Dunkles Flüstern - Tasha Winter - E-Book

Dunkles Flüstern E-Book

Tasha Winter

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Beschreibung

Dieses Dorf wird dich verschlingen. Vor zehn Jahren wurde in Wolfsgrund ein junges Mädchen ermordet. Lukas, damals achtzehn Jahre alt, gehörte zu den Verdächtigen. Er kehrte seinem Heimatdorf den Rücken und lebt als Privatdetektiv in Berlin. Nie wieder möchte er zurückkehren. Doch dann erreicht ihn ein Hilferuf seiner großen Liebe Matti. Erneut kam in Wolfsgrund ein junges Mädchen gewaltsam zu Tode und dieses Mal gerät Matti in den Fokus der Ermittlungen. Lukas kehrt zurück, um dem jungen Mann zu helfen, den er nie vergessen konnte. Doch in Wolfsgrund lauern auch die Schatten seiner Vergangenheit und alte Feindschaften leben wieder auf.

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Table of Contents

Title Page

Copyright

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Aus dem Verlagsprogramm

von Tove Blaustedt

 

 

 

 

 

Dunkles

Flüstern

 

 

 

 

Ein Roman von Tasha Winter

 

 

Impressum

© 2024 Tasha Winter

© 2024 Traumtänzer-VerlagLysander Schretzlmeier

Ostenweg 5

93358 Train

www.traumtaenzer-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte sind vorbehalten.

 

ISBN: 978-3-947031-50-4 (Taschenbuch)

ISBN: 978-3-947031-51-1 (E-Book mobi)

ISBN: 978-3-947031-52-8 (E-Book ePub)

 

Autorin: Tasha Winter

Covergestaltung: Davina Maichel

www.davinas-coverdesign.de

 

Druck: booksfactory.de

1. Auflage

 

 

Die Handlung dieses Buches ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Das Werk thematisiert Gewalt und Missbrauch und enthält diskriminierende Sprache.

 

 

Weitere Romane der Autorin:

Lovers of Seashell Inn 1: Murder and Afternoon Tea (2023)

Lovers of Seashell Inn 2: Murder and Pumkin Spice (2023)

Der Dreizehnte Prinz

(Uthruban-Verlag 2021)

 

 

PROLOG

 

 

„Wenn du sie umgebracht hast, du Schwein, finde ich es heraus. Und dann gnade dir Gott.“ Das Gesicht von Rias Vater war vor Wut verzerrt. Seine zurückgezogenen Lippen entblößten gelbliche Zähne. Tiefe Furchen zogen sich über seine Stirn. Aber das schlimmste war die Verzweiflung, die sich in seinen rot geränderten Augen spiegelte. Lukas verstand dieses Gefühl gut.

„Lassen Sie mich bitte los. Ich komme zu spät“, sagte er. Gerlach, Rias Vater, hatte ihn kurz vor der Unterführung abgepasst und ihn am Arm gepackt. Lukas‘ Zug würde jeden Moment eintreffen. Es war wichtig, dass er ihn nahm. Verpasste er ihn, würde er vielleicht nicht mehr den Mut aufbringen, von hier wegzugehen. Und das musste er, wenn er weiterleben wollte. Dieses Dorf nahm ihm die Luft zum Atmen, schnürte seine Kehle zu.

Gerlachs Hand schloss sich fester um seinen Arm. Sein Atem stank nach Alkohol und das Haar war zerzaust.

„Ria war tot, als ich sie gefunden habe“, sagte Lukas. „Das haben auch die Ermittlungen ergeben. Ich habe sie nicht umgebracht.“

„Du hättest sie nicht allein lassen dürfen.“

„Das habe ich nicht, Herr Gerlach, und das wissen Sie. Ich war nicht mit Ria zusammen an dem Tag.“ Lukas blieb ruhig, aber das Brennen im Innern seines Kopfes wurde stärker. Als würde sich ein glühender Pfeil in sein Gehirn bohren. „Wer immer mit ihr verabredet war, hat sie getötet. Aber ich war es nicht.“

Gerlachs Hand fiel schlaff herab und Lukas zog den Rucksack hoch, den er geschultert hatte. Alles, was er besaß, befand sich darin. Sein ganzes Leben. „Es tut mir leid“, sagte er. „Es tut mir unendlich leid, für Sie und für Ihre Frau.“

„Du wirst das nie verstehen.“ Rias Vater ließ seinen Arm los. „Niemals.“

Lukas schüttelte den Kopf und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Er hörte, wie sein Zug einfuhr, drehte sich um und rannte durch die Unterführung. Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürzte er die Treppe nach oben. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, als er am Bahnsteig ankam. Die Türen des Zugs waren geöffnet.

Bevor er einstieg, sah er sich um. Unbewusst hoffte er, ein spitzes Gesicht zu sehen, umrahmt von rötlich blondem Haar, fragende Augen, die ihn anblickten. Aber Matti war nicht da. Er war nicht gekommen, um ihn zurückzuhalten. Lukas stieg in den Zug und atmete auf, als der Abfahrtspfiff erklang.

1. KAPITEL

 

 

Er starrte auf die Worte, als erwartete er, dass sie sich vor seinen Augen auflösen oder verändern würden. Das Display seines Handys war die einzige Lichtquelle in dem fremden Zimmer, in dem er aufgewacht war. Neben ihm lag ein Mann, dessen Nähe ihm jetzt unangenehm war. Er hatte seinen Namen nicht vergessen, aber er wusste, dass er sich nicht mehr lange daran erinnern würde. Im Gegensatz zu dem Namen auf seinem Display.

Matti Brenner.

Er hatte mit seinem Vor- und Nachnamen unterschrieben, als sei er sich nicht sicher, dass Lukas sich an ihn erinnerte.

Lukas schaltete das Display aus und ging ins Bad. Es roch nach Schimmel und Mundwasser. Er drehte den Wasserhahn auf, trank einen Schluck und schüttete sich dann kaltes Wasser ins Gesicht. Als er hochkam, sah er sich im Spiegel. War die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen schon immer so tief gewesen? Ungeduldig wischte er sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht, die nass an seiner Haut klebten. Hatte er sich verändert? Würde Matti ihn wiedererkennen? Er strich sich das Haar nach hinten und runzelte die Stirn. Der Junge von damals hätte nie zu hoffen gewagt, dass er jemand sein würde, der sich seine Bettgefährten aussuchen konnte. Aber er hätte viel darum gegeben, gewollt zu werden.

„He, kommst du nochmal zurück ins Bett?“ Das war Vincent, der Mann, neben dem er heute aufgewacht war.

„Nein.“ Er öffnete die Badezimmertür. „Ich gehe nach Hause.“

„Ernsthaft?“ Vincent hatte sich auf seinen Ellenbogen gestützt und sah ihn stirnrunzelnd an. „Es ist drei Uhr nachts, Mann. Ich hätte sogar Frühstück da, für später.“ Er gähnte.

Lukas schüttelte den Kopf. „Dringender Auftrag.“ Er zog seine Jeans über, die am Fußende des Bettes lag.

Vincent richtete sich etwas weiter auf. „Also stimmte das wirklich und du bist Privatdetektiv? Das war nicht nur eine Anmache?“

„Nein.“ Lukas knöpfte sein Hemd zu.

Vincent pfiff durch die Zähne. „Spannend. Melde dich, wenn du mal wieder Bock hast. Meine Nummer hast du ja. Und zieh die Tür fest hinter dir zu, die springt manchmal wieder auf.“

Die Treppenstufen knarrten unter Lukas‘ Füßen auf dem Weg nach unten. Warum ging er? Warum hatte er das Gefühl, dass er es keine Minute länger in einem fremden Bett ausgehalten hätte? Er war dankbar für die kühle Nachtluft, die ihm draußen entgegenschlug. Irgendwo erklang eine Sirene. Hier in Berlin roch man die Jahreszeiten nicht, wie damals in Wolfsgrund. Das war der einzige Nachteil der Stadt. Er hätte sich jetzt gern eine Zigarette angezündet, aber vor einem Jahr hatte er sich das Rauchen mit großer Mühe abgewöhnt. Der Husten am Morgen war nicht auszuhalten gewesen. Er schob die Hände in die Taschen seiner Lederjacke. Mattis Worte gingen ihm im Kopf rum, wiederholten sich wie ein lästiger Ohrwurm.

Du musst mir helfen. Ich habe Angst.

Melde dich bitte. Stehe unter Verdacht.

Hilf mir bitte. Sie glauben ich war es.

Du musst mir helfen, Lukas. Bist du es überhaupt?

Sie ist verschwunden. Du musst mir helfen.

Ich habe Angst. Melde dich.

Melde dich.

Er hatte noch nicht zurückgeschrieben. Würde er das überhaupt tun? Wie konnte es passieren, dass sich in seinem Leben ein solcher Riss auftat? Er hatte sich nach allen Seiten abgesichert, erfolgreich jede Verknüpfung mit damals gekappt. Doch jetzt stand vor seinem Auge ein verängstigtes, bleiches Gesicht mit zu großen Augen. Hilf mir bitte.

„Ja, verdammt.“ Erst als seine Stimme von der gegenüberliegenden Straßenseite widerhallte, wurde ihm bewusst, dass er laut gesprochen hatte. „Verdammt“, wiederholte er. „Warum musstest du mich finden?“

Und warum zur Hölle war Matti noch in Wolfsgrund? Warum war er nicht auch so schnell wie möglich verschwunden? Das Dorf fraß Menschen wie ihn und Matti auf. Es waren zehn Jahre vergangen, seit Lukas gegangen war. Zehn verdammt lange Jahre. Genug Zeit für jeden, sich ein neues Leben aufzubauen.

Die erste U-Bahn fuhr in zwanzig Minuten. Lukas ging in der zugigen Haltestelle auf und ab. Nicht weil er fror. Kälte hatte ihm nie etwas anhaben können. Matti war immer derjenige gewesen, der gefroren hatte.

Matti.

Schon wieder. Er war zurück in seinen Gedanken und Lukas konnte ihn nicht mehr daraus verbannen. Die Bahn kam und die Schiebetüren schlossen sich hinter ihm. Der Waggon war fast leer. Ein Betrunkener saß mit gesenktem Kopf auf einer der Bänke. Zwei junge Frauen diskutierten über die Avengers-Filme. Lukas legte den Kopf in den Nacken, als die Bahn in den dunklen Tunnel raste. Er wollte sein Handy nicht rausnehmen. Wollte nicht noch einmal die E-Mail lesen, die auf ihn wartete. Er wusste, dass er das tun würde, sobald er auf das Display sah.

Die Bahn hielt an seiner Haltestelle in Neukölln und er stieg aus. Berlin schlief nachts nicht. Hundegebell hallte von den hohen Hauswänden wider, in der Nebenstraße quietschten Reifen.

Mit gesenktem Kopf stapfte Lukas durch die Straßen Und öffnete dann das vergitterte Tor zum Innenhof. Er durchquerte ihn und schloss die Tür zum Hinterhaus auf, die in den Angeln quietschte. Der vertraute muffige Geruch schlug ihm entgegen und vom oberen Stockwerk drangen Fetzen von Musik zu ihm herunter. Er schloss seine Wohnungstür mit Nachdruck und schaltete die Kaffeemaschine ein. Deren leises Gluckern sorgte dafür, dass er sich zuhause fühlte.

Bald würde er sich eine größere Wohnung leisten können. Die Agentur lief gut und sie bekamen jede Menge Aufträge. Er spielte sogar mit dem Gedanken, sich etwas zu kaufen. Dielenfußboden, Badewanne, ein Balkon. Ein bisschen was hatte er angespart. Mit einer Tasse Kaffee trat er an das Fenster, das in den Innenhof hinausging und ließ den Blick über die leeren Blumenkübel und Mülltonnen schweifen. Schlafen würde er heute nicht mehr. Nachdem er ausgetrunken hatte, zog er sich um und ging laufen. Am Weigandufer entlang, bis zum Weichselplatz. Im Licht der Straßenlaternen wirkten die Spielgeräte wie die Skelette großer Tiere. Er blieb stehen und atmete die kühle Morgenluft ein. Im Gebüsch schlug eine Amsel an und für ein einen Augenblick fühlte er sich nach Wolfsgrund zurückversetzt. Die alte Angst stieg in ihm auf wie kleine Perlen, die sich den Weg an die Oberfläche bahnten. Seine Fingerspitzen wurden taub.

Er lief bis zur Lohmühlenbrücke und dann am anderen Ufer des Flusses zurück. Eine bremsende S-Bahn kreischte, das Wasser von Pfützen spritzte unter seinen Tritten auf.

Als er nach Hause kam, war es noch immer nicht hell. Und das Laufen hatte kaum geholfen. Seine Gedanken kreisten weiter um Wolfsgrund. Um Matti.

Er nahm eine Dusche, fuhr seinen Laptop hoch und las Mattis Mail noch einmal. Dann schrieb er zurück.

 

Hallo Matti,

mach dir keine Sorgen, ich helfe dir. Ich fahre morgen los. Sprich mit niemandem, wenn es geht. Und mach dir keine Sorgen.

Lukas

 

Tief einatmend lehnte sich Lukas zurück, lies den Blick noch einmal über die fertige Mail schweifen. Ah, Mist! Warum hatte er den Satz zweimal geschrieben? Er nahm sich noch einen Kaffee, auch wenn dieser inzwischen fast kalt war. Als er wieder zum Laptop kam, blinkte eine neue Mail auf dem Bildschirm. Eine Antwort von Matti. Wieso war der wach, mitten in der Nacht? Lukas fühlte einen schmerzhaften Stich in der Brust.

 

Lieber Lukas,

es tut mir leid, dass ich dir geschrieben habe. Ich habe nicht nachgedacht und ich habe kein Geld, um dich zu bezahlen. Ich hätte mir vorher die Preise für Privatdetektive ansehen sollen. Denk nicht mehr darüber nach. Es kommt sicher alles wieder in Ordnung. Ich hoffe, es geht dir gut. Berlin, wow. Ich erinnere mich, dass du dort immer hin wolltest. Du hast es geschafft.

Alles Liebe,

Matti.

 

Lukas holte tief Luft. Ich komme Morgen, schrieb er nach einer schnellen Fahrplansuche. Ich habe kein Auto. Hol mich um 16.10 Uhr am Bahnhof ab, wenn es geht. Dann schloss er den Laptop.

Was war in ihn gefahren, dass er Matti einfach so sein Kommen zusicherte? Er hatte hier in Berlin Verpflichtungen und Falkenberg würde ihn nicht einfach gehen lassen. Aber die Wahrheit war, dass er nicht anders konnte. Tief in seinem Innern hatte Matti noch immer einen Platz. Manchmal vergingen Tage, ohne dass er an ihn dachte, aber es waren wenige. All die Mauern, die er um sich herum aufgebaut hatte, konnten nicht verhindern, dass dieser eine junge Mann sich immer wieder einen Weg hindurch suchte. Er dachte an ihn, wenn er Hunde sah, weil Matti tierlieb war. Wenn ihm der Duft von gemähtem Gras in die Nase stieg, weil sie zusammen im Sommer über die Wiesen gelaufen waren. Die Gedanken an Matti waren wie eine schlecht vernarbte Wunde, die noch immer schmerzte, wenn daran gerührt wurde. Und auch wenn er sich dagegen sträubte, zog es ihn mit aller Macht nach Wolfsgrund. Matti hatte ihn um Hilfe gebeten. Der Junge, den er einst geliebt hatte. Der an vielen Tagen sein einziger Grund gewesen war, überhaupt aufzustehen und weiterzumachen. Es gab für ihn keine andere Möglichkeit, als diesem Hilferuf zu folgen.

 

*

 

 

Die Agentur Falkenberg und Wolf befand sich im ersten Stock eines in die Jahre gekommenen Altbaus. Seit 8 Monaten stand Lukas‘ Nachname mit auf dem Schild. Die Treppenstufen knarrten unter seinen Füßen. Sie öffneten um 9 Uhr, aber wie er erwartet hatte, war Michael Falkenberg, sein Arbeitgeber, bereits da. Die Tür zu seinem Büro stand offen und Lukas lehnte sich in den Türrahmen.

Lukas hatte sich einen Privatdetektiv früher so ähnlich vorgestellt, wie Falkenberg aussah. Dunkles Haar mit ein paar grauen Strähnen, das immer etwas wirr von seinem Kopf abstand, eine Brille mit schwarzem Rand und eine hohe Stirn. Aber vor allem war da etwas in seinem Blick. So als wisse er mehr als die meisten Menschen um ihn herum. Er war knapp fünfzig und gut in Form. Wäre Falkenberg schwul gewesen, hätte Lukas in Erwägung gezogen, mit ihm zu schlafen. Aber vielleicht war es besser so. Sie arbeiteten seit fünf Jahren gut zusammen. Seit Falkenberg ihn, während einer seiner Jobs als Wachmann aufgelesen hatte.

„Dir auch einen guten Morgen, Lukas“, sagte Falkenberg und sah von einem Aktenordner auf. Der schwere Schreibtisch nahm viel Platz in seinem Büro ein. An den Wänden hingen zwei Poster mit Bildern von Andy Warhol. „Setz dich, was gibt es?“

Lukas blieb stehen. „Ich brauche Urlaub. Zwei Wochen. Vielleicht länger.“

Falkenberg seufzte und schob seine Brille nach oben. „Wann? Du weißt, dass wir ausgebucht sind.“

„Sofort. Ich fahre heute.“

„Setz dich“, sagte Falkenberg noch einmal und dieses Mal ging Lukas auf die Aufforderung ein.

„Jemand braucht mich“, erkläre er.

„Wir sind Detektive. Uns braucht immer jemand.“ Falkenberg schloss den Aktenordner. „Wer oder was ist so wichtig, dass du hier von einem Tag auf den anderen deine Zelte abbrichst?“

„Ich kenne ihn von früher.“

„Sieh an. Es gibt doch Menschen in deinem Leben, die dir wichtig sind?“

Lukas verschränkte die Hände und sah Falkenberg an.

„Aber du kannst heute nicht verschwinden. Was ist mit dem Fredrickson Fall? Den kann ich nicht übernehmen. Ich stecke selbst bis zum Hals in Arbeit.“

„Ich brauche den Urlaub.“

„Lukas.“ Falkenberg lehnte sich vor und sah ihn an. „Ich habe dich zu meinem Partner gemacht. Diese Agentur gehört uns beiden. Du trägst Verantwortung.“

„Ich weiß.“ Lukas schloss für einen Moment die Augen. „Ich muss heute den Zug nehmen. Es gibt keine andere Möglichkeit.“

„Willst du mir nicht zumindest erzählen, was geschehen ist?“

Lukas fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Ich weiß es selbst noch nicht genau. Ein Mädchen ist verschwunden. Jemand, den ich gut kannte, wird verdächtigt. Ich muss ihm helfen.“

„Trotzdem kannst du die Agentur nicht von heute auf morgen im Stich lassen. Ohne Vorwarnung. Das kann uns Fälle kosten. Oder schlimmer: unseren Ruf.“

„Ich weiß. Ich würde nicht fragen, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe. Was ist mit Melek Özkan?“

Die junge Detektivin hatte die Agentur in letzter Zeit öfter unterstützt.

„Wir wissen nicht, ob sie verfügbar ist,“ sagte Falkenberg. „Ich muss mich auf dich verlassen können, Lukas. Du kannst jetzt nicht weg.“

„Ich muss gehen. Ich weiß, dass das die Agentur in eine schwierige Situation bringt, aber ich habe keine Wahl.“

Falkenbergs Blick verfinsterte sich. „Soll das eine Drohung sein?“

„Nein. Aber ich habe keinen anderen Ausweg.“

„Drei Tage.“ Falkenberg schlug den Aktenordner wieder auf. „Dann brauche ich dich wieder hier.“

Lukas nickte und stand auf. Seine Schultern entspannten sich. In drei Tagen würde er den Fall vielleicht nicht lösen können, aber er hatte eine Gnadenfrist.

Zurück in seiner Wohnung suchte er im Internet nach dem Mädchen aus Wolfsgrund. Viele Informationen gab es nicht. Sie hieß Dana Richter und war siebzehn Jahre alt. Es gab ein Foto, auf dem sie ernst in die Kamera sah. Sie hatte blonde, schulterlange Haare und ein schmales Gesicht. In der Beschreibung stand, dass sie Jeans und ein weißes Shirt trug. Vor drei Tagen, am Samstag, war sie zuletzt gesehen worden.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah auf die Uhr. In drei Stunden fuhr sein Zug.

 

2. KAPITEL

 

 

Lukas hatte kaum Gepäck bei sich. Der Reiserucksack auf seinem Rücken war nicht schwer. Am meisten wog das Equipment, das er mitgenommen hatte. Vielleicht hätte er Matti fragen sollen, was geschehen war, dann hätte er gewusst, was er brauchte. Aber er wollte Matti beobachten, wenn der ihm den Vorfall schilderte. Er konnte nicht sicher sein, dass der ihm die ganze Wahrheit sagte, und seine Körpersprache lieferte Lukas wichtige Informationen.

Die Fahrt dauerte drei Stunden und er musste zwei Mal umsteigen. Das letzte Stück der Reise legte er in einem klapprigen Regionalexpress zurück, aber zumindest hatte er das Abteil fast für sich allein. Zwei ältere Damen waren seine einzigen Mitreisenden. Er hatte versucht zu lesen, konnte sich aber nicht auf die Worte konzentrieren. Als er eine Seite zum dritten Mal gelesen hatte, ohne zu begreifen, was darauf stand, gab er auf.

Fast zehn Jahre war es her, dass er zuletzt in Wolfsgrund gewesen war. Soweit er wusste, lebte sein Vater noch immer hier, aber sie hatten keinen Kontakt. Außer Matti und Ria hatte er kaum Freunde gehabt und keine weiteren Verwandten.

Zehn Jahre. Und dennoch kannte er die Strecke, die der Zug zurücklegte, auswendig. Er war oft in die nächste größere Stadt gefahren. Manchmal mit Matti zusammen.

Da war der Wasserturm, dessen Anblick ihm für einen Moment den Atem nahm. Schnell wandte er den Blick ab. Das Feld mit den Windrädern, der Wald und in der Ferne das Sägewerk. Dann grau und öde der Bahnhof von Wolfsgrund. Mehr als ein Wartehäuschen, die Unterführung und einen Fahrkartenautomaten gab es nicht. Und trotzdem schlug sein Herz höher, als er ausstieg. Es erschien ihm unwirklich, dass er hier war. Wie in einem Traum, den man vor Jahren schon einmal geträumt hat.

Und dort bei den Fahrradständern stand Matti. Er sah ihn nicht, hatte den Blick nach links gewandt und suchte den Bahnsteig ab. Lukas blieb einen Moment stehen und wartete darauf, dass sein wild klopfendes Herz sich wieder beruhigte. Matti trug einen grünen Parka und eine Wollmütze auf dem Kopf. Sein spitzes Profil war Lukas so vertraut, dass es schmerzte. Er war genauso schlaksig wie damals. Seine Arme wirkten ein wenig zu lang für seinen Körper. Als Lukas aus Wolfsgrund verschwunden war, hatte er sich gewünscht, Matti am Bahnsteig zu sehen. Und jetzt war er hier.

Matti wandte den Kopf zu ihm um und zuckte zusammen, fast so, als habe er nicht damit gerechnet, dass Lukas erscheinen würde. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und kam auf ihn zu.

„Bist du‘s wirklich?“ Matti lächelte schief und senkte den Blick. Das hatte er nie gut gekonnt. Jemandem in die Augen sehen. „Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen und dann, als müsse er sich dazu zwingen, sah er endlich auf. Und da waren sie. Graublaue Augen und der fragende Blick, den Lukas noch so lange vor sich gesehen hatte. Der ihn in seinen Träumen heimgesucht hatte. Ein paar kleine Sommersprossen auf Mattis Nase, die Lippen waren aufgesprungen. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, als wolle er das vor Lukas verbergen. Matti hatte sich so wenig verändert, dass Lukas sich fragte, ob die Zeit hier in Wolfsgrund stehengeblieben war. Nur die Schatten unter seinen Augen hatten sich vertieft.

„Natürlich bin ich hier“, sagte Lukas. Es war unwirklich, dass er mit Matti sprach, aber gleichzeitig fühlte es sich an, als sei er aus einem Traum aufgewacht. Er hätte Matti gern in den Arm genommen, aber wollte der das überhaupt? „Hat sich ja nicht viel verändert.“

Matti sah sich um, als müsse er sich vergewissern, dass das, was Lukas sagte, der Wahrheit entsprach. „Nein.“

Lukas wollte Matti fragen, warum er hier war. Warum er nicht ebenfalls die erste Gelegenheit zur Flucht ergriffen hatte. Aber er tat es nicht. Es hätte wie ein Vorwurf geklungen. „Fahren wir zu dir?“, fragte er stattdessen. „Dann kannst du mir in Ruhe alles erzählen.“

Matti nickte und ging voran bis zu einem rostigen roten Ford, der nur zwei Türen besaß. Lukas warf seinen Rucksack auf den Rücksitz und faltete sich dann auf dem Beifahrersitz zusammen. Es war nicht bequem, aber das Auto passte zu Matti. Zum ersten Mal, seit er hier war, entspannte er sich ein wenig. Dieser Ort nahm ihm noch immer die Luft zum Atmen, wie er es früher getan hatte. Ein Teil von ihm wollte den nächsten Zug zurück nehmen. Aber hier in Mattis Auto war es besser. Matti stieg ebenfalls ein. Seine langen Beine passten kaum unter das Lenkrad. Der Ford sprang erst beim dritten Versuch an und Matti schenkte Lukas ein nervöses Lächeln.

„Wie ist es in Berlin?“, fragte Matti. „Fühlst du dich wohl dort?“

„Es ist eine Großstadt. Laut, hektisch. Nicht jedermanns Sache.“

„Und es ist vollkommen anders als Wolfsgrund.“

Lukas antwortete nicht, weil sie jetzt in die Hauptstraße einbogen. Bei ihrem Anblick drehte sich ihm der Magen um. Er war sie unzählige Male entlanggelaufen oder mit dem Fahrrad gefahren. Und er erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, sie hinunterzujagen, so schnell er konnte. Verfolgt von einer johlenden Horde Jungen. Er saß still, als die Erinnerung zurückkam, fühlte, wie seine Hände sich langsam zu Fäusten ballten. Fast immer hatte er es bis zum Wald geschafft und war dort auf seinen Baum geklettert. Den, auf den die anderen nicht rauf konnten. Manchmal hatten sie vorher aufgegeben. Und einmal war er gefallen und hatte sich beide Knie auf dem Asphalt aufgeschlagen, sich die Handgelenke aufgeschrammt. Sie waren sofort über ihm gewesen, hatten auf ihn eingetreten, seinen Kopf auf den Boden gedrückt. „Bettelwolf“ hatten sie ihn genannt, weil seine Familie kein Geld gehabt hatte. Oder „Lumpenwolf“.

Aber das war vorbei. Wer wusste, ob die Jungen, die ihn verfolgt hatten, heute überhaupt noch hier lebten? Er erinnerte sich, wer ihn damals gefunden hatte. Er war bis zur Hauswand gekrochen, hatte sich hingesetzt und den Kopf gegen den Stein gelehnt. Seine Knie brannten wie Feuer und in den Wunden klebten schwarze Steinchen. Er hatte die Augen geschlossen und öffnete sie nicht, als da Schritte erklangen, die näher kamen. Jemand hatte sich neben ihn gesetzt und vorsichtig eine schmale Hand auf seinen Arm gelegt.

„Diese Arschlöcher“, hatte Matti gesagt. Und Lukas hatte wieder etwas freier atmen können.

Sie hatten eine Weile nebeneinander an der Mauer gesessen und Lukas hatte die Wärme gespürt, die von Mattis Hand ausging und die alles ein wenig erträglicher machte. Später hatte Matti ihn verbunden, mit Verbandszeug, das er von seiner Oma bekommen hatte. Und Lukas erinnerte sich an das sehnsuchtsvolle Ziehen in seiner Bauchgegend, als Matti ihm dabei so nahe gewesen war.

„Alles in Ordnung?“, fragte auch der ältere Matti, der jetzt neben ihm saß.

Lukas nickte. „Ist seltsam, wieder hier zu sein.“

„Das glaube ich dir.“ Mattis Hände schlossen sich fester um das Lenkrad. „Tut mir leid. Dass ich dich zurückgeholt habe, meine ich.“

„Irgendwann musste es wohl sein.“

Sie fuhren an der Straße vorbei, in der Matti gewohnt hatte. Lukas hatte angenommen, dass er immer noch in dem verfallenen Backsteinhaus lebte, vor dem er so oft auf ihn gewartet hatte.

„Du bist umgezogen?“

Ein Nicken von Matti.

„Dein Stiefvater?“ fragte Lukas.

„Lebt schon lange nicht mehr.“

„Das ist gut.“

Matti sah kurz zu ihm und schlug die Augen nieder. „Ja.“

„Hat er dir irgendwas hinterlassen?“

„Nur einen Berg Schulden. Ich habe das Erbe ausgeschlagen.“

„Gut gemacht.“

Sie hatten das andere Ende des Dorfes erreicht und verließen es wieder.

„Wo wohnst du jetzt?“

„Kannst du dir das nicht denken?“ Ein kleines Lächeln.

Sie bogen in einen Feldweg ein und Lukas begriff. „Der Hof vom alten Melcher. Arbeitest du für ihn?“

„Ich arbeite auf dem Hof, ja. Dafür müssen wir keine Miete zahlen. Meine Großmutter lebt ebenfalls dort.“

Wieder alte Erinnerungen. Matti und er, die auf Heuballen kletterten und heruntersprangen. Die heimlich die riesige Erntemaschine im Schuppen in Augenschein nahmen. Als Kind hatte er sich immer sehnlichst gewünscht, damit zu fahren. Der Stier, dessen Weide er einmal für eine Mutprobe betreten hatte. Matti mit bleichem Gesicht hinter dem Zaun.

„Wir waren früher immer gern hier.“

Matti nickte.

Sie fuhren an der Kuhweide vorbei und durch das Hoftor. Matti parkte den Ford auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Wohnhaus. „Wir wohnen im Nebengebäude“, sagte er.

Lukas stieg aus und atmete den vertrauten Geruch nach Pferdemist und nassem Heu ein. Auch hier hatte sich nichts verändert. Matti schloss die grüne Holztür auf, von der die Farbe abblätterte. Sie betraten einen zugigen kleinen Flur mit Steinfußboden. Ein Paar dreckiger Gummistiefel stand auf dem Boden und eine Regenjacke hing an einem Haken. Lukas schlüpfte aus seinen schwarzen Turnschuhen. Ihm fiel jetzt erst auf, dass Matti fast die Gleichen trug.

„Lass sie ruhig an“, sagte Matti. „Der Boden ist kalt.“

„Das ist schon in Ordnung.“

Matti ging voran in eine dürftig eingerichtete Küche. Es gab eine Spüle, einen Herd und eine Anrichte. Außerdem eine Küchenbank mit einem Tisch davor. Eine schwarze Katze streckte sich träge auf der Rückenlehne.

„Möchtest du einen Kaffee?“, fragte Matti

„Ja gerne.“

Matti kehrte ihm den Rücken zu und werkelte eine Weile schweigend. Lukas betrachtete seine schmalen Hüften und Schultern. Wie früher hatte er kein Gramm Fett am Körper. Seine Bewegungen waren schnell und effektiv. Auch jetzt wäre Lukas am liebsten hinter ihn getreten, hätte die Hände auf seine Schultern gelegt und ihn an sich gezogen. Es war lange her, dass er jemanden so gern hatte berühren wollen. Matti schloss die Tür des Küchenschranks und riss Lukas damit aus seinen Gedanken. Er brachte ihm eine Tasse Kaffee und stellte einen Teller mit Sandwiches auf den Tisch.

„Immer noch kein Zucker und keine Milch?“

„Nein.“

„Ich bringe Oma noch was nach oben. Möchtest du sie begrüßen?“

Lukas nickte und folgte Matti eine schmale Treppe hoch. Er musste den Kopf einziehen, um sich im oberen Stockwerk nicht an der Decke zu stoßen, und Matti ging ebenfalls gebückt. Er klopfte an eine Tür am Ende des Ganges und trat dann ein, obwohl kein ‚Herein‘ ertönte.

„Hallo Oma“, sagte er zu der alten Frau, die in einem Lehnstuhl am Fenster saß. „Ich bringe dir deinen Kaffee.“

Mattis Omas war schon alt gewesen, als Lukas in Wolfsgrund gelebt hatte. Jetzt war ihr Gesicht eingefallen und erinnerte ein wenig an eine Schildkröte. Ihr weißes Haar war zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt und ihre Augen waren trübe. In ihrem Schoß lag Strickzeug, an dem sie nicht arbeitete. Sie nickte langsam.

Lukas sah sich in dem Zimmer um. Es war spärlich eingerichtet, aber jemand hatte sich Mühe gegeben, es gemütlich wirken zu lassen. Auf dem Bett lagen zwei bestickte Kissen. Darüber hing ein gemaltes Bild von einem Bachlauf. Am Fenster waren Gardinen.

Matti stellte das kleine Tablett auf dem Tischchen neben ihr ab. „Wir haben Besuch, Oma“, sagte er. „Lukas ist gekommen, um mir zu helfen. Mir und vor allem Dana.“

„Dana?“ fragte Mattis Oma und ihre Stimme klang wie eine knarrende Tür. „Wer ist das?“

„Dana Richter. Das Mädchen, das verschwunden ist. Sie war ein paar Mal hier.“

Mattis Oma schüttelte den Kopf. „Nie gehört.“

„Guten Tag, Frau Brenner“, sagte Lukas und trat vor. „Ich bin Lukas. Ich war lange weg.“

„Lukas lebt jetzt in Berlin.“ Matti drückte seiner Oma die Kaffeetasse in die Hand und ihre knochigen Finger schlossen sich langsam darum. Dann trat er hinter ihren Stuhl und legte ihr ihr Schultertuch um. Die Zärtlichkeit der Geste rührte Lukas.

„Berlin. Hm.“ Sie nahm einen Schluck.

Matti wartete einen Augenblick, aber mehr kam von ihr nicht. „Ich komme später wieder vorbei und hole das Tablett ab“, sagte er und bedeutete Lukas dann, ihm wieder nach unten zu folgen.

„Erzählst du mir jetzt, was passiert ist?“ fragte Lukas und setzte sich zu seinem Kaffee auf die Küchenbank.

Matti trat an das kleine Fenster und sah hinaus auf den Hof. Sein Haar schimmerten leicht rötlich in dem spärlichen Licht, das durch das Fenster hereinfiel. Lukas sah, wie er einatmete und seine Schultern sich spannten.

„Dana ist seit drei Tagen verschwunden“, sagte er tonlos. „Seit Samstagnachmittag. Sie haben mich schon zwei Mal deswegen befragt.“

„Warum dich?“

Ein kurzes Zögern. „Ich bin mit ihr befreundet.“

„Sie ist siebzehn, nicht wahr?“

Mattis Schulter hoben sich. „Ja.“

Lukas nickte, auch wenn Matti es nicht sehen konnte. Ein erwachsener Mann, der mit einem weiblichen Teenager befreundet war, das wirkte verdächtig. Hätte er Matti nicht gekannt und gewusst, dass er selbst Fliegen aus Pfützen rettete, hätte er ihn vermutlich auch als erstes befragt.

„Weißt du irgendetwas?“ Er nahm einen Schluck Kaffee.

„Nein.“ Matti drehte sich zu ihm um und verschränkte die Arme. „Sie war manchmal hier auf dem Hof. Tiere mochte sie gern. Sie hat mit beim Ausmisten geholfen, ist manchmal geritten und hat die Kaninchen gefüttert. Für die hatte sie immer was dabei. Zuhause gab es viel Stress mit ihren Eltern. Da war sie lieber hier.“

„Hat sie davon gesprochen, dass sie weglaufen möchte?“

„Sie hat mal gesagt, dass sie es nicht mehr lange aushält. Ihre Eltern haben viel gestritten. Sie hat sich gewünscht, dass sie sich endlich scheiden lassen.“

„Hast du das der Polizei gesagt?“

„Natürlich.“

„Haben sie hier nach ihr gesucht? Auf dem Hof?“

„Nicht richtig. Sie haben gefragt, ob sie sich umsehen dürfen, und der alte Melcher hat es ihnen erlaubt. Gefunden haben sie nichts. Im Wald haben sie auch schon gesucht. Das ganze Dorf hat nach ihr gesucht und ein Trupp der Polizei.“

„Haben sie dich nach Ria gefragt?“

Matti ließ sich ihm gegenüber an den Küchentisch sinken. Seine Augen waren geweitet. „Ja. Deswegen mache ich mir ja solche Sorgen.“

„Ich verstehe.“

Auch mit Ria war Matti befreundet gewesen. Genau wie Lukas.

„Was für Fragen haben sie dir gestellt?“

Matti nahm einen Teelöffel vom Tisch und drehte ihn zwischen seinen Fingern. Er hatte noch nie ruhig stehen oder sitzen können. Irgendetwas an ihm war immer in Bewegung. Und es wurde schlimmer, wenn er nervös war. Lukas hätte gern seine Hände genommen und sie festgehalten, um ihn zu beruhigen. Aber er wollte Matti nicht verwirren.

„Sie haben gefragt, was für eine Art von Beziehung wir hatten. Wann ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ob es Streit zwischen uns gab. Immer wieder haben sie das gefragt.“ Der Teelöffel fiel klirrend zu Boden und Matti bückte sich, um ihn aufzuheben.

Lukas nickte. Mit diesen Fragen hatte er gerechnet. Aber es war trotzdem nicht gut, dass sie gestellt worden waren. Das bedeutete, dass Matti zu den Verdächtigen gehörte.

„Matti, es ist wichtig, dass du ehrlich zu mir bist“, sagte er. „Beantworte die Fragen bitte auch für mich. Und wenn es irgendetwas gibt, das du den Polizisten nicht gesagt hast, sag es mir. Nur dann kann ich dir helfen.“

Matti nahm Lukas‘ halbvolle Kaffeetasse und ging damit zur Kanne, um sie aufzufüllen. „Ich habe ihnen alles gesagt. Wir waren befreundet, mehr war da nicht. Sie hatte Ärger zuhause und ich weiß ja, wie das ist. Der Hof war eine Zuflucht für sie, so wie für uns früher.“

Lukas nickte und nahm seine Kaffeetasse wieder von Matti entgegen. Er achtete darauf, dass ihre Finger sich nicht berührten.

„Sie liebt Vasco und Nava, die Schäferhunde.“ Matti sah wieder aus dem Fenster. „Sie nimmt die beiden oft auf ihre Spaziergänge mit. Bevor sie verschwunden ist, habe ich sie fast eine Woche nicht gesehen.“

„Matti, sieh mich bitte an, wenn du mit mir redest.“

Mattis Augen wanderten zu ihm und dann wieder im Zimmer umher. „Es gab keinen Streit zwischen uns. Nie. Ich habe ihr manchmal zugehört, wenn sie vom Stress in der Schule und zuhause erzählt hat. Sie hatte kaum Freunde in Wolfsgrund.“ Matti fuhr sich mit einem Ärmel über die Augen und Lukas fragte sich, ob er weinte.

„Glaubst du, dass sie weggelaufen ist?“

„Ich hoffe, dass es das ist.“ Matti setzte sich und griff wieder nach dem Teelöffel. „Grund genug hatte sie.“

„Aber sie hatte keine konkreten Pläne?“

„Nein. Sie hätte ihren kleinen Bruder nicht allein gelassen. Sie hat viel Verantwortung für ihn übernommen. Ihre Mutter ist psychisch labil, ihr Vater kaum zuhause. Sie hat sich auch um die Haustiere gekümmert. Kaninchen und Schildkröten. Die hätte sie nicht im Stich gelassen.“

„Verstehe. Was glaubst du, was mit ihr passiert ist?“ Lukas versuchte Matti in die Augen zu sehen, aber der wich seinem Blick aus.

„Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.“ Sein Gesicht wurde eine Spur blasser. „Vielleicht hat sie es doch nicht mehr ausgehalten.“ Seine Finger wanden sich umeinander. „Ich weiß, was die Leute denken. Dass ich etwas damit zu tun habe.“ Lukas sah, dass seine Lippen zitterten, und dann stützte er die Ellenbogen auf den Tisch, verbarg das Gesicht in seinen Händen. „Danke, dass du hier bist, Lukas. Ich habe nicht gedacht, dass du kommen würdest. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Sie glauben, dass ich etwas Schreckliches getan habe. Und ich habe Angst um Dana.“

„Ich bin hier“, sagte Lukas. „Ich helfe dir.“ Er lehnte sich zu Matti vor. „Gibt es andere Menschen, mit denen Dana öfter zu tun hatte? Freunde? Bekannte? Menschen, die sie beneidet haben?“

„Von Neidern hat sie nie etwas erzählt. Da ist ein Junge aus ihrer Klasse, mit dem sie manchmal zusammen war. Leif. Und Nathalie, ebenfalls aus ihrer Klasse. Sie waren nicht befreundet, aber manchmal war Dana bei ihr. Und ich weiß, dass sie öfter mit Pfarrer Dahl gesprochen hat. Er war ihr Vertrauter.“

Lukas nahm Block und Stift aus seinem Rucksack und notierte sich die Namen. Sein Blick wanderte zum Fenster. „Es beginnt schon zu dämmern. Morgen versuche ich mehr über ihr Verschwinden herauszufinden.“

„Heißt das, du wirst mit den Menschen sprechen, die sie gut kannte?“

Lukas nickte. „Kann ich hier auf dem Hof übernachten?“

Mattis Schultern strafften sich. „Natürlich. Ich habe den alten Melcher gefragt, ob du das Gästezimmer haben kannst, das er manchmal vermietet.“

„Schön. Ich dachte schon, ich muss im Stroh schlafen.“

Lukas grinste und sah, dass auch Mattis Mundwinkel sich ein wenig hoben. Er freute sich darüber, dass er ihm wenigstens ein kleines Lächeln entlockt hatte.

„Komm“, sagte Matti, nachdem Lukas sein Sandwich aufgegessen hatte. „Ich habe Melcher gesagt, dass du ihn begrüßt.“

Lukas folgte Matti über den Hof und dann einen Feldweg entlang. Melcher kniete vor der Umzäunung der Kuhweide und war dabei, den Zaun zu flicken. Neben ihm lagen zwei Schäferhunde im Gras und hoben die Köpfe, als sie sich näherten.

„Herr Melcher“, sagte Matti. „Lukas ist jetzt da.“

Der alte Mann reagierte nicht sofort. Als er sich schließlich hochstemmte, sah Lukas, dass er scheinbar nicht gealtert war, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sein weißer Bart war etwas länger, aber das faltige Gesicht mit den wachen Augen hatte sich kaum verändert. In seinem Mundwinkel hing eine Pfeife, die er nicht angezündet hatte. Auf dem Kopf trug er einen Schlapphut, so löchrig und speckig, dass Lukas gewillt war anzunehmen, dass es derselbe war, den er früher getragen hatte.

„Willste wieder meine Heuernte verderben?“, fragte Melcher.

„Ist Ihnen der Tabak ausgegangen?“ fragte Lukas zurück.

Melcher nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete sie einen Moment lang. „Der Doktor sacht, ich soll nich mehr rauchen. Hat vermutlich recht.“ Er steckte sie wieder zurück in seinen Mund. „War mir nich sicher, ob du kommst. Bin mir auch nich sicher, ob es gut ist, dass du da bist. Aber jetzt isses so.“ Er nickte einmal und kratzte sich am Hals.

„Ich zeige Lukas das Gästezimmer“, sagte Matti.

„Is recht, Junge.“ Melcher kniete sich wieder zu seinem Zaun. „Fütter die Hühner und bring se ins Bett.“

„Ja. Wie jeden Abend.“

„Und nich jagen!“

„Nein, Herr Melcher.“ Matti lächelte.

Matti und Lukas gingen den Weg zurück Richtung Haupthaus.

„Ein bisschen wunderlich war er ja immer“, sagte Lukas. „Lebt mein Vater noch?“ Er versuchte, die Frage nebensächlich klingen zu lassen, aber seine Stimme war rau.

„Ja.“ Matti sah kurz zu ihm und schnell wieder weg. „Aber er kommt fast nie aus seinem Haus. Ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen. Soweit ich weiß, kann er kaum noch laufen. Sonst hätte ich dich nicht gebeten, herzukommen.“

„Es war meine eigene Entscheidung zu kommen.“

„Und … ich habe kein Geld. Wie ich geschrieben habe.“

„Schon gut.“

„Du wohnst natürlich umsonst hier. Und ich koche für dich. Und ich werde sparen, damit ich dich irgendwann bezahlen kann.“

„Schon gut habe ich gesagt. Denk nicht mehr dran.“

„Vielleicht hat Melcher Recht und du hättest besser nicht herkommen sollen.“

„Ich bin ein erwachsener Mann, der seine ehemalige Heimat besucht. Daran ist nichts Ungewöhnliches.“

Matti sah zu ihm auf. „Du kannst keine angenehmen Erinnerungen an Wolfsgrund haben.“

Lukas zögerte. „Ein paar.“

Sie waren beim Hühnerhof angekommen und Matti öffnete das Tor. Lukas lehnte sich an den Zaun und sah zu, wie er die Hühner in ihr Haus scheuchte. Einige von ihnen entkamen flatternd und gackernd wieder. Lukas kam Matti zu Hilfe und gemeinsam schafften sie es, auch das letzte Federvieh einzusperren.

„Danke. Helene lässt sich manchmal eine Viertelstunde lang bitten“, sagte Matti, während er den Riegel vorschob. „Ich zeige dir jetzt dein Zimmer. Dann kannst du dich ein bisschen ausruhen. Ich gehe die Kühe melken und hole dich nachher zum Abendbrot.“

„Ich könnte dir helfen.“

„Ich bin gewohnt, das allein zu machen.“ Matti sah mit einem schiefen Lächeln zu ihm auf. „Und ich schätze, dass du noch nie eine Kuh gemolken hast, habe ich Recht?“

Lukas nickte.

Sie betraten das Haupthaus durch einen Seiteneingang und Matti führte ihn eine knarrende Treppe hoch zu seinem Zimmer. Es gab auch hier Holzdielen, einen alten Teppich auf dem Boden und karierte Vorhänge. Das Bett sah einladend aus. An einem anderen Ort hätte dieses Zimmer gemütlich wirken können. Lukas stellte seinen Rucksack ab.

„Die Dusche und Toilette sind auf dem Gang“, sagte Matti. „Aber du musst sie mit niemandem teilen. Das andere Zimmer ist leer. Wir haben hier nicht oft Gäste.“

„Was für eine Überraschung.“

„Brauchst du noch irgendetwas?“

„Nein danke.“

„Dann bis später.“ Matti ging Richtung Tür.

„Matti?“, sagte Lukas und der drehte sich wieder zu ihm um.

„Mach dir nicht so viele Sorgen. Es kommt alles wieder in Ordnung.“ Lukas wusste, dass seine Worte leer klangen, aber er wollte, dass die Anspannung, die er in Matti wahrnahm, zumindest etwas nachließ.

„Danke.“ Matti zog die Tür hinter sich zu und Lukas warf sich auf das Bett. Sie waren sich noch immer fremd. Auch wenn sie vorhin schon miteinander gelacht hatten. Da war ein Abstand zwischen ihnen, der sich nicht leicht würde überwinden lassen. Aber vielleicht war das gar nicht nötig. Er war hier, um Matti aus der Patsche zu helfen. Möglich, dass sich schnell alles aufklärte. Dann konnte er zurück nach Berlin und sich bei Falkenberg entschuldigen. Er faltete die Arme hinter dem Kopf und sah zur Decke, die ein Wasserfleck in Form eines Gesichts verunzierte.

Sein Handy blinkte. Eine Nachricht von Vincent, auf die er nicht reagierte. Melek fragte, was los war. Er tippte eine kurze Antwort.

Würde er zurückkehren nach Berlin? Oder würde er es nicht noch einmal schaffen, diesem Ort zu entkommen? Er drehte sich auf die Seite und atmete den etwas abgestandenen Geruch der Bettlaken ein. Sie rochen nach Waschmittel, aber so, als sei es schon eine Weile her, dass sie neu bezogen worden waren. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Versuchte, sich daran zu gewöhnen, dass er wieder hier war. Es gelang ihm nicht.

Neben dem Kopfkissen glitzerte etwas. Es war ein kleiner Ohrring. Ein Stecker mit einer silbernen Blume, in deren Mitte sich ein blauer Stein befand. Er holte eine Pinzette aus dem Rucksack und ließ das Schmuckstück in eine winzige Plastiktüte fallen. Dann betrachtete er es genauer. Konnte es Dana gehört haben? Oder hielten sich hier noch andere Mädchen auf? Ein Stich durchzuckte ihn bei dem Gedanken. Hatte Matti Frauenbesuch? Aber wäre es eine feste Freundin, würde sie bestimmt bei Matti … Lukas schüttelte entschieden den Kopf und vertrieb den Gedanken. Was dachte er da? Er sollte sich freuen, wenn Matti Besuch hatte, und erst recht, wenn er eine Beziehung haben sollte.

Er steckte den Ohrring in seine Laptoptasche. Vorerst würde er nicht danach fragen. Matti sollte nicht denken, dass er ihn verdächtigte.

Die wenigen Sachen, die er mitgebracht hatte, räumte er in den Holzschrank. Zum Glück hatte er sein Kartendeck eingepackt. Er legte sich auf dem kleinen Tisch am Fenster ein Solitaire und spielte, bis es an seiner Tür klopfte.

Matti lehnte sich an das Treppengeländer und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, als wollte er die Müdigkeit vertreiben.

„Die Arbeit auf dem Hof ist sicher anstrengend“, sagte Lukas, als sie gemeinsam zum Nebenhaus gingen. Vasco und Nava waren auf dem Hof vor der Hundehütte angebunden. Sie hoben träge die Köpfe, als sie vorbeigingen, und Vasco bellte einmal zur Begrüßung.

„Es geht“, sagte Matti. Er hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und die Schultern ein wenig hochgezogen. „Ich mache es gern. Besser als die Arbeit im Baumarkt.“

„Du arbeitest auch im Baumarkt?“

Matti nickte. „Wir wohnen hier umsonst. Aber ich brauche Geld für Lebensmittel, Versicherungen und eine Pflegekraft für Oma.“

Die schwarze Katze schlüpfte mit hinein, als Matti die Tür öffnete.

Auf dem Tisch in der Küche stand ein Topf mit Nudeln und einer mit Tomatensauce. „Nimm dir, soviel du willst“, sagte Matti. „Ich hab Oma schon was nach oben gebracht.“

Der Kater strich ihm um die Beine und er füllte Katzenfutter in eine Schüssel. „Loki ist hier im Schuppen geboren worden“, sagte er. „Er war zu klein, um zu trinken.“

„Hast du ihn mit der Flasche großgezogen?“

„Woher weißt du das?“

„Sonst wäre er wohl kaum noch am Leben.“ Lukas gab Nudeln auf Mattis Teller und nahm sich dann selbst welche. „Du musst nicht für mich kochen.“

„Ich koche sowieso für Oma. Sie soll einmal am Tag was Richtiges essen. Sie wird immer dünner.“ Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Lukas. „Wie wohnst du in Berlin?“, fragte er und sah zu ihm auf.

„Ich habe eine kleine Wohnung. Zwei Zimmer im Erdgeschoss in einem Hinterhaus. Vielleicht ziehe ich bald um. Ich bin Anfang des Jahres Partner in meiner Detektei geworden.“ Dass er seinen Job gerade aufs Spiel setzte, erwähnte er nicht. Er wollte nicht, dass Matti deswegen Schuldgefühle hatte.

„Das ist toll. Ich wusste immer, dass du es schaffst.“ Wieder sah er kurz zu Lukas, bevor er die Augen senkte. Er begann nicht zu essen.

„Was ist los?“, fragte Lukas.

„Du siehst so gut aus. Das macht mir ein bisschen Angst.“

Lukas hielt inne und ließ die Gabel sinken. Einen Moment lang wusste er nicht, wie er mit dieser Offenheit umgehen sollte. Er war fast ein wenig peinlich berührt und dennoch breitete sich ein kleiner Funken der Freude in seinem Innern aus. Seine Mundwinkel hoben sich.

„Ich bin doch immer noch derselbe.“

„Ja. Das macht mir auch Angst.“ Matti griff nach Löffel und Gabel.

„Es macht dir Angst, dass sich noch derselbe bin?“, fragte Lukas. „Wieso?“

„Ein Teil von mir hat gehofft, dass du dich verändert hast. Dass ich dich kaum noch wiedererkennen würde.“

„Ich glaube, ich verstehe, was du meinst“, sagte Lukas. Er hatte ähnliches gehofft, auch wenn ihm das bisher nicht bewusst gewesen war. Matti so wiederzusehen, als wären sie nie längere Zeit getrennt gewesen, drohte die alte Wunde wieder aufzureißen, von der er geglaubt hatte, sie sei längst vernarbt. „Ich will nicht, dass dir irgendetwas an mir Angst macht, Matti.“

„Es ist nicht etwas an dir. Es ist etwas in mir.“

„Matti …“

„Reden wir erstmal nicht mehr darüber. Wir müssen Dana finden. Das ist jetzt wichtig. Hast du noch immer vor, morgen nach ihr zu fragen?“

„Ja.“

„Glaubst du nicht, dass sie längst in einer anderen Stadt ist?“

Lukas sah ihn an. „Nein“, sagte er leise. „Das glaube ich nicht.“ Er hatte bereits auf der Zugfahrt darüber nachgedacht und jetzt in Wolfsgrund hatte sich sein Verdacht erhärtet. Dana war nicht gegangen. Sie klang wie ein Mädchen, das viel Verantwortung übernahm, zuhause und auf dem Hof. Er glaubte nicht, dass sie ihren Bruder und auch die Hunde zurückgelassen hatte. Es passte auch nicht, dass sie sich bis jetzt nicht gemeldet hatte. Schon einmal war ein Mädchen in Wolfsgrund getötet worden. Der Fall war nie geklärt worden. Lukas glaubte, dass es wieder geschehen war. Auch wenn er von ganzem Herzen hoffte, dass er falsch lag.

Matti nickte. „Ich arbeite morgen im Baumarkt. Nachmittags bin ich zurück.“

Kein Wunder, dass Matti so ausgezehrt wirkte. „Ist das nicht zu viel? Die Arbeit im Hof ist doch anstrengend genug.“

„Im Baumarkt bin ich nur an vier Tagen in der Woche. Es ist okay. Ich bin froh, dass ich den Job habe.“

Lukas half beim Abwasch und ging zurück auf sein Zimmer.

Auf einem der Stühle sitzend sah er aus dem Fenster und ordnete seine Gedanken. Es war zu früh, um wirklich Schlüsse zu ziehen, aber er hatte zumindest ein paar Ansätze, denen er nachgehen wollte. Leif, Nathalie und Pfarrer Dahl schienen zu den Menschen in Danas Umkreis zu gehören. Es war wahrscheinlich, dass er Hinweise bekommen würde, wenn er mit ihnen sprach. Und er kam auch nicht umhin, über den alten Melcher als möglichen Verdächtigen nachzudenken. Er mochte den alten Mann, aber er hatte sowohl Ria als auch Dana gut gekannt. Es kam Lukas unwahrscheinlich vor, dass Melcher ein Mörder war, aber ausschließen wollte er die Möglichkeit nicht.

Er öffnete seinen Reader und begann in dem Wallander Krimi zu lesen, den er fast durch hatte. Falkenberg hatte ihm mal gesagt, dass Detektive und Polizisten normalerweise keine Krimis lasen, aber er mochte sie. Hoffentlich war das WLAN hier ausreichend, um ein neues Buch zu laden.

Als er müde wurde, löschte er das Licht. Er hatte es gelernt, schnell einzuschlafen. Die Gedanken in seinem Kopf gewannen dann keine Überhand mehr. Er machte eine kurze Atemübung, schloss die Augen und zählte von hundert rückwärts. Meist kam er nicht bis eins.

3. KAPITEL

 

 

 

Lukas erwachte mit den ersten Sonnenstrahlen. Ein Geruch von Holz und Heu stieg ihm in die Nase und brachte die Erinnerung mit sich, dass er wieder in Wolfsgrund war. Die alte Schwere breitete sich in ihm aus.

Aus Gewohnheit wollte er laufen gehen und zog seine Trainingsschuhe an. Ein freudiges Bellen begrüßte ihn, als er die Tür zum Hof öffnete. Matti kam mit einer Schubkarre Heu über den Hof. Mit den Gummistiefeln und dem viel zu großen Parka gab er einen ungewöhnlichen Anblick ab, der Lukas schmunzeln ließ.

„Guten Morgen“, sagte Matti und stellte die Schubkarre ab. „Du bist früh auf. Ich wollte Frühstück machen, nachdem ich die Pferde gefüttert und die Kühe gemolken habe.“

Offenbar war Matti deutlich früher auf gewesen als er.

„Ich helfe dir“, sagte Lukas.

„Aber dafür bist du doch nicht hier.“

„Glaubst du, ich lasse mich von dir bekochen und dich allein die Arbeit machen? Ob ich jogge oder arbeite, kommt auf das Gleiche raus.“ Er nahm die Schubkarre. „Ich kümmere mich um die Gäule. Geh und setz uns Kaffee auf.“

Matti sah ihn einen Moment lang unschlüssig an und rieb seine Hände aneinander, die in fingerlosen Handschuhen steckten. Dann nickte er. „Pass auf. Odin ist manchmal schreckhaft. Besonders wenn er jemanden nicht kennt.“

„Verstanden.“

„Aber er ist im Grunde ein lieber Kerl. Er ist seit zehn Jahren mein Pflegepferd. Kurz nach dem Mord an Ria hat Melcher mich gefragt, ob ich mich um ihn kümmern will. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte.“

„Gut, dass du ihn hattest.“

„Ja. Und es freut mich, dass du ihn kennenlernst.“

Die Pferde kamen neugierig zu den Boxentüren, als Lukas mit der Schubkarre den Stall betrat. „Odin, Freia und Thora“, las er auf den Namensschildern. Einen Augenblick blieb er unschlüssig stehen. Hatte er vor Matti den Mund etwas zu voll genommen? Er wusste nicht genau, wie das Füttern funktionierte. Die Pferde sahen ihn erwartungsvoll an. Vorsichtig packte er das Heu in die Raufen. Glücklicherweise stürzten sie sich begierig darauf und würdigten ihn keines Blickes mehr.

An Odins Box blieb Lukas stehen. Er war ein Friese mit sanften dunklen Augen und schnaubte leise in Lukas Richtung. „Danke, dass du für Matti da warst“, sagte Lukas und streckte sehr langsam die Hand aus. Odin ließ es zu, dass er seinen Hals tätschelte. Alle Boxen waren ausgemistet. Hatte Matti das schon erledigt?

In der Küche war es kalt, als er zurückkam und die Kaffeemaschine gluckerte. Auf dem Tisch standen Toast, Butter und selbstgemachte Marmelade.

„Es dauert immer eine Weile, bis die Heizung anspringt.“ Matti stellte ihm eine Tasse dampfenden Kaffee hin. „Heute Nacht konnte ich zum ersten Mal wieder schlafen. Weil du hier bist.“

Lukas hatte zu seiner eigenen Überraschung ebenfalls gut geschlafen. In Berlin wachte er öfter auf, lag dann manchmal stundenlang wach. Hier war sein Schlaf vollkommen ruhig gewesen.

„Odin ist ein schönes Tier“, sagte er und blies in seinen Kaffee.

Matti drehte sich zu ihm um. „Ja, nicht wahr? Ich habe auf ihm reiten gelernt.“

Draußen ertönte eine Fahrradklingel und sofort zerriss Hundegebell die Stille auf dem Hof.

Matti seufzte. „Max, der Briefträger. Er macht immer so ein Theater, wenn er ein Paket hat.“

Lukas folgte Matti, der die Tür öffnete, und ein junger Mann mit einem mausartigen Gesicht und schief sitzender Bille spähte an ihm vorbei. Lukas erkannte Max Achterkamp, der zwei Klassen unter ihnen gewesen war.

„Also bist du echt hier“, sagte Max.

---ENDE DER LESEPROBE---