Du sollst leiden - Tom Falkner - E-Book

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Tom Falkner

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Beschreibung

Wenn das Böse Feuer legt An einem Spätsommerabend erfasst ein LKW auf einer einsamen Landstraße einen jungen Mann, der nur leichte Verletzungen erleidet, sich wegen retrograder Amnesie aber an nichts erinnern kann, nicht einmal an seinen Namen. Die Polizei wird eingeschaltet – um die Identität des Mannes zu klären, vor allem aber, weil seine Kleidung mit Benzin getränkt ist. Die Kieler Kommissarin Kayra Davari findet heraus, dass das Opfer mit Brandpfeilen beschossen wurde, offenbar in der Absicht, es zu verbrennen. Davari wendet sich an den forensischen Psychologen Robert Forster, von dem sie hofft, dass er einen Zugang zu dem jungen Mann findet. Die Identität des Patienten klärt sich, als seine Freundin ihn bei der Polizei vermisst meldet. Forster spricht mit der Frau. Was verbirgt sie vor ihm? Und warum sollte das Opfer bei lebendigem Leibe verbrannt werden?

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Du sollst leiden

Tom Falkner ist studierter Psychologe und Drehbuchautor. Die große Liebe zu Büchern hat ihn zum Romanschreiben gebracht. Er liebt es, sich in andere Menschen einzufühlen und die Welt durch ihre Augen zu betrachten – je verrückter die Person, desto besser. Das Buch ist für ihn die Bühne, und Falkner ist der Schauspieler, der in die Rollen all seiner Figuren schlüpfen kann und darf. Genau darin besteht für ihn das Vergnügen: mit jedem seiner Charaktere zu leben, zu leiden und zu lieben.

Wenn das Böse Feuer legt

An einem Spätsommerabend erfasst ein LKW auf einer einsamen Landstraße einen jungen Mann, der nur leichte Verletzungen erleidet, sich wegen retrograder Amnesie aber an nichts erinnern kann, nicht einmal an seinen Namen. Die Polizei wird eingeschaltet – um die Identität des Mannes zu klären, vor allem aber, weil seine Kleidung mit Benzin getränkt ist. Die Kieler Kommissarin Kayra Davari findet heraus, dass das Opfer mit Brandpfeilen beschossen wurde, offenbar in der Absicht, es zu verbrennen. Davari wendet sich an den forensischen Psychologen Robert Forster, von dem sie hofft, dass er einen Zugang zu dem jungen Mann findet. Die Identität des Patienten klärt sich, als seine Freundin ihn bei der Polizei vermisst meldet. Forster spricht mit der Frau. Was verbirgt sie vor ihm? Und warum sollte das Opfer bei lebendigem Leibe verbrannt werden?

Tom Falkner

Du sollst leiden

Thriller

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-3221-5

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

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Cover

Titelseite

Inhalt

1

1

Der Himmel sah bedrohlich aus.

Lukas Witt warf einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihm türmten sich schwarze Wolken und bildeten eine dichte Front, die sich über das Land schob. Vor ihm jagten düstere Wolkenfetzen vorbei. Sie verdeckten die untergehende Sonne, nur um sie im nächsten Moment wieder hervorbrechen zu lassen. Das Licht war blutrot wie eine Warnung, die über den Feldern stand.

Witt schaltete die Scheinwerfer ein. Er war froh, dass er warm und trocken im Führerhaus seines Vierzigtonners saß. Sturm und Regen konnten ihm nichts anhaben. Aber noch war es nicht so weit. Er hörte zwar schon das Grollen in der Ferne, und irgendwo hinter den Wolken hatte er bereits ein Wetterleuchten wahrgenommen, doch noch war kein einziger Tropfen gefallen.

Erneut erhellte etwas rechts von ihm den Himmel, aber dieses Mal war es nicht das Aufblitzen eines nahenden Gewitters, sondern etwas, das aussah wie ein kleiner Feuerball. Es stieg über die Wipfel der Bäume und fiel dann wieder herunter.

Zuerst dachte Witt, es sei eine optische Täuschung gewesen. Die Spiegelung von irgendeinem Objekt am Horizont oder die Lichter eines über ihm fliegenden Flugzeugs. Doch dann tauchte ein weiterer Feuerball auf.

Witt drosselte das Tempo. Er war eigentlich kein ängstlicher Typ, aber die Stimmung auf der einsamen Landstraße hatte etwas Beklemmendes. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug unterwegs. Der Himmel verdunkelte sich in Sekundenschnelle, und der schnelle Wechsel zwischen blendendem Sonnenlicht und Wolkenschatten nahm ihm fast die Sicht. Nur die Feuerbälle, die einer nach dem anderen hinter den Bäumen auftauchten, nach oben stiegen und gleich darauf wieder herunterfielen, waren gut zu erkennen.

Was, zum Henker, war das?

Witt bremste weiter ab und spähte zwischen den Bäumen hindurch, aber da war nichts. Die Wolkendecke zog sich zu, und das Einzige, was er noch sah, waren die Lichtkegel seiner Scheinwerfer, die sich in der feuchten Dunkelheit verloren. Jenseits davon löste sich alles auf. Die Welt um ihn herum war mit einem Schlag stockfinster. Witt kam es vor, als wäre er allein auf einem fremden Planeten. Auch die Feuerbälle waren verschwunden. Witt trat wieder aufs Gas. Er hatte plötzlich den dringenden Wunsch, die einsame Landstraße hinter sich zu lassen und in bewohntes Gebiet zu kommen.

Ein Blitz zuckte zwischen den Wolken auf und tauchte die gesamte Landschaft für den Bruchteil einer Sekunde in ein gleißendes Licht. Witt sah schwarze Bäume und Sträucher wie Scherenschnitte vor einer weißen Leinwand – und eine dunkle Gestalt, die im selben Moment direkt vor ihm auf die Straße stolperte.

Witt stieg in die Eisen und riss das Lenkrad herum. Es gab einen dumpfen Knall, als die rechte Front des Vierzigtonners die Gestalt erfasste. Der Lkw schlingerte über die Straße auf die Gegenfahrbahn, holperte über den Grasstreifen und hielt direkt auf einen Graben zu. Witt versuchte gegenzulenken, doch es war zu spät. Die Räder rutschten in die Senke, der Lkw kippte zur Seite. Der Airbag öffnete sich, aber Witts Kopf schlug gegen die Seitenscheibe, und ihm wurde schwarz vor Augen.

2

Kayra Davari saß am Krankenbett ihres Vaters, als der Anruf sie erreichte. Sein Zustand hatte sich verschlechtert. Die Nieren hatten ihren Dienst vollends eingestellt, und die Dialyse brachte nicht mehr den nötigen Effekt. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass Kayra nicht als Spenderin infrage kam, konnten sie nur noch hoffen, warten und beten, dass sich rechtzeitig ein anderer Spender fand. Sie hatte sich für unbestimmte Zeit freistellen lassen, aber sie wusste, dass sie einspringen musste, wenn Not am Mann war, und das war offenbar jetzt der Fall. Der Anrufer war ihr Kommissariatsleiter.

Davari ließ ihn gar nicht richtig zu Wort kommen. »Ein Autounfall?«, fragte sie. »Dafür sind wir nicht zuständig.«

»Das ist mir durchaus bekannt.« Wolfgang Kramer klang verärgert. »Aber darum geht es nicht.«

»Worum dann?« Davari wusste, dass sie sich zügeln sollte, schließlich war Kramer ihr in den letzten Wochen wieder und wieder entgegengekommen. Aber die Sorge um ihren Vater war zu groß. Sie wollte jetzt bei ihm sein.

»Du bist doch im UKSH?«

»Ja. Wo sonst?«

Kramer ließ ihr auch diese Unhöflichkeit durchgehen. »Dann hast du einen kurzen Weg. Das Unfallopfer wurde ebenfalls ins Universitätsklinikum gebracht. Der zuständige Arzt hat uns informiert. Ich wollte dich nur bitten, kurz mit ihm zu sprechen. Möglicherweise handelt es sich nicht einfach nur um einen Unfall.«

»Okay.« Das war tatsächlich keine große Sache. Für ein paar Minuten konnte sie ihren Vater allein lassen.

»Gut.« Kramer nannte ihr die Station und den Namen des Arztes. Dann legte er auf. Davari fluchte leise.

Sie war seit drei Jahren bei der Mordkommission, einer Abteilung, in der ansonsten nur ältere und erfahrenere Kollegen Dienst taten. Davari selbst war erst siebenundzwanzig, viel zu jung eigentlich für das anspruchsvollste Arbeitsfeld bei der Kriminalpolizei. Die meisten ihrer Kollegen waren über vierzig. Doch Davari hatte sich in den ersten Berufsjahren bewährt und gezeigt, dass sie nicht nur über einen scharfen Verstand und großes Engagement verfügte, sondern auch in der Lage war, die grauenvollen Bilder, die man als Mordermittlerin zwangsläufig sah, zu verarbeiten. Aber das bedeutete nicht, dass sie ihren Platz dort auf Lebenszeit innehatte. Wenn sie es sich mit dem Kommissariatsleiter verdarb oder Kramer den Eindruck gewann, dass sie dem Druck nicht mehr gewachsen war, würde man sie früher oder später in eine andere Abteilung versetzen. Sie musste einfach lernen, ihre Impulsivität besser unter Kontrolle zu bekommen.

Rasch tippte sie auf die Nummer ihrer Mutter, die in die Cafeteria gegangen war, um einen Tee zu trinken. Auch Aysan Davari, die in einem Pharmaunternehmen arbeitete, hatte sich freistellen lassen und ging nur ab und zu ins Labor, wenn ihre Fachkompetenz unabdingbar war.

»Ich komme rauf«, sagte Aysan, nachdem Kayra ihr von Kramers Anruf berichtet hatte.

Zwei Minuten später stand sie in der Tür, einen weißen Porzellanbecher mit Tee in der Hand. Davari umarmte sie kurz. »Ich bin zurück, so schnell es geht.«

Ihre Mutter strich ihr über die Wange. »Dein Vater wird nicht sterben. Daran musst du glauben.«

Davari sah ihr in die warmen braunen Augen. Glaubte sie selbst daran?

»Allah ist gütig«, sagte Aysan. Sie lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln.

Davari blickte zu ihrem Vater. Er war schmal geworden, und seine Wangen waren eingefallen. So schlecht hatte er nicht einmal ausgesehen, als er vor langer Zeit von ein paar Skinheads zusammengeschlagen worden war. Davari war damals noch ein Kind gewesen.

Abtin schlief jetzt sehr viel. Er war nicht einmal aufgewacht, als Davaris Smartphone geklingelt hatte. Sie konnte zusehen, wie er jeden Tag schwächer wurde. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

»Ich weiß«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, ob das hier in Allahs Hand liegt.«

Aysan setzte sich zu Abtin ans Bett. Sie stellte den Porzellanbecher mit dem Tee auf den Nachttisch und nahm die Hand ihres Mannes.

Abtin blinzelte und öffnete die Augen. Er lächelte mühsam. »Aysan.« Nur das eine Wort, aber Davari hörte die Wärme und Liebe zu ihrer Mutter darin.

Rasch schlüpfte sie aus dem Zimmer, damit die beiden den Moment für sich allein hatten.

Ihre Eltern hatten sich kennengelernt, als sie in Deutschland studiert hatten, und sie waren geblieben, obwohl sie ihre Heimat liebten und gläubige Moslems waren. Doch Aysan hätte im Iran nicht dieselben Chancen gehabt wie hier, und Abtin hatte immer gewollt, dass sie ihre Möglichkeiten ausschöpfen konnte. Was sollte ihre Mutter ohne ihren Vater tun? Und was sollte sie selbst ohne ihn tun?

Aber noch war es ja nicht so weit.

Davari stieg in den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss. Im Spiegel sah sie ihr eigenes müdes Gesicht. Vielleicht war es gut, sich für eine Weile mit etwas anderem zu beschäftigen.

Kayra Davari betrat die Notaufnahme und sah sich suchend um. Im Wartebereich war es brechend voll. In der Nähe der Tür saß ein Mann, der sein rechtes Handgelenk mit der linken Hand umklammert hielt. Die rechte Hand war mit blutigen Schrammen bedeckt und hing schlaff herab. Vermutlich war das Handgelenk gebrochen.

Neben dem Mann redete eine Frau mit Kopftuch beschwichtigend auf einen vielleicht zehnjährigen Jungen mit gestreiftem T-Shirt ein, der die Hände auf den Bauch gepresst hatte und sich krümmte, dahinter saßen weitere Frauen und Männer, einige mit schmerzverzerrten Gesichtern, andere mit ungeduldigen oder ärgerlichen Mienen. Die große Uhr, die über der Sitzreihe hing, zeigte, dass es kurz nach zweiundzwanzig Uhr war.

Davari ging an den Wartenden vorbei zur Rezeption. Eine junge Schwester mit rotblonden Haaren tippte auf der Tastatur ihres Computers. Sie blickte auf, als Davari an den Tresen trat. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen. Rasch scannte sie Davari von Kopf bis Fuß. »Hallo. Was kann ich für Sie tun?«

Davari zog ihren Dienstausweis hervor. »Kayra Davari, Kriminalpolizei Kiel. Dr. Werner wollte mich sprechen.«

»Ah.« Die Schwester entspannte sich. »Einen Moment.« Sie griff nach dem Telefon und tippte auf eine Nummer. »Die Polizei ist jetzt da«, sagte sie. »Ja.« Sie legte wieder auf. »Dr. Werner kommt sofort.«

»Danke.« Davari blieb an der Rezeption stehen. Vom Wartebereich drang unwilliges Gemurmel zu ihr herüber. Man hatte wohl den Eindruck, dass sie sich vordrängte.

Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich eine automatische Glastür, und ein Mann im weißen Kittel trat heraus. Um die fünfzig, das kurz geschnittene Haar schon mehr grau als braun. Er trug eine Brille mit schwarzem Gestell. Der ebenfalls ergraute Bart war kurz gestutzt.

»Guten Abend. Tillmann Werner. Sie sind die Dame von der Polizei?«

Davari zeigte auch ihm ihren Ausweis. »Kayra Davari.«

Werner warf nur einen kurzen Blick darauf. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Wenn Sie mir bitte folgen würden?« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und lief mit langen Schritten zurück zur Glastür, die sich automatisch vor ihnen öffnete. Davari folgte ihm über den Flur der Notaufnahme.

Werner betrat ein kleines Zimmer und deutete auf den Tisch an der Wand. Dort lagen, einzeln in großen verschließbaren Plastikbeuteln verstaut, ein Kapuzenumhang, eine dunkle Trainingshose und ein Paar feste Stiefel.

»Das ist die Kleidung des jungen Mannes, der auf der Landstraße zwischen Preetz und Flintbek von einem Lkw angefahren wurde. Er hat unwahrscheinliches Glück gehabt. Nur ein paar leichte Prellungen und Schürfwunden. Wir konnten auch kein Schädel-Hirn-Trauma feststellen, allerdings steht der Mann unter Schock, und er kann sich an nichts erinnern.«

»Retrograde Amnesie«, sagte Davari.

»Davon gehen wir aus.«

Davari sah den Arzt fragend an.

Werner nahm den Beutel mit dem Kapuzenumhang vom Tisch. Er öffnete ihn und hielt ihn Davari hin.

Die Kommissarin zuckte unwillkürlich zurück. Aus dem Beutel stieg beißender Benzingestank auf.

Der Arzt verschloss den Beutel wieder und legte ihn zu den anderen auf den Tisch. »Mit der Hose und den Stiefeln ist es dasselbe.«

Davari überlegte, wie ein Unfall ablaufen müsste, damit der Angefahrene mit dem Tankinhalt des Lkw in Berührung kam. »Ich habe noch keine Informationen von den Kollegen. Wissen Sie etwas über den Unfallhergang?«

»Nein«, erwiderte Dr. Werner. »Aber Sie können den Lkw-Fahrer fragen. Er liegt auf der Unfallchirurgie. Nur ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma zum Glück, aber die Seitenscheibe seines Fahrzeugs ist geborsten, als der Lkw umgekippt ist. Die Kollegen mussten ein paar Dutzend Splitter entfernen. Der Mann ist wach und ansprechbar. Sie sollten allerdings berücksichtigen, dass er ebenfalls unter Schock steht.« Der Arzt machte eine kurze Pause. »Natürlich ist jeder Unfall tragisch, doch hier deutet nichts darauf hin, dass sich eine Katastrophe ereignet hat«, fügte er dann hinzu. »Beide Unfallbeteiligten sind nur leicht verletzt.«

Davari schaute erneut zu den Beuteln mit den Kleidungsstücken. »Das heißt, Sie glauben nicht, dass das Benzin infolge des Unfalls auf die Kleidung gekommen ist?«

Dr. Tillmann Werner hob die Hände. »Sagen wir, es erscheint mir unwahrscheinlich. Vor allem angesichts der Menge. Das sind nicht nur ein paar Flecken. Die Kleidung des Unfallopfers ist komplett mit Benzin getränkt.«

Davari hatte sofort ein Bild vor Augen. In der Heimat ihrer Eltern hatte es so etwas schon öfter gegeben, aber auch hier kam es vor, dass Menschen sich selbst anzündeten. »Sie vermuten einen Suizidversuch? Oder einen geplanten Terrorakt?«

»Ich halte beides für möglich. Aber der bloße Verdacht reicht nicht, weder für eine Einweisung in die Psychiatrie noch für eine Anzeige. Ich wollte das aber auch nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Deshalb habe ich Sie informiert.«

Davari dachte nach. »Kann ich mit dem Unfallopfer sprechen?« Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach dem Namen des Mannes, vergeblich. Weder ihr Kommissariatsleiter noch der Arzt hatten ihn genannt. »Verzeihen Sie. Ich weiß gar nicht, wie der Mann heißt.«

»Ich bringe Sie zu ihm.« Dr. Werner öffnete die Zimmertür und ging vor ihr her über den Flur. »Allerdings wird er Ihnen nicht helfen können. Er erinnert sich an nichts. Nicht einmal an seinen Namen.«

Der Arzt klopfte kurz an eine Tür auf der rechten Seite und schob sie auf. Der Raum dahinter lag im Dunkeln. Werner betätigte den Lichtschalter, und eine helle Deckenlampe flammte auf.

Es befand sich nur ein einzelnes Bett im Krankenzimmer. Der Mann, der darin lag, war mit einem Krankenhausnachthemd bekleidet. Sein linkes Handgelenk war bandagiert, ebenso wie sein rechter Ellenbogen. In seiner linken Hand lag ein Zugang, über den ihm Flüssigkeit aus dem Tropf neben dem Bett zugeführt wurde. Auf seiner Stirn klebte ein dickes Pflaster. Mehr konnte Davari nicht sehen, weil der Patient die Decke fast bis zum Kinn hochgezogen hatte.

Der Mann selbst war eine auffällige Erscheinung. Halblange dunkle Haare, dunkle Augen, in beiden Ohrläppchen schwarze Tunnel-Piercings, am rechten Unterarm drei tätowierte schwarze Ringe, auf der Innenseite des linken eine tätowierte Schrift, von der aufgrund des Verbands nur der erste Buchstabe, ein kunstvoll geschwungenes und verziertes F, zu erkennen war.

Er hatte den Kopf zur Tür gedreht und blickte Davari und den Arzt an, doch seine Miene blieb ausdruckslos.

»Ich muss zurück in die Notaufnahme«, sagte Dr. Werner. »Sie haben ja gesehen, was hier los ist.«

»Ja. Danke.« Davari zog die Tür hinter sich zu. Sie nahm einen der Stühle, die neben dem Fenster um einen Tisch herumstanden, und setzte sich damit neben das Krankenbett. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Kayra Davari von der Kriminalpolizei Kiel. Gibt es irgendetwas, das Sie mir erzählen können?«

Der Mann im Bett blinzelte. »Da war ein Lkw. Scheinwerfer, die mich geblendet haben.« Seine Stimme war rau, eine Folge der Benzindämpfe, die er eingeatmet hatte, vermutlich.

»Wo kamen Sie her?«

Wieder ein Blinzeln. »Der Wald. Das Gewitter. Die Blitze. Taghell und dann wieder stockfinster. Und der Donner so laut.«

»Sie sind vor dem Gewitter aus dem Wald geflohen?«

Die Augenlider flatterten. »Ich … weiß nicht.«

»Können Sie mir Ihren Namen sagen?«

Die dunklen Pupillen bewegten sich von rechts nach links, von oben nach unten, als würde der Mann systematisch sein Gehirn absuchen. »Nein.«

»Irgendetwas anderes, an das Sie sich erinnern?«

Erneut wanderten die Pupillen. »Nein. Nur dieser Moment. Der Blitz. Und dann der Knall.«

»Ihre Kleidung war mit Benzin getränkt. Haben Sie eine Idee, wie das passiert sein könnte?«

»Benzin?«

»Richtig.«

»Nein. Ich … Ich weiß überhaupt nichts mehr.«

»Okay.« Davari erhob sich. Hier kam sie nicht weiter. Vielleicht würde der Lkw-Fahrer Licht ins Dunkel bringen können. »Ruhen Sie sich aus«, riet sie dem jungen Mann im Krankenbett. »Ich komme morgen wieder.«

»Ja. Danke.« Er wandte den Blick ab und rollte sich auf die andere Seite.

Davari löschte das Licht und verließ das Zimmer.

Sie folgte den Hinweisschildern und Markierungen zur Unfallchirurgie. Die Krankenhausflure waren verwaist, wie ausgestorben. Man konnte sich in dieser Atmosphäre verloren fühlen, doch Davari hatte sich längst daran gewöhnt, nach all den Tagen und Nächten, die sie am Krankenbett ihres Vaters verbracht hatte.

Sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. War es richtig, einem mutmaßlichen Selbstmörder oder – sehr viel unwahrscheinlicher – einem Attentäter nachzuspüren, während ihr geliebter Vater im Sterben lag? Sie konnte sich nicht länger etwas vormachen. Abtin würde nicht rechtzeitig eine neue Niere bekommen. Die Stunden, die ihnen jetzt blieben, waren die letzten, die sie gemeinsam verbringen konnten.

Aber sie war Kriminalbeamtin geworden, weil sie den Dingen auf den Grund gehen wollte. Ihren Vater konnte sie nicht retten, aber vielleicht den jungen Mann, der beschlossen hatte, seinem Leben auf besonders grausame Weise ein Ende zu setzen. Vielleicht war es auch wichtig, ihn aus dem Verkehr zu ziehen, falls er doch vorgehabt hatte, dabei noch andere mit in den Tod zu reißen. Es würde ja nur ein paar Minuten dauern, mit dem Lkw-Fahrer zu sprechen.

Davari setzte ihren Weg fort und stand gleich darauf vor der Station für Unfallchirurgie. Sie betätigte den silbernen Druckschalter an der Wand, und die Tür schwang auf. Davari warf einen Blick ins Stationszimmer. Auf dem Tisch leuchtete ein Computermonitor, der eine Tabelle zeigte. Davor saß eine Schwester mit grauen Haaren, die sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengefasst hatte. Davari klopfte leise an die Scheibe. Die Schwester drehte sich zu ihr um, stand auf und kam zur Tür des Stationszimmers.

»Ein wenig spät für einen Besuch, meinen Sie nicht?«, fragte sie.

»Ich bin von der Polizei«, sagte Davari. »Ich würde gern kurz mit dem Lkw-Fahrer sprechen.« Davari überlegte, kam aber zu dem Schluss, dass ihr niemand den Namen des Mannes genannt hatte.

»Ah. Das ist gut.« Die Schwester schürzte die Lippen. »Herr Witt macht sich wahnsinnige Vorwürfe. Vielleicht können Sie ihn davon abbringen. Soweit ich das verstanden habe, kann er überhaupt nichts dafür. Das Unfallopfer ist ihm direkt vor den Wagen gelaufen.« Sie trat aus dem Stationszimmer und ging vor Davari über den Flur. »Kommen Sie. Er ist noch wach.«

Davari folgte ihr. Die Schwester klopfte an eine der Türen. »Herr Witt? Besuch für Sie.« Sie hielt Davari die Tür auf und schloss sie hinter ihr.

Der Mann im Bett wandte ihr den Kopf zu. Er war groß und stämmig. Dunkle, schüttere Haare und ein unrasiertes Kinn. Die linke Gesichtshälfte war von einer dicken Kompresse bedeckt, die vom Hals bis über das Ohr reichte. Das Haupthaar war bis fast zum Scheitel abrasiert, sodass es aussah, als hätte sich Witt eine besonders absurde Frisur zugelegt.

»Hallo.« Davari nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu Witt ans Bett. »Mein Name ist Kayra Davari. Ich bin von der Kriminalpolizei.«

»Lukas Witt.«

»Erzählen Sie mir, was passiert ist?«

Witt sah sie mit leerem Blick an. »Ich habe einen Mann angefahren.«

»Die Schwester sagt, er ist Ihnen vor den Wagen gelaufen.«

»Wenn ich besser reagiert hätte. Schneller gebremst. Stärker gegengelenkt. Vielleicht …«

»Waren Sie mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs?«

»Nein.«

Davari holte ihr Notizbuch hervor. »Schildern Sie mir bitte genau, wie es zu dem Unfall kam.«

Witt griff nach der Fernbedienung, die am Galgen über dem Bett hing, und fuhr das Kopfteil des Krankenbetts höher, bis er fast aufrecht saß. »Ich hätte eigentlich längst Feierabend gehabt«, erzählte er. »Ich wollte nach Hause, zu meiner Frau und den Kindern. Aber dann ist dem Chef eingefallen, dass auf der Baustelle Material fehlt. Irgendjemand musste nach Lübeck fahren und die Baustoffe aus der Firma nach Flintbek bringen.« Witt schnaufte. »Natürlich hatte keiner von uns Lust, die Fuhre zu übernehmen. Wir haben Streichhölzer gezogen, und meins war das kürzeste.«

»Okay.« Davari wippte ungeduldig mit dem Fuß. Sie wollte die Details des Unfalls, nicht die ganze Vorgeschichte. Die Zeit, die sie hier verschwendete, hätte sie lieber bei ihrem Vater verbracht. Aber sie hatte gelernt, dass man Zeugen die Möglichkeit geben musste, Geschichten in ihrem eigenen Tempo zu erzählen.

»Es war ein verfluchtes Mistwetter«, berichtete Witt. »Der Himmel schwarz, und dazwischen immer wieder diese hellen Blitze. Als ich auf der schmalen Landstraße zwischen Preetz und Flintbek war, wurde es besonders schlimm. Und dann war da plötzlich dieser Mann. Im einen Moment war alles stockfinster, und im nächsten war die ganze Landschaft in gleißendes Licht getaucht, und der Mann stand da wie aus dem Boden gewachsen.«

»Sie haben nicht gesehen, woher er gekommen ist?«

»Nein.«

»Was ist dann passiert?«

»Ich habe gebremst und das Lenkrad herumgerissen, aber es war zu spät. Ich habe den Mann angefahren.« Er fuhr sich mit der Hand über die rechte Gesichtshälfte. »Der Laster ist von der Straße abgekommen und in den Graben gerutscht, und ich bin mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe geknallt.«

»Ist dabei Benzin ausgelaufen?«

Witt zog die Augenbrauen zusammen. »Nein. Bestimmt nicht. Wie kommen Sie darauf?«

»Die Kleidung des Mannes, den Sie angefahren haben, war mit Benzin getränkt.«

»Aber sicher nicht aus meinem Lkw. Das können Sie doch feststellen, oder nicht? Ob es Benzin oder Diesel ist?«

»Wenn es nötig ist, lassen wir selbstverständlich eine chemische Analyse vornehmen.« Davari verstaute das Notizbuch in ihrer Handtasche. Sie würde sich mit den Kollegen in Verbindung setzen, die den Unfall aufgenommen hatten, aber sie war sich jetzt schon sicher, dass das Benzin nicht aus dem Lkw stammte. Der Mann ohne Namen hatte seine Kleider anscheinend selbst damit getränkt. Aber wenn er vorgehabt hatte, sich anzuzünden, warum war er dann auf die Straße gerannt? Hatte sein Terrorakt einem einzelnen Lkw gegolten? Dass er es gezielt auf Lukas Witt abgesehen hatte, war nicht anzunehmen. Woher hätte er wissen sollen, dass Witt diese Fuhre übernommen hatte und auf welchem Weg er unterwegs war?

Davari verabschiedete sich von Witt, stellte den Stuhl zurück und ging zur Tür. Sie hatte die Hand schon auf der Klinke, als Witt sich räusperte. »Da war so eine Erscheinung.«

Davari drehte sich zu ihm um. »Was meinen Sie damit?«

»Über den Feldern. Bevor der Mann auf die Straße gelaufen ist. Helle Lichter, die aufgestiegen und gleich darauf wieder heruntergefallen sind.«

Davari kniff die Augen zusammen. Vielleicht sollte sie veranlassen, dass man Witt einem toxikologischen Screening unterzog? Möglicherweise hatte er unter Drogen gestanden, und die Schuldfrage wäre doch anders zu bewerten als angenommen.

Witt sah ihr offenbar an, was sie dachte. »Ich habe mir das nicht eingebildet. Da waren wirklich diese Lichter.« Sein Blick irrte durch den Raum. Dann schnippte er mit den Fingern. »Jetzt weiß ich es. Das müssen diese Dinger gewesen sein, die vor ein paar Jahren in Mode gekommen sind. Diese Teelichter mit kleinen Fallschirmen, wie Heißluftballons in Miniatur.«

»Chinesische Himmelslaternen.«

»Ja. Kann sein, dass die so heißen.«

»Gut. Danke.« Davari winkte Witt noch einmal zu und verließ den Raum.

Auf dem Flur blieb sie stehen. Es erschien ihr absurd, dass jemand bei aufziehendem Gewitter auf einem einsamen Feld Himmelslaternen steigen ließ. Aber als Polizistin musste sie jede Aussage ernst nehmen. Zumal ja auch das Unfallopfer im benzingetränkten Umhang Rätsel aufgab.

Sie entschied, am nächsten Tag eine gründliche kriminaltechnische Untersuchung der Unfallstelle und der umliegenden Felder zu veranlassen, soweit das nicht bereits geschehen war. Jetzt, in der Nacht, könnten die Kollegen ohnehin nichts ausrichten. Und sie konnte endlich zurück zu ihrem Vater.

3

Dr. Robert Forster schlug die Beine übereinander und faltete die Hände auf den Knien. Bisher hatte er nicht mehr gesagt als »Ja«, das eine Wort, mit dem er dem Patienten signalisierte, dass er bereit war. Eine offene, freundliche Einladung, alles auszusprechen, sämtlichen Gedanken und Gefühlen Raum zu geben, mit der gleichzeitigen Versicherung, dass kein Geheimnis dieses Zimmer verlassen würde.

Der Patient lag auf der Couch und schaute zur Decke des Raums, der in einem hellen Apricot gestrichen war. Forster hatte ein paar Bilder aufgehängt, abstrakt, mit geometrischen Figuren. Rot und Orange waren die dominierenden Farben. Es gab einige Bücherregale, die eine behagliche Atmosphäre schufen, dazu die Couch, die beiden Sessel und niedrige Tische, um ein Wasserglas abzustellen.

Forster saß im Sessel hinter dem Patienten und wartete.

Vergeblich. Simon Jacobs hatte nicht gesprochen, als er das Haus betreten hatte, sondern Forsters Begrüßung nur mit einem knappen Nicken erwidert. Er hatte die Jacke an die Garderobe gehängt und die Schuhe ausgezogen, obwohl ihm Forster schon mehrfach versichert hatte, dass das nicht nötig war. Am Fußende der Couch befand sich eine abwaschbare Auflage. Es gab Patienten, die sich ohne Schuhe entblößt fühlten und deshalb gehemmt waren, was den Erfolg der Therapie behinderte. Doch Jacobs bestand darauf, sich nur mit Socken auf die Couch zu legen.

Der Patient hatte seinen Platz eingenommen, aber bisher nichts gesagt. Er lag mit ausgestreckten, geschlossenen Beinen, die Fußspitzen zur Decke gerichtet. Die Hände hatte er auf dem Bauch gefaltet. Die Augen waren bewegungslos, die Lippen zusammengepresst. Forster fühlte sich an einen aufgebahrten Leichnam erinnert.

In Jacobs‘ Innerem war allerdings nichts still und starr. Forster konnte die Wut des Patienten spüren, die ihm aus jeder Pore zu strömen schien. Das gesamte Zimmer war damit aufgeladen.

Simon Jacobs war voller Zorn, dass er hier sein musste. Die Behandlung war Teil seines Deals mit der Staatsanwaltschaft. Und der Mann, der ihm das alles eingebrockt hatte, war sein eigener Therapeut gewesen. Er hatte seinen Patienten angezeigt, weil er sich nicht anders zu helfen gewusst hatte. Forster konnte die Entscheidung des Kollegen nachvollziehen. Aber das Vertrauen des Patienten in die Therapie war dadurch erschüttert, und das war keine gute Grundlage für die Zusammenarbeit. Forster griff nach seinem Wasserglas und trank einen Schluck.

Natürlich war der Patient nicht verpflichtet, zu sprechen. Er musste zweimal pro Woche zu Forster kommen, das war die Bedingung des Staatsanwalts gewesen, wenn er im Gegenzug auf eine Anklage verzichtete. Wie Jacobs diese Zeit nutzte, war seine eigene Entscheidung.

Forster hatte ihm freigestellt, die Therapie im Sitzen oder Liegen zu absolvieren, und Jacobs hatte sich für die Couch entschieden. Normalerweise erleichterte diese Position das Reden. Wenn man sein Gegenüber nicht anschauen musste und der Körper entspannt war, fanden viele Menschen einen leichteren Zugang zu ihren Gefühlen und ihrem Unbewussten.

Bei Jacobs allerdings hatte Forster vielmehr das Gefühl, dass er ihm nicht in die Augen sehen wollte. Im Liegen, so hatte er wohl gedacht, konnte er sich einfacher abschotten und verhindern, dass Forster zu tief in seine Seele blickte.

Die kleine Uhr auf dem Tisch, auf dem auch eine Wasserflasche und Gläser für die Patienten bereitstanden, zeigte auf neun Uhr dreißig. Seit Jacobs‘ Eintreffen war bereits eine halbe Stunde vergangen.

Es war nicht die erste Sitzung, die der Patient schweigend verbrachte. Nachdem die Formalitäten geklärt gewesen waren und er sich für die Couch entschieden hatte, starrte er jedes Mal einfach fünfzig Minuten lang an die Decke, ehe er aufstand, seine Schuhe und seine Jacke wieder anzog und ging.

Drei Wochen lang hatte Forster sich das mitangesehen, doch nun, fand er, war es genug. »Gibt es wirklich nichts, worüber Sie reden möchten?«, fragte er freundlich.

Jacobs strich über sein steifes dunkelblaues Baumwollhemd. »Tut mir leid, wenn ich Ihre Zeit verschwende.«

»Es geht nicht um mich. Ich werde für die Sitzungen bezahlt. Sie vergeuden Ihre Zeit. Und Sie vergeben eine Chance. Sie haben meinen Kollegen aufgesucht, weil Sie Hilfe wollten. Das Problem, um das es ging, besteht nach wie vor. Wir könnten versuchen, daran zu arbeiten.«

»Ihr Kollege hat mich angezeigt.« Jacobs fuhr sich durch die drahtigen braunen Haare. »Nachdem er mir zugesichert hatte, dass ich alles sagen kann, was mir durch den Kopf geht, ohne dass irgendjemand davon erfährt. Weil er der Schweigepflicht unterliegt.«

»Das ist richtig. Aber die Schweigepflicht endet, wenn Leben oder Gesundheit in Gefahr sind. Ihre eigene oder die eines anderen.«

Jacobs schob die Hände in die Taschen seiner verwaschenen Bluejeans. »Ich habe dem Jungen nichts getan. Ich habe lediglich auf der Bank gesessen und Zeitung gelesen.«

»Aber Sie waren in der Absicht dort, den Jungen zu beobachten. Um Bilder zu sammeln, so haben Sie es doch beim Gespräch mit der Staatsanwaltschaft ausgedrückt?« Forster war bei der Befragung dabei gewesen, weil der Kollege ihn darum gebeten hatte. »Bilder, die Sie sich später wieder vor Augen gerufen haben.«

»Wem schadet das?«

»Wenn der Junge mitbekommt, dass Sie ihn verfolgen, kann das ein Trauma auslösen.« Genau das hatte Forster auch dem Staatsanwalt gesagt. Er war nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Sachverständiger dort gewesen.

»Er hat es nicht bemerkt.«

»Er könnte Ängste entwickeln«, fuhr Forster unbeirrt fort. »Davor, dass Sie irgendwann mehr wollen, als ihn nur anzuschauen.«

Ein solch offensives Vorgehen war untypisch für eine Psychoanalyse, bei der es darum ging, die freien Assoziationen des Patienten zu deuten, der auf der Couch lag. Aber in diesem Fall fand Forster, dass er nicht weiterkommen würde, wenn er nicht deutlich stärker in den Prozess eingriff.

Es hatte keine offizielle Anklage gegeben. Die Beweislage war dünn, und der Staatsanwalt wollte Jacobs eine Chance geben. Aber ihm war auch daran gelegen, dass sich Jacobs nicht zu einer wandelnden Zeitbombe entwickelte.

Jacobs zog die Hände aus den Taschen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie wollen doch nur, dass ich Ihnen meine dunklen Geheimnisse anvertraue. Damit Sie und Ihr Kollege mich dann endgültig fertigmachen können.«

»Ich möchte Ihnen helfen.«

»Indem Sie mir mit einem Berufsverbot drohen?«

»Ihre Fantasien sind eine Gefahr für Ihre Tätigkeit.«

»Warum? Die Gedanken sind frei. Niemand wird verurteilt, weil er sich Böses ausdenkt. Allein das Handeln ist strafbar.«

»Richtig.« Forster lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Aber Sie selbst machen sich Sorgen, dass es nicht bei Fantasien bleibt.«

»Ich würde niemals ein Kind anfassen.«

»Hm.« Dieses Mal beschränkte sich Forster auf den typischen Laut, den Therapeuten von sich gaben, wenn Patienten etwas berichteten. Deutungen wurden nur sparsam verwendet. Ein Großteil der Arbeit bestand darin, den Patienten zur Selbstreflexion zu befähigen.

»Warum soll ich mit Ihnen reden? Sie glauben mir doch ohnehin nicht.« Jacobs richtete sich auf und schwang die Füße von der Couch. Er sah Forster nicht an, sondern blickte auf die gegenüberliegende Wand, an der ein abstraktes Gemälde hing, ein gelber Kreis vor einem orangefarbenen Hintergrund.

Forster beugte sich ein wenig vor. »Ist es nicht vielmehr so, dass Sie sich selbst nicht trauen?«

Jacobs sprang auf und baute sich vor Forster auf. »Sie versuchen, mich zu manipulieren.«

Ein feiner Nebel aus Speicheltropfen traf Forster, aber er änderte seine Haltung nicht. »Erzählen Sie mir davon«, entgegnete er ruhig. »Woran denken Sie, wenn Sie auf dem Spielplatz sitzen und diesen Jungen beobachten?«

Jacobs ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. »Warum? Damit Sie etwas haben, mit dem Sie zur Polizei gehen können? Etwas, das reicht, um mich dieses Mal richtig anzuklagen und nicht nur einen Deal mit dem Staatsanwalt auszuhandeln?«

»Damit wir daran arbeiten können.«

»Sie haben mich doch längst in eine Schublade gesteckt. Der Lehrer, der sich an kleinen Jungs aufgeilt.«

Forster legte die Hände auf die Armlehnen des Sessels. »Sie haben gehört, was ich dem Staatsanwalt gesagt habe. Sie haben die Grenze noch nicht überschritten, aber es ist ein schmaler Grat, auf dem Sie sich bewegen. Sie können die Hand ergreifen, die man Ihnen reicht, und das Richtige tun. Oder Sie können sich dagegen sperren. Aber dann stürzen Sie möglicherweise sehr tief.«

Jacobs atmete schwer. »Sie und Ihr Kollege warten doch nur darauf, dass ich Ihnen etwas liefere, mit dem Sie mich hinhängen können. Weil Sie sich etwas zusammengereimt haben, das in keiner Weise den Tatsachen entspricht. Aber in Ihrer Selbstgerechtigkeit ist Ihnen das natürlich egal. Genauso, wie es Sie nicht interessiert, dass Sie mein Leben zerstören.«

Forster erhob sich ebenfalls. »Ich verstehe Ihren Zorn. Und ich versichere Ihnen, dass ich Ihnen nichts kaputtmachen will. Im Gegenteil. Ich möchte Sie dabei unterstützen, Ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Damit Sie Ihren Beruf weiterhin ausüben können.«

Jacobs‘ Blick flackerte. »Warum? Weil Sie so ein Gutmensch sind?«

»Weil es mein Job ist.«

Forster spürte, dass er Jacobs‘ Abwehr erschüttert hatte. Die Tür, die so fest verriegelt gewesen war, hatte sich einen Spaltbreit geöffnet. Würde Jacobs ihn hineinlassen? Oder würde er ihm die Tür im nächsten Moment vor der Nase zuschlagen?

Er sah, wie Jacobs den Kiefer anspannte. Der Patient wandte sich zum Fenster und starrte hinaus. Die Minuten verstrichen, während sie stumm im Raum standen wie Schauspieler, die ihren Text vergessen hatten. Forster sah zu, wie die Zeiger auf der Uhr vorrückten.

Als er schon nicht mehr damit gerechnet hatte, drehte Jacobs sich plötzlich um. »Sie meinen das ernst?«

»Ja.«

»Okay.« Jacobs bewegte sich zurück zur Couch.

»Aber nicht heute.« Forster hob die Hand. »Unsere Sitzung ist zu Ende.«

Jacobs schnaufte. »Sie werfen mich raus? Gerade jetzt, wo ich bereit bin, Ihnen etwas zu erzählen?«

»Sie hatten fünfzig Minuten lang Zeit.«

Natürlich war es bedauerlich, die Interaktion an dieser Stelle abzubrechen, aber für eine gelingende Therapie war es von entscheidender Bedeutung, die Regeln einzuhalten. Die Patienten brauchten feste Strukturen, an denen sie sich orientieren konnten. Sich darüber hinwegzusetzen, wäre ein schwerer Fehler, den Forster später bereuen würde, das wusste er aus Erfahrung.

Jacobs war mit drei Schritten an der Zimmertür und riss sie auf. »Sie sind kein Stück besser als Ihr Kollege«, spuckte er. »Heuchler und eingebildete Besserwisser, das seid ihr.«

Jacobs stürmte aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Forster hörte, wie er im Flur mit Schuhen und Jacke kämpfte, ehe er ebenso lautstark das Haus verließ.

Forster setzte sich wieder in den Sessel, trank einen Schluck Wasser und schüttete ein paar Pfefferminzpastillen aus der kleinen Plastikbox in seine offene Hand. Langsam und bedächtig schob er sich eine Pastille nach der anderen in den Mund und zerbiss sie krachend zwischen den Backenzähnen. Ihm war heiß, und sein Puls raste, aber er war sich sicher, dass Jacobs nichts davon bemerkt hatte.

Es war Teil seines Berufs, dass die Patienten ihre Aggressionen auf ihn projizierten. Nicht gerade der angenehmste, aber er hatte gelernt, damit umzugehen. Er wartete ein paar Minuten, bis sich sein Herzschlag normalisiert hatte. Dann griff er nach der Kladde, die neben ihm auf dem Tisch lag, und begann, sich Notizen zu machen.

4

Kayra Davari saß im Bus der Spurensicherung auf der Rückbank und schaute auf den riesigen Bildschirm, der vor den Vordersitzen montiert war. Durch die offene Wagentür sah sie den Kollegen, der die Fernbedienung in der Hand hielt. Die Drohne war startklar. Das ferngesteuerte Flugobjekt von der Größe einer Wasserkiste war in den Polizeifarben Blau und Silber lackiert und mit einem Schild »Polizei« versehen. Oben blinkte ein kleines Blaulicht.

Momentan war auf dem Monitor nur das Straßenpflaster zu sehen, auf das die Kamera der Drohne gerichtet war. Grauer Asphalt auf halber Strecke zwischen Preetz und Flintbek.

Mittlerweile war die Straße wieder trocken. Der Regen hatte irgendwann in der Nacht aufgehört, und die schwarzen Wolken hatten sich verzogen. Jetzt spannte sich ein frischer norddeutscher Himmel über die Felder, lichtes Blau mit ein paar wattigen weißen Wolken darüber.

»Bereit?« Der Drohnen-Pilot blickte sich zu seinem Kollegen und den beiden Frauen im Wagen um.

»Kann losgehen, Mike«, sagte der Kollege, der auf seinem Laptop tippte. Das Kamerabild wurde auf den Bildschirm projiziert und zugleich mit dem Computer aufgezeichnet.

Er schaute Kayra und ihre Kollegin Inga Jessen, die neben ihr saß, an. »Wart ihr schon mal dabei?«, fragte er mit leuchtenden Augen. Ein Mann, der sich wie ein Kind an seinem Spielzeug freute. »Kuntz« stand auf dem blauen Schild auf seiner Uniformjacke.

»Nein«, sagte Jessen, und Davari schüttelte den Kopf. Bisher hatte sie mit keinem Fall zu tun gehabt, bei dem sich der Einsatz der Drohne gelohnt hätte.

»Ihr werdet begeistert sein«, verkündete Kuntz und winkte seinem Kollegen.

Mike bewegte mit dem Daumen die Steuerknüppel seiner Fernbedienung, und die Drohne hob mit leisem Sirren vom Boden ab.

»Wir scannen zunächst die Unfallstelle«, erläuterte Kuntz und griff nach einer zweiten Fernbedienung. »Rauf und runter, in überlappenden Schleifen. Anschließend fliegen wir über die Felder.« Er hob die Fernbedienung. »Der Kollege lenkt die Drohne. Ich kann hiermit separat die Kamera steuern.« Mit einer Kopfbewegung wies er zum Laptop. »Der Rechner konstruiert aus den überlappenden Bildern ein 3-D-Modell, in dem wir uns später frei bewegen können. Die Auflösung der Kamera ist so hoch, dass wir im Modell sogar eine verlorene Patronenhülse sehen können.«

»Die wird es in diesem Fall nicht geben«, bemerkte Inga Jessen.

Davari atmete tief ein. Sie arbeitete jetzt seit einem Dreivierteljahr mit Jessen zusammen, aber so richtig warm war sie mit der Kollegin nicht geworden. Jessen war viele Jahre lang an der Polizeischule in Eutin als Ausbilderin tätig gewesen, bis sie kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag beschlossen hatte, in den aktiven Polizeidienst zurück zu wechseln. Seit Oktober war sie bei der Mordkommission, dem Kommissariat 1 der Bezirkskriminalinspektion in der Blumenstraße. Sie hatte einen höheren Dienstrang als Davari, war ihr aber trotzdem untergeordnet, weil ihr die Erfahrung auf ihrem Spezialgebiet fehlte. Jessen beherrschte die Dinge, die sie den Polizeischülern beigebracht hatte – Tatortsicherung, Zeugenbefragung, Ermittlungstaktik, Zugriff -, aber bei den kriminaltechnischen Methoden, die sich rasant weiterentwickelt hatten, bestand Nachholbedarf, ebenso wie bei der praktischen Ermittlungsarbeit.

Was Jessen jedoch nicht daran hinderte, häufig in einem belehrenden Ton mit ihren Kollegen zu sprechen. Das mochte eine Folge ihrer vorherigen Tätigkeit sein, aber Davari fühlte sich trotzdem zunehmend genervt davon. Wenn sie Kuntz‘ Miene richtig deutete, ging es ihm nicht anders.

»Nein. Aber wir suchen etwas, richtig?«, entgegnete er. »Der Lkw-Fahrer hat ausgesagt, dass er chinesische Himmelslaternen oder etwas in der Art gesehen hat.«

»Und deshalb lassen wir diese teure Technik hier herumfliegen?«

Davari seufzte. Jessen hatte recht, das Unternehmen war tatsächlich teuer. Allein die Drohne kostete in etwa so viel wie ein Mittelklassewagen. Aber da sie nun einmal angeschafft worden war, schadete es ja nichts, sie einzusetzen.

»Es ist der zeitliche Zusammenhang«, erklärte sie das ungute Gefühl, das sie seit dem Gespräch mit Lukas Witt, dem Lkw-Fahrer, hatte. Es war so stark, dass sie jetzt hier saß statt am Krankenbett ihres Vaters. »Da stimmt etwas nicht. Ein Mann in benzingetränkter Kleidung, ein Autounfall und jemand, der chinesische Himmelslaternen steigen lässt – und das alles zur selben Zeit in einer Sommernacht bei aufziehendem Gewitter an einer einsamen Landstraße.«

Jessen fuhr sich durch die kurz geschnittenen blonden Haare. Ihre blauen Augen ruhten auf Davaris Gesicht. »Und du bist sicher, dass es nicht nur darum geht, dich abzulenken?«

Davari versuchte, sich zusammenzureißen, aber es gelang ihr nicht. »Ich wäre weiß Gott lieber bei meinem Vater als hier«, fauchte sie. »Aber es lässt mir keine Ruhe.«

»Okay.« Jessen schob die Ärmel ihres dunkelblauen Troyers ein Stück nach oben.

Das war noch etwas, was Davari regelmäßig auf die Palme brachte. Jessen schoss nicht zurück, wenn man sie attackierte, sondern ließ alles an sich abprallen wie an einer Gummiwand. Wahrscheinlich lernte man das als Ausbilderin an der Polizeischule, und vermutlich sollte Davari froh darüber sein. Andernfalls hätte Jessen sich bestimmt schon das eine oder andere Mal bei ihrem Kommissariatsleiter beschwert. Obwohl ihre Eltern mit ihrer Ruhe und Gelassenheit gute Vorbilder gewesen waren, gelang es Davari oft nicht, ihre Emotionen zu kontrollieren.

Kuntz räusperte sich und zeigte auf den Bildschirm. »Hier seht ihr die Markierungen. Die Kollegen haben das erst angezeichnet, als der RTW den Verletzten schon abtransportiert hatte, aber die Position müsste einigermaßen stimmen.«

Auch der verunglückte Lkw war bereits am gestrigen Abend geborgen worden, doch die Bremsspuren auf der Straße waren dennoch klar zu erkennen, und die platt gewalzten Büsche am Straßenrand und die tiefen Furchen in der aufgewühlten schwarzen Erde zeigten deutlich, wo der Vierzigtonner in den Graben gerutscht war.

»Wir können den Unfall später im Modell exakt rekonstruieren«, erklärte Kuntz. »Dann wissen wir, wie schnell der Lkw war und in welchem Augenblick das Unfallopfer auf die Straße getreten sein muss.«

Davari studierte den Unfallbericht der Kollegen von der Schutzpolizei, den sie sich aufs Smartphone kopiert hatte. Es war alles exakt dokumentiert. Auch den Benzingeruch hatten die Kollegen bemerkt, aber nicht für ungewöhnlich gehalten, sondern wohl mit dem Unfallgeschehen in Verbindung gebracht. Im stürmischen Gewitterwind war er mit Sicherheit auch weitaus weniger aufdringlich gewesen als in dem sterilen Krankenhauszimmer, in dem Dr. Werner den Beutel mit dem Kapuzenumhang für Davari geöffnet hatte.

Laut Bericht hatte das Unfallopfer keine persönlichen Gegenstände dabeigehabt. Auch von einem Feuerzeug stand nichts darin.

Davari deutete auf den Monitor. »Wir suchen einen Gegenstand, mit dem man brennbares Material entzünden könnte. Feuerzeug, Streichhölzer, Gasanzünder.«

»Streichhölzer?« Jessen hob die blonden Augenbrauen. »Das hätte bei dem Gewitter gestern Abend kaum funktioniert.«

»Es hat ja auch nicht funktioniert«, gab Davari zurück. »Der Mann ist nicht verbrannt, sondern vor den Laster gelaufen.«

Kuntz schaute sie neugierig an. »Du glaubst, er hat das mit Absicht getan?«

Davari hob ratlos die Hände. Sie hatte ein blödes Gefühl. Das war aber auch schon alles.

Die Drohne hatte mittlerweile die Straße verlassen und flog über das Stoppelfeld. Wie zuvor in gleichmäßigen, überlappenden Bahnen auf und ab. Auf dem Monitor baute sich langsam das Bild einer Landschaft auf.

»Was ist das denn?« Kuntz beugte sich vor. Er legte die Fernbedienung beiseite und fuhr mit dem Finger über das Touchpad des Laptops. Davari sah ein kleines, längliches Objekt zwischen den Getreidestoppeln. Kuntz zoomte es heran. Es war ein dünner Stab, an einem Ende mit Federn, am anderen mit einer Art Schwamm versehen. Kuntz drückte auf eine Taste des Laptops und zog sein Diensthandy hervor.

»Das will ich mir ansehen«, erklärte er. »Ich habe mir die GPS-Koordinaten aufs Smartphone geladen.« Damit kletterte er aus dem Wagen.

Davari beeilte sich, ihm zu folgen, und Jessen tat es ihr gleich. Zu dritt marschierten sie über das Stoppelfeld, bis sie die markierte Stelle erreicht hatten. Kuntz holte ein Paar Latexhandschuhe hervor, streifte sie über die Finger und bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er das merkwürdige Objekt in der Hand.

»Das gibt es doch nicht«, sagte er rau.

Robert Forster stieg die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Der letzte Patient des Vormittags war soeben gegangen, und er wollte sich rasch ein paar Eier in die Pfanne schlagen. Er hatte seine Praxis in dem Haus in Schilksee eingerichtet, das er von seinen Eltern übernommen hatte, nachdem sein Vater in ein Pflegeheim und seine Mutter in eine Wohnung im Olympiazentrum umgezogen war. Im Erdgeschoss befanden sich ein Gruppenraum mit Schwingstühlen, ein Raum für Einzelgespräche mit einer Couch und zwei Sesseln und ein kleines Büro mit Blick in den Garten. Im ersten Stock hatte er seine Wohnräume, im Keller ein paar Fitnessgeräte und einen Boxsack.

Forster war gerade auf der Hälfte der Stufen, als es an der Tür klingelte. Das war ungewöhnlich. Er hatte keine offene Sprechstunde. Seine Patienten kamen zu vereinbarten Terminen, die er telefonisch oder online vergab. Nebenbei arbeitete er als Berater und Gutachter für die Kieler Polizei und das schleswig-holsteinische LKA. Forster war nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch forensischer Psychologe. Sein Spezialgebiet waren Gewaltstraftaten. Die Patienten, die er in seiner Praxis betreute, gehörten aber nicht zu dieser Klientel. Es waren Menschen mit Depressionen, Ängsten oder Zwangsstörungen. Angepasst, ohne dissoziale Symptomatik oder Aggressionsdurchbrüche. Es war noch nie vorgekommen, dass ihn einer seiner Patienten außerhalb der Sprechstunde aufgesucht hatte. Also war es vermutlich der Postbote oder ein Paketdienst, auch wenn Forster sich nicht erinnerte, irgendetwas bestellt zu haben.

Er stieg die Treppe wieder hinunter und öffnete die Haustür.

Die Frau, die davorstand, war weder Patientin noch Botin.

»Kayra, hallo. Das ist ja eine Überraschung.«

Er hatte Kayra Davari im letzten Jahr kennengelernt, als mehrere seiner Studenten und Patienten entführt worden waren. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Inga Jessen war sie häufiger bei Forster zu Gast gewesen, als ihm lieb gewesen war. Eine Weile lang hatte er sogar zu den Verdächtigen gezählt.

»Hallo, Robert. Ich hoffe, ich störe nicht?«

»Nein. Ich habe gerade Mittagspause.« Er hielt ihr die Tür auf und dirigierte sie nach oben in seine Wohnung. »Wenn es dir nichts ausmacht, esse ich nebenbei.«

»Kein Problem.« Davari ließ sich auf einem der Küchenstühle nieder.

Forster verzichtete auf das Rührei und stellte stattdessen Brot und Käse auf den Tisch. »Für dich auch?«

»Nein, danke.«

Forster nahm zwei Gläser aus dem Schrank und schenkte Wasser für Davari und sich ein. Seit dem letzten Herbst pflegten sie einen lockeren freundschaftlichen Kontakt. Alles andere hatte sich nicht geändert.

Forster setzte sich und belegte eine Scheibe Brot mit Käse. »Wie geht es deinem Vater?«, fragte er.

Davari blickte an ihm vorbei aus dem Fenster. »Nicht gut. Wenn er nicht bald eine Niere bekommt, wird er es nicht schaffen.«

»Das tut mir leid.« Forster hatte Abtin Davari im letzten Jahr kennengelernt. Er war Professor für Informatik, ein freundlicher, ruhiger Mann, der mit sich und der Welt im Einklang war.

»Aber deswegen bin ich nicht hier.« Davari leerte ihr Wasserglas zur Hälfte und stellte es mit einem harten Knall auf den Tisch.

Forster hätte gern mit ihr über ihren Vater gesprochen. In einer solchen Situation brauchten Menschen Zuspruch und Unterstützung. Aber er wollte sich nicht aufdrängen. »Also. Was kann ich für dich tun?«

»Ich habe einen sonderbaren Fall.« Davari drehte das Glas in den Händen. Sie war eine attraktive Frau mit halblangen dunklen Haaren und braunen Augen. Passend dazu trug sie schwarze Jeans, ein hellbraunes Top und einen dunkelbraunen Blazer.

Forster aß sein Brot, hörte aber aufmerksam zu, während Davari von dem Autounfall berichtete, der sich am Vorabend auf der Landstraße zwischen Preetz und Flintbek ereignet hatte.

»Die Kleidung des Unfallopfers war mit Benzin getränkt«, erklärte sie und machte eine kleine dramatische Pause.

Forster legte das Brot auf den Teller. »Ein versuchter Suizid?«, mutmaßte er. »Oder ein Selbstmordattentäter?«

»Das war es, was ich zuerst dachte«, entgegnete Davari. »Aber dann haben wir heute Morgen die Felder zu beiden Seiten der Straße abgesucht und etwas Merkwürdiges entdeckt.« Sie holte ihr Smartphone hervor und zeigte ihm das Foto eines Objekts, das aus einem gefiederten Stab und einem kleinen schwarzen Schwamm bestand.

Forster runzelte die Stirn. »Was ist das?«

»Der Kollege meint, es handelt sich um einen Brandpfeil.«

Forster rann ein kalter Schauer über den Rücken. »Du meinst, jemand hat den Mann damit beschossen? Nachdem er ihn zuvor mit Benzin übergossen hatte?«

»Danach sieht es aus. Wir haben etliche dieser Pfeile gefunden, fast ein Dutzend. Und der Mann hatte nichts bei sich, mit dem er sich selbst hätte entzünden können.«

Forster griff nach seinem Wasserglas. Es war viel zu früh, um ein Urteil über den Täter fällen zu können, und erst recht konnte man angesichts nur eines Opfers nicht von einer Serie sprechen. Aber die Tatmerkmale sprachen eindeutig für einen Psychopathen.

»Habt ihr irgendwelche Anhaltspunkte? Kann das Opfer eine Aussage machen?«

»Nein.« Davari verstaute das Smartphone wieder in ihrer Handtasche. »Deshalb wollte ich dich um Hilfe bitten. Der Mann erinnert sich an nichts. Nicht einmal an seinen Namen.«

»Eine retrograde Amnesie ist nach einem solchen Schock nicht ungewöhnlich.«

»Das weiß ich. Aber wir müssen herausfinden, wer er ist. Derjenige, der ihm das angetan hat, ist offensichtlich gefährlich. Wir sollten ihn aufspüren, ehe es weitere Opfer gibt.«

Davaris Sorge war berechtigt, das wusste Forster. Allerdings gab es nicht viel, was er tun konnte. »Der Mann braucht Zeit. Früher oder später wird seine Erinnerung zurückkehren, aber diesen Prozess kann man kaum beschleunigen.«

»Du könntest es zumindest versuchen. Rede mit ihm. Vielleicht fällt ihm irgendwas ein.«

Forster machte sich keine großen Hoffnungen, dass er in diesem Fall etwas bewegen könnte, doch auf der anderen Seite war er gerne bereit zu helfen. »Wo ist der Mann jetzt?«

»Im Universitätsklinikum.«

»Okay.« Forster griff wieder nach seinem Brot. »Ich habe heute Nachmittag noch drei Patienten. Danach könnte ich ins UKSH fahren.«

Davaris braune Augen blickten bittend. »Kannst du die Termine nicht absagen?«

Forster dachte kurz nach. »Ich könnte versuchen, die erste Patientin zu erreichen. Wenn sie es einrichten kann, könnte ich sie nach den beiden anderen einschieben. Dann würde die Mittagspause für eine Fahrt ins Klinikum reichen.«

Auf Davaris ernstem Gesicht zeigte sich endlich die Andeutung eines Lächelns. »Danke«, sagte sie warm.

5

Die Klingel im Inneren gab ihr übliches hässliches Schrillen von sich, aber ansonsten rührte sich nichts. Julie Becker hob die Hand und schlug mit der Faust ein paar Mal gegen das Türblatt. Wahrscheinlich hatte sich Tristan am Abend wieder zugedröhnt und schlief jetzt seinen Rausch aus. Das war seine Art zu fliehen. Vor dem Leben, das er nicht in den Griff bekam, und vor ihr.

Sie hatte endlich mit ihm reden wollen, aber er hatte ihr nicht zugehört. Wahrscheinlich ahnte er längst, was sie ihm sagen wollte. Es hatte keinen Sinn mehr mit ihnen beiden.

Am Anfang war es schön gewesen, mit jemandem zusammen zu sein, der ihren Schmerz teilte. Der verstand, warum sie rauswollte. Weg von dem Vater, der den ganzen Tag auf dem Sofa hockte und Bier in sich hineinschüttete, nicht in der Lage, mehr als den Weg zum Kühlschrank zu bewältigen. Burn-out, seit mehr als sechs Jahren. Die letzte Therapie hatte er abgebrochen, und die Hoffnungen ihrer Mutter, dass er eines Tages wieder arbeiten würde, waren dahingeschmolzen wie Schnee in der Sonne.

Dabei war er früher ein Fels in der Brandung gewesen. Groß und stark, ein Bär von einem Mann. Seinen Job hatte er mit echter Leidenschaft ausgeübt. Er war Sozialarbeiter und kümmerte sich um Jugendliche in toxischen Elternhäusern. Bis ihn ein Vater, mit dem er lediglich ein ernstes Wort hatte reden wollen, brutal mit einem Baseballschläger zusammengeknüppelt hatte. Die zahlreichen Knochenbrüche, die er davongetragen hatte, waren verheilt, aber das gebrochene Selbstbewusstsein hatte niemand reparieren können.

Jetzt hielt ihre Mutter den Laden am Laufen. Sie schuftete als Altenpflegerin, versorgte Haushalt, Mann und Kind. Zuerst hatte sie es gern getan, aber als abzusehen gewesen war, dass ihr Mann in seiner Starre verharren würde, war ihr Frust immer weitergewachsen. Sie hatte angefangen, sich mit reichlich frittiertem Essen zu trösten. Und als das auch nicht mehr half, hatte sie begonnen zu schimpfen. Wegen jeder Kleinigkeit überzog sie Mann und Tochter mit wütenden Tiraden.

Mit sechzehn hatte Julie begriffen, dass sie so schnell wie möglich aus diesem Elternhaus hinausmusste. Eine Weile hatte sie sich herumgetrieben. Dann hatte sie in der Traumfabrik eine Metal-Band gehört, die einen coolen Sound hatte, aber eine unfassbar schlechte Sängerin. Julie hatte nach dem Auftritt mit den Jungs geredet und ihnen erzählt, dass sie ebenfalls sang. Sie hatte es ein paar Mal bei Casting-Shows versucht, war aber nie weit gekommen. Nicht, weil ihre Stimme schlecht war, sondern weil sie zu unangepasst war. Sie hatte keine Lust auf die albernen Streitigkeiten, die vor der Kamera inszeniert wurden.

Die Jungs hatten sie zu einer Probe eingeladen und waren von ihrem Gesang begeistert gewesen. Sie hatten sich von ihrer alten Sängerin getrennt und Julie engagiert. Nun tingelte sie seit vier Jahren mit ihnen durch die Clubs und wohnte mit ihnen in derselben WG. Eine Existenz ohne große Zukunftsperspektive, aber besser als das Zuhause, das sie hatte.