Dünenmond & Rügensommer - Lena Johannson - E-Book
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Lena Johannson

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Beschreibung

Zwei Romane von Bestsellerautorin Lena Johannson in einem E-Book!

Dünenmond.

Josefine fährt nach Ahrenshoop, um herauszufinden, wo ihr kürzlich verstorbener Vater seine Ferien verbracht hat. Hier lernt sie den eigenwilligen Eisverkäufer Jan kennen – und sie findet die geheimen Plätze, die ihr Vater auf seinen Bildern verewigt hat. Auf dem Darß entdeckt sie auch ein Foto, das ihn in einer innigen Umarmung mit einer Frau zeigt. Josefine beschließt, alles daran zu setzen, das Familiengeheimnis zu lüften ...

Rügensommer.

Als ihr Chef ihr mitteilt, sie solle ein neues Magazin auf einer angesagten Ferieninsel herausgeben, denkt Deike an Mallorca oder Ibiza, aber nicht an Rügen. Doch schon bald zieht die Schönheit der Insel sie in den Bann. Einziger Wermutstropfen: ihr Nachbar, der kaum ein freundliches Wort über die Lippen bringt – auch wenn er ganz attraktiv aussieht. Dann erscheint jedoch ihre Schwester Natty auf der Bildfläche, die nicht nur das Nachtleben von Binz entdeckt, sondern auch mit dem Nachbarn flirtet. Deike spürt so etwas wie Eifersucht und beschließt zu handeln ...

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Seitenzahl: 382

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Informationen zum Buch

Dünenmond

Die Liebe eines Sommers. Josefine fährt nach Ahrenshoop, um herauszufinden, wo ihr kürzlich verstorbener Vater seine Ferien verbracht hat. Hier lernt sie den eigenwilligen Eisverkäufer Jan kennen – und sie findet die geheimen Plätze, die ihr Vater auf seinen Bildern verewigt hat. Auf dem Darß entdeckt sie auch ein Foto, das ihn in einer innigen Umarmung mit einer Frau zeigt. Josefine beschließt, alles daran zu setzen, das Familiengeheimnis zu lüften.

Rügensommer

Schöne Tage am Meer. Als ihr Chef ihr mitteilt, sie solle ein neues Magazin auf einer angesagten Ferieninsel herausgeben, denkt Deike an Mallorca oder Ibiza, aber nicht an Rügen. Doch schon bald zieht die Schönheit der Insel sie in den Bann. Einziger Wermutstropfen: ihr Nachbar, der kaum ein freundliches Wort über die Lippen bringt – auch wenn er ganz attraktiv aussieht. Dann erscheint jedoch ihre Schwester Natty auf der Bildfläche, die nicht nur das Nachtleben von Binz entdeckt, sondern auch mit dem Nachbarn flirtet. Deike spürt so etwas wie Eifersucht und beschließt zu handeln.

Informationen zur Autorin

Lena Johannson, 1967 in Reinbeck bei Hamburg geboren, war Buchhändlerin, bevor sie freie Autorin wurde. Vor einiger Zeit erfüllte sie sich einen Traum und zog an die Ostsee. Bei Rütten & Loening und im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane „Dünenmond“, „Rügensommer“, „Himmel über der Hallig“, „Der Sommer auf Usedom“, „Die Inselbahn“, „Liebesquartett auf Usedom“, „Strandzauber“, „Sommernächte und Lavendelküsse“ sowie die Kriminalromane „Große Fische“ und „Mord auf dem Dornbusch“ lieferbar. Mehr Information zur Autorin unter www.lena-johannson.de.

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Lena Johannson

Dünenmond & Rügensommer

Zwei Romane in einem E-Book

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Dünenmond

I

II

III

IV

V

Rügensommer

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Epilog

Impressum

Lena Johannson

Dünenmond

Ein Sommer an der Ostsee

Roman

I

Josefine wollte eine Stufe hinabspringen. Im Traum. Ein heftiges Zucken lief durch ihren Körper. Sie wurde wach. Aus der Ferne hörte sie einen metallisch-dünnen Klang, ein Glöckchen. Allmählich orientierte sie sich, nahm den öligen Schweißfilm auf ihrer Haut wahr. Sie streckte träge den linken Arm über den Kopf, wühlte ihn in den warmen Sand. Das Ergebnis war eine Kruste aus Körnchen, die sie matt mit der Hand abstreifen wollte, was allerdings nur dazu führte, dass nun auch an der Handfläche Sand klebte. Die Sonne schien so grell vom Himmel, dass es selbst hinter den geschlossenen Lidern blendete. Der Ton der Glocke kam näher, wurde kräftiger. Es war eine Mischung aus Kuhglocke und Windspiel, wie Josefine fand.

Sie öffnete die Augen, blinzelte gegen die leuchtenden Ringe an, die die Sonne ihr durch die schützenden Lider direkt auf die Netzhaut gebrannt zu haben schien, und richtete sich auf. Sie fühlte sich benommen. Kein Wunder! Wer bei über dreißig Grad einschlief, musste sich nicht wundern, wenn er einen Sonnenstich bekam. Die letzten Monate in der Werbeagentur hatten deutliche Spuren hinterlassen. Zwar hatte Jo, wie ihre Kollegen sie nannten, erreicht, was sie wollte. Nun war sie aber auch restlos erschöpft, so erschöpft, dass sie in der größten Mittagshitze für mehrere Stunden eingeschlafen war.

Jo sog tief die salzige Luft ein, die von der Ostsee auf den Strand wehte, ohne wirklich zu kühlen. Endlich Urlaub! Sie hatte sich unbändig darauf gefreut und war fest entschlossen, jeden einzelnen Tag der zwei Wochen voll auszukosten. Eine Hand über die Augen gelegt beobachtete sie einen Mann, der einen kleinen Wagen nur wenige Schritte oberhalb der Wasserlinie über den Sand schob. Mit der anderen Hand tastete sie nach ihrer Sonnenbrille und setzte sie sich auf die Nase. Jetzt erkannte sie, wie dieser Mann, der offenbar ausgesprochen knackig gebaut und etwa in ihrem Alter war, zu einer Glocke griff und läutete.

»Kühles cremiges Eis!«, rief er. »Wer hat Lust auf Eis?«

Jo musste schmunzeln. Wenn das nicht der Brad Pitt von Ahrenshoop war, ein gut aussehender Kerl in Shorts und ärmelfreiem Shirt. Arme und Beine sahen nach regelmäßigem Training aus, waren nicht übertrieben muskulös, dafür aber verlockend gebräunt. Sie erhob sich von ihrem Handtuch und fischte etwas Kleingeld aus ihrer knallbunten Strandtasche. Ein Eis war jetzt genau das Richtige und eine gute Gelegenheit, einen echten Ostsee-Herzensbrecher aus der Nähe zu betrachten.

Vielleicht ist er gar nicht von hier, dachte sie, als sie mit schnellen Schritten über den noch heißen Sand hüpfte. Vielleicht war er von Sylt oder Timmendorfer Strand hierher gekommen, weil es dort zu viele Männer gab, die noch besser aussahen als er.

Vor dem kleinen Eiswagen, der dringend eine Renovierung hätte gebrauchen können, hatte sich eine kurze Schlange gebildet. Jo nutzte die Wartezeit, um ihre Füße in der Ostsee zu kühlen. Sie lauschte verzückt auf das leise rhythmische Rauschen, das von kleinen Wellen verursacht wurde, die in sich zusammenfielen und über den Sand ausliefen. Und da war noch das Klick-Klack eines knallrosa Balls, der von einer Mutter und ihrem Sohn mit Plastikschlägern möglichst lange in der Luft gehalten wurde. Jo hörte vor Vergnügen quietschende Kinder, lachende Erwachsene, das Platschen, wenn sich jemand kopfüber in die Fluten stürzte, und das Kreischen eines jungen Mädchens, das gerade noch ungestört auf ihrem Strandtuch gelegen hatte und über dessen Rücken ein junger Mann, ihr Freund wahrscheinlich, seine langen nassen Haare ausschüttelte. Kurzum: Sie konnte den Urlaub förmlich hören.

»Na, auch Lust auf ein Eis?«

Josefine hatte gar nicht gemerkt, dass sie bereits an der Reihe war. Sie sah in die freundlich grauen Augen des Eisverkäufers, der sie erwartungsvoll ansah.

»Allerdings«, antwortete sie fröhlich. »Welche Sorten sind denn im Angebot?«

»Kaffee und Vanille.«

»Das ist alles?« Jo schüttelte den Kopf. Mit so einer geringen Auswahl würde der gute Mann keine großartigen Geschäfte machen.

»Das ist alles«, gab er gut gelaunt zurück. »Es gibt jeden Tag zwei Sorten. Hausgemacht. Wenn Sie mein Eis einmal probiert haben, rühren Sie kein anderes mehr an.«

»Soso«, gab sie spöttisch zurück. »Dann gehe ich das Risiko mal ein und nehme zwei Kugeln.«

»Gerne!«

Während der Eismann ihr eine Waffeltüte füllte, die intensiv nach Mandeln duftete, nutzte Jo die Chance, ihn eingehend zu betrachten. Sie musste sich eingestehen, dass ihr erster Eindruck nicht stimmte. Die Shorts waren ausgefranst, das Shirt ausgeblichen, und die Naht auf seiner linken Schulter löste sich. Das blonde Haar war dick wie Wolle und störrisch. Die Sonne hatte es in ungleichmäßigen Flecken aufgehellt. Er benutzte kein Gel, und auch sonst deutete nichts daraufhin, dass er sich viel aus seinem Äußeren machte. Wie es aussah, war er keineswegs der Schönling, für den sie ihn zunächst gehalten hatte. Er hatte einfach Glück mit seinen Genen, zumindest was das Aussehen betraf.

Er reichte ihr die Tüte und sah ihr in die Augen. Jo fühlte sich ertappt. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass sie ihn so interessiert beobachtet hatte.

»Guten Appetit!«, sagte er und steckte das Geld in eine kleine mit Muscheln verzierte Blechbüchse. Er ließ sie nicht aus den Augen, während sie an der ersten Eiskugel leckte. »Und?«

»Hm«, machte sie, »das ist gut.« Sie schleckte noch einmal. »Das ist richtig gut!«

»Sag ich doch.«

»Warum eröffnen Sie keine hübsche kleine Eisdiele? Die Leute würden Ihnen die Bude einrennen.«

»Eisdielen gibt es doch schon an jeder Ecke. Da habe ich eine viel bessere Idee.«

»Die wäre?«

»Ein Franchise-Unternehmen.«

»Bitte?« Jo traute ihren Ohren nicht. Vor ihr stand ein erwachsener Mann mit einem jämmerlichen alten Karren, den man nur mühsam durch den weichen Sand rollen konnte, und er sprach von einem Franchise-Unternehmen.

»Eis am Strand«, verkündete er unbekümmert. »Verstehen Sie? Nicht Eis am Stiel, sondern eben …«

»Eis am Strand«, beendete sie in einem Ton, der verriet, wie wenig begeistert sie war. »Nicht gerade originell.«

»Wieso? Ist doch nicht schlecht.«

»Ja, aber nicht schlecht reicht nicht, wenn man Erfolg haben will. Sie müssen einzigartig sein. Der USP ist wichtig.«

»Der was?«

»USP, unique selling proposition, das Alleinstellungsmerkmal.«

Er lachte auf. »Du lieber Himmel!«

Jo ließ sich nicht beirren. Sie war in ihrem Element. »Im Ernst, das ist wichtig!« Sie leckte eilig das sahnige Eis, bevor es schmelzen und an der Waffel hinunterlaufen konnte. Zwischendurch überlegte sie laut, die Füße noch immer von den seichten Wellen der Ostsee umspült: »Sie brauchen Werbung. Woher sollen die Urlauber wissen, dass Ihr Produkt hausgemacht und besser ist als die Konkurrenzprodukte?« Sie legte den Kopf schief. »Sie brauchen ein großes Plakat. Nein, Sie müssen den Darß mit Plakaten pflastern. Und ein Corporate Design brauchen sie auch. Dringend!« Sie sah missbilligend auf den alten Holzkarren, der, wie es aussah, per Hand gestrichen und beschriftet worden war.

»Keine Ahnung, was Sie für schräge Ideen haben. Ich habe jedenfalls schon ziemlich genaue Vorstellungen. Und vor allem lasse ich es langsam angehen. Ganz entspannt.«

Jo holte Luft, um ihm zu widersprechen, dann fiel ihr etwas ein. »Wie spät ist es?«

»Gleich halb fünf.« Er sah sie ein wenig verständnislos an. »Ich dachte, Sie sind im Urlaub hier. Oder haben Sie noch Termine?«

»Mist, schon so spät. Doch, klar bin ich im Urlaub. Und wie! Darum habe ich ja einen Termin um fünf Uhr für eine Lomi-Lomi-Massage. Besser kann man sich nicht entspannen. Aber ich muss vorher unbedingt noch duschen. Da muss ich mich jetzt beeilen.« Sie knabberte an der Waffel, keine Massenware, sondern ebenfalls frisch und hausgemacht. »Ihre Idee hat Potential«, rief sie, während sie sich schon auf den Weg zu ihrem Handtuch machte. »Aber Sie müssen es richtig anpacken. Sind Sie jeden Tag hier?«

»So ziemlich.«

»Okay, dann sprechen wir später weiter. Ich muss wirklich los.« Sie sah seinen verblüfften Gesichtsausdruck. »Keine Sorge, ich weiß, wie man so etwas anfängt. Das ist mein Job.« Sie stopfte sich den Rest der Waffel in den Mund und drehte sich um.

»Danke«, hörte sie ihn noch sagen. Den Rest verstand sie nicht, denn mit jedem Schritt knirschte der Sand unter ihren Füßen, die Waffel zwischen ihren Zähnen, und eine Möwe ließ einen schrillen Ruf erklingen.

Josefine lief den Strandübergang acht hinauf, der sie geradewegs zu ihrem Hotel führte, einem lachsfarbenen Haus mit Rohrdach, das nur durch die Dorfstraße und eine Düne von dem breiten Strand getrennt war. Sie konnte von ihrem Zimmer aus durch ein halbrundes Fenster direkt auf eben diesen Strand schauen, auf den endlos scheinenden Sand, die rechtwinklig zum Uferlauf in die Ostsee gesetzten Buhnen, auf denen sich, wenn die Touristen ihre Unterkünfte aufsuchten und Ruhe einkehrte, wieder die Möwen tummelten und nach Beute Ausschau hielten, und auf das blau-graue Meer, das in der Sonne glitzerte. Während sie eilig duschte und sich dann in Bikini und Bademantel hüllte, dachte sie voller Stolz über das nach, was sie in ihrem Leben erreicht hatte. Sie war noch nicht einmal dreißig, hatte einen Silbernen Nagel des Art Directors Club verliehen bekommen, was in der Branche gewissermaßen als Ritterschlag galt, und würde nach dem Urlaub als Brand Managerin mit beachtlichem Budget und mindestens ebenso großer Verantwortung anfangen. Sie wohnte in einer ruhigen kleinen Straße mitten in Hamburg in einer großzügigen Altbauwohnung, die sie in einigen Jahren kaufen wollte. Was noch hätte sie sich wünschen können?

Zwei Stunden später schlenderte sie die Dorfstraße entlang. Ihre Haut war noch ölig von der hawaiianischen Massage, ihre Schultern und ihr Nacken fühlten sich so leicht an wie seit Jahren nicht mehr. Immer wieder ließ sie ein wenig den Kopf kreisen und stellte überrascht fest, dass nichts mehr knirschte, blockierte oder schmerzte.

»Der Rücken ist der Sitz der Vergangenheit«, hatte die Masseurin gesagt. So ein Unsinn! Er war der Sitz der Schreibtischarbeit, der vielen Stunden vor dem Computer oder an den Tischen der Grafiker, über Entwürfe gebeugt. Josefine scherte sich aber nicht um solches Gerede, solange die Behandlung, für die sie nicht wenig Geld hatte auf den Tisch legen müssen, nur effektiv war. Nun war sie auf der Suche nach einem schicken Restaurant, in dem sie zu Abend essen würde. Statt jedoch Speisekarten zu studieren, fand sie sich immer öfter vor den Schaufenstern der Galerien und kleinen Läden wieder, in denen Ahrenshooper Künstler ihre Bilder anboten. Sie betrachtete die kleinen und großen Werke in Öl oder Acryl. Sie zeigten Rohrdachhäuser, Kraniche über dem Bodden und im Schilf, bedrohlich über die Buhnen brandende Wellen, die Steilküste leuchtend orange angestrahlt und natürlich immer wieder Sonnenuntergänge. Traditionelle Zeesenboote vor Sonnenuntergang, Sonnenuntergang über der Ostsee, Reetdachhaus vor Sonnenuntergang.

Jo konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. Herrgott, wie kitschig! Da waren ja die Bilder ihres Vaters noch besser. Nun hatte er sich also doch in ihre Gedanken geschlichen. Das hatte ja so kommen müssen. Jedes Jahr war er vier und manchmal sogar sechs Wochen hierhergekommen, um zu malen. Immer allein, immer ohne Josefine und ihre Mutter. Jos Vater war Grafikdesigner gewesen. Die Landschaftsmalerei war sein Hobby, sein Ausgleich. Er liebte seine Familie, sein Leben in Hamburg. Das hatte er jedenfalls immer behauptet. Aber einmal im Jahr brauche doch jeder eine Zeit ganz für sich allein. Mit Frau und Kind hätte er sich nicht auf seine Bilder konzentrieren können, war sein ständig wiederkehrendes Argument gewesen, wenn es alljährlich darum gegangen war, doch endlich einen Familienurlaub zu verbringen. Josefines Mutter hatte darum gekämpft, jedes Jahr aufs Neue. O nein, sie hatte niemals aufgegeben. Doch genutzt hatte es nichts. Im Frühling oder Spätsommer packte er seine Sachen, seine Pinsel und Farben, seine verkrustete Palette und die bekleckste Staffelei und machte sich auf den Weg nach Ahrenshoop. Noch heute schnürte es Jo die Kehle zu, wenn sie sich an die Wut, an die grenzenlose Enttäuschung erinnerte, die sie als Kind und später als Teenager empfunden hatte. Als Studentin wollte sie allein oder mit Freunden verreisen. Trotzdem kam die Auseinandersetzung jedes Jahr wieder, wie nach der Ebbe die Flut kommt. Jo kämpfte nun für ihre Mutter, die sich weiß Gott gut allein beschäftigen konnte. Er hätte alle Zeit der Welt gehabt, um ungestört zu malen, hätte danach ein paar kostbare Stunden mit seiner Frau verbringen können. Was war das für eine Ehe, wenn man diese besondere Zeit im Jahr, diese ganz besondere Zuneigung zu der Halbinsel nicht miteinander teilte? Josefines Vater war stur geblieben, ihre Mutter kämpferisch, irgendwann aber auch immer trauriger. Und dann war der Krebs gekommen, und der Vater hatte nicht mehr reisen können.

Jo schüttelte den Gedanken an ihn ab, betrat das nächstbeste Restaurant und beschloss, die kommende Nacht zum Tag zu machen. Wäre doch gelacht, wenn es hier nicht irgendwo eine Musikbar gäbe, in der man Spaß haben konnte.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und es war sehr heiß, als Jo am nächsten Tag an den Strand kam. Sie hatte leichte Muskelschmerzen unterhalb der Schulterblätter und einen zauberhaften kleinen Kater. Nicht so stark, dass er ihr den Tag verderben konnte, aber gerade stark genug, um sie an einen wirklich gelungenen Abend zu erinnern. Es war bestimmt nicht ihr letzter Besuch in der Cocktailbar am Strandübergang sieben. Zuerst war ihr die Einrichtung ein wenig verstaubt vorgekommen. Doch dann hatte sie sich von dem Charme und der Atmosphäre gefangen nehmen lassen. Hier blieb niemand lange allein, sondern kam mit anderen Gästen ins Gespräch. Eine junge Frau, die etwa in Josefines Alter sein musste, hatte von den Jazz-Konzerten geschwärmt, die es regelmäßig in der Bar gab. Legendär seien die spontanen Auftritte von Musikern, die ihren Urlaub hier verbrachten oder nach einem Konzert in der Nähe auf einen Schlummertrunk vorbeischauten. Jo hoffte, dass sie auch bald einen solchen Abend erleben würde.

Sie warf ihre Tasche in den Sand, bohrte den Sonnenschirm, den sie am Morgen erstanden hatte, in den Boden und spannte ihn auf, breitete ihr Strandtuch aus und lief geradewegs ins Wasser, das glatt wie ein Spiegel da lag. Die Ostsee war ungewöhnlich warm. Die Sonne, die nun schon seit drei Wochen schien, ohne dass es einmal geregnet hätte oder Wind aufgezogen wäre, hatte sie auf diese hohe Temperatur gebracht. Schon unterhielten sich die Einheimischen darüber, dass dieses Wetter zwar gut für das Geschäft, aber gewiss nicht für die Fische war, deren Luft allmählich knapp würde. Ein kräftiger Sturm müsse her, der die See aufwirbeln und sie mit neuem Sauerstoff versorgen würde. Ein Temperatursturz wäre gut. Josefine fand das Wetter genau richtig. Das Unwetter sollte sich bitteschön bis nach ihrem Urlaub gedulden. Sie watete mit langen Schritten hinaus, freute sich über den schlammig-weichen Untergrund unter ihren Füßen und schwamm dann der Sonne entgegen.

Als sie schließlich kehrtmachte, stellte sie fest, dass die Strömung, von der sie nichts bemerkt hatte, sie ein gutes Stück ostwärts getrieben hatte. Mit kräftigen Zügen kraulte sie zurück ans Ufer und ließ sich endlich auf ihr Handtuch fallen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, sie keuchte. Zurück in Hamburg musste sie unbedingt wieder häufiger um die Alster joggen, wenn sie nicht völlig aus der Form geraten wollte.

Während die Sonne blitzschnell das Wasser auf ihrer Haut trocknete, lag Jo auf dem Bauch, ihr Kinn bohrte sich in die übereinander gelegten Hände. Sie blinzelte in die Richtung, aus der am Tag zuvor der Eismann mit seiner altertümlichen Karre gekommen war. Ein Eis würde ihr jetzt gefallen. Ebenso ein prickelnder Urlaubsflirt mit dem Eismann. Doch er war nicht zu sehen. Josefine blätterte in einem Magazin, ohne wirklich einen Artikel zu lesen. Ihre Gedanken wanderten zu der seltsamen Franchise-Idee. Sie könnte funktionieren, dachte sie, wenn man das Ganze als Marke etablierte. Eis am Strand … Sie lächelte. Okay, so schlecht war das gar nicht. Aber sie konnte es besser, wenn sie sich noch eine Weile damit beschäftigte.

Stunde um Stunde hockte sie im Schatten ihres Schirms, lief sie, die Beine bis zur Wade im Wasser, den Strand hoch und wieder zurück und verkroch sich vor der Hitze wieder unter dem Schirm. Längst war die Zeit verstrichen, zu der am Vortag das Glöckchen erklungen war. Ruhe kehrte ein, denn die meisten Familien mit Kindern verließen nach und nach den Strand. Nur hier und da zog noch ein Kopf einen Strich durch die glatte Wasseroberfläche, lag noch jemand dösend auf seinem Handtuch im Sand. Blechern wehten die Klänge aus einem Kopfhörer herüber, den ein Junge von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren trug. Sein Fuß kippte im Takt von einer Seite auf die andere. Was bei Jo ankam, war nur noch eine scheppernde Ahnung einer Melodie. Ein kleiner Mann mit dunklem Haarkranz, von der Sonne ledrig gebräunter Haut, mit weißer kurzer Hose und einem weißen Unterhemd begann damit, die ersten der roten Strandkörbe zum Schlafen zu legen. Der Eismann würde nicht mehr kommen. Schade.

Jo stand unter der Dusche und ließ sich lauwarmes Wasser über die erhitzte Haut laufen, das ihr fast kühl erschien. Zurück im Hotel hatte sie von ihrem Fenster aus noch ein wenig dem kleinen Mann mit der Lederhaut dabei zugesehen, wie er die Strandkörbe vor nächtlichen Besuchern gesichert hatte. Dann war sie unter die Dusche geschlüpft. Sie liebte ihren Job, aber diese Freiheit, völlig selbstbestimmt ohne das Diktat der Uhr den Tag zu verbringen, hatte ihre ganz eigene Qualität. Noch immer nagte ein wenig die Enttäuschung an ihr, den Eismann nicht getroffen zu haben. Morgen war ja auch noch ein Tag. Jos gute Laune überwog mit Abstand.

Aus Leibeskräften sang sie gegen das Rauschen des Wassers auf ihrem Kopf und das Prasseln der Tropfen an der Duschwand an: »I don’t want to talk about things we’ve gone through.« Ihr fielen die nächsten Zeilen nicht ein. Also summte sie weiter, ohne Worte zwar, aber mit immer mehr Gefühl. Die Duschkabine wurde zu ihrer Bühne. Dann fiel ihr der Refrain ein: »The winner takes it all«, schmetterte sie in den Wasserschwall. Den Duschkopf wie ein Mikrofon vor den Lippen, stieß sie in einer übermütigen Geste die Glastür auf.

Vor ihr stand der Eismann.

»Entschuldigung«, murmelte er. »Ich habe gerufen, aber Sie konnten mich wohl nicht hören.«

Josefine griff hinter sich, um das Wasser abzustellen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihre Nacktheit war ihr nicht halb so peinlich wie ihre Gesangsdarbietung mit Duschkopf.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte sie.

»Arbeiten.«

»Hier im Hotel?«

»Sieht fast so aus.« Er grinste hilflos und gleichzeitig amüsiert.

»Haben Sie denn einen Zwillingsbruder?«

»Nein, wieso?«

»Ich denke, Sie sind Eisverkäufer.«

»Stimmt, aber davon allein kann ich nicht leben. Noch nicht.«

Sie standen einander gegenüber. Josefine tropfend in der Dusche, er in einem blauen Overall, unter dem er anscheinend dasselbe ärmellose Shirt trug, das er neulich am Strand angehabt hatte. Während sie schwiegen, wurde Jo die Situation bewusst, in der sie sich befand. Ihm schienen die gleichen Gedanken durch den Kopf zu gehen.

»Oh, Entschuldigung, soll ich mich umdrehen?«, fragte er.

»Das fällt Ihnen ein bisschen spät ein«, antwortete sie. »Aber Sie könnten mir ein Handtuch geben.« Sie mussten lachen.

»Klar, Entschuldigung, hier.« Er reichte ihr eins von den großen Duschtüchern, in das sie sich sofort einwickelte.

»Was machen Sie konkret für einen Job?«

»Hausmeister, Elektriker, Klempner, was eben so anfällt. Ein Mann für alle Fälle sozusagen.«

»Und welchen Fall genau sollen Sie in meinem Zimmer lösen?«

»Die Dusche ist kaputt.«

Jo machte große Augen.

»Soll kaputt sein, hat man mir aufgeschrieben.« Er fischte einen kleinen Notizblock aus der Tasche, die vorne auf dem Latz der Hose war. »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Hatten Sie sich wegen der Dusche beschwert?«

»Nein, alles in Ordnung.«

»Hm.« Er legte einen Finger an die Lippen, eine Geste, die Jo an Laientheater erinnerte. Er starrte auf das Papier in seiner Hand, auf dem, wenn sie es richtig sah, höchstens drei oder vier Worte und ihre Zimmernummer standen. Er musste das bereits auswendig aufsagen können. Entweder war dieser Mann für alle Fälle viel unsicherer, als sie am Anfang angenommen hatte, oder genau das war seine Masche, und er spielte ihr etwas vor.

»Tja, dann haben Sie wohl eine falsche Information bekommen«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Scheint so.« Endlich konnte er sich von den Worten auf dem Notizblock lösen und steckte ihn wieder ein. »Dann gehe ich mal wieder.«

»Und? Was ist mit einer kleinen Entschädigung für den Schock?«

»Um ehrlich zu sein … Ich habe gerufen, damit Sie sich nicht erschrecken. Ich dachte, wenn Sie das Wasser abdrehen, rufe ich gleich noch mal. Dann hätten Sie das bestimmt gehört. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie bei laufendem Wasser und mitten in Ihrem Gesang aus der Dusche springen.«

»Ich bin nicht gesprungen«, stellte Jo richtig und spürte, wie sie bei der Erinnerung rot wurde.

»Sie haben übrigens eine hübsche Stimme.«

»Danke schön.«

»Okay, wären Sie damit einverstanden, wenn ich Sie morgen Abend so um sechs Uhr abhole? Dann zeige ich Ihnen etwas, das die wenigsten Urlauber zu sehen kriegen.«

»Klingt gut.«

»Okay, dann bis morgen.« Seine Augen blitzten vor Freude.

Josefine sah ihm nach. Seine nackten Füße steckten in Sandalen, die Hosenbeine waren ein bisschen schief bis kurz unter das Knie aufgekrempelt. Er hatte ebenso kräftige Waden wie Oberarme. Was das wohl sein würde, was die wenigsten Urlauber zu sehen bekamen? Sie hätte wetten können, dass er es schon vielen Urlauberinnen gezeigt hatte.

Der nächste Tag brachte einen leichten erfrischenden Wind, der kleine Schönwetterwolken über den blauen Himmel jagte. Jo kaufte sich auf dem Weg zum Strand einen Skizzenblock und einige Bleistifte unterschiedlicher Härte. Als Kind hatte sie gern mit Wasserfarben gemalt und eine Zeit sogar vorgehabt, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Doch seine Malerei war schließlich schuld daran, dass mindestens einmal im Jahr der Familienfrieden gestört war. Deshalb hatte sie mit vierzehn Malblock und Tuschkasten in eine Schublade verbannt und nicht mehr hervorgeholt. Wenn sie ehrlich war, hatte sie das Zeichnen immer vermisst. Und so hatte es sich zumindest einen kleinen Weg zurück in ihr Leben gebahnt. Während der kreativen Sitzungen in der Werbeagentur, in der sie nun schon seit fünf Jahren angestellt war, kritzelte sie ganze Notizblöcke und manchmal sogar ihre Arbeitsunterlagen voll. Sie zeichnete, was ihr zu einem Produkt in den Sinn kam, bannte ihre Kollegen in wenigen treffenden Strichen auf Papier, wie sie mit nachdenklich in Falten gelegter Stirn um den achteckigen Konferenztisch saßen, oder setzte zeichnerisch die Slogans um, die aus den Kreativen nur so sprudelten. Im Laufe der Zeit hatte sie einen eigenen Stil entwickelt und zeichnete fast nur noch Karikaturen, die im Kollegenkreis heiß begehrt waren. Kein Geburtstag verging, kein Betriebsfest, zu dem sie nicht gebeten wurde, eine Einladung oder einen Glückwunsch zu gestalten.

Josefine begrüßte den Strandkorbvermieter mit dem dunklen Haarkranz, der sie an die Tonsur eines Mönchs erinnerte. Er hatte ein freundliches Gesicht mit fröhlichen runden Augen. Sie war sicher, dass er ein gutes erstes Motiv abgeben würde. Doch als sie endlich soweit war, dass es losgehen konnte, drängten sich andere Motive förmlich vor. Eine rundliche Frau, die ihren Sonnenschirm immer wieder neu ausrichten musste, weil der von den Böen auf die Seite gelegt oder gar komplett aus dem Sand gehoben wurde. Ein hagerer Mann, der sich bei den Strandkorbnachbarn entschuldigen musste, weil das mit bunten Papageien bedruckte Hüfttuch seiner Frau zu ihnen hinüber gesegelt war und sich ausgerechnet über das Gesicht des bis dahin schlafenden Mannes gelegt hatte. Und auch die Kinder gaben herrliche Vorlagen ab, die ihre Handtücher ausschüttelten, ohne auf die Windrichtung zu achten, und damit einen kleinen Sandsturm auf ihre Eltern auslösten, oder die den Rücken der Mutter mit viel zu viel Sonnencreme einschmierten.

Mit wachsender Freude füllte Jo Blatt um Blatt. Erst der Klang eines Glöckchens am Nachmittag riss sie aus ihrer Konzentration. Sie sah auf und erkannte in der Ferne den Eismann mit seinem Wagen. Sie schob Skizzenblock und Stifte in die Tasche, löste die Beine aus dem Schneidersitz und dehnte sich ausgiebig. Wenn sie so weitermachte, würde sie sich noch die eine oder andere Massage gönnen müssen. Der Wind fuhr ihr durch das kurze Haar und brachte salzige Luft mit. Sie schloss kurz die Augen und dachte an die Verabredung, die sie mit dem Eismann hatte. Ein Kribbeln im Bauch signalisierte Aufregung. Oder war das nur das Knurren ihres Magens? Immerhin hatte sie außer etwas Obstsalat am Morgen noch nichts gegessen. Ein Eis wäre nicht schlecht, dachte sie, wusste aber nicht, ob sie nicht lieber desinteressiert auf ihrem Handtuch sitzen bleiben sollte. Sie konnte ihm ja von weitem zuwinken, so, als hätte sie ihn erst im letzten Moment gesehen. Sie könnte sich auch schlafend stellen, aber womöglich hatte er sie schon entdeckt und wusste, dass sie wach war.

Unsinn, tadelte sie sich selbst in Gedanken. Du holst dir jetzt ein Eis und benimmst dich nicht wie ein peinlicher Teenager. Sie griff nach ein paar Münzen und ging ihm entgegen.

»Moin«, rief er an seinen anderen Kunden vorbei, die bereits wieder eine kleine Schlange bildeten.

»Moin«, rief Jo zurück und wartete, bis sie an der Reihe war.

»Na, Schock von gestern verdaut?«, fragte er mit unübersehbarer Schadenfreude.

»Ziemlich. Und selbst?«

»Ich bin nicht sicher, ob ich meinen Job im Hotel nach dieser unheimlichen Begegnung weiter ausüben kann.« Er grinste. »Heute gibt es Himbeer und Erdbeer-Joghurt.«

»Von jeder Sorte eine, bitte.«

»Es war übrigens ein Zahlendreher, der uns in diese lustige Situation gebracht hat. Die Dusche in Zimmer einundzwanzig war kaputt, und …«

»Und zwölf stand auf dem Zettel. Großartig.« Sie machte den nächsten Kunden Platz, einer Mutter mit zwei blonden Mädchen mit Zöpfen, blieb aber noch ein wenig neben dem Wagen stehen.

»Ich bin übrigens Josefine«, sagte sie und schleckte an ihrem Eis.

»Ich weiß.«

Sie stutzte kurz. »Klar«, sagte sie dann. Natürlich, er arbeitete in ihrem Hotel. »Aber ich mag den Namen nicht besonders, deswegen werde ich Jo genannt.«

»Also: Jo. Ich bin Jan, und ich mag meinen Namen.«

Die blonden Mädchen rannten mit ihren Eistüten über den Strand, während ihre Mutter bezahlte. »Seid vorsichtig, dass es nicht runterfällt«, rief Jan ihnen nach.

»Na dann, bis später.« Jo nickte ihm noch einmal zu und ging dann zurück zu ihrem Handtuch. Sie holte ihren Zeichenblock hervor und überlegte kurz, ob sie Jan, den Eismann, rasch skizzieren sollte, aber mit Eis in der Hand war das keine sehr gute Idee. Sie blätterte durch die bekritzelten Seiten. Überrascht stellte sie fest, dass auf dem letzten Blatt die Wellen zu sehen waren, die um die Buhnen schäumten und sich daran brachen. Jetzt malte sie schon die Motive, die zuhauf in den Galerien standen. Na ja, wenigstens keinen Sonnenuntergang.

Jan war pünktlich. Er trug ein schwarzes T-Shirt, eine auf Oberschenkelhöhe abgeschnittene Jeans, aus deren Saum die Fransen hingen, und ein offenes Jeanshemd. Jo hatte sich für eine Leinenhose und eine ärmellose Bluse entschieden. Der Wind hatte noch mehr aufgefrischt, weshalb sie sicherheitshalber ein großes Schultertuch mitnahm.

»Moin«, rief er ihr entgegen, als sie aus dem Hotel trat. Jo war dieser Gruß zwar vertraut, in Hamburg allerdings benutzte man ihn für gewöhnlich nur bis zur Mittagszeit.

»Hallo«, sagte sie.

»Der Wind ist goldrichtig«, verkündete er begeistert und fügte schnell hinzu: »Wir müssen uns beeilen. Mein Auto steht nicht so gut.« Er griff ganz selbstverständlich nach ihrem Arm und zog sie hinter sich her.

Sie liefen über die Terrasse. Von der Treppe, die zu dem lachsfarbenen Rohrdachhaus führte, konnte Jo einen weißen Käfer sehen, der mit eingeschalteter Warnblinkanlage mitten auf der Fahrbahn stand.

»Da drüben ist doch ein großer Parkplatz. Wäre es nicht besser gewesen, kurz darauf zu fahren?«

»Hat sich nicht gelohnt. Wir sind doch gleich wieder weg.«

Er winkte freundlich einer Autofahrerin zu, die wild gestikulierte, weil sie aufgrund des starken Gegenverkehrs nicht an Jans Wagen vorbeigekommen war. Sie fuhren die Dorfstraße entlang und dann zum Althäger Hafen.

»Ich werde nie begreifen, dass die Touristen es immer so eilig haben. Ihr seid doch im Urlaub hier. Wenn wir drängeln würden, weil wir nämlich zur Arbeit oder einer Verabredung müssen, okay. Aber ihr?« Er schüttelte verständnislos den Kopf, allerdings nicht missbilligend. Er verstand es einfach nicht. Ganz nebenbei war er zum Duzen übergegangen. Bisher war Jo Gast im Hotel, für das er arbeitete, oder eine Kundin, die sein Eis kaufte. Jetzt hatte er Freizeit, und sie war einfach eine Frau in seinem Alter.

»Der Käfer ist wohl mindestens so alt wie der Eiswagen, oder?«, fragte Jo, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.

»Nee, der Eiswagen ist viel älter.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Doch, warum nicht? Ich stehe auf alte Sachen.«

»Hm«, machte Jo.

Er stellte den Wagen in der Einfahrt eines Privathauses ab.

»Wann erfahre ich denn, was du mir zeigen willst?«, fragte Jo.

»Das siehst du, sobald wir am Hafen sind.«

Nach wenigen Schritten standen sie am Hafenbecken, das sich nicht zum offenen Meer, sondern zum Saaler Bodden öffnete, einem Gewässer zwischen Fischland und Festland.

»Und?« Jo war irritiert. Da waren eine Menge Segelboote in verschiedenen Größen, die munter auf dem bewegten Wasser schaukelten. Auch ein Zeesenboot war dabei, eines jener Traditions-Fischerboote, die zu den touristischen Attraktionen der Region zählten. In das Räucherhaus, einem weißen Restaurant, das direkt auf den Bodden blickte, strömten hungrige Menschen. Etwas, das Urlauber üblicherweise nicht zu sehen bekamen, konnte sie nicht entdecken. Sie musste an seine Bemerkung denken, dass der Wind gerade richtig sei, und daran, dass er alte Dinge mochte.

»Das Zeesenboot würde zu dir passen«, mutmaßte sie, »aber das kriegt doch nun wirklich jeder Tourist zu sehen.«

»Nee!« Er schüttelte den Kopf. »Irgendein Zeesenboot kriegt jeder zu sehen. Aber nicht das hier. Und schon gar nicht aus der Nähe.«

An Bord des Zweimasters, den Jo auf etwa zehn Meter Länge schätzte, war ein Mann mit Leinen und Takelage beschäftigt.

»Moin, Sönke«, rief Jan.

Der Mann wandte sich ihnen zu und hob die Hand zum Gruß. Jo nickte ihm zu und lief hinter Jan her, der bereits auf dem Steg war.

»Bitte mit Landratte an Bord kommen zu dürfen.«

»Hey«, protestierte Jo, »ich bin schon auf der Alster gesegelt.«

»Hallo, ich bin Sönke, willkommen auf der Aldebaran!« Er streckte ihr eine Hand entgegen und legte für einen Moment die Stirn in Falten, als versuche er, sich an irgendetwas zu erinnern.

»Danke, ich bin Jo.«

»Sie heißt Josefine. Das klingt viel schöner«, meinte Jan.

»Das klingt altmodisch«, widersprach sie.

»Dann wollen wir mal los, solange der Wind so günstig steht.« Sönke, ein Mann von schätzungsweise Ende dreißig mit bereits schütterem schwarzen Haar, begann, die Segel zu setzen.

»Setz dich am besten dort rüber«, meinte Jan und deutete auf eine Holzbank, auf der blau-weiß gestreifte Sitzkissen lagen. »Da bist du nicht im Weg.«

»Toll, danke«, antwortete Jo wenig begeistert. Wäre ich im Hotel geblieben, wäre ich überhaupt nicht im Weg, dachte sie. Sie musste auf dem schwankenden Schiff, das sich langsam vom Ufer entfernte, mühsam die Balance halten. Es wäre bestimmt das Beste, wenn sie sich irgendwo hinsetzte, wo sie nicht störte. Trotzdem fragte sie: »Kann ich nicht helfen?«

»Nein, nein, danke, wir machen das schon«, rief Sönke. Er warf ihr einen kurzen freundlichen Blick zu und kümmerte sich dann wieder um die Segel. Jeder Handgriff saß, die beiden Männer schienen ein eingespieltes Team zu sein. Wahrscheinlich fuhren sie oft gemeinsam raus und nahmen Frauen vom Festland mit, die ihre Ferien in Ahrenshoop verbrachten.

Die rotbraunen Segel – das kleinste erinnerte an die Segelform chinesischer Dschunken – blähten sich bald im Wind. Es war trotz der kräftigen Brise noch immer warm, und so drehte Jo ihr Gesicht in die Abendsonne und freute sich auf den Ausflug.

»Warum segelt ihr nicht draußen auf der Ostsee? Wäre das nicht reizvoller?«, wollte sie wissen.

»Überhaupt nicht«, antwortete Sönke. »Von der Ostsee aus sieht man doch immer nur den Strand und endlos viel Wasser. Der Bodden ist das schönere Revier.«

»Warte, bis du die Landschaft gesehen hast«, ergänzte Jan. »Dann verstehst du, was wir meinen. Das macht den Darß aus. Deshalb kommen mehr Maler hierher als zum Beispiel in die Buchten in Schleswig-Holstein.«

Es dauerte nicht lange, dann hatte das Boot seinen Rhythmus gefunden und glitt ruhig, geradezu lautlos und überraschend zügig durch das dunkle Wasser. Hier und da bildeten sich kleine Wellenkämme, die bernsteinfarben in der Sonne funkelten. Sönke lenkte das Boot vorbei an Sandbänken, auf denen sich Wasservögel mit langen gebogenen Schnäbeln ihre Beute streitig machten. Auf der Landseite war auf weiter Strecke Schilf zu sehen, dahinter zunächst noch Häuser, später dann blühende Sommerwiesen und vom Wind gebeugte Kiefern, die mit ihren knorrigen Ästen wie bizarre Märchengestalten aussahen.

»Es ist wirklich wunderschön«, seufzte Jo.

»Hier hört der Darß auf, und Fischland fängt an«, erklärte Jan. »Aber die meisten sagen Darß zur gesamten Halbinsel. Bist du zum ersten Mal hier?«

»Ja.«

»Ich hätte schwören können, ich habe dich hier schon gesehen«, sagte Sönke und sah sie wieder so nachdenklich an wie bei der Begrüßung. »Du kommst mir irgendwie bekannt vor.«

»Ha, ganz plumper Versuch, mein Lieber«, sagte Jan lachend.

Jo lächelte, dann wurde sie wieder ernst und erzählte: »Mein Vater war früher oft hier. Er hat gemalt. Ich wollte endlich mal sehen, ob es hier wirklich so schön ist, wie er immer behauptet hat.«

»Und?« Jan ließ sich neben ihr auf die Bank fallen und sah sie erwartungsvoll an. Er hatte ausdrucksstarke graue Augen.

»Ich kann verstehen, warum er so gerne hergekommen ist.« Leiser setzte sie hinzu: »Aber ich werde nie verstehen, warum er uns nicht dabei haben wollte.« Sie spürte seinen Blick, der noch immer aufmerksam auf sie gerichtet war.

»Aldebaran klingt hübsch«, rief sie Sönke zu. »Hat der Name eine Bedeutung?«

»Ja, das ist der Name eines Sterns. Er ist einer der hellsten Sterne am Himmel und gehört zum Bild des Stiers. Er diente den Seeleuten früher als Orientierung. Wer nach den Sternen navigieren kann, richtet sich auch heute noch oft nach dem Aldebaran, weil er so gut zu erkennen ist.«

»Interessant«, sagte sie.

»Noch viel interessanter als der Name ist das Boot selbst«, warf Jan ein. »Es ist nämlich wirklich alt.«

»Das war ja klar«, meinte Jo und grinste.

Jan ging nicht darauf ein. »Im Ernst, viele der Zeesenboote, mit denen Touren angeboten werden, sind höchstens zwanzig Jahre alt, Nachbauten eben. Oder sie sind älter, wurden aber mit modernen Mitteln aufgemotzt. Das Boot hier wurde 1924 gebaut. Sönke hat es ganz allein und vor allem traditionsgemäß restauriert.«

»Alle Achtung.« Jo war wirklich beeindruckt.

»Er übertreibt. Allein ist das nicht zu schaffen. Jan hat mir unheimlich viel geholfen. Und noch ein paar Kumpels.«

»Wo genau ist der Unterschied zwischen modernisierten Schiffen und diesem hier?«

»Wir haben uns einfach an originale Baupläne und Abbildungen gehalten. Als ich die Aldebaran gekauft habe, hatte sie zum Beispiel achtern ein Ruderhaus. Das hat da natürlich nicht hingehört und ist wieder weggekommen.«

»Aha«, machte Jo, ohne zu verstehen, was an einem nachgerüsteten Ruderhaus wohl schlecht sein sollte.

»Das geht schon bei der Beplankung los«, erklärte Jan. »Die meisten nehmen irgendein Holz, das ihnen gefällt und das robust und wetterbeständig ist.«

»Genau. Das gilt auch für die Segel. Die lassen sich die meisten schon in Braun anfertigen. Und zwar aus Kunstfasern, Polyamid, Polyester und so einem Zeug.«

»Und dann verkaufen sie das als historisches Zeesenboot!« Jan schüttelte den Kopf, und Sönke nickte.

»Woraus sind denn diese Segel?«, wollte Jo wissen und blickte an den Masten hoch. Sie fand, dass die anderen Boote dieser Art, die sie auf Bildern gesehen hatte, von diesem hier optisch nicht zu unterscheiden waren.

»Baumwolle und Leinen«, antwortete Sönke. Sein Stolz war nicht zu überhören. »Gefärbt mit ausgekochter Eichenrinde, Öl, Fett, Holzteer und Ockererde.«

»Noch früher hat man Ochsenblut verwendet«, warf Jan ein. »Aber später dann eben Ockererde. Das ist historisch vertretbar.«

»Was ist besser an Leinen und Baumwolle?«, fragte Jo weiter, die gern verstehen wollte, warum die beiden Männer offenbar so viel Wert auf diese Art der Restauration gelegt hatten. »Ist die stabiler, oder hat sie bessere Eigenschaften?«

»Im Gegenteil.« Sönke seufzte und betrachtete einige Sekunden den rötlich braunen Stoff, der nun straff gespannt im Abendlicht zu glühen schien. »Die natürlichen Materialien lassen mehr Wind durch, nehmen mehr Feuchtigkeit auf und werden dadurch sehr schwer, wenn sie einmal richtig nass sind. Außerdem macht ihnen die UV-Strahlung schwer zu schaffen. Die Segel müssen viel öfter ausgetauscht oder notfalls geflickt werden als solche aus Kunstfaser.«

Tatsächlich. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass der Stoff hier und da schon dünn wurde.

»Das ist nun mal so«, seufzte Sönke und machte sich daran, die Segel einzuholen.

»Klar hätten moderne Membransegel echte Vorteile«, nahm Jan das Thema noch einmal auf. »Aber sie gehören einfach nicht auf ein historisches Boot. Genauso wenig wie ein Motor. Der ist als erstes rausgeflogen.«

Jo zog eine Augenbraue hoch. »Und wenn ihr Flaute habt? Ich meine, man muss den Motor ja nicht dauernd benutzen. Aber für den Notfall …«

»Dann muss man sich ein zeitgemäßes Boot kaufen. Da ist ein Motor okay.«

Sie ankerten unweit des Boddenhafens von Dändorf. Sönke holte aus den Tiefen des Rumpfes, aus dem Hohlraum, in dem sich vermutlich einmal der überflüssige Motor befunden hatte, eine Holzkiste hervor. Sie war mit blau-weiß kariertem Stoff ausgeschlagen. Zum Vorschein kamen zwei Flaschen Wasser, Baguette, Käse, Oliven, Tomaten, Salz und Pfeffer, Weintrauben, Cracker und eine kleine Auswahl Räucherfisch. Der Skipper machte nicht den Eindruck, als sei er ein großer Verführer oder Frauenheld. Trotzdem schien er sehr genau zu wissen, womit ein weiblicher Gast zu beeindrucken war. Er hatte diese Kiste gewiss nicht zum ersten Mal gepackt. Mit geübten Handgriffen wurde aus der nun leeren Kiste ein kleiner Tisch. Sönke holte aus einer anderen Luke Geschirr und Besteck. Selbstverständlich aus Keramik und Metall; Plastik kam ihm nicht an Bord.

»Bitte«, sagte er, »bedien dich.«

»Vielen Dank.«

»Es gibt nur Wasser«, ergänzte er mit entschuldigendem Lächeln. »Bier oder Wein habe ich nie auf dem Schiff. Das wäre so, als würde man Alkohol im Auto trinken, finde ich.«

»So habe ich das bisher nicht gesehen«, gestand Jo lächelnd. »Kein Problem, das ist ein ganz herrliches Picknick.«

Während sie aßen, erzählten die beiden Männer von der Fischerei mit Zeesenbooten, die ihren Namen von ganz speziellen Fangnetzen, den Zeesen, hatten.

»Mönche sollen diese Art des Fischfangs erfunden haben«, berichtete Jan kauend. »Darum heißt das Netz im Plattdeutschen auch noch Mönkesack.«

Beide schilderten so lebendig die Vergangenheit dieses sehr speziellen Schiffstyps, dass Jo sich zurückversetzt fühlte in eine aufregende Zeit, in der die Boote als Last-, Hochzeits- oder Totenschiffe unterwegs gewesen waren. Vor ihrem geistigen Auge kreuzten die hübschen flotten Segler im Krieg als Kuriere und unter dem Kommando von Schmugglern durch die Boddengewässer und gewiss auch über die Ostsee. Außer den Stimmen, dem Glucksen des Wassers, den Seilen, die ab und zu gegen einen Mast schlugen, und dem Pfeifen und Rauschen des Windes war nichts zu hören. Jo konnte kaum glauben, dass es eine solche Ruhe überhaupt noch gab, ohne zumindest in der Ferne lärmenden Straßenverkehr, ohne allgegenwärtige Mobiltelefone, ohne ein Radio oder Fernsehgerät.

Fast unbemerkt hatte sich die Nacht über das alte Boot gespannt. Sönke zündete die Positionslaternen an und sagte: »Der Wind flaut ab. Wir sollten Segel setzen, wenn wir heute noch nach Hause kommen wollen.«

Schweigend fuhren sie zurück. Jo konnte sich nicht satt sehen an dem Schilf, das sich schemenhaft im gelben Kegel der Laternen zeigte, und an den Lichtern, die wie Sterne auf der Halbinsel aufblitzten. Als sie schließlich in den Althäger Hafen glitten, fühlte sie sich berauscht, als hätte sie Wein statt Wasser getrunken.

»Vielen, vielen Dank«, sagte sie und drückte Sönke fest die Hand. »Das war ein wundervoller Ausflug. Das Boot ist wirklich etwas ganz Besonderes. Da hat Jan nicht zu viel versprochen. Ich hoffe, ich kann mich irgendwie für die Fahrt und das Essen revanchieren.«

»Gern geschehen«, gab der Skipper zurück. »Ich freue mich immer, wenn ich die Aldebaran vorführen darf.«

»Warum bietest du keine regelmäßigen Fahrten für Urlauber an?«

»Das ist ohne Motor nicht zu machen. Der Wind spielt nicht immer so mit wie heute. Außerdem ist sie so etwas wie ein Museumsboot.« Er betrachtete den alten Kahn liebevoll. »Sie ist für den regelmäßigen Betrieb nicht geschaffen.«

Die Männer verabschiedeten sich, dann waren Jo und Jan allein. Sie schlenderten den Weg hoch, der vom Hafen zur Straße führte.

»Ich bringe dich zum Hotel«, sagte Jan.

»Danke.« Jo steuerte auf seinen Käfer zu, der im Schein einer Straßenlampe auftauchte.

»Nein, wir gehen zu Fuß«, verkündete er. »Ich habe Sönke den Schlüssel da gelassen. Er muss morgen nach Stralsund.«

»Musst du denn in die gleiche Richtung? Ich meine, ich kann sonst auch alleine laufen.«

»Nee, nee, besser nicht. Die Wege sind nicht alle gut beleuchtet. Besser, ich bringe dich zum Hotel. Ich wohne sowieso ganz in der Nähe.« Er hakte sie unter, wofür Jo nicht undankbar war. Zumindest in den kleinen Seitenstraßen schien Beleuchtung von den Einheimischen für überflüssigen Schnickschnack gehalten zu werden. Sie musste höllisch aufpassen, dass sie auf dem Kopfsteinpflaster nicht stolperte. Gott sei Dank trug sie flache Schuhe. Mit Absätzen wäre sie hier verloren, und vermutlich hätte sie die Aldebaran gar nicht betreten dürfen.

In der Luft lag eine eigentümliche Duftmischung aus Salz, Fisch und Flieder. Jo schnupperte genüsslich. Jan sah sie fragend an.

»Es riecht so gut. Überhaupt: Es ist wirklich sehr schön hier«, sagte sie leise. Dann lachte sie: »O je, ich werde noch sentimental.«

»Wäre das so schlimm?«

»Und wie!«

Sie hatten die Hauptstraße erreicht. Hier saßen noch einige Nachtschwärmer auf den Terrassen der Lokale. Auf den Tischen standen Windlichter und gefüllte Gläser. Viel war hier, verglichen mit Hamburg, nicht los. Trotzdem nahm Jo die Menschen und die Geräusche mit einem Mal viel intensiver wahr als vor dem Ausflug.

»Na, Entschädigung akzeptiert?«, fragte Jan sie, als sie vor dem Hotel ankamen.

»Das war weit mehr als eine Entschädigung. Ich glaube, jetzt muss ich mich revanchieren. Darf ich dich noch auf ein Bier einladen?«

»Lieber nicht, ich habe morgen früh Dienst im Hotel.«

»Dann schließe ich wohl besser meine Tür ab«, witzelte Jo, um ihre Enttäuschung zu überspielen.

»Morgen Abend würde mir passen.«

»Okay, gern.«

Jan schien einen Augenblick zu zögern und küsste sie dann sehr vorsichtig auf die Wange. Seine Bartstoppeln kratzten, aber er hat volle weiche Lippen. Seine Wärme und die Zartheit dieser Geste, die so gar nicht zu ihm passen wollte, gefielen Jo gut.

II

Am nächsten Morgen fand Jo einen Zettel auf dem Parkettfußboden, den jemand unter ihrer Tür hindurch geschoben hatte.

Hole Dich um 21 Uhr ab. Freue mich auf Dich, Jan, stand darauf.

Jos Herz machte einen Hüpfer. Sie freute sich auch auf ihn. Den ganzen Tag musste sie wie ein verknallter Teenager an ihn denken und wunderte sich immer wieder darüber, wie sehr er sie doch überrascht hatte. Sie musste sich eingestehen, dass sie einem Mann von zweiunddreißig, der in einem kleinen Dorf geboren worden war und nun wieder dort lebte, grundsätzlich nicht viel zutraute. Sie hatte Vorurteile, so viel stand fest. Sie war tatsächlich davon ausgegangen, dass ein solches Land-Ei zumindest ein wenig einfältig sein musste. Doch am Abend zusammen mit seinem Freund Sönke hatte Jan sich als interessierter weltoffener Mensch präsentiert, der ein halbes Jahr in Madrid und zwei Jahre in London gelebt hatte, um die Sprachen der Länder zu lernen und Erfahrungen im Ausland zu sammeln. In Madrid hatte er sich seinen Aufenthalt als Nachtwächter im Kunstmuseum verdient, in London als Nachtportier in drei verschiedenen Hotels. Jo konnte nicht begreifen, dass er mit seinem offenkundigen Sprachtalent und diesen Erfahrungen auf den Darß zurückgekommen war. Doch wenn sie gründlich darüber nachdachte, hätte sie ihn soweit noch verstehen können. Aber warum hatte er nicht beispielsweise eine Hotelfachschule absolviert und sich in seiner schönen Heimat selbständig gemacht? Stattdessen lief er im Blaumann herum oder schob einen altersschwachen Eiswagen über den Strand. Reine Verschwendung in ihren Augen.

Der Wind vom Vortag hielt an, und der Himmel war bedeckt. Genau richtig, um einen Streifzug durch die Galerien zu unternehmen. In Prerow entdeckte Jo eine Cartoon-Ausstellung