst oder telefoniert.
17:25 – Häusliche Pflichten.
7:15 – Fährt zur Arbeit.
18:00 – Kommt von der Arbeit zurück.
18:20 – Sitzt mit Drink 1 auf der Veranda.
18:30 – Geht zum Abendessen ins Haus.
19:00 – Zurück auf der Veranda mit Drink 2.
19:25 – Drink 3.
19:45 – Fängt an, die Familie anzuschreien.
22:35 – Hört auf, die Familie anzuschreien.
Nicht vorhersehbar.
SEINE FAMILIE NENNT ihn Olly. Zumindest seine Schwester und seine Mutter. Sein Vater sagt immer Oliver zu ihm. Ihn beobachte ich am meisten. Sein Zimmer ist im ersten Stock, fast genau gegenüber von meinem, und sein Rollo ist gewöhnlich offen.
An manchen Tagen schläft er bis mittags. An anderen ist er schon weg, bevor ich aufwache und mit meinen Beobachtungen beginnen kann. Aber meistens steht er um neun Uhr auf, steigt aus dem Fenster und klettert wie Spiderman am Regenrohr aufs Dach. Dort bleibt er etwa eine Stunde und schwingt sich dann mit den Beinen voran wieder in sein Zimmer. Ich habe wirklich alles versucht, aber ich konnte bisher nicht herausfinden, was er da oben treibt.
Sein Zimmer ist fast leer, wenn man vom Bett und einer Kommode absieht. Die Umzugskartons stapeln sich immer noch unausgepackt neben der Tür. An der Wand hängt nur ein einziges Filmposter von Jump London. Ich habe es gegoogelt und es geht darin um Parkour. Das ist eine Art Straßenturnen und erklärt, wieso er all die verrückten Dinge beherrscht, die er dauernd macht. Je länger ich ihn beobachte, desto mehr will ich über ihn wissen.
ICH HABE MICH gerade zum Abendessen an den Tisch gesetzt. Meine Mom legt mir eine Stoffserviette auf den Schoß und schenkt mir und Carla Wasser ein. Freitags ist das Abendessen bei uns etwas Besonderes. Carla bleibt dann immer länger, statt mit ihrer eigenen Familie zu essen.
Alles an unserem speziellen Freitagsessen ist französisch. In die weißen Servietten sind Lilien eingestickt. Das verschnörkelte Besteck ist eine echte Antiquität aus Frankreich. Wir haben sogar kleine Salz- und Pfefferstreuer in Form des Eiffelturms. Natürlich müssen wir wegen meiner Allergien vorsichtig sein, aber meine Mom macht immer ihre Version von Cassoulet – ein französischer Eintopf mit Huhn, Würstchen, Ente und weißen Bohnen. Als mein Vater noch lebte, war das sein Lieblingsessen. Die Variante, die meine Mom für mich kocht, enthält nur weiße Bohnen in Hühnerbrühe.
»Madeline«, sagt meine Mutter, »Mr Waterman hat mich informiert, dass du mit deinem Architekturprojekt spät dran bist. Ist alles in Ordnung, mein Schatz?«
Ihre Frage verblüfft mich. Ich weiß, dass ich schon viel weiter sein müsste, aber da ich noch nie irgendetwas zu spät abgeliefert habe, war mir wahrscheinlich nicht klar, dass sie mich so genau kontrolliert.
»Ist das Projekt zu schwierig?« Sie runzelt die Stirn und füllt meinen Teller mit Eintopf. »Möchtest du, dass ich dir einen neuen Lehrer suche?«
»Oui, non, et non«, antworte ich auf jede ihrer Fragen. »Alles super. Ich werde morgen fertig, versprochen. Ich habe es nur ein wenig schleifen lassen.«
Sie nickt und schneidet Scheiben von dem krossen Baguette ab und bestreicht sie mit Butter. Ich weiß, dass sie noch etwas fragen will. Ich weiß sogar, was es ist und dass sie sich vor der Antwort fürchtet.
»Liegt es an den neuen Nachbarn?«
Carla sieht mich prüfend an. Ich habe meine Mom noch nie angelogen. Ich hatte noch nie einen Grund dazu und wüsste auch gar nicht, wie ich es anstellen soll. Aber etwas sagt mir, wie ich mich geschickt aus der Affäre ziehen kann.
»Ich habe einfach zu viel gelesen. Du weißt doch, wie ich bin, wenn ich ein gutes Buch lese.« Ich versuche, meine Stimme so beruhigend wie möglich klingen zu lassen. Ich will nicht, dass meine Mom sich Sorgen macht. Sie sorgt sich ohnehin schon genug um mich.
Was heißt Lügnerin auf Französisch?
»Hast du keinen Hunger?«, fragt meine Mom ein paar Minuten später. Sie drückt ihren Handrücken an meine Stirn.
»Fieber hast du nicht«, sagt sie, zieht ihre Hand aber erst einen Moment später wieder weg.
Ich will ihr gerade versichern, dass mir nichts fehlt, als es an der Tür klingelt. Das passiert so selten, dass ich nicht weiß, was ich tun soll.
Meine Mom macht Anstalten, vom Tisch aufzustehen.
Carla ist schneller.
Es läutet zum zweiten Mal. Ich lächle ohne bestimmten Grund.
»Soll ich hingehen?«, fragt Carla.
Meine Mutter winkt ab. »Du bleibst hier«, befiehlt sie mir.
Carla stellt sich hinter mich und ihre Hände umfassen sanft meine Schultern. Ich weiß, dass ich hierbleiben sollte. Ich weiß, dass es von mir erwartet wird. Ich erwarte es sogar selbst von mir, aber aus irgendeinem Grund kann ich es heute nicht. Es geht einfach nicht. Ich muss wissen, wer an der Tür ist, auch wenn es vielleicht nur jemand ist, der nach dem Weg fragt.
Carla berührt meinen Oberarm. »Deine Mutter hat gesagt, dass du hierbleiben sollst.«
»Aber wieso denn? Sie ist nur übervorsichtig. Außerdem lässt sie doch niemanden durch die Luftschleuse.«
Carla gibt nach und ich sause mit ihr im Schlepptau den Flur hinunter.
Die Luftschleuse ist ein kleiner versiegelter Raum direkt hinter der Haustür. Sie ist luftdicht, damit keine potenziell gefährlichen Stoffe ins Haus eindringen können, wenn die Haustür geöffnet wird. Ich presse das Ohr gegen die Wand. Anfangs höre ich nur das Zischen der Filter, aber dann spricht jemand.
»Meine Mutter hat einen Gugelhupf für Sie gemacht.« Die Stimme klingt tief und angenehm und hört sich auch ein bisschen amüsiert an. Mein Gehirn verarbeitet das Wort Gugelhupf, und ich überlege, wie so etwas wohl aussieht. Erst dann dämmert mir, wer an der Tür ist. Olly.
»Ich muss allerdings zugeben, dass die Gugelhupfe meiner Mutter nicht sehr gut sind. Genau genommen sind sie grauenvoll. Ungenießbar und nahezu unzerstörbar. Aber das nur unter uns.«
Eine andere Stimme. Die eines Mädchens. Seine Schwester? »Jedes Mal, wenn wir umziehen, lässt sie uns einen zu den neuen Nachbarn bringen.«
»Oh. Tatsächlich. Was für eine Überraschung. Das ist wirklich sehr nett. Bitte sagt eurer Mutter vielen Dank von mir.«
Es ist ausgeschlossen, dass dieser Gugelhupf den Sicherheitscheck besteht, und ich weiß genau, dass meine Mom bereits überlegt, wie sie den beiden sagen soll, dass sie den Kuchen nicht annehmen kann, ohne ihnen verraten zu müssen, was mit mir los ist.
»Es tut mir leid, aber ich kann das nicht annehmen.«
Einen Moment lang herrscht schockiertes Schweigen.
»Sie wollen, dass wir ihn wieder mitnehmen?«, fragt Olly fassungslos.
»Das finde ich ziemlich unhöflich von Ihnen«, sagt Kara. Sie klingt verärgert, aber auch gefasst, als hätte sie bereits mit einer Abfuhr gerechnet.
»Es tut mir leid«, sagt meine Mom noch einmal. »Es ist kompliziert, und es tut mir wirklich sehr leid, weil das so nett von euch und eurer Mom ist. Bitte richtet ihr meinen Dank aus.«
»Ist Ihre Tochter zu Hause?«, fragt Olly extra laut, bevor sie die Tür schließen kann. »Wir haben gehofft, dass sie uns ein bisschen die Gegend zeigen kann.«
Mein Herz fängt an zu rasen, und ich spüre, wie es hinter meinen Rippen pocht. Hat er wirklich gerade nach mir gefragt? Bisher ist nie ein Fremder vorbeigekommen, um mich zu besuchen. Abgesehen von meiner Mom, Carla und meinen Lehrern weiß eigentlich niemand, dass es mich gibt. Ich habe Internetfreunde und meine Buchbesprechungen auf Tumblr, aber das ist nicht dasselbe, wie ein echter Mensch zu sein, der Besuch von fremden Jungs mit Gugelhupf bekommt.
»Tut mir leid, aber das geht nicht. Willkommen in der Nachbarschaft und noch einmal vielen Dank.«
Die Haustür wird geschlossen, und ich trete einen Schritt zurück, um auf meine Mom zu warten. Sie muss in der Schleuse bleiben, bis die Filter die eingedrungene Außenluft sterilisiert haben. Eine Minute später taucht sie wieder auf. Sie bemerkt mich zuerst gar nicht. Sie bleibt einfach stehen, mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf.
»Es tut mir leid«, sagt sie, ohne aufzuschauen.
»Es geht mir gut, Mom. Mach dir keine Sorgen.«
Mir wird zum tausendsten Mal bewusst, wie sehr meine Krankheit sie belastet. Für mich ist dies die einzige Welt, die ich kenne, aber sie hatte meinen Bruder und meinen Dad. Sie hat Reisen gemacht und im Garten Blumen gepflanzt. Sie hatte ein normales Leben, und vierzehn Stunden am Tag mit einer kranken Tochter in einem keimfreien Haus eingesperrt zu sein, war kein Bestandteil dieses Lebens.
Ich nehme sie in die Arme und drücke sie sanft an mich. Sie kommt mit der Enttäuschung viel schlechter zurecht als ich.
»Ich mache es wieder gut«, sagt sie.
»Es gibt nichts wiedergutzumachen.«
»Ich hab dich lieb, mein Schatz.«
Wir beenden schweigend unser Abendessen. Nachdem Carla gegangen ist, fragt meine Mom, ob ich sie beim Ehrenwort-Pictionary schlagen will, aber ich habe keine Lust. Ich verziehe mich auf mein Zimmer und frage mich, wie ein Gugelhupf wohl schmeckt.
IN MEINEM ZIMMER gehe ich sofort ans Fenster. Der Vater ist von der Arbeit zurück, und etwas stimmt nicht, weil er gereizt ist und mit jeder Sekunde wütender wird. Er reißt Kara den Gugelhupf aus den Händen und wirft damit nach Olly, aber Olly ist zu schnell und zu leichtfüßig. Er weicht aus und der Kuchen landet auf dem Boden.
Erstaunlicherweise bleibt er ganz, doch der Teller zerspringt mitten auf der Einfahrt. Das macht den Vater noch wütender.
»Mach das sauber. Mach das sofort sauber.« Er knallt die Haustür hinter sich zu. Die Mutter folgt ihm ins Haus. Olly steht einfach nur da und starrt auf den Kuchen. Dann verschwindet er im Haus und kommt mit Handfeger und Kehrschaufel zurück. Er lässt sich Zeit, viel mehr als nötig wäre, um die paar Scherben aufzufegen.
Nachdem er damit fertig ist, klettert er mit dem Gugelhupf aufs Dach. Erst nach einer Stunde schwingt er sich durchs Fenster in sein Zimmer.
Ich verstecke mich an meiner üblichen Position hinter dem Vorhang, aber plötzlich will ich mich nicht mehr verstecken. Ich schalte das Licht ein und trete zurück ans Fenster. Ich verzichte sogar darauf, tief durchzuatmen. Das hilft sowieso nicht. Ich ziehe den Vorhang zur Seite und muss feststellen, dass er bereits am Fenster steht und mich direkt ansieht. Er lächelt nicht. Er winkt auch nicht. Stattdessen greift er nach oben und zieht das Rollo runter.