Der Dreizehnte Prinz - Tasha Winter - E-Book

Der Dreizehnte Prinz E-Book

Tasha Winter

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Beschreibung

Sein Tod bedeutet Leben, denn er ist der dreizehnte Prinz. Vor sechzehn Jahren lebte das Land Astagar in Wohlstand und Frieden – bis der verfluchte dreizehnte Prinz geboren wurde. Er trägt die Schuld am Verschwinden seiner Brüder. Seinetwegen, so die Legende, breitet sich die Fäule in Astagar aus und das Land stirbt. Der junge Caian ist fasziniert von diesen Geschichten. Eines Tages wird er von fremden Reitern gejagt und beinahe getötet. Nur mit Hilfe des Bogenschützen Sireth gelingt ihm die Flucht. Von Sireth erfährt er das Unfassbare: Er ist der dreizehnte Prinz. Laut einer Weissagung könnte sein Tod das Schicksal des Landes wenden. Nur Sireth glaubt, dass es für Caian einen anderen Weg gibt, seine Brüder und Astagar zu retten. Aber er hat wenig Zeit und die Schergen des Königs sind auf der Suche nach ihm …

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Tasha Winter

Der dreizehnte Prinz

Besuchen Sie die Website des Uthruban-Verlags:

www.uthruban.de

Impressum:

Originalausgabe Dezember 2021

Copyright © Uthruban Verlag, BayreuthUthruban Verlag UGDammwäldchen 395444 Bayreuth

Gesamtgestaltung: saje design, www.saje-design.de

Vignette: designbundles.net

Druck: CPrinting, Warszawa, Polen

Alle Rechte vorbehalten

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Für Tim

1

Caian war sich nicht sicher, ob es sich um eine Spur von Pferdehufen handelte im morastigen Boden. Zu lange war es her, dass er so etwas gesehen hatte. Die Abdrücke waren nicht mehr frisch. Brackiges Wasser sammelte sich bereits darin. Einen Moment lang betrachtete er die Spur, die sich schnell im Morast verlor. Er beschloss, Amalia nichts davon zu erzählen. Wahrscheinlich täuschte er sich. Er hatte schon sehr lange keine Reiter mehr im Moor gesehen. Menschen verirrten sich immer seltener hierher. Wenn Amalia von der Spur erfuhr, ließ sie ihn nicht mehr nach draußen. Und werbrachte dann die Schafe auf die Weide?

Der Leitwidder Orak rieb seine gebogenen Hörner an einem der alten absterbenden Bäume. Die Eiche reckte ihre kahlen Äste gen Himmel. Von ihrer Art gab es viele im Fargrim-Moor.

Caian vergrub seine Hand in Finas Wolle. Sie war das älteste weibliche Schaf seiner kleinen Herde. „Kein Grund zur Beunruhigung“, sagte er. „Vermutlich hat sich ein Hirsch hierher verirrt.“

Dafür war die Spur viel zu groß. Fina sah mit klugen Augen zu ihm auf, als wisse sie das auch. Die anderen Schafe blökten leise.

„Keine Sorge, wir finden wieder saftiges Gras.“ Er wünschte sich üppige Wiesen für seine Tiere statt halb vertrockneter Grasflecke und schwarzer Tümpel. Caian legte seine Hand an einen der Baumstämme auf der überschwemmten Wiese. Er hatte die alte Eiche gekannt, als sie noch gelebt hatte. Auf einem ihrer Äste hatte er oft gesessen, während die Schafe hier gegrast hatten. Dann waren ihre Blätter braun geworden und ein Ast nach dem anderen war abgestorben.

Fina stupste ihn sanft mit der Nase an und er nickte. Sie mussten weiter, wenn sie neuen Weidegrund finden wollten. Die Schafe kannten das Moor und setzten ihre Schritte vorsichtig. Dennoch war es gefährlich für sie, besonders wenn sie neue, unbekannte Wege wagten. Caian kannte das Moor gut. Er wusste genau, worauf er achten musste, wenn er eine neue Lichtung suchte. Er ging dorthin, wo es noch Leben gab. In die Richtung, in der er Sumpfkraut wachsen sah, die Tümpel nicht ganz so schwarz und morastig waren und die Bäume noch grüne Blätter trugen.

Er hielt inne, als er hinter einer Gruppe absterbender Weiden eine größere Grasfläche entdeckte. Hier wuchsen saftige Kräuter. Caian pflückte ein paar für Fina und setzte sich zu seiner Herde ins Gras. Orak versicherte sich, dass seine Herde vollständig eingetroffen war. Erst dann begann er zu grasen.

Caian fühlte das Trippeln winziger Füße auf seinem Hals und lächelte. Ari, sein Mäuserich, war sein ständiger Begleiter, seit er denken konnte. Er lebte in Caians Kapuze, schien sich aber zu einem kleinen Ausflug entschlossen zu haben. Caian setzte sich auf, und sah dem Tierchen zu, wie es im Gras Männchen machte und in die Luft schnupperte, um die Wiese auf seine Art zu erkunden. Er griff in die Tasche seiner Hose und holte ein paar Oka-Körner hervor, die er dem Mäuserich reichte.

Die Schafe auf der kleinen Weide boten ein friedliches Bild, aber Caian ließ seinen Blick wachsam über das Moor schweifen. Die Hufspur hatte ihn beunruhigt. Wie oft hatte ihm Amalia eingeschärft, wie gefährlich es sein konnte, Fremden zu begegnen. Wer sich hierherwagt, führt nichts Gutes im Schilde, pflegte sie zu sagen.

Am Ende des Tages war die Lichtung Caian und den Schafen bereits vertraut und er beschloss, morgen wieder hierher zu kommen. Früher als sonst trat er den Heimweg an, da ihm die Spur keine Ruhe ließ.

Die Sonne verbarg sich hinter dichten Wolken und berührte in der Ferne die Wipfel der kahlen Bäume. Er pfiff, um die Schafe zum Aufbruch zu ermahnen. Er freute sich auf die Nacht, wenn der Mond in den vertrauten Tönen leuchtete. Amalia erzählte manchmal davon, in welche wundervollen Farben das Mondlicht Astagar damals bei Anbruch der Nacht getaucht hatte. Heute leuchtete der Faris-Mond, vor sechzehn Jahren tat er dies in kräftigem Goldgelb. Das Licht jetzt schien nur noch eine dunkle Ahnung.

Bei Anbruch der Dunkelheit war es ihm verboten, sich im Moor aufzuhalten. Bevor noch der Mond am Himmel stand, musste er sich in Amalias Holzhütte einfinden. Caian hielt sich an die Gebote der Alten. Irgendetwas sagte ihm, dass sie wichtig waren. Auch wenn er immer öfter nach dem Grund fragte, Amalia wich ihm aus. Sie murmelte was von unberechenbaren Tümpeln und Wegen, die unter ihm einsinken konnten. Dabei kannte er diese Gefahren auch am Tage.

Mit aller Vorsicht geleitete er deshalb seine Schafe ein weiteres Mal durch das Moor zurück, das Lamm trug er fest im Arm. Er redete beruhigend auf die Herde ein, die ihm vertrauensvoll folgte, und ließ seine Blicke immer wieder über den Boden gleiten. Aber er entdeckte keine weiteren Spuren. Hatte er sich doch getäuscht?

Tia wartete bereits an der alten Eiche auf ihn, wo sie sich immer trafen. Sie lehnte am Stamm, ein erlegtes Kaninchen hing über ihrer Schulter. Caian lief bei diesem Anblick sofort das Wasser im Mund zusammen. Tia lächelte ihm zu. Ihr schulterlanges lockiges Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Ihre Haut war goldbraun und ihre Augen von einem tiefen Schwarz. Um die Hüften trug sie einen ledernen Gurt, in welchem sie ihre verschiedenen Messer aufbewahrte. Ihr größter Schatz.

„Du kommst aus einer anderen Richtung“, sagte sie und streichelte Oleg, dem jungen Widder, über die Wolle. Die Schafe bekamen langsam ihr Winterfell.

Caian nickte. „Unser Weideplatz war überschwemmt. Wir brauchten einen neuen.“

Tia zog ihre Augenbrauen zusammen. „Schon wieder?“, fragte sie, während sie nebeneinander in Richtung ihrer Hütte gingen.

„Ja, aber wir haben eine gute Lichtung gefunden. Nur ein Stück weiter entfernt.“

„Aber es wird immer schwieriger, nicht wahr? Genau wie die Jagd.“

„Und trotzdem hast du mehr Erfolge“, sagte Caian. „Schon wieder ein Kaninchen. Ich hoffe, Amalia bereitet es heute Abend noch zu.“

„Sicher tut sie das“, sagte Tia.

„Meinst du, dass wir das Moor irgendwann verlassen müssen?“, fragte Caian. Er versuchte, es nicht zu hoffnungsvoll klingen zu lassen. Vor Amalia erwähnte er das lieber nicht, aber Tia verstand ihn.

„Das ist gut möglich“, sagte Tia. „Und ich weiß, dass du dir das manchmal wünschst, genau wie ich. Aber Amalia wird ihre Gründe haben, dass sie mit uns hierbleibt. Und Caian - wir wissen nicht, ob es uns anderswo besser ergehen würde. Das Land stirbt. Es ist nicht nur das Moor.“

Caian schluckte. Er wusste es so gut wie sie, aber es zu hören, schmerzte ihn trotzdem jedes Mal. Er liebte Astagar, auch wenn er noch nichts anderes als das Moor gesehen hatte. Er liebte es, weil er sehen konnte, dass Amalias Geschichten Wahrheit enthielten.

Die kleine Hütte kam in Sicht. Sie war von drei Seiten von Gebüsch verborgen und stand im Schatten einiger der letzten großen Fichten.

Tia half ihm, die Schafe in ihren kleinen Stall zu treiben, den sie immer nur widerwillig betraten, obwohl er ihnen in der Nacht Schutz bot. Einzig Fina schien zu verstehen, worum es ging. Oleg versuchte wieder einmal einen Ausbruch in Richtung von Amalias sorgfältig angelegtem Kräutergarten.

Der Mond war aufgegangen und Caian blieb für einen Moment am Eingang der Hütte stehen. Der Faris-Mond war heute voll und schön und auch wenn seine helle Farbe Astagar nicht mehr erreichte, konnte man sie auf der Oberfläche des Mondes und in seiner Korona noch erkennen. Erst als Tia ihm eine Hand auf die Schulter legte, wandte er seinen Blick ab und folgte ihr in die Hütte. Amalia saß in der Nähe des Kamins am Webstuhl und Caian hörte das leise Klacken der Pedale. Sie sah nicht auf, als sie eintraten, und erhob sich erst, als Tia ihr das Kaninchen hinhielt. Sie nahm es mit einem Nicken entgegen und ging, um es in der Kochecke zuzubereiten.

Während Amalia in der Küche schweigend dem Kaninchen das Fell abzog, setzte Tia sich an den Tisch unter dem Fenster und nahm ihre Schnitzarbeit hervor, ein kleines verziertes Kästchen, das sie Caian versprochen hatte. Caian fütterte Ari ein paar Körner und ließ ihn auf dem Tisch herumlaufen.

Amalia legte neue Holzscheite im Ofen auf. „Ich möchte, dass ihr in Zukunft noch eher nach Hause kommt.“

Caian sah von der Maus auf. „Aber dann werden die Schafe bald nicht mehr lange genug weiden können“, gab er zu bedenken. „Ich musste heute schon wieder eine neue Weide suchen.“

„Trotzdem.“ Amalia sah sich zu ihm um, bevor sie das gehäutete und ausgeweidete Kaninchen auf einen Spieß steckte und damit zum Ofen ging. Tia stand auf, um Wasser aus dem Brunnen zu holen.

„Warum ist die Dunkelheit so gefährlich?“, fragte Caian, auch wenn er nicht wirklich hoffte, eine Antwort zu erhalten. Aber dieses Mal kam Amalia zu ihm an den Tisch, nachdem sie das Kaninchen über die Flammen gehängt hatte und sah ihn eindringlich an. Er blickte ein wenig verschüchtert in ihr vom Alter gegerbtes Gesicht. Ihre grauen Haare fielen in Strähnen auf ihre Schultern und ihre Lippen waren eng zusammengekniffen. Ihre dunklen Augen unter den buschigen Augenbrauen waren wach und aufmerksam.

„Es ist nicht nur das Land, das stirbt“, sagte sie. „Auch die Menschen werden immer verzweifelter und gefährlicher. Du musst vorsichtig sein, versprichst du mir das?“

Tia, die wieder hereintrat, sah aufmerksam zwischen Amalia und Caian hin und her.

„Natürlich verspreche ich das“, sagte Caian. „Ich bin immer vorsichtig.“ Ihm fiel der Abdruck wieder ein, den er heute im Sumpf entdeckt hatte und er schluckte. Sicher wäre es besser, Amalia davon zu erzählen, aber er fürchtete, dass er die Schafe dann nicht mehr auf die Weide bringen durfte. Und dabei war er sich nicht einmal sicher, ob es wirklich eine Hufspur gewesen war. Er würde noch vorsichtiger sein. „Wäre es besser, wenn wir zusammenblieben?“, fragte Tia.

„Vielleicht.“ Amalia drehte sich abrupt von ihnen weg und ging, um nach dem Kaninchen zu sehen.

Nachdem Amalia sich wieder an ihren Webstuhl setzte und Tia ihren Stuhl näher ans Feuer rückte, um mit ihrer Schnitzarbeit fortzufahren, sah Caian seine Gelegenheit gekommen.

„Amalia, erzählst du uns von den Prinzen?“, fragte er, sich mit einer Flechtarbeit an Tias Stuhl lehnend.

„Du kennst doch bereits alle meine Geschichten“, sagte Amalia seufzend, während das Schiffchen zwischen den Fäden unermüdlich hin und her sauste.

„Aber ich höre sie so gern“, sagte Caian.

„Ich höre sie auch gern“, stand Tia ihm bei.

Amalia schwieg einen Moment. „Welche möchtet ihr heute hören?“, fragte sie dann.

„Erzähl uns davon, wie die zwölf Prinzen waren. Davon, was mit ihnen geschah“, bat Caian, der seine Lieblingsgeschichte nicht oft genug hören konnte.

Amalia webte eine Weile weiter, ohne zu sprechen. Als sie schließlich begann, war ihre Stimme rau und sie sah nicht von ihrer Webarbeit auf.

„Im herrlichen Reich Astagar lebte einmal ein weiser König, der sein Land gutherzig und gerecht regierte“, erzählte sie. „Sein Name war Laertes, Arans Sohn. Seine Untertanen lebten in Zufriedenheit und dienten ihrem König gern. Sie liebten und verehrten ihn, denn er ließ nicht zu, dass ihnen Leid geschah. Niemand in Astagar litt Hunger, keiner musste um sein Eigentum fürchten und der König hörte jeden an, der mit einer Beschwerde zu ihm kam. Händler und Reisende kamen gern in sein Reich und er hieß sie willkommen. Sie brachten Güter und Geschichten aus der ganzen Welt, so dass sein Land an Wissen und Waren gewann. Die Königin, Alaida, war ebenso gütig wie er und ihre Milde spiegelte sich in ihrem schönen Antlitz wider. Sie liebte ihren Ehemann sehr und er war immer bereit, ihren Rat zu hören, bevor er eine Entscheidung traf.

König Laertes besaß viele Schätze, denn er hatte Bewunderer auf der ganzen Welt, die ihm Geschenke zukommen ließen. Sein größter Schatz jedoch waren seine zwölf Söhne, von denen ihm jeder einzelne lieber war als sein Schloss und all sein Hab und Gut, lieber als der Mond und die Sterne und lieber noch als sein Reich.“ Amalia hielt einen Moment inne, wie immer an dieser Stelle, die Caian ganz besonders gern hörte.

„Sie waren unterschiedlich, wie die zwölf Monate des Jahres und glichen einander nur durch ihre Tugendhaftigkeit.

Der erste hieß Griffen und war stark und tapfer wie ein Löwe. Schon als Kind hatte er all seine Lehrmeister im Schwertkampf besiegen können. Er setzte seine Stärke mit Bedacht ein und hatte geschworen, niemals einen Unschuldigen zu verletzen. Er war seinem Vater sehr ähnlich und das Volk sah zu ihm auf. Der Ruf seiner Waffenkunst eilte ihm voraus und er führte das tapfere Heer seines Vaters an. Er trug eine silberne Rüstung, die man schon von weitem strahlen sehen konnte. Sein helles Haar floss unter seinem Helm hervor wie flüssiges Gold. Auf seinem Schild, den er ehrfurchtsvoll trug, war das Wappen des Königshauses abgebildet: Zwölf Monde, die einen Kreis darum bildeten. Seine Gefolgsleute verehrten ihn, da ihm jeder von ihnen so wichtig war wie sein eigenes Leben. Sie wussten, dass er niemals einen von ihnen im Stich gelassen hätte.

Der Name des Zweiten war Daveon und er erinnerte an seine Mutter. Er war ebenso sanft und gutherzig wie sie, und seine Anwesenheit verbreitete Zuversicht und Hoffnung unter den Menschen, die ihm begegneten. Sein Lächeln vermochte die Sonne auch in die dunkelsten Herzen zurückzubringen. Während er niemals ein Wort über seine eigene Schönheit verlor, gelang es ihm, an jedem anderen Menschen etwas Liebenswertes und Schönes zu finden.

Sagar, der dritte Sohn des Königs, war ernster und scheuer als seine Brüder und lebte zurückgezogen. Er war bekannt für seine Klugheit. Sein Vater beriet sich mit ihm in den Angelegenheiten des Reiches und Sagar hatte noch niemals einen schlechten Rat gegeben. Er saß gerne mit den Weisen und Schreibern des Landes zusammen und hörte sich an, was sie zu sagen hatten und selbst die Gelehrten anderer Länder kamen zu ihm, um sich mit ihm zu beraten.

Der vierte Sohn war wie das Feuer. Sein Name war Eodar und seine Haare umrahmten wie Flammen sein Gesicht. Er war ungezähmt und wild wie ein Flammenmeer, aber er spendete auch Wärme und Leben. In seiner Nähe lief man Gefahr sich zu verbrennen, aber war man zu weit von ihm, so erfror man. Die jungen Mädchen des Landes verfielen seiner Hitze und Männer fühlten sich unwillkürlich zu ihm hingezogen. Er trug eine goldene Rüstung und von seinem Schwert hieß es, dass es durch Eisen schneiden konnte.

Der fünfte Sohn war weniger schön als seine älteren Brüder, aber dennoch wurde er ebenso sehr geliebt wie sie. Sein Name war Jero und er war der fröhlichste und freundlichste Mensch, der je im Reich gelebt hatte. Er liebte es, sich in Verkleidungen unter die Untertanen zu mischen und mit ihnen zu lachen und zu feiern. Ein Haufen Stroh in einer Scheune war ihm als Lager ebenso lieb wie das prunkvollste Himmelbett im Schloss seines Vaters und ein Krug voll Brunnenwasser löschte seinen Durst ebenso gut wie der kostbarste Wein. Er hatte Freunde unter den Ärmsten im Lande und es gab keinen, der seine Gegenwart nicht genoss.

Im Gegensatz zu ihm sah man den sechsten Sohn selten unter Menschen. Er wurde Phelan genannt und sein Herz gehörte allen Tieren des Waldes, der Flure und der Luft. Sie versammelten sich gern um ihn und es hieß, er könne zu ihnen sprechen. War ein Pferd so wild, dass es jeden Reiter abwarf, so ließ es Phelan dennoch aufsitzen und war danach gezähmt. Fehlte einem Tier etwas, so fand Phelan sicher die Ursache dafür. Es hieß auch, dass es ihm möglich sei, Tiergestalt anzunehmen.

Lysander, der siebte Sohn, war der anmutigste Tänzer des Königreiches und aller angrenzenden Länder. Sein Tanz war wie ein Zauber, der seine Zuschauer gefangen nahm und ihnen den Atem raubte und es gab keine Musik, keine Melodie und kein Lied, zu dem er nicht tanzen konnte, als seien diese Bewegungen eigens dafür erfunden. Es war unmöglich, ihn nachzuahmen, und sein Tanz war der Höhepunkt eines jeden Festes.

Der achte Sohn, Faris, war ein Abenteurer und Entdecker. Er hatte mehr gesehen als die meisten Händler und fahrenden Künstler des Reiches. Sobald sich ihm die Möglichkeit bot, ging er auf Reisen, sei es, dass er sich einem Heer anschloss oder eine Gauklertruppe begleitete, die durch das Land reiste. Er war ebenso mutig wie neugierig und kehrte mit den abenteuerlichsten Geschichten heim, die er seinen Brüdern und allen anderen, die ihm zuhören wollten, abends vor dem Kaminfeuer erzählte.

Der neunte Sohn war der Geschickteste unter ihnen. Er hieß Brandir und es gab nichts, was er mit seinen kunstfertigen Händen nicht herstellen konnte. Ton wurde in seinen Händen zu wunderschönen Krügen, aus einem Holzstück wurde der zuverlässigste Pfeil oder die lebendigste Schnitzerei. Er schuf filigrane Figuren aus Jade, wusste aber auch, wie man eine standfeste Holzhütte bauen konnte. Er war es, der Griffens und Eodars Waffen schmiedete und seine Kunstwerke schmückten das Schloss und wurden als Geschenke in befreundete Königreiche versandt.

Die Hände des zehnten Prinzen besaßen heilende Wirkung. Sein Name war Torn und er konnte selbst schwerste Wunden wieder schließen. Kranke, die von ihm gepflegt wurden, genasen schneller als bei jedem anderen Heiler und selbst Menschen, denen bereits der Tod vorausgesagt worden war, pflegte er gesund. Er kannte die Kräuter des Waldes, die eine heilende Wirkung hatten, und er besaß Tinkturen und Mittel, die selbst bei den ausgefallensten Krankheiten noch Wunder wirkten.

Auch die Hände des elften Prinzen besaßen eine besondere Kraft. Er wurde Hadas genannt und er widmete sich mit großer Liebe den Pflanzen, die unter seiner Pflege gediehen. Man traf ihn im Garten des Schlosses an oder in den angrenzenden Feldern und Hainen, die den Bauern gehörten. Niemals ging eine der ungewöhnlichen Blumen ein, die Faris ihm als Andenken aus fernen Ländern mitbrachte und im Land hatte keine Hungersnot mehr geherrscht, seit er geboren wurde, da keine Ernte mehr verdorben war.

Das Herz und das Leben des zwölften Prinzen, Ameor, gehörten der Musik. Nicht nur beherrschte er jedes bekannte Instrument und konnte ihnen Töne entlocken, die andere in Verzückung versetzten, er schrieb auch Lieder, die Verzweifelte trösteten und glücklichen Menschen die Schönheit der Welt vor Augen führten. Wanderer kamen von weit her, um ihn spielen zu hören und von ihm zu lernen, denn wie seine Brüder teilte auch Ameor seine Gabe gern. Er hatte eine wundervolle klare Stimme und es hieß, dass Nachtigallen gerne im Duett mit ihm sangen.

Seit fast hundert Jahren beschenkten die zwölf Prinzen das Reich bereits mit ihrer Güte und ihrer Kraft und alterten nicht, ebenso wenig wie Laertes und Alaida. Die Menschen in König Laertes‘ Reich verehrten die zwölf Prinzen, die ihnen so viel Wohlstand und Glück gebracht hatten. Sie benannten die zwölf Monde des Jahres nach ihnen und hielten für jeden von ihnen einen Feiertag. Es hieß, dass es Glück brachte, einem der Prinzen zu begegnen. König Laertes‘ Reich war nicht das größte der westlichen Welt, doch die Menschen, die in ihm wohnten, waren so zufrieden, dass viele der Bewohner benachbarter Länder sich wünschten, ebenfalls von diesem König regiert zu werden. König Laertes wollte sein Reich nicht durch Kriege vergrößern, sein Heer diente nur der Verteidigung, aber dennoch wuchs sein Land, da Königreiche sich freiwillig dem seinen anschlossen. Natürlich gab es auch Neider, wie zum Beispiel das Seevolk, dessen Land Illurien vor Laertes‘ Zeit das blühendste und reichste gewesen war. Aber Astagar hatte zu viele Freunde, als dass es jemand gewagt hätte, dem König den Krieg zu erklären. Auch nicht die dunkle Herrscherin Melthane, die über die fahlen Lande im Norden gebot und Laertes für den Reichtum seines Landes verabscheute.“

Amalia hielt inne und Caian sah zu ihr auf, als sei er aus einer Art Traum erwacht. Er liebte es, von den zwölf Prinzen zu hören. Er fühlte sich ihnen nahe, auch wenn sie bereits vor seiner Geburt aus dem Land verschwunden waren. „Erzähl weiter“, sagte er ein wenig heiser. „Erzähl, was dann geschehen ist.“

„Nein“, sagte Amalia fest. „Ich habe dir diese Geschichte schon zu oft erzählt und es bringt Unglück, wieder und wieder davon zu erzählen. Du weißt, dass sie nicht gut ausgeht.“

„Ich weiß, dass die Königin ein weiteres Kind erwartete“, sagte Caian leise. „Ich weiß, dass es eine große Freude im Land gab, auch wenn es fast hundert Jahre her war, dass sie den letzten ihrer Söhne zur Welt gebracht hatte. Aber jeder glaubte daran, dass es ein gutes Zeichen war, dass auch dieser Prinz eine besondere Gabe haben würde, und es wurden Feste für ihn gefeiert, noch bevor er geboren war. Niemand dachte daran, dass dreizehn eine Unglückszahl ist. Niemand dachte daran, dass es nur zwölf Monde gibt, die bereits an die zwölf Prinzen vergeben waren. Niemand dachte daran, dass alle Geschichten ein Ende haben müssen.“

Amalia nickte. „So wird es erzählt.“

„Eine Hellseherin kam an den Hof“, sprach Caian weiter. „Ihr Name war Istriel. Sie warnte den König und die Königin davor, dass ihr dreizehntes Kind ihnen Unglück bringen würde. Sie riet ihnen, es nach seiner Geburt zu töten, es zu ertränken oder zu verbrennen, da es seine zwölf Brüder sonst ins Verderben stürzen würde. Der König glaubte ihr und da er nichts so sehr liebte wie seine Söhne, gebot er, das Kind direkt nach seiner Geburt zu enthaupten.“ Caian sah Tia an, die in die Flammen blickte.

„In der Nacht, in der der Dreizehnte geboren wurde, stand ein blutroter Mond am Himmel und eine unnatürliche Stille lag über dem Land. Er wurde als schreiendes Menschenkind geboren und die Amme, die ihn den Wachen übergeben sollte, zögerte einen Augenblick. Doch kurz darauf verwandelte er sich in einen Dämon mit pechschwarzen Schwingen. Er tötete seine Mutter und die Wachen und entkam aus dem Palast. Im selben Augenblick wurde Prinz Lysander zu Stein.“

Caian hielt inne. Die Geschichte berührte ihn heute noch mehr als sonst. Vielleicht kam es daher, dass er sie so lange nicht gehört hatte. Aber er wollte, dass sie zu Ende erzählt wurde. Auch wenn Amalia aufgehört hatte zu weben und auf ihre faltigen Hände sah.

„Von diesem Tag an gab es niemanden mehr im Lande, der sich erinnern konnte, wie man tanzte.“ Er biss sich auf die Lippen. „Die anderen elf Prinzen beschlossen, auszuschwärmen, bevor sie das gleiche Schicksal ereilte. Sie hofften, die Hellseherin zu finden, oder jemand anderen, der ihnen helfen konnte. Keinem von ihnen gelang es. Sie verschwanden einer nach dem anderen, als habe der Erdboden sie verschluckt. Dies ist jetzt sechzehn Jahre her und seitdem stirbt das Land Astagar.“

Tia und Amalia schwiegen.

„So erzählt man es sich“, sagte Amalia schließlich. „Aber über die Jahre ist es zu einem Märchen geworden. Zu einer Geschichte. Es ist möglich, dass es sich ganz anders zugetragen hat.“

„Aber es gab die dreizehn Prinzen“, beharrte Caian und Amalia nickte. „Ja, es gab sie. Und jetzt wird es Zeit, zu Bett zu gehen. Die Schafe wollen morgen zu ihrem Weideplatz geführt werden und Tia, du hast einen Brunnen, um den du dich kümmern musst, bevor er versiegt.“

Als sie in ihren Strohbetten unter dem Dach der Hütte lagen, sah Caian zu Tias Bett hinüber. „Welcher der Prinzen wäre dir der liebste gewesen?“ Er hatte diese Frage schon oft gestellt und kannte die Antwort.

„Ich weiß nicht.“ Tia sah ihn durch die Dämmerung an, während noch immer das Klacken des Webstuhls von unten zu hören war.

„Griffen, nicht wahr?“, fragte Caian.

„Vielleicht auch der dreizehnte Prinz.“ Tias Stimme klang rau.

„Der dreizehnte Prinz?“ Caian richtete sich halb in seinem Bett auf. „Aber er ist derjenige, der alles zerstört hat. Jeder hasst ihn dafür. Die Menschen von Astagar, der König. Er hat seine eigene Mutter getötet.“

„Vielleicht tut er mir deswegen leid“, sagte Tia leise. Caian sah sie fassungslos an. Immer wenn sie über die zwölf Prinzen geredet hatten, war Griffen Tia der Liebste gewesen, so wie Phelan und Jero Caian die Liebsten gewesen waren. Er fühlte sich jetzt, als würde sie ihn hintergehen.

„Griffen“, sagte Tia nachgebend. „Griffen bewundere ich am meisten. Du hast Recht.“

„Ich wünschte, sie könnten wiederkommen“, flüsterte Caian.

„Vielleicht ist es einfach so, dass alles irgendwann ein Ende haben muss“, sagte Tia. „Hundert Jahre ist eine lange Zeit für ein Menschenleben. Das sagt Amalia auch. Gute Nacht, Caian.“ Sie drehte sich von ihm weg.

Die Schafe blökten bereits in ihrem Stall, während Caian wie jeden Morgen ein paar Oka-Fladen einpackte. Tia kam aus dem Garten und steckte ihm ein paar frisch gepflückte Purpurbeeren zu, die um diese Jahreszeit süß und saftig schmeckten.

„Du weißt, dass du nur in deine Pfeife blasen musst, wenn du Hilfe brauchst“, sagte sie. Schon vor einer Weile hatte sie ihm eine Pfeife geschnitzt, die einen schrillen, sehr lauten Ton von sich gab, wenn man hineinblies.

Er grinste. „Du weißt, dass ich sehr gut auf mich selbst aufpassen kann und das Moor mindestens genauso gut kenne wie du.“

Er erinnerte sich noch daran, wie er Tia vor mittlerweile fünf Sommern gemeinsam mit Amalia im Moor gefunden hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht einmal gewusst, dass es außer Amalia und ihm noch andere Menschen gab, außerhalb der Geschichten, die sie ihm damals schon erzählt hatte. Aber andere Menschen waren ihm fremdartig und fern vorgekommen, wie die Wasserdrachen oder die Auruner, von denen in Amalias Geschichten die Rede war. Tia hatte zu den Flüchtlingen gehört, die damals das Land durch das Fargrim-Moor verlassen wollten. Hin und wieder hatten Amalia und er aus der Ferne kleine Menschengruppen durch das Moor ziehen sehen. Viele von ihnen waren dabei ums Leben gekommen. Tias Mutter war vom Weg abgekommen und im Moor ertrunken. Sie wurde von ihrer Gruppe zurückgelassen und Tia hatte so lange versucht ihr zu helfen, bis auch sie die Gruppe nicht mehr gefunden hatte. Sie hatte bereits einige Tage allein im Moor gelebt, als sie sie fanden. Sie war hungrig gewesen und verfroren und so voller Schlamm, dass Caian zunächst geglaubt hatte, einen Moorgeist vor sich zu haben. Sieben Tage lang hatte sie nicht mit ihnen gesprochen. Caian hatte ihr jeden Tag Beeren, Brot und Milch gebracht und ihr kleine Körbchen aus Weidenzweigen geflochten und ihr Geschichten erzählt. Und irgendwann hatte sie ihm eine Geschichte erzählt, die er noch nicht kannte. Stockend und langsam. Aber von da an hatte sie gesprochen. Nicht viel zwar, aber Caian hatte das nicht gestört, weil er so unglaublich froh gewesen war, eine Spielkameradin zu haben. Von Anfang an hatte sie gut mit Messern umgehen können. Sie hatte mit ihnen geschnitzt und sie auf eine Zielscheibe geworfen. Und eines Tages hatte sie das erste Kaninchen erlegt.

Ein weiteres Mal trieb Caian seine kleine Herde in Richtung des Weidegrunds, den sie gestern gefunden hatten und verbrachte dort mit seiner Herde den Tag.

Gegen Abend musste er früher aufbrechen, weil es zu regnen begann. Im Regen war das Moor unberechenbar. Neben dem Stumpf einer alten Eiche hielt Caian inne, weil er etwas im Morast vor sich entdeckt hatte. Er kniete sich hin, um es genauer zu betrachten. Es waren Hufabdrücke. Dieses Mal konnte es keinen Zweifel geben. Drei Tiere vermutlich. Auch diese Spuren waren nicht mehr frisch, da sie voll Wasser gelaufen waren. Bald würden sie verschwinden. Aber sie waren auch noch keinen Tag alt. Das bedeutete, dass er Amalia davon berichten musste.

Zu seinem Schrecken musste er feststellen, dass er zu spät aufgebrochen war. Der Steg war an einer Stelle eingesunken und es würde unmöglich sein, ihn mit der Herde zu überqueren. Er musste einen anderen Weg zurück zur Hütte finden. Und das, obwohl seine Kleidung bereits durchnässt war.

Seufzend nahm er das Lamm auf den Arm und trieb die Herde zurück, die nur widerwillig gehorchte. Bis auf Fina, die wie immer zu begreifen schien, dass sie in Schwierigkeiten waren. Oleg, der in letzter Zeit immer rebellischer wurde, begann zu grasen und die anderen Schafe schlossen sich ihm an. Caian wünschte, er hätte einen Hütehund gehabt oder Phelans Fähigkeiten im Umgang mit Tieren, als er sie mit verschiedenen Drohungen vor sich hertrieb. Bei Oleg half manchmal nur noch ein sanfter Tritt.

Der Himmel verdüsterte sich und der Regen schlug ihm ins Gesicht, durchnässte ihn bis auf die Haut. Er sank immer wieder im Morast ein und musste seine Stiefel mit einem schmatzenden Geräusch aus dem schwarzen Schlamm ziehen. Den Schafen erging es nicht anders und sie strauchelten, wenn ihre Hufe im Morast feststeckten. Caian orientierte sich an den spärlichen Bäumen, die hier wuchsen, da er wusste, dass sie auf festem Untergrund standen. Seine nassen Haare hingen ihm in die Augen und das Lamm auf seinem Arm wurde immer schwerer. Es war nicht leicht, voranzukommen, wenn man sich nicht einmal abstützen konnte. Er stolperte immer wieder und musste sich mühsam aufrappeln. Immerhin folgte ihm die Schafherde jetzt williger. Sie spürten vielleicht, dass Gefahr drohte, und sehnten sich nach dem sicheren Stall. Ein Blitz zuckte am Himmel und kurz darauf hörte Caian den Donner grollen. „Wir müssen uns beeilen“, flüsterte er. Der zweite Pfad, den er nehmen wollte, war ebenfalls überflutet. Er verfluchte sich dafür, dass er sich so verschätzt hatte und nicht früher aufgebrochen war.

Er drückte das Lämmchen, das jetzt leicht zitterte, fester an sich und versuchte, den Kopf so zu wenden, dass er den Regen nicht direkt ins Gesicht bekam. Er hoffte, dass Ari im Innern seiner Kleidung in Sicherheit war. Dann hörte er ein verzweifeltes Blöken hinter sich. Ahnungsvoll blickte er sich um und sah Oleg, der vom Pfad abgekommen und schon bis zu den Sprunggelenken im Morast versunken war. Er mühte sich ab, kam aber nicht mehr vorwärts.

Ohne zu zögern setzte Caian das Lamm ab, das sich sofort an seine Mutter drängte und watete durch das brackige Wasser auf Oleg zu. Sein Verstand sagte ihm, dass er weitergehen sollte. Selbst wenn er dem Widder helfen konnte, wurde dadurch die Gefahr größer, dass sie es heute gar nicht mehr nach Hause schafften. Aber er hörte nicht darauf. Er wollte kein Schaf verlieren, weil er einen Fehler gemacht hatte.

Er merkte, dass der Morast hier besonders weich war und er selbst sank bis zum Schaft seiner Stiefel ein. Kurzerhand schlüpfte er hinaus, riss sie mit einiger Mühe aus dem Schlamm und stellte sie ans Ufer. Er hatte nur dieses Paar und er wollte ungern darauf verzichten. Dann kam ihm ein Gedanke. Er nahm Tias Pfeife, die an einem Band um seinen Hals hing und blies hinein. Der Pfiff, der ertönte, war erstaunlich laut und durchdringend, aber er bezweifelte dennoch, dass Tia ihn in diesem Unwetter hören würde. Die Schafe blökten entsetzt. Er näherte sich Oleg und schlang die Arme um seinen wolligen Körper. Der Widder trat nach hinten aus und Caian zog und zerrte an ihm. Olegs Blöken klang jetzt fast wie das Schreien eines Kindes. Der Regen, der Caian in die Augen lief, machte die Lage noch unangenehmer und er biss die Zähne fest zusammen. „Komm schon, du stures Vieh, hör auf zu strampeln und hilf ein wenig mit.“ Der Widder wurde nur panischer und der Rest der Herde machte am Ufer seiner Angst und seinem Unmut laut blökend Luft.

Mit aller Kraft riss er an Oleg und fiel rückwärts in den Schlamm, der ihm bis in Mund und Augen spritzte. Hustend und spuckend richtete er sich wieder auf. Er fühlte mit Erleichterung das Pieken winziger Mausekrallen in seinem Nacken, das ihm zeigte, dass er Ari nicht verloren hatte. Aber es war ihm gelungen, Oleg zu befreien und er konnte den Widder jetzt zum Ufer schieben. Der rettete sich mit einem kleinen Sprung an Land, die Augen weit aufgerissen und die Ohren angelegt.

Caian folgte ihm keuchend und kroch auf den Knien ans Ufer. Er war dabei, in seine Stiefel zu schlüpfen, in denen das Moorwasser stand, als er merkte, dass sie nicht allein waren. Im Regen und durch den Lärm, den die Schafe verursachten, hatte er nicht gehört, dass sich ihnen jemand genähert hatte. Er hörte ein Schnauben und sah auf. Zunächst sah er nur einen Schatten, der ihn hoch überragte. Im Regen und in der Dämmerung dauerte es einen Augenblick, bevor er erkannte, dass es ein Mann auf einem schwarzen Pferd war, der regungslos auf ihn herabsah. Der Reiter hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und schien ihn darunter hervor starr anzublicken.

2

Caian schluckte. Amalia hatte ihnen immer wieder eingeschärft, dass sie sich keinem Menschen zeigen durften. Sein Mund wurde trocken und ein Schauer lief seine Wirbelsäule hinab. Warum sprach der Mann ihn nicht an? Warum bewegte er sich nicht? Zögernd richtete Caian sich auf.

„Faris sei mit euch. Was führt euch in diese unwirtliche Gegend?“, fragte er, weil er diesen Satz von Amalia gehört hatte. Seine Stimme klang dünn und er fuhr sich mit der Hand über sein nasses Gesicht, von dem der Regen die Schlammspuren wusch. Noch immer reagierte der Schwarzgewandete nicht. Die Schafe waren verstummt.

Das Schweigen seines Gegenübers wurde Caian unheimlich. Er wich ein paar Schritte zurück und dann sah er, wie der Fremde seine Hand an den Griff des Schwertes an seiner Hüfte legte und seine Waffe zog.

Caian drehte sich um und lief den Pfad zurück, den er gekommen war, weg von dem Reiter. Seine Stiefel blieben im Schlamm stecken und er hatte Mühe, vorwärtszukommen. Er musste fliehen. Amalias Warnungen schossen ihm durch den Kopf, während er den schlammigen Pfad entlang rannte und beinahe ausrutschte. Hinter sich hörte er Huftritte und auch wenn ihm das einen kalten Schauer über den Rücken jagte, war er froh, dass das zumindest hieß, dass die Schafe in Sicherheit waren. Als er einen Blick zurückwarf, sah er, dass der Reiter langsamer geworden war. Konnte er ihm entkommen?

Die sumpfige Erde spritzte unter Caians Tritten auf und seine Füße sanken in den Morast ein. Bis zu den Knöcheln versank er jetzt im Schlamm. Für einen Augenblick überlegte er, sich in das schwarze brackige Wasser zu werfen und zu hoffen, dass er im Schilf Schutz finden würde. Aber der Sumpf war unberechenbar. Es war möglich, dass er es nicht mehr schaffen würde, hinaus zu kommen. Gehetzt sah er sich um. Bis zur Hütte war es zu weit. Wohin?

Er spürte einen gleißenden Schmerz in seiner linken Seite, der ihn lähmte und sich zuckend durch seinen ganzen Körper ausbreitete. Er sank auf die Knie und sah an sich herab. Die Spitze eines Pfeils ragte aus seiner durchnässten Tunika hervor. Er wollte schreien, aber nur ein tonloses Stöhnen kam über seine Lippen. Seine rechte Hand schloss sich um den Pfeil und er presste die Zähne zusammen, fast besinnungslos vor Schmerz.

Der Mann hinter ihm stieg von seinem Pferd. Caian hörte das schmatzende Geräusch seiner Schritte im Morast. Sein Fluchttrieb ließ ihn verzweifelt ein Stück nach vorne kriechen, bevor er wimmernd in sich zusammensank. Der Fremde blieb neben ihm stehen, packte brutal sein Handgelenk und riss ihn hoch. Schmerz zuckte durch Caians Körper. Und dann sackte sein Angreifer mit einem erstickten Schrei neben ihm in sich zusammen. Seine Hände hoben sich, doch sie erreichten seine Kehle nicht mehr. Der Schlamm spritzte auf, als er niederfiel.

Bevor Caian die Kraft finden konnte, sich aufzurichten, wurde er von einer Hand nach oben gerissen. Er blickte auf.

Tia.

Obwohl der Schmerz in seiner Seite brannte, fühlte er die Erleichterung über seine Rettung. Im Nacken des toten Mannes sah er ein Messer stecken, bis zum Schaft hineingestoßen. Caians Beine zitterten und wollten wieder unter ihm nachgeben.

„Danke“, flüsterte er und watete mit Tia in den Sumpf, sich an sie klammernd. Für den Augenblick war seine linke Seite, in der der Pfeil steckte, wie betäubt.

Tia schwieg und zog ihn schnell weiter, nicht in Richtung der Hütte, sondern tiefer in den Sumpf hinein. Das Moorwasser reichte ihnen bis zur Hüfte und der Grund unter seinen Füßen wurde weicher und schlammiger. Im nächsten Moment verstand er, wieso Tia es so eilig hatte und warum es ihr gleich zu sein schien, wohin sie liefen. Hinter sich hörte er wieder Huftritte und als er sich umsah, waren da am Ufer zwei Reiter, die in ihre Richtung sahen.

„Weiter“, stieß Tia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Zum Schilf.“

Caian ließ sich von ihr mitzerren. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Er hörte in der Luft hinter sich etwas surren und Tia riss ihn nach unten, sodass er Moorwasser schluckte. Der Pfeil schoss knapp über ihre Köpfe hinweg. Es würde nichts nützen, wegzulaufen. Das begriff er jetzt. Nicht für ihn. Tia allein konnte es schaffen. Sie konnte sich im Moor verstecken, Tage lang, wenn es nötig war. Sie konnte sogar im Wasser untertauchen und ungesehen vorwärtskommen. Aber sie würde ihn nicht mitnehmen können. Leider fand er keine Möglichkeit mehr, ihr das zu sagen. Er hustete, statt zu sprechen. Er versuchte, sich von ihr loszumachen, aber Tia hielt seinen Arm fest umklammert. Sie würde ihn nicht zurücklassen und das bedeutete ihren Tod.

Gehetzt sah er sich nach ihren Verfolgern um. Einer von ihnen war abgesessen und watete jetzt ebenfalls ins Moor. Der andere saß im Sattel und spannte in diesem Moment ein weiteres Mal seinen Bogen. Bevor der Reiter die Sehne loslassen konnte, wurde er selbst von einem Pfeil in den Hals getroffen und sank tödlich verwundet vom Pferd.

Caian sah verständnislos in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war, erkannte aber in der Dunkelheit nichts. Der andere Mann kam jetzt näher und Caian erahnte sein vor Wut verzerrtes Gesicht unter der Kapuze. Sein Schwert hatte er gezogen und er hatte sie fast erreicht. Tia ließ Caian los und drehte sich um, als wolle sie es mit ihrem Verfolger aufnehmen. Caian sah das Messer in ihrer Hand im Mondlicht aufblitzen. Er klammerte sich an den abgestorbenen Baumstamm, der neben ihm aus dem Morast ragte und sah ihrem Verfolger keuchend entgegen. Kurz bevor er sie erreichte, sah Caian etwas hinter ihm durch die Luft sirren und auch er fiel von einem Pfeil getroffen in den Morast. Caian sah atemlos zu, wie er langsam versank. Blubbernde Blasen stiegen an der Stelle nach oben, an der er untergegangen war.

Caian war schwindelig und seine Seite brannte wieder wie Feuer. Er wusste, dass er jetzt nicht die Besinnung verlieren durfte. Seine Augen suchten die Stelle ab, aus der die Pfeile gekommen waren. Tia legte einen Arm um ihn.

Und dann sah er etwas, ein Stück entfernt auf dem Ast einer der wenigen lebenden Eichen des Moores. Er erkannte nur den Schatten einer schlanken männlichen Gestalt, die dort oben kniete. Ihr Retter hielt einen Bogen in der Hand und spähte zu ihnen hinab. Jetzt richtete er sich auf und sprang behände vom Baum. Und für einen kurzen Moment lang hatte Caian vor dieser Gestalt mehr Angst als vor den schwarzen Reitern. Sein erster Instinkt sagte ihm, dass sie fliehen mussten. Das Sumpfwasser gurgelte und der Regen prasselte auf ihn herab.

Tia zog ihn zum Ufer. Als sie triefend und vom Schlamm bedeckt an Land kamen, stand dort wartend die Gestalt. Caian konnte jetzt im Mondlicht erkennen, dass es sich um einen Jungen handelte, ein paar Jahre älter als er selbst. Er hatte pechschwarzes langes Haar, das er im Nacken zusammengebunden hatte und bleiche Haut. Seine Augen waren dunkel wie Moorseen und auch wenn er Caian nicht direkt ansah, hatte der das Gefühl, dem Blick ausweichen zu müssen. Er dachte an den letzten Grauwolf, den er im Moor gesehen hatte. Amalia und er waren ihm begegnet, als er seine Beute, ein Kaninchen, verspeist hatte. Der Junge hatte den gleichen Blick, der ihn warnte, nicht näher zu kommen.

Er sah mit kühlem Interesse zu, wie Tia Caian an Land brachte und ihm half, sich hinzusetzen. Dann beugte der Junge sich zu ihm herab, packte seine rechte Hand und drückte etwas darauf, das aussah wie ein Siegel und brannte wie Feuer. Caian spürte zum zweiten Mal an diesem Abend einen Schmerz, der durch seinen ganzen Körper fuhr. Es fühlte sich an, als würde die Haut auf seinem Handrücken weggebrannt und er riss seine Hand zurück. Dort war ein roter Abdruck zu sehen, der sich tief in die Haut eingebrannt hatte. Er presste seine rechte Hand an seine Brust. Der Schmerz war nicht so durchdringend wie der von der Pfeilwunde, aber dennoch lief er in Wellen durch seinen Körper und bewirkte, dass ihm übel wurde.

Tia zückte ihr Messer. „Was tust du da?“

Der Fremde warf das Siegel weit in den Sumpf hinaus, wo es sofort versank. „Das Brandzeichen bedeutet, dass er überprüft wurde.“ Seine Stimme klang dunkel und kalt und es lag nicht das geringste Mitgefühl darin. „Er sollte mir dankbar sein. Es wird ihm das Leben retten. Ich habe es einem der Reiter abgenommen.“ Er sah auf Caian hinab. „Gibt es hier einen sicheren Ort, wohin wir ihn bringen können?“

Tia nickte. „Unsere Hütte.“

„Die Schafe…“, murmelte Caian, während sie ihn hochzog. „Meine Herde.“

„Das Letzte, worum du dich jetzt kümmern solltest“, sagte der Schwarzhaarige und nahm Caians anderen Arm.

Auf dem Weg zur Hütte befand sich Caian in einem Dämmerzustand. Der Schmerz in seiner Seite war kaum erträglich, aber das Brennen hielt ihn bei Bewusstsein. Es widerstrebte ihm, den Fremden zur Hütte zu bringen.

„Wer bist du?“, fragte er mühsam.

„Mein Name ist Sireth“, antwortete der Junge. „Spar dir deine Kräfte.“

Caian schlug mit einem erschrockenen Einatmen die Augen auf und wollte sich aufrichten. Ein scharfer Schmerz jagte durch seine linke Seite.

„Bleib liegen.“ Das war Amalias Stimme. Sie stand über ihn gebeugt und er nahm den würzigen Duft von Heilkräutern wahr. Ein Blick zur Seite zeigte ihm, dass er auf dem Tisch in der Mitte der Hütte lag, auf dem Hirschfell, das sich sonst vor dem Kamin befand. Sie hatten ihm seine Tunika ausgezogen und als er nach seiner Wunde tastete, fühlte er den festen Verband um seine Taille. Amalia sah eher prüfend als besorgt auf ihn herab. Sie tupfte mit einem Tuch über seine Stirn, das mit einer Kräutertinktur getränkt war, die ihn auf angenehme Art benommen werden ließ.

Tia trat zu ihm und nahm seine linke Hand. Er hob die Rechte und sah, dass ein weißer Verband darum gewickelt war.

Die Erinnerung an das Geschehene war unscharf, setzte sich aber langsam aus ihren Einzelteilen zusammen. „Was ist im Moor passiert?“, fragte er mühsam. Etwas nagte in seinen Gedanken und er konnte es nicht fassen.

„Wir wurden verfolgt“, sagte Tia. „Du wurdest von einem Pfeil getroffen. Um ein Haar…“

„Da war ein Junge…“, unterbrach Caian sie, als seine Erinnerung an die Gestalt auf dem Baum zurückkehrte. Er sah sich in der Hütte um.

Sireth stand neben der Tür an die Wand gelehnt. Er sah zur Seite und hatte die Arme vor dem Körper verschränkt. Seine Gestalt hatte etwas so Abweisendes und Feindseliges. Hatte er ihm wirklich das Leben gerettet?

„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte Sireth und wandte den Kopf in Caians Richtung. „Er war zu lange ohnmächtig. Kann er aufstehen?“

Etwas ließ Caian innerlich vor ihm zurückweichen, aber er konnte nichts Ungewöhnliches an ihm sehen. Er erkannte hohe Wangenknochen und schmale Lippen in einem scharfkantigen Gesicht. Sein Haar schimmerte bläulich und die Augen, die Caian vorhin beunruhigt hatten, waren jetzt von einem hellen Braun, wie Weidenholz. Er konnte kaum den Blick davon abwenden.

„Caian wird ein paar Tage Ruhe brauchen“, sagte Tia.

Amalia schüttelte den Kopf. „Ihr seid hier nicht mehr sicher“, sagte sie. „Es wird auffallen, dass hier im Moor drei Reiter verschwunden sind. Bald. Und dann werden andere kommen.“

„Aber warum?“, fragte Tia. „Was wollen sie von uns? Sie haben auf Caian geschossen, ohne auch nur mit uns zu sprechen. Sie wollten ihn töten.“

Sireth trat an den Tisch, auf dem Caian lag. „Dreh dich um“, befahl er.

„Was?“, fragte Caian verständnislos, aber Sireth nahm ihn bei den Schultern und er hatte keine Wahl, als der Bewegung zu folgen, bis er bäuchlings auf dem Fell lag. Er stöhnte auf, als der Schmerz in seiner linken Seite grell aufflackerte. Wütend biss er die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Tia auf seinen Rücken starrte. „Was ist das?“

„Das, wonach die Reiter gesucht haben“, antwortete Sireth. „Das Zeichen des dreizehnten Prinzen.“

Tia sah zu Sireth auf. „Das Zeichen? Wie meinst du das?“

Sireth ließ Caian los und trat einen Schritt auf Amalia zu. „Du hast ihnen nicht viel erzählt, alte Frau. Hast du gedacht, dass er in Sicherheit wäre, wenn du ihn im Ungewissen lässt?“

„Möglich, dass ich einen Fehler gemacht habe.“ Amalias Stimme klang ruhig. „Aber jetzt ist nicht die Zeit für Reue oder lange Gespräche. Ihr müsst von hier weg. Ich weiß nicht, wer du bist, Sireth, aber offenbar liegt dir etwas daran, dass Caian überlebt. Ich hoffe, dass du auf seiner Seite bist, denn ich kann ihn nicht mehr beschützen.“

Sireth nickte. „Gut, dass du es einsiehst. Ich werde ihn von hier wegbringen. So schnell es geht.“

Amalias Blick wanderte zur Tür. „Ich weiß, dass das notwendig ist. Der Sumpf kann ihn jetzt nicht mehr verbergen.“

Sireth nickte. „Möglicherweise wissen sie bereits, wo er sich aufhält. Ich fülle die Wasserschläuche.“

Die Tür fiel schwer ins Schloss. Amalia sah ihm einen Augenblick lang nach, dann ging sie in die kleine Küche und begann, Dinge aus ihrem Vorratsregal zusammen zu packen.

Caian setzte sich vorsichtig auf. Sein Blick suchte Tias. „Was hast du auf meinem Rücken gesehen?“

Tia runzelte die Stirn. Sie trat hinter Caian und betrachtete noch einmal seinen Rücken. Caian wandte den Kopf und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie streckte zögernd eine Hand aus, berührte ihn aber nicht. „Es sieht aus wie ein Kreis aus zwölf Monden, die zu leuchten scheinen. Als glühe deine Haut. Und in der Mitte ist ein weiterer, dunkler Mond. Aber ich habe es heute Nacht zum ersten Mal gesehen. Es war vorher nicht da.“

„Das Zeichen der Prinzen.“ Amalia trat aus der Küche, einen gepackten Rucksack in der Hand. „Er wurde in diesem Monat sechzehn Jahre alt. Das Zeichen ist erst jetzt erschienen.“

Caian sah sie an und schüttelte langsam den Kopf. „Aber was bedeutet es?“

Amalia ging auf ihn zu und sah ihm in die Augen. „Kannst du dir das nicht denken?“, fragte sie. „Es bedeutet, dass du der dreizehnte Prinz bist. Du bist der dreizehnte Sohn von Königin Alaida und König Laertes.“

3

Caian sank in sich zusammen. Amalias Antwort traf ihn wie ein weiterer Pfeil, aber dennoch kam sie nicht vollkommen überraschend. Es kam ihm so vor, als habe irgendetwas in seinem Inneren damit gerechnet. Nicht erst seit heute Abend. Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte und wagte nicht aufzusehen. Tia legte ihre Hand auf seine Schulter.

„Aber wie kann das sein?“, fragte er tonlos. „In den Geschichten wurde der dreizehnte Prinz zu einem Dämon mit schwarzen Schwingen.“ Er blickte zu Amalia auf.

„Die Menschen verändern die Geschichten, bis sie zu ihren Vorstellungen passen“, sagte sie und Caian sah Mitgefühl in ihrem Blick. Aber auch Angst und er wusste nicht, ob sie Angst um ihn oder vor ihm hatte.

„Warum hältst du mich hier versteckt? Warum hilfst du mir, wenn ich für alles verantwortlich bin? Für das Verschwinden der zwölf Prinzen, für das Sterben des Landes, für alles Unglück in Astagar.“

Amalia ging zurück in die Küche und holte einen Krug mit Wasser, den sie ihm reichte. Erst als er trank, merkte er, wie durstig er war. „Nicht immer sind die Dinge so klar, wie sie scheinen. Aber Sireth hat recht. Ihr müsst von hier verschwinden. Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung ist, Sireth zu vertrauen, aber er hätte dich nicht gerettet, wenn er deinen sofortigen Tod wollte.“

Sie reichte Tia den Rucksack, den diese schulterte.

Caian ließ den Becher sinken und in diesem Augenblick drang der Gedanke, der die ganze Zeit im Hintergrund geblieben war, an die Oberfläche seines Geistes. „Die Schafe.“ Er stand schwankend auf. „Sie sind noch im Moor.“

Tia nahm ihn an der Schulter und drückte ihn zurück auf das Fell. „Die Schafe sind uns nachgekommen“, sagte sie. „Fina hat sie zurückgeführt, als der Regen vorbei war. Sie sind alle im Stall.“

Caian sah sie dankbar an. „Das ist gut.“

Aber da war noch etwas. Etwas Schreckliches.

Er fühlte, dass Ari nicht mehr bei ihm war. Er musste die kleine Maus im Sumpf verloren haben. Vielleicht war sie sogar ertrunken.

Der Schmerz darüber überdeckte für den Moment alles andere und es brannte in seinen Augen. Aber er biss die Zähne zusammen und ließ sich langsam vom Tisch gleiten. Er musste sich zusammenreißen und einen klaren Kopf behalten. Vielleicht war Ari entkommen, hatte sich einen sicheren Platz gesucht. Die Maus war erstaunlich klug.

Der Verband um seine Körpermitte war fest und seine Schmerzen waren nicht mehr ganz so stark. Er ging vorsichtig ein paar Schritte.

Wie immer, wenn es ihm nicht gut ging, begann er sich im Geiste die Namen der zwölf Prinzen aufzusagen. Griffen, Daveon, Sagar…

Und dann fiel ihm wieder ein, wer er war. Dass all die Geschichten für ihn ihre Bedeutung verloren, weil er verflucht war. Der Mörder seiner Brüder und derjenige, der Unheil über dieses Land gebracht hatte. Er musste sich am Tisch abstützen. Er würde die Geschichten nie wieder auf die gleiche Art und Weise hören können.

Und trotzdem fühlte er tief in seinem Innern, dass er sich immer nach den zwölf Prinzen sehnen würde. Auch jetzt, da er wusste, dass er selbst sie ins Unglück gestürzt hatte.

Wie konnte es sein, dass man etwas so Schreckliches verursacht hatte und keinen Nachklang davon in seinem Innern spürte? War er tatsächlich böse? Auch wenn er sich nicht einmal daran erinnerte?

Die Tür flog auf und Sireth trat in den Raum. „Warum braucht ihr so lange? Wir haben keine Zeit mehr, versteht ihr das nicht? Ich habe die Pferde nicht getötet. Wenn wir Pech haben, findet eins von ihnen den Weg nach draußen und dann wird es nicht lange dauern, bis sie einen neuen Trupp hierherschicken.“

Sireth wartete mit verschränkten Armen und kaltem Blick an der Tür. Caian zog sein Leinenhemd über und schlüpfte in seine Stiefel, die am Feuer getrocknet waren.

Amalia umarmte ihn zum ersten Mal in seinem Leben. Er vergrub den Kopf an ihrer Schulter und bemerkte, dass er sie inzwischen überragte. Zum letzten Mal atmete er ihren vertrauten Duft nach Kräutern und Holz ein, bevor er sie losließ. Sie umarmte auch Tia und gab ihr einen kleinen Lederbeutel. „Einige Taler. Die werdet ihr draußen brauchen. Pass gut darauf auf.“

Dann drückte sie Caian ein kleines Fläschchen in die Hand. „Nimm ein paar Tropfen hiervon, wenn du große Schmerzen hast. Das ist Saft aus Baalskraut. Der wird dir helfen. Aber nur wenn es nötig ist, denn nur eine Wunde, die schmerzt, kann heilen.“

„Danke Amalia“, sagte Caian und er meinte nicht nur den Trank. Er hatte schon immer gewusst, dass Amalia ihn beschützte, aber erst jetzt wurde ihm klar, unter welchen Bedingungen sie zu ihm gehalten hatte.

Sireth hatte die Hütte verlassen und als Caian und Tia ihm folgten, war er ihnen ein Stück voraus.

Caian schluckte. Er ging wirklich von hier weg. Ja, er hatte sich öfter vorgestellt, wie es wäre, den Sumpf zu verlassen, aber jetzt zog sein Herz sich schmerzhaft in seiner Brust zusammen. Kurz bevor sie zu den Büschen kamen, die die Hütte umgaben, drehte Caian sich noch einmal um, weil er sein Zuhause ein letztes Mal sehen wollte. Und dann sah er etwas, das ihn nach Luft schnappen ließ. Er lief das kurze Stück zum Brunnen zurück. Dort auf dem steinernen Rand saß Ari, Männchen machend, und sah ihn ein wenig vorwurfsvoll an. Er fiepte leise, als Caian die Hand nach ihm ausstreckte und verschwand dann schnell in seinem Ärmel.

„Was ist das?“, fragte Sireth.

„Ari, mein Mäuserich“, antwortete Caian. „Er ist schon seit Jahren bei mir. Heute im Moor habe ich ihn verloren.“

„Du glaubst doch nicht, dass das wirklich deine Maus ist.“ Sireths Mund verzog sich zu einem kalten Lächeln, das gerade so seine Mundwinkel hob. „Hier wimmelt es vermutlich von dem Ungeziefer.“

„Doch, das ist Ari“, beharrte Caian. „Ich würde ihn unter hunderten von Mäusen erkennen.“

Das nächtliche Moor hatte er bisher immer nur von ihrer sicheren Hütte aus gesehen. In so vollkommener Dunkelheit war er noch nie hier draußen gewesen. Er kannte die Geräusche, die der Sumpf von sich gab. Das Blubbern und Schmatzen, als sei es lebendig und warte darauf, etwas zu verschlucken. Aber im Dunkeln und ohne den Schutz der Hütte klang es bedrohlicher. Im schwachen Licht des Mondes flackerten Schatten wie Geister an ihnen vorbei und er war froh, dass Tia nah bei ihm ging. Wind ließ die Zweige der abgestorbenen Bäume wispern und gab dem Moor eine Stimme. Irgendwo schrie einsam ein Vogel in der Nacht, als suche er ohne Hoffnung nach einem Gefährten. Der feuchte Boden, vom Regen durchweicht, zerrte an ihren Stiefeln.

In der Ferne erklang ein Heulen. Ein Wolf, der von seinem Rudel verstoßen worden war? Manchmal verliefen sie sich dann in diese Gegend. Alt und grau und vom Leben gezeichnet.

„Sireth?“, fragte er und der andere drehte sich zu ihm um, wartete einen Moment, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatten.

„Woher kommst du und warum hilfst du uns?“

„Ich komme aus der Hauptstadt“, Sireth ging weiter. „Aus Lohengard. Und ich helfe euch, weil ihr ohne mich verloren wärt. Sie suchen überall nach dir. König Laertes hat befohlen, dass alle Jungen in deinem Alter kontrolliert und mit dem Siegel gebrannt werden, wenn sie das Zeichen nicht tragen. Er will dich um jeden Preis finden. Seinen dreizehnten Sohn. Den Unglücksbringer.“

Caians Fuß blieb an einer Wurzel hängen und er strauchelte. Tia nahm seinen Arm. Er presste die linke Hand auf seinen Verband. Die Wunde darunter pochte leise. „Und wie hast du uns hier gefunden?“

„Ich bin den Gerüchten gefolgt, die besagten, dass hier eine einsame alte Frau lebt, die einen Jungen bei sich beherbergt. Ich habe lange nach dir gesucht, bevor ich hierherkam.“

„Und warum hilfst du mir?“

Sireth wandte ungeduldig den Kopf zu ihm. „Spar dir deinen Atem. Du wirst deine Kraft brauchen, wenn du aus diesem Sumpf hinauskommen willst.“

Caian schwieg. Er stützte sich schwer auf Tias Arm, weil ihm mittlerweile jeder Schritt schwerfiel. Über ihnen schlugen Flügel und der Ruf eines Käuzchens ließ ihn schaudern.

Ihm fiel ein, dass er selbst vermutlich das Wesen in diesem Moor war, das am meisten Unheil gebracht hatte. Er schluckte schwer.

Seine Gedanken wanderten zu den Geschichten von den dreizehn Prinzen. Früher hatte er Istriel, die Hellseherin, glühend bewundert. Wenn man nur auf ihren Rat gehört und den dreizehnten Prinzen nach seiner Geburt getötet hätte. Konnte er sich das jetzt noch immer wünschen? Obwohl er selbst dieses Wesen war?

„Es wäre besser, sie hätten mich damals getötet“, sagte er leise.

Tia drehte sich zu ihm um und ihre Augen funkelten. „Wie kannst du so reden?“, fragte sie. „Du bist ein Junge aus Fleisch und Blut. Kein Dämon oder Ungeheuer. Du hast nichts Böses an dir. Es ist gut, dass du entkommen bist.“

„Aber die Prinzen sind nach meiner Geburt verschwunden. Es war meine Schuld.“

Tia schwieg.

Die Pfeilwunde schmerzte wieder und Caian presste eine Hand auf seine Seite. Er war dankbar für den Schmerz, weil er seine anderen Gefühle für den Moment in den Hintergrund drängte.

„Und mein Vater will Rache an mir nehmen. Deswegen lässt er mich suchen.“

Sireth blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Nein, das ist nicht der Grund.“ Caian konnte sein ausdrucksloses Gesicht gerade so im Schein des Faris-Mondes erkennen. „Es ist nicht Rache, die er will. Istriel, seine Seherin, hat ihm prophezeit, dass er seine Söhne zurückbekommen kann, wenn er dich töten lässt.“

Caian atmete tief ein und sah Sireth an. „Wäre es dann nicht richtig, mich ihnen zu stellen?“, fragte er. „Wenn das bedeutet, dass die zwölf Prinzen zurückkehren können?“

Tia legte die Hand auf seinen Arm. Sireth sah ihn mit eisigem Blick an. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit. „Oh nein, das wirst du nicht tun. Edelmut war mir schon immer zuwider.“

„Warum hast du es ihm überhaupt erzählt?“, zischte Tia in Sireths Richtung.

„Ich bin der Meinung, dass die Wahrheit der richtige Weg ist“, gab Sireth zurück. „Zumindest in diesem Fall.“ Er trat nah an Caian heran und sah auf ihn herab. „Diesen Opfergedanken gibst du auf, verstanden? Ich will kein Wort mehr davon hören.“

Caian sah ihm wütend ins Gesicht. Sireths Kälte, seine Gleichgültigkeit allem gegenüber ließ ihn auffahren. „Dann sag mir, warum du hier bist. Warum hast du mich beschützt? Und warum tötest du für mich?“

„Das sind viele Fragen auf einmal.“ Sireth trat einen Schritt zurück und in seinem blassen Gesicht war keine Emotion zu erkennen. „Ich werde dir sagen, warum ich dich beschütze. Weil es noch eine weitere Prophezeiung gibt, von der man sich erzählt. Sie besagt, dass du der Einzige bist, der deine Brüder zurückbringen kann.“

Caians Schultern spannten sich. „Wie?“

Sireth drehte sich von ihm weg und sah über das Moor. „Es heißt, die Prinzen seien eng mit dem Land und miteinander verbunden. Aber der Fluch hat dieses Band gelöst. Wenn es dem dreizehnten Prinzen gelingt, sie alle zu finden und zu berühren, bevor der letzte Mond seines sechzehnten Jahres versinkt, dann können sie erlöst werden.“

„Also weißt du, dass sie am Leben sind? Und du glaubst daran, dass ich sie finden kann?“

„Ich weiß nichts“, sagte Sireth und seine Stimme klang müde. „Hier und dort habe ich Geschichten gehört.“ Er drehte sich wieder zu Caian und Tia und sein Gesicht nahm den bekannten abweisenden Ausdruck an. „Aber ich weiß, dass alles verloren ist, wenn wir nicht bald aus diesem Moor herauskommen.“

„Dann beeilen wir uns“, sagte Tia entschlossen und legte einen Arm um Caian. „Wir finden deine Brüder.“ Ihre Stimme klang warm und freundlich in der Kälte der Nacht.

4

Als die Morgendämmerung anbrach, sah Caian aus halb geschlossenen Augen, dass das Moor sich um sie herum zu verändern begann. Es gab weniger Tümpel und Schilf und dafür mehr verknorpelte Bäume, die enger zusammenstanden und deren Wurzeln aus der Erde herausragten. Ein einzelner Vogel sang mutlos im fahlen Licht und der Modergeruch verschwand. Stattdessen roch es nach feuchtem Holz und Kräutern.

Die Bäume wuchsen hier höher. Ihre Wurzeln türmten sich auf und bildeten Bögen, unter denen man hindurch gehen konnte. Aber auch die Baumriesen wurden vom langsamen Sterben des Landes nicht verschont. Caian sah vertrocknete Blätter und kahle Äste und einmal krachte ein solcher hinter ihnen in den sumpfigen Untergrund.

Eine halbe Stunde kamen sie gut voran, dann begann seine Wunde zu sehr zu schmerzen. Es pochte in seiner Seite und er hatte großen Durst, aber nicht die Kraft, um nach Wasser zu fragen. Schweiß stand auf seiner Stirn.

„Wir müssen rasten“, sagte Tia. „Er kann nicht mehr weiter.“

Sireth sah ihn an. Kühl, abschätzend. „Wir müssen es bis nach Bardûk schaffen.“

„Wie weit ist das noch?“, fragte Caian und es überraschte ihn selbst, wie schwach seine Stimme klang.

„Gegen Mittag sollten wir dort sein.“

Tia schüttelte den Kopf. „Das schafft er nicht. Er muss sich ausruhen.“

„Es ist zu gefährlich. Wir werden verfolgt. Es sind weitere Reiter im Wald. Ich habe Spuren gesehen.“

Tia gab nicht nach. „Willst du, dass seine Wunde sich entzündet?“

Sireth schwieg einen Moment und sah sich um. „Kommt“, sagte er dann.

Sie fanden Zuflucht in einem hohlen Baumstamm, vor dem sich eine mannshohe Wurzel aufwölbte.

Caian war übel vor Erschöpfung, als Tia ihm half, sich hinzulegen. Sireth hielt vor dem Eingang Wache.

Tia schob Caians Tunika nach oben und wechselte geschickt seinen Verband. Er spürte das beruhigende Gefühl kleiner trippelnder Füße auf seinem Arm. Ari.

„Wie sieht es aus?“, brachte er hervor.

„Nicht besser. Die Wunde hat keine Ruhe, um zu heilen. Aber sie hat sich nicht entzündet.“

„Wir müssen weiter. Was, wenn die Reiter uns hier entdecken?“

„Nicht, bevor du geschlafen hast.“

Sie reichte ihm die Flasche mit den Tropfen, die Amalia ihnen mitgegeben hatte, und einen Oka-Fladen.

Caian zwang sich, einige Bissen davon zu essen, obwohl er keinen Hunger hatte. Er streute Ari ein paar Krümel auf seine Hand und sah der Maus zu, wie sie sie mit Appetit verspeiste.