Silberfluch - Tasha Winter - E-Book

Silberfluch E-Book

Tasha Winter

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Beschreibung

Nichts hasst Angus Macbain so sehr wie magiebegabte Menschen, die sich nicht an die Vorschriften halten. Er ist Sucher in Belfast und gemeinsam mit seiner Kollegin Nisha jagt er kriminelle Magier, Silberne genannt. Besonders der Schatten, der ihnen immer wieder entkommt, ist ihm ein Dorn im Auge. Dann geschieht ein Mord, bei dem Magie im Spiel war. Angus ist gezwungen mit Lorcan Flynn zusammenzuarbeiten, den er seit seiner Jugend kennt. Sie waren schon immer Rivalen, doch da war diese eine Nacht mit ihm, die Angus' Leben durcheinanderwirbelte. Lorcan verschwand danach wortlos. Jetzt ist er wieder in Belfast und Angus weiß nicht, wie er einen Mordfall aufklären soll, wenn er nicht Herr über seine eigenen Gefühle ist.

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Seitenzahl: 343

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Tasha Winter

Silberfluch

Roman

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2024

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte: stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-723-1

Inhalt

Nichts hasst Angus Macbain so sehr wie magiebegabte Menschen, die sich nicht an die Vorschriften halten. Er ist Sucher in Belfast und gemeinsam mit seiner Kollegin Nisha jagt er kriminelle Magier, Silberne genannt. Besonders der Schatten, der ihnen immer wieder entkommt, ist ihm ein Dorn im Auge.

Dann geschieht ein Mord, bei dem Magie im Spiel war. Angus ist gezwungen mit Lorcan Flynn zusammenzuarbeiten, den er seit seiner Jugend kennt. Sie waren schon immer Rivalen, doch da war diese eine Nacht mit ihm, die Angus' Leben durcheinanderwirbelte. Lorcan verschwand danach wortlos.

Kapitel 1

Die Sohlen von Angus Macbains Stiefeln glitten von den regennassen Dachziegeln ab. Nein, das hier war nicht seine beste Idee gewesen. Er suchte mit den Händen Halt und rutschte auf dem schrägen Dach weiter vorwärts. In die Tiefe zu sehen, wagte er nicht. Wie viele Stockwerke war er hinaufgelaufen, bevor er dem Schatten durch die Dachluke gefolgt war? Drei? Vier?

Eine nasse Haarsträhne hing ihm in die Augen, aber er hatte keine Hand frei, um sie zur Seite zu streichen. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass der Schatten es auf den Dachfirst geschafft hatte. Dort hockte er, in dunkelgrau gekleidet, und Angus war sich sicher, dass er unter der Sturmhaube hervor zu ihm herab starrte. Etwas an seiner Haltung erinnerte ihn an eine Krähe und es machte ihn wütend, wie wenig seiner Nemesis das steile Dach und der Regen ausmachten.

Angus biss die Zähne zusammen und schob sich weiter. Wenn er den Schatten nicht wieder entkommen lassen wollte, dann hatte er keine Wahl. Er erreichte einen Schornstein, zog sich daran hoch und erst jetzt richtete sich der Schatten auf und lief weiter, fast als habe er auf ihn gewartet. Vermutlich in der Hoffnung, Angus könne abstürzen. Wie eine Katze huschte er davon. Seine Art sich zu bewegen, ließ irgendetwas in Angus' Erinnerungen aufleuchten, aber er hatte jetzt keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren.

Angus knirschte mit den Zähnen und erreichte mit enormer Willensanstrengung den Dachfirst. Darauf zu balancieren traute er sich nicht zu, also rutschte er unelegant im Sitzen vorwärts. Er beobachtete, wie die graue Gestalt vor ihm am Ende des Daches behände nach unten sprang, und beeilte sich, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.

»Angus, komm zurück! Es regnet stärker, was du da veranstaltest, ist Wahnsinn.«

Nisha, seine Partnerin, hatte vermutlich recht, aber er war zu weit gekommen, um aufzugeben. Er triumphierte innerlich, als er über die Dachkante spähen konnte. Der Schatten stand auf einem flachen Vorsprung und sah zu ihm auf. Das nächste Haus war zu weit entfernt, als dass er es durch einen Sprung erreichen konnte. Er saß in der Falle.

»Stehen bleiben!«, rief Angus und ließ sich schwerfällig auf das Vordach fallen, nur wenige Meter von dem anderen Mann entfernt. Immerhin landete er auf den Füßen. Das hier war nicht sein elegantester Auftritt, aber er war endlich am Ziel. Er zog seine Waffe, die lediglich dazu gedacht war, Menschen zu betäuben. Sie waren Sucher, keine Polizisten und hatten es mit Silbernen zu tun, die illegal Magie wirkten. Ein Vergehen, das in Angus' Augen allerdings deutlich höhere Strafen verdient hätte.

»Hände hoch! Nehmen Sie die Sturmhaube ab.« Diese beiden Aufforderungen widersprachen sich, wie Angus gleich darauf einfiel, aber das war egal. Der Schatten befolgte nämlich keine davon. Er drehte sich um und sprang. Wie durch Zauberei landete er auf dem nächsten Dach. Und es war Magie im Spiel, sonst wäre dieser verdammte Kerl in die Tiefe gesegelt, wie er es verdient hätte.

Angus steckte die Waffe weg und ballte die Hände zu Fäusten. Er kochte vor Wut. Der Schatten war ihm in den letzten Wochen zwei Mal knapp entkommen. Er wurde immer frecher bei den Demonstrationen seiner Fähigkeiten. Dieser ganze Monat war für Angus eine einzige Katastrophe gewesen. Nichts in seinem Leben lief gut.

Er nahm Anlauf und sprang dem Schatten nach. In seinem Rücken hörte er Nishas Schrei. Also musste sie ihnen zumindest auf das nächste Dach gefolgt sein. Und dieser Schrei war auch das Letzte, das er jemals hören würde, denn natürlich verfehlte er das Dach um fast einen Meter und stürzte in die Tiefe.

Verdammt. War es das wirklich wert?

Seltsamerweise hatte er sogar Zeit, sich vor dem Aufprall zu fürchten. Ziemlich viel Zeit sogar. Offenbar stimmte es, dass alles vor dem Tod langsamer lief und man sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen sehen konnte. Angus sah zwar nicht sein Leben an sich vorbeziehen, aber der Aufprall kam ebenfalls nicht. Er dachte an Sian und entschuldigte sich im Stillen bei ihm. Und bei Nisha. Dann fiel ihm Cillian ein, sein Partner, und er fragte sich, ob der nicht im Stillen erleichtert sein würde.

Etwas stimmte nicht. Blinzelnd öffnete er die Augen und sah, dass das erste Stockwerk des Gebäudes, auf das er hatte springen wollen, sehr langsam an ihm vorbeizog, fast wie in Zeitlupe. Und dann begriff er: Er schwebte zu Boden. Was hatte das zu bedeuten? Es fiel ihm nur eine Lösung ein: Jemand benutzte Magie, um ihn zu retten. Aber wer sollte das sein?

Er kam sacht wie eine Feder auf dem Boden auf und blieb einen Moment still liegen. Es war seltsam, so sanft zu landen, wenn man gerade noch sicher gewesen war, dass einem alle Knochen im Leib zerschmettert werden würden. Er wartete, bis sein Herzschlag sich beruhigte, und richtete sich erst dann auf.

Nisha kam auf ihn zugestürzt. Sie musste die Treppen nach unten in Windeseile genommen haben. Er hatte erwartet, dass sie wütend sein würde, aber da war nur Entsetzen in ihrem Blick. Natürlich. Sie hatte nicht gesehen, dass er nicht gefallen war.

Er hob eine Hand, um sie zu beruhigen, und sie hielt inne, stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab, um zu Atem zu kommen. »Geht es dir gut?«

»Ja, alles in Ordnung. Jemand hat meinen Fall abgebremst.«

»Jemand hat dich gerettet?«

Er nickte.

»Angus Macbain.« Jetzt war da doch Wut in ihrer Stimme. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Sie richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich dachte, du wärst tot oder zumindest schwer verletzt!«

»Schon gut, Nisha. Ich weiß, dass das nicht gut durchdacht war.« Er stand auf, etwas wackelig auf den Beinen.

»Nicht gut durchdacht? Das war vollkommen irre.«

»So weit würde ich nicht gehen. Immerhin habe ich meinen Job gemacht.« Angus klopfte seine Jeans ab. Ein Vorteil ihres Berufs als Sucher war es, dass sie keine Uniformen tragen mussten. Angus hasste Uniformen.

»Deinen Job?« Nisha schnaubte. »Du bist ja vollkommen besessen von diesem Schatten. Niemand ist es wert, dass du dein Leben riskierst. Sei froh, dass er zumindest genug Anstand hatte, dich zu retten. Vermutlich wollte er kein Menschenleben auf dem Gewissen haben.«

Angus sah sie entgeistert an. »Du denkst, der Schatten hat mich gerettet?«

»Natürlich. Oder hast du über Nacht magische Kräfte entwickelt?«

»Nein. Aber der Schatten? Komm schon, das kannst du nicht wirklich glauben.« Alles in Angus sträubte sich gegen diese Annahme. »Dieser Verbrecher hätte lachend zugeschaut, wie ich abstürze, da bin ich mir sicher.«

»Dann hast du offenbar einen Schutzengel mit starken Fähigkeiten. Telekinese habe ich ja schon öfter gesehen, auch wenn es eine der schwierigeren Disziplinen ist, aber dass jemand einen Menschen mitten im freien Fall aufhält ... alle Achtung.«

Angus blickte sich um, als könne er seinen Retter noch entdecken, doch die Straße war menschenleer.

»Seien wir froh, dass du noch mal mit dem Leben davongekommen bist«, sagte Nisha. »Wir sollten Sharp darum bitten, dass jemand anderes sich um den Schatten kümmert. Diese Sache nimmt dich zu sehr gefangen.«

»Auf keinen Fall! Ich kriege den Kerl und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

»Nach dem, was ich heute gesehen habe, wird es das tatsächlich sein. Was ist los mit dir, Angus? Bist du lebensmüde?«

»Natürlich nicht.«

Sie trat näher an ihn heran, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihm fest in die Augen. »Mach so was nicht noch mal, hörst du? Dein Leben ist das Wichtigste, vergiss das nicht.«

»Ja, du hast recht«, sagte er, gerührt von ihrer Sorge. Dann blickte er hoch zum Dach, aber der Schatten war längst verschwunden.

Sie gingen die Straße entlang zurück zu ihrem Einsatzfahrzeug. Nisha hatte es nahe dem Platz geparkt, an dem ihnen die illegale Nutzung von Magie gemeldet worden war. Angus hätte sich darüber gefreut, wenn sie einen BMW oder Volvo hätten fahren können. Er hatte immer das Gefühl, dass man sie mit dem kleinen hellblauen Ford, der ihnen zur Verfügung stand, nicht ernst nahm, wenn sie bei einem Einsatz auftauchten. Aber Nisha war der Meinung, das bilde er sich nur ein.

»Willst du zurück auf die Wache?«, fragte Nisha. »Oder wollen wir zuerst was trinken auf den Schreck?«

»Das zweite klingt nach einer guten Idee.«

Das »Old Duck«, ihre Stammkneipe, lag unweit der Wache im Cathedral Quarter, das seine Urtümlichkeit bewahrt hatte, gleichzeitig aber das fortschrittlichste Viertel der Stadt war. Glücklicherweise öffnete das »Old Duck« schon nachmittags. Das Gebäude war mit dunklem Holz verkleidet und an den Wänden hingen Musikinstrumente. Hinter der Bar befand sich ein riesiges Sammelsurium aus Flaschen und daneben stand ein Fass, auf das eine Ente gemalt war. Daher hatte der Pub vermutlich seinen Namen. Es gab eine Jukebox, über der eine große Pride Flag hing. Angus nahm mit Nisha an ihrem Stammplatz im hinteren Teil des Pubs Platz.

Alkohol war im Dienst verboten, und obwohl Angus ein Pint Guiness jetzt gut vertragen hätte, entschied er sich stattdessen für eine Cola. Osvaldo Vasquez, der Inhaber des Pubs, stellte die beiden Gläser, in denen Zitronenscheiben schwammen, mit einem breiten Grinsen vor ihnen ab.

»Kann ich sonst noch was für euch tun?«, fragte er. »Ihr seht ein bisschen mitgenommen aus. Anstrengender Fall? Machen euch die Wölfe wieder zu schaffen?«

Angus winkte ab. »Der Schatten. Frag lieber nicht weiter.«

»Ihr solltet mal Urlaub nehmen. Ein bisschen in die Sonne. Angus, du bist auf jeden Fall zu blass.«

»Er wird nicht braun«, sagte Nisha. »Nur rot.«

Angus nickte bestätigend und nahm einen Schluck von seiner Cola.

»Urlaub wäre aber trotzdem nicht schlecht.« Er überlegte, ob Cillian mit ihm in den Urlaub fahren würde. War es seltsam, dass sie das noch nie gemeinsam gemacht hatten? Tat man das nicht als Paar? Aber andererseits wollte er Sian ungern alleinlassen. Seinem Bruder ging es gerade nicht besonders gut.

»Ich kann euch ein paar schöne Orte auf Barbados empfehlen«, sagte Osvaldo und seufzte. »Da bin ich zu selten. Und hier regnet es schon wieder.« Er sah missmutig zu dem kleinen Fenster, das auf die Straße hinausging.

Angus hatte nichts gegen Regen, solange er hier in diesem gemütlichen Pub saß, in dem es nach Fish'n'Chips duftete und Whiskeywerbungen an den Wänden hingen.

Osvaldo warf sich sein Geschirrtuch über die Schulter und verschwand hinter der Bar, an der zwei weitere Gäste Drinks bestellten.

Angus lehnte sich über den Tisch zu Nisha. »Ich wäre dir dankbar, wenn du Sharp gegenüber nichts von meiner Aktion vorhin erwähnst.«

Lex Sharp war ihr Boss und Angus war sich sicher, dass Sharp ihm den Kopf waschen würde, wenn xier erfuhr, was er sich geleistet hatte. Nicht dass Sharp je laut wurde, das war nicht xiere Art. »Ich fürchte, dass xier mich für ein paar Tage vom Dienst suspendieren könnte.«

»Vielleicht wäre das nicht das Schlechteste.« Nisha sah in ihre Cola.

»Das meinst du doch nicht ernst, oder?«

»Überleg mal, Angus. Du warst vorhin nicht du selbst. Du hast dein Leben riskiert, nur weil der Schatten dich mal wieder provoziert hat.«

»Mich provoziert hat? Er hat eine Straftat begangen, Nish.«

»Er hat ein Auto schweben lassen, na und? Niemand ist dabei zu Schaden gekommen. Und nenn mich nicht Nish, Nisha ist genug abgekürzt.«

Angus stutzte. »Möchtest du lieber, dass ich Benisha zu dir sage?«

»Nein, es wäre mir nur lieb, wenn mein Name nicht irgendwann zu Ni werden würde.«

Angus nickte und nahm einen Schluck von seiner Cola. »Verstanden. Jedenfalls wird es Zeit, dass der Schatten hinter Schloss und Riegel kommt. Er hält die gesamte Stadt in Aufruhr.«

»Besonders dich, scheint mir.«

»Wer weiß, was er sich als Nächstes einfallen lässt. Die Silbernen werden immer wagemutiger, weil er damit durchkommt.«

»Glaubst du wirklich, dass der Schatten daran schuld ist?«

»Auf jeden Fall macht er die Situation nicht besser.«

Osvaldo tauchte mit zwei Schüsseln Irish Stew an ihrem Tisch auf, die er vor ihnen abstellte. Angus' Stimmung hellte sich zum ersten Mal an diesem Tag auf.

»Neues Rezept«, sagte Osvaldo. »Ihr seid meine Versuchskaninchen.«

»Nichts lieber als das.« Angus griff nach dem Löffel. Das Stew schmeckte großartig. Gut durchgezogen und mit reichlich Knoblauch, genau, wie er es mochte. Allerdings noch etwas zu heiß zum Essen.

Der Messenger, den Nisha an ihrem Gürtel trug, gab einen durchdringenden Ton von sich und sie sah darauf.

»Sharp«, sagte sie. »Wir sollen sofort auf die Wache kommen.«

Angus ließ den Löffel sinken. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Leider doch. Es scheint sich um einen Notfall zu handeln. Komm schon, du kannst das später essen.«

»Aber dann ist es kalt.«

»Angus!« Nisha war bereits aufgestanden.

»Ja, schon gut. Auf den Schreck hätte ich eben etwas Warmes vertragen können.«

»Ihr geht?«, rief Osvaldo, der hinter dem Tresen Gläser abtrocknete.

»Sharp.« Nisha seufzte bedauernd.

»Seid ihr heute Abend dabei? Wir haben mal wieder Livemusik. Bring doch deine Bodhrán mit, Angus. Es ist so lange her, dass du dabei warst.«

Das stimmte und der Gedanke klang verlockend. Er war sich nur nicht sicher, was Cillian davon halten würde.

»Klingt gut«, sagte Nisha. »Ich bin dabei. Bis später, Osvaldo, und heb uns was von dem Stew auf.«

Er winkte mit dem Geschirrtuch und kurz darauf standen Angus und Nisha auf der Straße. Das Kopfsteinpflaster glänzte vom Regen und sie zogen die Köpfe ein, als sie zum Revier hasteten. Für die paar Meter lohnte es sich nicht, das Auto zu nehmen.

Die Wache war in einer engen Nebenstraße in einem Backsteinhaus untergebracht. Angus mochte das Gebäude, auch wenn es ein wenig altmodisch war und das Treppenhaus leicht modrig roch. Er hätte sich nur gewünscht, dass der Kaffeeautomat moderner wäre und der Kaffee trinkbar. Ihr kleines Büro lag im ersten Stock, das von Sharp befand sich im zweiten. Die Stufen der Holztreppe knarrten unter ihren Füßen.

Nisha klopfte an und sie traten auf ein knappes »Herein« hin ein. Sharps Büro war unpersönlich eingerichtet. Es wirkte so, als habe der Eigentümer oder die Eigentümerin nur Arbeit im Sinn und so schätzte Angus Sharp auch ein. Ein Schreibtisch mit einem MacBook, zwei Stühle davor und eine kleine Sitzecke. Keine Fotos oder Gimmicks, die es auf Angus' Schreibtisch zuhauf gab. Er hätte gern mehr Platz dafür gehabt. Die einzige Dekoration in Sharps Büro war eine Zimmerpflanze, die prächtig gedieh und ihre Triebe über das schmale Regal an der Backsteinwand schob.

Sharp stand hoch aufgerichtet hinter dem Schreibtisch. Ein Blick auf xiere Handgelenke zeigte Angus, dass sie heute mit weiblichen Pronomen angesprochen wurde, denn sie trug das schmale schwarz-weiße Band am rechten Arm. Sharps Haare waren raspelkurz geschoren und der schiefergraue Anzug saß perfekt. Angus war sich sicher, dass ein Anzug an ihm niemals so makellos aussehen würde, selbst wenn er maßgeschneidert wäre. Der einzige andere Mensch, den er kannte, der Anzüge so gut tragen konnte, war Lorcan Flynn. Und an ihn wollte er jetzt sicher nicht denken.

Sharps helle Augen, die einen Kontrast zu ihrer leicht bronzenen Haut bildeten, richteten sich auf sie.

»Angus, Nisha, gut, dass ihr so schnell hier sein konntet«, sagte sie. »Wir brechen sofort auf. Ich erkläre euch alles unterwegs. Wir nehmen meinen Wagen.«

Angus seufzte. Das klang nicht so, als wäre das hier eine kurze Sache. Ihm tat es immer noch leid um das Stew und sein Magen knurrte beim Gedanken daran.

Kapitel 2

Angus ließ sich auf die Rückbank von Sharps Auto fallen, darauf bedacht, die Ledersitze nicht zu beschmutzen. Er hatte Respekt vor der Limousine. Ehrfürchtig legte er sich den Anschnallgurt um.

»Wohin fahren wir?«, fragte Nisha, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

»Ich möchte, dass ihr euch zunächst selbst ein Bild macht und nicht durch meine Worte voreingenommen seid«, sagte Sharp. »Es ist nicht weit.«

Sie fuhren in Richtung des Titanic Quarters und es dauerte nicht lange, bis Angus das Titanic Belfast Museum vor sich auftauchen sah. Er war selbst noch nie dort gewesen, wie er zu seiner Schande gestehen musste. Cillian war nicht begeistert darüber, wie wenig er sich für Kultur interessierte, das war ihm schmerzlich bewusst. Er bewunderte dessen Interesse an Kunst und seine Belesenheit, aber er selber kam sich in Museen vor wie ein Kind, das auf die Bilder starrte und nicht einmal begriff, was darauf zu sehen war. Wenn er las, schlief er regelmäßig ein, was Cillian schon des Öfteren ironisch kommentiert hatte. Ja, vielleicht war sein Gehirn nicht für diese Art der Unterhaltung gemacht, aber es war nicht so, dass er keine Interessen hatte. Musik liebte er zum Beispiel. Folklore genau wie Heavy Metal. Damit konnte wiederum Cillian nichts anfangen, der ausschließlich Klassik hörte. Und der einzige Komponist, dessen Namen sich Angus merken konnte, war Beethoven. Doch sogar dessen Stücke erkannte er nie.

Aber all das tat jetzt nichts zur Sache. Es gab wichtige Dinge, auf die er sich konzentrieren musste. Lex Sharp hatte sie, soweit er sich erinnern konnte, noch nie zu einem Tatort gefahren. Wenn irgendwo illegal Magie gewirkt wurde, bekamen sie eine Nachricht auf ihren Messenger und begaben sich dort hin, um nach dem Rechten zu sehen. Das hier musste eine größere Sache sein.

Ihm kam sofort der Schatten in den Sinn. Aber hätte dieser tatsächlich direkt nach ihrer Verfolgung bereits den nächsten Coup in Angriff genommen? Der Schatten war klug, das hatte Angus schon des Öfteren festgestellt. Und er schätzte ihn eher so ein, dass er sich jetzt eine Weile ruhiger verhalten würde.

Sie hielten am Hafen. Das Titanic Belfast ragte windschnittig links von ihnen auf und rechts befanden sich große Hallen, in denen Fracht gelagert wurde. Ein Stück entfernt standen die riesigen Lastenkräne, die Angus immer an Dinosaurier erinnerten. Jetzt durch den leichten Nieselregen wirkten sie noch mehr wie archaische Tiere. Eine Möwe schrie und Angus fröstelte. Nicht weil ihm kalt war, er fror fast nie, aber er hatte kein gutes Gefühl. Irgendetwas lag in der Luft wie eine lauernde Stille. Etwas war heute anders.

Der Hafen war für Angus und Nisha kein unbekanntes Gebiet. Die Wölfe hielten sich häufig hier auf, wenn sie nicht in Gaeltacht Quarter ihr Unwesen trieben. Sie bereiteten Angus und Nisha, abgesehen vom Schatten, im Moment am meisten Probleme. Es handelte sich um eine Gruppe meist junger Silberner, die sich nicht an die Vorschriften hielt und Magie auch für kleinere Gaunereien einsetzte. Aber darum konnte es sich diesmal nicht handeln, sonst wäre Sharp nicht bei ihnen.

Sharp ging voran in Richtung der Lagerhallen und Angus tat es ein bisschen um ihre Schuhe leid, deren teures Leder sicher unter der Feuchtigkeit und dem Ölfilm auf dem Boden leiden würde. Sharp selbst schien keinen Gedanken daran zu verschwenden und wich den Pfützen nicht aus.

Angus und Nisha wechselten einen Blick, als sie die Polizeiautos sahen, die neben der Halle geparkt waren. Sharp hielt das Polizeiband hoch, das vor dem Eingang der ersten Lagerhalle gespannt war, und sie duckten sich darunter hindurch.

Ein etwas untersetzter Mann mit einer runden Brille kam auf sie zu und drückte Sharps Hand. Er trug das schwarz-weiße Bändchen am linken Handgelenk.

»Hauptkommissar Webb«, begrüßte ihn Sharp. »Das sind Sarkar und Macbain, meine besten Mitarbeiter*innen.«

»Ich bin froh, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte Webb und Angus erinnerte sich dunkel, dass er ihn bereits hin und wieder gesehen hatte. Im Fernsehen und bei den unregelmäßigen Zusammenkünften mit der Polizei. Aber Webb hielt sich, soweit er wusste, von magischen Verbrechen fern. Er war für ernstere Angelegenheiten zuständig wie Mord und organisierte Kriminalität. Angus ungutes Gefühl wurde stärker.

»Kommen Sie mit in den hinteren Teil der Halle. Ich muss wohl nicht darauf hinweisen, dass absolute Diskretion geboten ist.«

»Das versteht sich von selbst«, sagte Sharp.

»Ich muss sie warnen, es ist kein schöner Anblick.«

Sie folgten ihm an einigen Polizisten vorbei, die auf Spurensuche waren, und duckten sich dann unter einem weiteren Absperrband hindurch.

Nach allem, was hier vor sich ging, war es nicht so, dass Angus nicht mit einer Leiche gerechnet hatte. Dennoch war es ein kurzer Schock, den Mann auf dem Boden zu sehen. Sein grauenvoll verzerrtes Gesicht war blau angelaufen. Der Mund wie zu einem tonlosen Schrei geöffnet, die vor Entsetzen geweiteten Augen zur Decke gerichtet. Seine Hände waren zu Klauen verformt.

Angus schluckte. Er hätte sich gern abgewendet, wollte aber in diesem Moment keine Schwäche zeigen. Es überraschte ihn selbst, wie sehr ihm der Anblick zusetzte.

»Verdammt«, hörte er Nisha neben sich leise flüstern und war erleichtert darüber, wie entsetzt sie klang. Sie war eindeutig die Besonnenere von ihnen. Angus erlaubte sich, sich kurz abzuwenden, und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Zwar war es nicht das erste Mal, dass er eine Leiche sah, aber noch nie war es die eines Mordopfers gewesen. Das hier war grauenvoll. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Dankbar fühlte er Nishas Hand zwischen seinen Schulterblättern. Er nahm ein paar Atemzüge und drehte sich dann wieder zu der Leiche.

Sharp war inzwischen neben dem toten Mann niedergekniet und nahm ihn ruhig in Augenschein. Dann wandte sie sich zu Angus und Nisha. »Was seht ihr?«

»Einen toten Mann«, hätte Angus gern geantwortet, aber er wollte vor Sharp und dem Kommissar ungern als dumm dastehen. Sicher gab es hier etwas, das er übersah.

»Das ist Graham Foley, nicht wahr?«, fragte Nisha. »Er hat für einen Platz im Unterhaus kandidiert.«

»Das haben Sie gut erkannt«, sagte Webb. »Wegen des entstellten Gesichts hat eine Weile gedauert, bis meine Leute ihn identifizieren konnten. Fällt Ihnen noch etwas auf?«

Nisha kniete sich neben Sharp. »Auf den ersten Blick ist mir nicht klar, wie er gestorben ist. Seinem Ausdruck nach könnte er erwürgt worden sein, aber da sind keine Male an seinem Hals, die dafür üblich wären.«

»Richtig«, bestätigte Webb. »An Ihnen ist eine Kommissarin verloren gegangen.«

Angus ignorierte den kleinen Stich, den ihm das gab. Er wusste ja, dass Nisha die Klügere von ihnen war. Es war nur manchmal nicht leicht, immer wieder daran erinnert zu werden.

»Sieht aus, als sei er durch Magie gestorben«, warf er ein, eher um überhaupt etwas beizutragen, und war sicher, dass Sharp ihm einen dieser Blicke zuwerfen würde, wie jedes Mal, wenn er etwas Unpassendes von sich gab.

»Sehr gut, mein Lieber«, Webbs Tonfall war zu Angus' Überraschung anerkennend. »Was lässt sie darauf schließen?«

»Keine äußeren Anzeichen«, sagte Angus. »Und die Tatsache, dass wir hier sind, um ehrlich zu sein.«

Webb lachte. Offenbar hatte er trotz der entstellten Leiche seinen Humor nicht verloren. Vermutlich ging es nicht anders, wenn man in seinem Job arbeitete. Angus fand es trotzdem unpassend. Ihm selbst drehte sich beim Anblick von Foley der Magen um. Er hatte ihn nicht erkannt, auch wenn er ihn etliche Male auf Plakaten und einmal im Fernsehen gesehen hatte.

Webb klopfte ihm auf die Schulter. »Gut kombiniert, mein Lieber. Deswegen sind Sie hier.«

Sharp erhob sich mit einer schnellen Bewegung. »Der erste Mord in Belfast, der mit Magie in Zusammenhang gebracht wird. Einer der ersten Tötungsdelikte überhaupt, bei dem das der Fall ist.«

»Also waren da weitere?«, fragte Nisha. »Das wusste ich nicht.«

»Es gab im letzten Jahr einen ähnlichen Fall in Dublin. Der Verdacht, dass Silberne beteiligt sein könnten, wurde unter Verschluss gehalten, weil es nie bewiesen werden konnte. Damals handelte es sich um einen Obdachlosen, den kein Mensch vermisst hat. Schrecklich, aber es hat niemanden gestört, dass der Fall nicht aufgeklärt werden konnte. Ich wurde informiert, ebenso wie die obersten Sucher aller anderen Städte. Wir waren uns einig, dass es nur Unruhen geben würde, wenn der Verdacht an die Öffentlichkeit gelänge. Wie gesagt, konnten wir nie nachweisen, dass Magie im Spiel war. Dass es jetzt einen weiteren Fall gibt, verschärft die Lage.«

»Wie soll man beweisen, dass Magie gewirkt wurde?«, fragte Nisha. »Es gibt keine eindeutigen Zeichen. Vor diesem Problem stehen Angus und ich ja ständig. Uns wurde schon erzählt, dass Schlösser ganz von allein aufgesprungen seien oder dass Schmuck sich völlig selbstständig in Manteltaschen verirrt hätte.«

Angus schnaubte. »Sehr wahr.«

Webb nickte bedauernd und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Das ist die große Schwierigkeit. Zu beweisen, dass das Opfern durch Einwirkung von Magie gestorben ist, wird schwer werden.«

»Deswegen müssen wir dieses Mal unbedingt den Täter oder die Täterin finden«, erklärte Sharp. »Einer der Gründe, warum wir hier sind. Wir kennen uns im Milieu der Silbernen in Belfast aus.«

Angus nickte. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, in eine Mordermittlung verwickelt zu werden. Aber er verstand, dass es notwendig war. Ihm kam sofort der Schatten in den Sinn. »Kann man sagen, seit wann der Mann tot ist?«, fragte er.

»Seit letzter Nacht, das ist sicher«, sagte Webb. »Vermutlich wurde er zwischen Mitternacht und zwei Uhr in diesem Lagerhaus ermordet. Es ist bisher vollkommen unklar, was er hier zu suchen hatte. Gut möglich, dass er in eine Falle gelockt wurde.«

»Klar ist auch, dass die Silbernen ein Motiv hätten«, ergänzte Sharp. »Foley hat damit geworben, dass er nach seiner Wahl die Regelungen für Magie extrem verschärfen will. Das hat ihm viele Anhänger eingebracht.«

Angus nickte. Seine Stimme hätte Foley gehabt. Es gab unzählige Schlupflöcher und Möglichkeiten, Magie illegal unbehelligt einzusetzen. Manchmal kam er sich bei der Ausführung seines Berufs vor wie ein Vasall, der keinerlei Handlungsspielraum hatte. Strengere Regelungen waren seiner Meinung nach unbedingt notwendig. Jetzt sah man ja, wozu es führte, wenn den Silbernen freie Hand gelassen wurde.

 Es kribbelte unangenehm in Angus' Nacken. Spinnensinne, wie Sian es genannt hätte. Damit bezeichnete er all jene Empfindungen, die sich rational nicht erklären ließen, aber einem dennoch mitteilten, dass etwas nicht in Ordnung war. Sians Spinnensinne waren sehr gut ausgeprägt. Angus fühlte so etwas normalerweise nie, aber jetzt wusste er, wovon sein Bruder sprach.

Er drehte sich um und sein Magen zog sich zusammen, als er sah, wer auf sie zukam. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen, aber die schlanke, hochgewachsene Gestalt von Lorcan Flynn hätte er immer wieder erkannt. Vielleicht lag es auch an seinem Gang, dass Angus sofort wusste, wer er war. Leicht federnd schritt er weit aus, so als sei er fest davon überzeugt, dass ihm der Boden, über den er lief, gehörte. Lorcans Aussehen hatte sich seit der Universität kaum verändert. Er trug sein pechschwarzes Haar lang und seine Haut war beinahe unnatürlich blass, die grünen Augen so durchdringend, dass Angus sich früher manchmal gefragt hatte, ob er Kontaktlinsen benutzte. Seine Lippen waren schmal und es wirkte immer so, als ziehe er eine Augenbraue hoch.

Die alte Abneigung wallte in Angus auf, als kurze Bilder in seinem Geist aufleuchteten. Seine erste Erinnerung an Lorcan. Der abschätzige Blick, als Angus im Mathematikunterricht an der Tafel keine der Aufgaben hatte lösen konnte. Lorcan, der die Abschlussrede ihres Jahrgangs hielt und danach vom Direktor in höchsten Tönen gelobt wurde. Sein aufgesetztes bescheidenes Lächeln, das sich zu einem höhnischen Grinsen verzog, als er in Angus' Richtung sah. Lorcan, der in der mündlichen Prüfung, die sie in einer Gruppe absolvierten, jede Frage mühelos beantwortete, während Angus Blut und Wasser schwitzte. Lorcans Blick zu ihm, als die Ergebnisse der Abschlussklausur mitgeteilt wurden und Angus durchgefallen war. In all seinen schlechtesten Momenten war Lorcan anwesend gewesen und hatte die Prüfungen, in denen Angus versagte, mühelos gemeistert. Er war der beste Absolvent ihres Studiengangs gewesen und hatte sich danach entschieden, kein Sucher zu werden, sondern in die Magieforschung zu gehen. All diese Erinnerungen zogen an Angus' innerem Auge vorbei und noch eine weitere, die er sofort in die hintersten Kammern seines Geistes verbannte.

Flynn trug ein irisierendes grünes Hemd, dunkle Hosen und einen langen schwarzen Mantel aus dünnem Stoff. Auch an seinem Kleidungsstil hatte sich nichts geändert. Sein Armband hatte er noch immer am linken Handgelenk.

»Was machst du hier?«, fragte Angus und versuchte, seinen ganzen Unwillen in diese Frage zu legen. »Ich dachte, du unterrichtest an der Universität in Dublin.«

»Das habe ich auch.« Lorcan zog eine Augenbraue hoch. Eine Angewohnheit, die Angus schon immer gehasst hatte, weil sie ihn noch herablassender erscheinen ließ. »Glaub mir, ich bin nicht glücklich darüber, dass ich hier bin.«

»Oh, da bist du nicht der Einzige.«

»Angus!« Sharp sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. »Wo sind deine Manieren?«

»Hatte er jemals welche?«, fragte Lorcan mit einem falschen Lächeln. »Ich kann mich erinnern, dass es da gewisse Defizite gab.«

Angus' Kiefer pressten sich aufeinander. »Zumindest habe ich keine Defizite in anderen Bereichen.«

»Nicht?« Lorcans Augenbraue wanderte noch höher.

Angus sah, wie Nisha die Augen verdrehte, und verschränkte die Arme vor dem Körper. Sie hatte ja recht. Wieso ließ er sich überhaupt von diesem Lackaffen provozieren? Die Zeiten, in denen Lorcan Flynn irgendeine Art von Reaktion bei ihm hervorgerufen hatte, waren lange vorbei.

»Meine Herren«, sagte Sharp. »Ich muss doch sehr bitten. Wir haben es mit einem Mordfall zu tun. Können Sie Ihre persönlichen Konflikte aus dem Spiel lassen?«

Zu Angus' Freude sah Lorcan peinlich berührt aus. Dann fiel ihm allerdings ein, dass der Tadel genauso ihm selbst gegolten hatte.

»Entschuldigen Sie bitte. Das war unangemessen.«

»Es freut mich trotzdem, dass Sie so schnell kommen konnten, Mr. Flynn.« Webb schüttelte seine Hand. »Ich hoffe, dass wir diesen Fall gemeinsam schnellstmöglich lösen können. Möchten Sie sich am Tatort umsehen?«

Lorcan nickte und kniete dann neben der Leiche nieder. Für die nächsten Minuten war er vollkommen auf den leblosen Körper vor sich konzentriert und Angus fragte sich, was er da tat. Er selbst kämpfte noch mit der Wut darüber, dass Lorcan aufgetaucht war. Es gab Menschen, denen es verboten werden sollte, wieder in das eigene Leben zu treten, vor allem ohne Vorwarnung. Er hatte das Gefühl, dass er sich vor Sharp und Webb blamiert hatte, so wie es ihm ständig passierte, wenn Lorcan in der Nähe war. Es schien ihm fast, als sei dessen Anwesenheit ein Auslöser für ihn zu versagen. Das war schon immer so gewesen und er fand es schlimm, dass sich daran in drei Jahren nichts verändert hatte.

Nisha bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen und sie entfernten sich ein wenig von der Gruppe. Sie stand vor ihm und sah zu ihm auf.

»Du darfst dich von Lorcans Anwesenheit nicht aus dem Konzept bringen lassen. Ich habe keine Ahnung, was damals an der Uni zwischen euch vorgefallen ist, aber ich weiß, dass du eigentlich nicht nachtragend bist. Also muss es ziemlich unangenehm gewesen sein. Versuch trotzdem, es jetzt zu vergessen. Er ist hier und wir haben einen Mordfall, bei dessen Aufklärung wir helfen müssen.«

Angus' Schultern entspannten sich. Nisha hatte recht. Dass Lorcan wieder hier war, hieß nicht, dass er in Konkurrenz zu ihm treten musste, wie er es damals getan hatte. Er war sowieso jedes Mal gescheitert.

»Er ist so ein unangenehmer Mensch.« Er blickte zu Lorcan, der sich erhoben hatten und den Tatort in Augenschein nahm, als sei er in der Lage hier mehr zu erkennen, als die Normalsterblichen. »So sehr von sich überzeugt, so herablassend. Ich war für ihn immer schon eine Lachnummer.«

»Das sagt doch nichts über dich aus«, warf Nisha ein. »Denk nicht darüber nach, was er von dir hält. Es kann dir doch egal sein. Eng werden wir vermutlich sowieso nicht zusammenhalten. Ein paar Besprechungen wirst du durchstehen. Wir lösen diesen Fall so schnell wie möglich und dann können wir Flynn zurück nach Dublin schicken und du musst ihm nie wieder begegnen.«

»Hoffen wir es.« Angus hatte eine dunkle Vorahnung. Bisher hatten Lorcan Flynn und er stets auf die eine oder andere Art mehr miteinander zu tun gehabt, als ihm lieb war.

Kapitel 3

Testweise wippte Angus mit seinem Stuhl. Er war noch nie in einem so edlen Besprechungsraum gewesen. Er befand sich im obersten Stockwerk des Gerichtsgebäudes und der war fast rundum verglast, was ihm nach seinem Sturz vor ein paar Stunden ein mulmiges Gefühl gab. Ein riesiger Bildschirm am vorderen Ende des Raums zeigte Fotos vom Tatort und die Stühle sahen teuer aus, waren aber unbequem. Glücklicherweise gab es Kaffee, den er dringend brauchte. Er trank seinen mit viel Milch und Zucker, was Cillian missbilligt hätte, aber Angus beschloss, dass er es sich verdient hatte. Fast aus Trotz nahm er sich auch ein paar von den Keksen, die in der Mitte standen, und ärgerte sich kurz darauf darüber, weil er der Einzige war, der ans Essen dachte.

Die oberste Staatsanwältin, Elizabeth Rose, kannte er nur flüchtig von den wenigen Prozessen, an denen er teilgenommen hatte, und die wichtig genug gewesen waren, dass sie einen Blick darauf geworfen hatte. Sie war Ende fünfzig, eine attraktive Frau mit schulterlangem grauem Haar, die stets farbige Anzüge trug. Heute war es ein Modell in einem zarten Blau, das ihre gute Figur betonte. Sie hatte eine Ausstrahlung, die dazu führte, dass vermutlich sogar Möbelstücke ihre Wünsche erfüllten.

»Mrs. Sharp, ich bin dankbar, dass Ihre Behörde uns bei diesem Fall zur Seite stehen wird«, begann sie die Sitzung. »Und auch Ihnen danke ich für Ihre schnelle Anreise, Mr. Flynn.«

Flynn, der Angus schräg gegenübersaß, neigte kurz den Kopf. Wenn Angus es nicht besser gewusst hätte, hätte er gedacht, dass er Bescheidenheit zeigte.

»Wir wissen alle, warum es wichtig ist, diesen Fall schnell aufzuklären«, fuhr Rose fort. »Wenn die Bevölkerung erfährt, dass es bei dem Mord Einwirkung von Magie gegeben hat, könnte es Unruhen geben.«

Zu Recht, dachte Angus. Er verstand nicht, warum vor den Menschen verheimlicht werden sollte, dass ein Mord mithilfe von Magie geschehen war. Seiner Meinung nach hatten sie ein Recht darauf, es zu wissen. Und im Grunde war es ja nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es so weit kam. Menschen waren nicht in der Lage, mit Magie verantwortungsvoll umzugehen. Das machte sie gefährlich.

Er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was Staatsanwältin Rose sagte, aber sein Blick schweifte immer wieder zu Lorcan. Jetzt, da er ihn in Ruhe betrachten konnte, sah er die kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln, die ihn noch attraktiver machten, wie Angus verärgert feststellte. Manchmal hätte er gern gewusst, ob Lorcan wirklich so schön war, wie er es empfand. Wirkten dessen scharfe Gesichtszüge, seine sehr dunklen Augenbrauen und der durchdringende Blick auch für andere so anziehend? Das wollte er schon so lange wissen, aber er wollte sich nicht blamieren, indem er jemanden danach fragte.

Lorcan sah mit einem kleinen Stirnrunzeln zu ihm und Angus blickte zur Seite, fühlte seine Wangen warm werden. Er hasste das. Normalerweise wurde er nie rot, aber in Lorcans Gegenwart passierte es ihm immer wieder. Er angelte nach einem Keks.

»Sind alle Anwesenden einverstanden?«, fragte Staatsanwältin Rose in dem Augenblick als Angus in den Keks biss und ihm wurde bewusst, dass er die letzten Minuten ihrer Ausführungen nicht mitbekommen hatte. Also nickte er und versuchte, nicht zu krümeln. Ihn überraschte der fassungslose Blick, den Nisha ihm zuwarf.

»Was?«, fragte er lautlos.

»Sehr gut, dann ist beschlossen, dass es zwei Sonderteams geben wird, die sich mit dem Mordfall beschäftigen.« Rose schob ein paar Unterlagen zusammen, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Sucherin Nisha Sarkar arbeitet für diesen Fall mit Detective Harlan Greenaway zusammen.«

Angus legte den Keks weg. Ihm schwante Schreckliches.

»Sucher Angus Macbain bildet ein Team mit Dr. Lorcan Flynn.«

Angus stand auf, sein Stuhl kippte nach hinten und verursachte ein lautes Krachen in der Stille des Raums. Es war ihm egal. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte er.

Rose hielt in ihrer Bewegung inne und sah ihn an, als sei er ein Regenwurm, der sich irgendwie auf ihren Tisch verirrt hatte. »Wie bitte, Mr. Macbain?«

Angus hätte sich gern wieder hingesetzt, aber er konnte sich schlecht umdrehen, um den Stuhl aufzuheben. Er räusperte sich. »Mr. Flynn und ich haben bereits festgestellt, dass wir nicht gut zusammenarbeiten.«

»Und woran liegt das wohl?«, fragte Flynn so leise, dass Angus sicher war, dass nur er es gehört hatte.

»Sie sind erwachsene Menschen und werden es für die Dauer der Ermittlungen schaffen, Ihre Dispute in den Hintergrund zu stellen«, erklärte Rose. Angus kam es vor, als sei sie größer als er, obwohl er sie gut um einen Kopf überragte. Er wollte noch etwas erwidern, fing aber Sharps Blick auf. Seine Chefin hätte nicht deutlicher sein können, wenn sie mit den Händen eine Geste des Erwürgens ausgeführt hätte. Angus wusste, dass er besser die Klappe hielt. Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in seiner Bauchgegend aus und er hatte das Gefühl, dringend pinkeln zu müssen.

»Natürlich«, sagte er.

Nisha richtete seinen Stuhl auf und er ließ sich dankbar darauf sinken.

Auch kurze Zeit später, als sie den Sitzungsraum verließen, fühlte er sich wie betäubt. Lorcan saß noch am Tisch, den Kopf ein wenig gebeugt und würdigte ihn keines Blickes. Angus hätte erwartet, dass er triumphierte, dass er es kaum erwarten konnte, ihn wieder einmal wie einen Vollpfosten aussehen zu lassen. Aber zumindest im Moment wirkte er eher in sich gekehrt.

Sharps Standpauke ließ er schweigend über sich ergehen. Ihm war so elend, dass er gar nicht die Kraft hatte, zu widersprechen. Es war, als habe er drei Jahre lang geglaubt, einer Spinne zu entkommen, nur um festzustellen, dass er ihr Netz nie verlassen hatte. Er war froh, als er vor der Wache aus dem Auto steigen konnte, auch wenn es regnete.

»Wollen wir zurück ins›Old Duck‹?«, fragte Nisha. »Jetzt könnten wir uns ein Pint genehmigen.«

Angus schüttelte den Kopf. »Ich muss für Sian einkaufen und ihm die Sachen hochbringen.«

»Aber später bist du dabei? Livemusik ist genau das, was du brauchst, Angus. Und ich würde gern mal wieder deine Stimme hören.«

»Das ist lieb von dir, Nish … Nisha. Aber ich weiß nicht, ob ich heute noch mal raus will. War ein langer Tag.«

Er wäre gern ins »Old Duck« gegangen, aber Cillian würde das vermutlich nicht gefallen.

»Genau deswegen. Wir könnten reden. Über den Mord und über alles andere. Du kannst mir endlich verraten, warum du Lorcan hasst. Vielleicht geht es dir besser, wenn es raus ist.«

»Verlockendes Angebot. Ich sehe mal, wie ich mich nach einer Dusche fühle.«

Nicht, dass er wirklich vorhatte, Nisha zu erzählen, was zwischen ihm und Lorcan vorgefallen war. Darüber würde er nie wieder sprechen. Er weigerte sich zu akzeptieren, dass es Realität war.

Nisha fuhr ihn nach Hause und sie hielten unterwegs, um im Tesco die Sachen für Sian zu besorgen.

»Ich hol dich morgen früh ab«, versprach Nisha, als sie vor dem etwas heruntergekommenen Backsteingebäude im Linen Quarter hielten, in dem Angus wohnte.

»Ich kann nicht glauben, dass wir kein Team mehr sind«, sagte Angus niedergeschlagen.

»Nur für diesen einen Fall.«

»Schlimm genug. Wir hätten vehement widersprechen sollen, aber dafür ist es zu spät.«

Er seufzte, lehnte den Kopf nach hinten. Jetzt, da es Zeit war auszusteigen, hätte er gern noch länger mit Nisha geredet.

»Die Staatsanwältin wird ihre Gründe haben, warum sie uns neue Partner gibt. Geben wir unser Bestes, dann ist es schnell wieder vorbei.« Sie klopfte mit der Hand auf sein Knie. »Ich hoffe, wir sehen uns später. Ist lange her, dass wir nach der Arbeit was zusammen gemacht haben.«

Angus wurde klar, dass das stimmte und er nahm sich vor, heute noch für ein oder zwei Guinness ins Pub zu gehen. Die Ablenkung würde ihm guttun.

»Vielleicht bis später«, sagt er und stieg aus.

Die Haustür quietschte in ihren Angeln und die Holztreppe knarrte unter seinen Füßen, als er ins vierte Stockwerk hochstieg. Auch die Wände hatten bessere Zeiten gesehen und an manchen Stellen bröckelte der Putz. Aber er wohnte gern hier und hoffte, dass sie nicht zu bald umziehen würden. Cillian redete schon länger davon, dass ihre Wohnung nicht mehr tragbar war. Zu unmodern, zu zugig, zu eng und zu weit von der Innenstadt entfernt. Vor allem wünschte er sich ein größeres Arbeitszimmer und Angus verstand ihn. Auf der anderen Seite fühlte er selbst sich wohl hier. Außerdem lebte Sian im Dachgeschoss und er musste nur zwei Treppen steigen, um seinen Bruder zu besuchen. Ein Umzug wäre für Sian mit riesigem Stress verbunden.

Auf dem Absatz des zweiten Stocks ragte eine hünenhafte Gestalt wie aus dem Nichts vor ihm auf. Angus war es nicht gewohnt, dass Menschen genauso groß waren wie er. Matt der Hausmeister überragte ihn jedoch sogar ein kleines Stück. Er stützte sich auf seinen Besen und erinnerte Angus an ein Gewitter. Er hatte wirres schwarzes Haar, das sein Gesicht umrahmte, und trug eine altmodische Brille. Er besaß eine große Nase und etwas abstehende Ohren, und zumindest im Moment war sein Blick so düster, dass Angus automatisch ein wenig vor ihm zurückwich.