Traum aus Nacht und Schatten - Nasrin Schuppli - E-Book
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Traum aus Nacht und Schatten E-Book

Nasrin Schuppli

4,7

Beschreibung

Etwas veränderte sich und der flüsternde Wind trug die Magie in die Menschenwelt. Ina hat sich in ein einsames Haus zurückgezogen, fernab der Mitmenschen, denen sie sonderbar erscheint. Sie aber ist zufrieden in dieser unbändigen Natur, deren Energie alles durchströmt und sie von Tag zu Tag mehr einnimmt. Doch bald bemerkt sie, dass sie nicht allein dort draußen zu sein scheint: ein Gefühl zuerst nur. Aber dann ein Schatten und schließlich steht er vor ihr: Ciaran. Der geheimnisvolle Traumdieb, der sie bestiehlt, offenbart ihr aber all das Verborgene, das vor ihren Augen schon immer lag. Nur – er dürfte nicht hier sein, denn er ist nicht aus dieser Welt. Ina aber lebt auf, begreift, dass ihr Anderssein viel mehr ist, als sie glaubte. Sie, die zwischen die Welten sehen kann und die unheilvolle Macht, die immer stärker wird, fühlt. Damit zu leben, wird allerdings nicht leicht werden, denn etwas viel Größeres ist im Gange. Und Ina ist nicht nur mittendrin, sondern sie wird entscheidend sein … Ein Fantasy-Roman über die Hoffnung, alle Verletzungen des Lebens zu überwinden, über die Kraft der Liebe. Romantisch, spannend, tief berührend.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten © copyright by Riverfield Verlag, Reinach BL (CH)www.riverfield-verlag.ch

Korrektorat & Satz ihleo verlagsbüro – Dr. Oliver Ihle, Husum (D)

Umschlaggestaltung Riverfield Verlag & ihleo verlagsbüro

Bildnachweis Umschlag Riverfield Verlag (created with generative AI)

E-Book Programmierung: Dr. Bernd Floßmann. www.ihrtraumvombuch.de

Print ISBN 978-3-907459-13-3

E-Book ISBN 978-3-907459-14-0

 

 

Für meine Mami, die mich gelehrt hat zu träumen,

und meinen Lieblingsmenschen, der mich träumen lässt …

 

 

In der Tiefe meiner Seele liegt ein Lied, das keine Worte hat,

Ein Lied, das aus dem Samen meines Herzens lebt.

Und nicht mit Tinte auf Papier geschrieben wird.

Es hüllt in einen leichten Mantel meine Liebe ein

Und fließt dahin; es tritt jedoch nicht über meine Lippen.

(Khalil Gibran)

Prolog

Die wundersame Dunkelheit vermischte sich mit dem fahlen Licht der großen Mondsichel am Firmament.

Tausende Sterne leuchteten in jener Nacht und ließen den Himmel in so vielen Farben erstrahlen, als hätte man mit einem Pinsel darübergemalt. Das betörende Bild dieser schier endlosen Nacht spiegelte sich in jenen Augen, die wie schwarzer Onyx schimmerten, während die unbändige See an die schimmernden Felsen prallte, die über den unendlich weiten Strand aus schwarzem Sand verteilt waren.

Lauernd kroch die Finsternis über die Schwelle der Welten und lüftete den Schleier allmählich. Etwas veränderte sich, und der flüsternde Wind trug die Magie in die Menschenwelt.

Kapitel 1

Sie konnte die Stille geradezu atmen hören, und das Summen von Bienen vibrierte in ihren Ohren. Dieses angenehme Hintergrundrauschen übertönte ihren ruhigen Herzschlag, und die Wärme eines sich zu Ende neigenden Spätsommertages legte sich auf ihre blasse Haut.

Ina saß mit ihrem Zeichenblock unter der Nase und ihrem kleinen schlafenden Hund auf dem Schoß vor dem alten Haus am Rande des Waldes, das von Blumen und alten Bäumen umrandet war. Eine sattgrüne Wiese hob sich von den verwitterten Holzbalken des Hauses fast unwirklich ab.

Es war noch nicht lange her, als sie diesem verlassenen Ort ihr Herz schenkte. Einem Ort, an dem der Sommer kurz und der Herbst bunt war, bunter als auf jedem Gemälde. Und die Winter zogen märchenhafter vorbei als irgendwo sonst auf dieser Welt und verwandelten alles in eine unwirkliche Landschaft. Hohe Berge und weite Seen prägten die schier endlosen Wälder, die das Haus umringten und am Horizont der Welt zu enden schienen.

Seit einiger Zeit lebte sie nun mit ihrem treuen Begleiter, den sie auf der Straße beinahe angefahren hatte, hier. Mit nur zwei Koffern war sie damals aus ihrem Wagen gestiegen, der trotzig ruckelte und ihr ein Loch in die Kasse gerissen hatte. Wenn sie abends in dem kleinen Pub im Dorfinneren ihrem Aushilfsjob nachging, wurde ihr sofort klar, was für eine sonderbare Ruhe dieser Ort mit dem alten, windschiefen Haus ausstrahlte.

Seit sie fertig war mit der Schule, hielt sie sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Es reichte ihr aus, um an diesem bescheidenen Flecken Erde zu leben.

Hier draußen, wo die Natur noch die Überhand hatte und den Puls des Lebens vorgab, lebten nur einige wenige Menschen. Doch wenn abends die Dunkelheit über das Land kroch und die Nacht sich ein Gewand aus tausend Schatten wob, war Ina sich wie nie zu anderer Stunde sicher, dass sie gar nicht allein war.

»Du solltest mehr unter Leute gehen, Liebes.« Schmerzlich hallte die warme Stimme ihrer Pflegemutter Irene in ihr nach. Die süße Erinnerung hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Sie war vor etwas länger als einem Jahr verstorben, wurde beinahe von heute auf morgen krank und dann unbarmherzig aus dem Leben gerissen. Der Tod von Irene riss ein klaffendes Loch in ihr Herz.

Ihr Pflegevater war daraufhin zerbrochen und verschwand eines verhängnisvollen Abends, ohne sich richtig von ihr zu verabschieden. Sie spürte seinen flüchtigen Kuss noch auf ihrer Stirn, als Magnus fortging. Der Schnee hatte seine frostigen Finger bereits über die Welt gelegt. Er lief das letzte Mal die Straße entlang, die sie früher immer genutzt hatten, um im naheliegenden Wald wandern zu gehen. Viele Stunden waren sie durch die endlosen Wälder gewandert, picknickten an den schönsten Flecken der Erde und er lehrte sie, in allem das unvollkommene Schöne zu sehen, die Dinge so anzunehmen, wie sie nun einmal waren, und jedem Tag mehr Leben zu geben. Sich seinen eigenen Mantel zu formen und nicht darauf zu warten, dass andere das taten. Sie wartete Stunden auf ihn. Saß in der klirrenden Kälte und starrte in den Wald hinein, bis der Frühling irgendwann übers Land zog und sie die Hoffnung aufgab, dass er jemals zurückkehren würde. Schmerzlich wurde ihr damals klar, dass sie nichts mehr dort hielt. Weder ihre leiblichen Eltern, die sie nie kennenlernen durfte, noch Magnus und Irene waren noch da.

Ihre zurückgezogene Art hatte ihr nicht viele Freunde eingebracht, weswegen sie eines lauen Frühlingsabends, als die Dämmerung über den Asphalt kroch, ihre Koffer packte und die Wohnung mit allem darin hinter sich ließ. Mit schier ohrenbetäubendem Rattern zog sie ihre Koffer über den gepflasterten Boden durch die verwinkelten Gassen des sonst so bunten Dorfes. Doch in ihrem Inneren erschien es ihr nun grau und trostlos, genau wie ihre schmerzende Seele. Sie musste weg von hier, Abstand gewinnen, um sich neu zu sammeln. Noch im Morgengrauen hatte sie vor einer Autogarage gestanden und dem erstaunten Mann ihr letztes Geld unter die Nase gehalten. Kurz darauf führte er sie auf den abgelegenen Hinterhof, wo ein Wagen genauso verlassen stand, wie sie sich fühlte. Sie fuhr damit aus dem Dorf, das ihr so fremd geworden war. Sie ließ alles hinter sich und schloss ihren Schmerz ein.

Eine ganze Weile übernachtete sie an fremden Orten. Half hier und dort ein wenig aus, um sich Schlafplätze leisten zu können, und fand schließlich das Inserat, das ihr scheinbar wie aus Zauberhand vor die Füße flatterte, als sie gerade angestrengt die letzten Äpfel vom Baum pflückte und in den Korb legte. Ina dachte nicht lange darüber nach, zog sich ihre Schürze aus und ging einfach. Die nette Frau, die ihr den Job angeboten hatte, sah ihr verblüfft nach und schüttelte verwundert ihren Kopf.

»Was für eine seltsame junge Frau!«

Von da an ließ sie viel hinter sich. Die Liebe anderer, freundlicher Menschen, die sie kennengelernt hatte, und ihr trauriges Selbst. Denn geblieben war ohnehin niemand. Geblieben war nur die Tatsache, dass sie sich zu niemandem dazugehörig fühlte und die Liebe ein seltsames Geschöpf sein musste. Ein Geschöpf, das Herzen so sehr mochte, dass sie es zerdrückte und schließlich aufhörte für andere zu schlagen. Es erhält uns am Leben, pumpt Blut durch unsere Adern und pulsiert mit der Zeit, bis die Zeit uns zu sich nimmt und es für immer damit aufhört.

Inzwischen ging es ihr besser als damals. Sie heilte sich selbst an diesem ursprünglichen Ort mitten in der rauen Natur, wo Eis und Feuer die Landschaft erschaffen hatten. Ihr Leben ging weiter, auch wenn es ohne die zwei Menschen, die sie so sehr liebte, weiterging. Sie hatte sogar eine liebe Freundin gefunden, die sie zwar so gut wie nie zu Gesicht bekam, da sie noch abgelegener wohnte als sie. Doch Anna akzeptierte ihre Verschlossenheit, und dafür liebte sie sie. Sie hatte nach und nach gelernt, sich wieder mit anderen Menschen anzufreunden, und doch blieb ihr Herz verschlossen, gut verwahrt hinter einer Mauer, die sie erschaffen hatte.

An diesem warmen Tag hatte sie die Sonne genossen, die noch einmal mit voller Kraft auf sie hinunterbrannte, so als würde sie danach für immer erlöschen. Beinahe so, als würde sie nicht zulassen wollen, später dem einziehenden Herbst Eintritt zu gewähren. Ina zeichnete gerade den letzten Strich auf das Papier und blickte den kleinen schlafenden Kater auf ihrer Zeichnung an. Er wirkte darauf so lebendig, dass man meinen könnte, er würde jeden Moment hinaushüpfen. Jede Linie enthielt all ihre Erinnerungen an ihn in sich. In diesem Moment war es das Einzige, was wirklich wichtig erschien. Die Welt da draußen konnte warten. Warten auf was auch immer sie wollte, aber nicht auf sie.

Kapitel 2

Aslan streckte sich genüsslich auf ihrem Schoß, als er auf eine summende Biene aufmerksam wurde, die ihm tanzend um die Schnauze brummte. Hastig schnappte er danach und weckte Inas Aufmerksamkeit. Sie war wieder in ihre Träumereien abgetaucht – wie so oft. Wenn die Schatten ihrer Erinnerung sich in ihrem Kopf einnisteten wie tausend Spinnweben, verschwand sie manchmal beinahe aus der Gegenwart. Verwundert legte sie ihr Kunstwerk auf die Seite und blickte dem Kleinen nach, der immer aufgeweckt und verspielt war. Es dauerte nicht lange, bis ihn etwas Kleines völlig aus der Fassung brachte. In ihren Augen war er das Leben selbst und manchmal hatte sie das Gefühl, dass er genau wusste, in welchen Bann sie die Finsternis zog, die tief in ihr selbst verborgen sein musste. Und doch ließ diese Dunkelheit sie immer wieder fliegen, wenn sie hineinfiel!

Aslan hüpfte hinunter und jagte dem armen Insekt nach, das nur an ihrem süßen Getränk naschen wollte. Inas Blick schweifte über den wilden Garten, der in einem wirren Gestrüpp nahe am Waldrand endete. Dahinter erstreckte sich ein nicht enden wollendes Waldstück, aus dem hin und wieder dessen Bewohner vorbeischauten. Ab und zu, wenn der Wald abends so im Dunkeln dalag und man nichts erkennen konnte außer seinen Umrissen, wollte man meinen, von ihm beobachtet zu werden.

Ihre Tagträumerei vermischte sich mit dem Drang, den Garten in Angriff zu nehmen. Sie hatte es sich bereits vor einigen Wochen vorgenommen, es dann aber wieder bleiben lassen, nachdem sie nach jeder Schicht mit müden Beinen auf das Sofa gefallen war und den Tag mehr oder weniger verschlafen hatte. Jetzt war sie für einige Tage nur in der Abendschicht eingeteilt und hätte somit genügend Zeit tagsüber. Wäre sie nicht so unglaublich chaotisch, würde der Garten wahrscheinlich schon so aussehen, als würde jemand hier leben. Doch sie mochte die unstrukturierte Umgebung eigentlich, liebte es, wie die Gräser und Blumen wild ineinander geflochten waren. Ja, sie gestand es sich nur zögerlich ein, aber sie mochte das Chaos. Es machte sie seltsam ruhig und ließ sie entspannter atmen.

Einige Blüten eines knorrigen Flieders wehten ihr vor die Füße und der süßliche Duft spielte mit ihren Sinnen. Seufzend stand sie schließlich auf und band sich ihre langen, kastanienbraunen Haare, die sich in sanften Wellen über ihren Rücken schmiegten, hoch.

»Du trägst den Fluss der anderen Welt in deinen Haaren, mein Schatz.« Irene kämmte ihr gerne die Haare, wenn sie draußen gespielt hatte und wieder aussah wie ein Wirbelwind. Liebevoll flüsterte sie ihr damals ins Ohr, wenn ihr Haar in der Sonne schimmerte: »Unbändig und wild wie dein Geist.«

Ehrgeiz loderte in ihren dunkelbraunen Augen, als sie aufstand, um im Werkzeugschuppen, der gefährlich lotterig bislang noch dem Wind trotzte, eine Gartenschere zu suchen. Vorsichtig kletterte sie über dutzende verrostete und verdreckte Hacken und Rechen, als sie im hintersten Eck unter dem zugewachsenen Fenster eine Schere entdeckte, die an einem wackeligen Nagel hing und nur darauf wartete, endlich wieder benutzt zu werden. Ein Paar Gartenhandschuhe leuchtete ihr in knalligem Rosa auf einer alten Kaffeedose entgegen und die Spinnweben daran ließen vermuten, dass die schon lange hier lagen. Als Ina sich durch den ganzen Kram durchgewühlt hatte, fiel dann doch alles scheppernd in sich zusammen und Aslan lugte verwundert hinein. Ina schnitt mit der klapprigen Schere in die Luft.

»Na, dann wollen wir mal.«

Sie hielt kurz inne und sah sich in dem herrenlosen Durcheinander um. Der jugendliche Schalk, der ihr übers Gesicht huschte, ließ ihre Augen wild glänzen, als sie sich wieder zurück zum Ausgang zwängte. Während sie zur Tür strauchelte, blieb ihr Blick an einigen Schnitzereien an den Holzlatten hängen. Sie schienen im milchigen Sonnenlicht, das sich durch die Ritzen kämpfte, schwach zu leuchten. Irgendjemand musste sie hineingeritzt haben, so wie sie früher manchmal Zeichen in einen Baumstamm ritzte, um eine Freundschaft zu verewigen oder einfach den Namen zu hinterlassen. Etwas an der Art daran faszinierte sie und sie fühlte ein leichtes Ziehen in ihrer Brust, als sie mit ihren Fingern über die raue Oberfläche fuhr. Ina vergaß ihr Vorhaben und legte die Schere ab. Viel lieber wollte sie jetzt den Flieder in seiner unvollkommenen knorrigen Art auf Papier festhalten. Gedankenverloren wandte sie sich von den Zeichen ab und trat in die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages, die ihr schnurstracks Schweißperlen auf die Stirn trieben. Der Tag war ungewöhnlich warm gewesen heute, und sie blinzelte zum Himmel hinauf, wo gerade ein großer Vogel über ihrem Kopf kreiste und sie mit seinen dunklen Augen fixierte, wobei ein heiserer Krächzer in ihre Ohren drang und sich ein leichter Schwindel in ihrem Kopf breitmachte. Die Hitze musste ihre Sinne trüben.

Ina setzte sich in den Schatten vor den Flieder ins weiche Gras und die Tinte auf ihrem Zeichenblock sog sich kurze Zeit später in das schneeweiße Papier, wobei sie immer wieder aufsah und sich fragte, warum er zu dieser Jahreszeit noch Blüten trug. Die Gartenhandschuhe hatte sie einfach angelassen und Aslan sah sie schief an, dabei wackelte er mit seinem Hinterteil und winselte erwartungsvoll.

»Moment noch! Ich will ihn genau so festhalten, wie er sich emporreckt. Er fasziniert mich auf eine Art und Weise, die ich nicht beschreiben kann.«

Sie hielt inne und legte den Block ab, als sie hinter den Gräsern etwas im Stamm entdeckte, das ihre Aufmerksamkeit weckte. Vorsichtig schob sie alles beiseite und entdeckte noch mehr Schnitzereien, die in seinem alten Stamm verewigt waren.

Aslan bellte sie an, schnupperte vorsichtig und tippelte daraufhin schnurstracks zum Kräutergarten. Sie verzog ihr Gesicht und wischte sich den Schweiß von der Stirn, wobei sie in sich hineinlachte. Dieser Ort war sonderbar. Diejenige, die zuvor hier gelebt haben muss, war offenbar angetan von Schnitzereien und fremden Zeichen gewesen.

Der kleine Kräutergarten, in dem Aslan ganze Arbeit leistete, glich allmählich einem Kräuterfriedhof. Mühselig kniete sie auf der Erde und riss die widerspenstigen Gräser aus, die die Kräuter unter sich zu erdrücken versuchten. Aslan buddelte tatkräftig weiter und wirbelte immer wieder Dreck auf, der sich in ihren Haaren verfing.

»Na, Kleiner, ich denke, das haben wir gar nicht mal so schlecht hinbekommen.«

Er wedelte aufgeregt mit seinem Hintern und leckte ihr über die schmutzigen Hände. Einige Käfer krabbelten ihr hin und wieder über die Beine. Sie schimmerten sanft in der Sonne und sie folgte ihnen neugierig mit ihren aufgeweckten Augen. Angestrengt hackte sie weiter und zerrte verbissen an einem tief verwurzelten Unkraut, das nicht nachgeben wollte, bis sie schließlich auf ihrem Po landete und erschöpft in den Himmel blickte. Die Wärme hatte sich hartnäckig in allem verkrochen, was sie gefunden hatte. Die kühle Brise, die so plötzlich über die Gräser hinwegblies und die Blätter in der Baumkrone über ihr rascheln ließ, übersäte ihren Körper mit einer Gänsehaut.

Ein seltsames Gefühl kroch an ihrem Nacken hoch, und das Windspiel, das über der Veranda hing, klimperte bedrohlich hin und her, wobei es sich beinahe aus der Halterung löste. Eindringlich stieg ihr ein intensiver Geruch in die Nase, der ihr schon, seit sie hier eingezogen war, immer wieder in ihre Sinne geschlichen war: Jeden Abend, kurz bevor die Sonne vollständig am Horizont verschwand und die Dunkelheit über das Land kroch, nahm sie diesen besonderen Duft wahr, der sich später auch in ihren verschleierten Träumen verfing. Die Farben der Sträucher und Pflanzen wichen hastig den düsteren Schatten des Abends und gewährten der Dämmerung Einzug. Dieser besondere Augenblick, der so flüchtig war wie ein Flügelschlag, ließ sie ergriffen die Luft anhalten.

Der Abend kam rasch und tauchte alles in spärliches Licht. Aslan kroch auf ihren Schoß und Ina vergrub ihre Finger in sein weiches Fell. Sie hätte schwören können, dass ihr Herzschlag sich beinahe zeitgleich mit dem von ihm beschleunigte und erst wieder ruhiger schlug, als die Dunkelheit die Nacht ankündigte und sie geborgen in ihren Armen empfing. Ihr Blick schweifte noch einmal über das Gelände. Man konnte bis zum Waldrand sehen, der alles Sichtbare in sich verschluckte und mit den düsteren Umrissen der Bäume verschwamm.

Die Tage wurden langsam wieder kürzer und die Dunkelheit tiefer, undurchdringbarer und geheimnisvoller, vor allem an einem Ort wie diesem. Die Lampe über der weißen Haustüre erhellte als einziges Licht den Abend. Der Holzboden knarrte und ächzte, als sie einen Fuß darauf setzte. Ein kleiner Falter flatterte wie wild um die Glühbirne. Auf der Suche nach dem Licht stieß er immer wieder an das Glas und blieb erfolglos. Aslan verfolgte interessiert das Schauspiel und bellte aufgeregt, wobei er sich im Kreis drehte und auf und ab hüpfte. Grinsend nahm Ina ihn auf den Arm und verscheuchte das kleine Insekt, damit es sich nicht verbrannte. Erschöpft drehte sie sich noch einmal um. Der kleine Kräutergarten sah nicht mehr ganz so traurig aus, nur der Rest des Grundstückes würde noch einiges an Arbeit kosten.

Der dunkle Flur, in den sie trat, verströmte angenehm kühle Luft, als sie das Licht anknipste und ihre Schuhe auszog, die sie hinter die Türe warf. Früher hätte Magnus wahrscheinlich einen Anfall gekriegt, wenn er das gesehen hätte. Ina war genau wie Irene und manchmal stellte sie sich vor, dass sie wirklich ihre Mutter hätte sein können.

»Wenn ihr ordentlicher wärt, würdet ihr auch nicht ständig eure Schlüssel suchen, die wie so manche anderen Dinge spurlos verschwinden, wenn sie in eure Hände fallen.«

Seine Worte streiften ihre Gedanken und ein verbittertes Lächeln machte sich auf ihrem blassen Gesicht breit. Würde sie es nicht besser wissen, hätte man meinen können, dass alle vor ihr flohen – nicht nur ihre Schlüssel oder ihre Handschuhe.

Links von ihr stand ein altes Schuhmöbel, auf dem eine Vase thronte, die sie auf dem Dachboden gefunden hatte. Darin standen einige frische Blumen, die zuvor hinter dem Haus in voller Blüte um die Wette gestrahlt hatten. An den Wänden mit der leicht vergilbten Tapete hingen einige Bilder von ihr und von unbekannten Künstlern. Die meisten stellten die umliegenden Landschaften dar. Auf ihren eigenen Bildern hielt sie jedoch alles Mögliche fest, allesamt waren sie mit derselben schwarzen Tinte gezeichnet – so verloren und gefangen auf dem Blatt. Und doch funkelten die Augen der Tiere, die sie meist zeichnete, fast schon lebendig, wenn sie sie mit ihren onyx-schwarzen Blicken anstarrten. Nebenan befand sich eine schwere Holztür, die zum Keller führte. Der Strom funktionierte nicht mehr da unten und sie musste jedes Mal mit einer Taschenlampe hinuntersteigen. Sie fürchtete sich normalerweise nicht im Dunkeln, ganz im Gegenteil, sie mochte sie sogar. Doch die kalte, feuchte Luft, die nach nassem Stein und modrig roch, versetzte ihr am ganzen Körper ein Schaudern. Am Ende des Flurs befand sich das kleine, aber gemütliche Wohnzimmer mit den großen Fenstertüren, durch die man nach hinten auf die Wiese, die das Haus umgab, gelangte und rundherum in den Garten laufen konnte. Die Tür stand meistens offen, damit Aslan ungehindert nach draußen konnte. Links davon befand sich die offene Küche mit bescheidenen Kochgeräten, die sie so gut wie nie benutzte, und unzählige Schränkchen, die noch vollgestopft waren mit Geschirr und Töpfen, die nicht ihr gehörten. Der Boden karrte unter ihren Füßen, als sie ihr Haar aus dem Knoten löste und eine Weile innehielt, einfach um die kühle Luft hier unten im Haus in sich aufzunehmen. Sie hatte einen erstaunlich feinen Geruchssinn, der Fluch und Segen zugleich sein konnte. Das Haus roch angenehm nach altem Holz und dem süßen, aber dezenten Duft, den die frisch gepflückten Blüten verströmten. Aslan tat es ihr gleich und reckte seine Nase in die Luft.

»Seltsam sind wir nicht, du und ich, aber eigen wie die unbeugsame Natur hier draußen.«

Ina kraulte sein Fell und wusste, dass er sie verstand, während seine zweifarbigen Augen sie aufmerksam beobachteten.

Die Treppe, die vom Flur aus hinaufging, führte in ihr Schlafzimmer. Die Dielen fühlten sich angenehm kühl unter ihren nackten Füßen an, als sie nachdenklich hinaufging und ihre Finger an der rauen Wand entlanggleiten ließ. Das alte Haus hatte bestimmt schon viele Geschichten in sich aufgenommen, und wenn es sprechen könnte, wie viel würde es wohl preisgeben? Wie viele Füße waren schon über den alten Holzboden gelaufen, wie viele Hände hatten bereits diese Wände berührt? Wie oft war jemand diese knorrige, verblichene Treppe hinuntergerannt, um jemandem die Tür zu öffnen und ihn hineinzubitten?

Ina blieb kurz stehen und ließ ihren Blick hinunter in den schwach beleuchteten Flur schweifen. Wie oft hatte jemand da unten gestanden und sich dieselben Fragen gestellt? Wie viele Kinder waren über den Boden getapst, um ihren Eltern in die Arme zu fallen? Und wie viel Gelächter verbarg sich in den Wänden des Hauses?

Das wehmütige Lächeln, das auf ihren Lippen glomm, verschwand nur langsam. Nebenan lag das Badezimmer mit der alten Badewanne, in der Ina manchmal ewig lange badete, während von draußen Vogelgezwitscher hineindrang und sie dem Rauschen des Windes in den Bäumen lauschen konnte.

Müde spritze sie sich kaltes Wasser in ihr Gesicht, das sich noch immer heiß anfühlte. Schließlich streifte sie sich in ihrem Zimmer etwas Sauberes über, über dem der große Dachboden lag, der immer wieder den einen oder anderen Schatz, den sie fand, in sich barg.

Kapitel 3

Als der Mond schon hoch oben stand und alles in sein mattes Licht tauchte, machte sie es sich mit einem dampfenden Teller Pasta auf der Veranda bequem. Der Gedanke daran, heute Abend nicht im stickigen, von der Wärme aufgeheizten Pub arbeiten zu müssen, beruhigte sie, und ein wohliger Schauer zog sich über ihren Körper. Irgendwo in der Ferne zirpten einige Grillen und der Wind blies raschelnd durch die Baumwipfel. Die Dunkelheit wirkte beruhigend auf sie. Am liebsten mochte sie die Zeit der Dämmerung, wenn es weder hell noch dunkel war. Immer dann konnte sie die unbändige Energie spüren, die durch alles hindurchfloss und den Schleier der Welt für einen flüchtigen Augenblick lüftete, bevor sie der Dunkelheit oder dem Licht wich.

Das schrille Klingeln ihres Telefons riss ein Loch in die Ruhe der Nacht. Annas helle Stimme begrüßte sie am anderen Ende der Leitung und ließ ein warmes Lächeln über ihr Gesicht huschen.

»Ich hoffe, dir geht’s gut.« Ina bejahte ihr die Frage und sie quatschten eine Weile miteinander. »Ich kann doch am Spätsommerfest auf dem Hof mit dir rechnen, oder?«

Das Fest, das die Menschen hier jedes Jahr veranstalteten, war eine Tradition. Schon damals im Dorf ihrer Jugend war es üblich gewesen hinzugehen und kaum jemand hatte an diesem besonderen Abend gefehlt. Die Menschen stellten allerlei bunte Stände mit leckerem Essen auf, und verschiedene Musiker spielten bis früh in den Morgen hinein. Es war eine ganz besondere Stimmung in dieser Zeit, heiter, sommerlich, aber schon mit der Gewissheit, dass der Herbst kommen werde, und jeder spürte an diesen Abenden den besonderen Zauber, der in der Luft lag. Irene flocht ihr damals bunte Bänder in ihr Haar und sie trugen wunderschöne Kleider, die ihr Pflegevater selbst nähte. Stundenlang saß der Schneider vor den verschiedensten Stoffen und fertigte wundervolle Einzelstücke. Eines davon lag oben gut verstaut in einer Kiste. Letztes Jahr hatte sie es nicht getragen. Sie war zu dieser Zeit viel unterwegs, um Geld zu verdienen, und hatte schlicht und einfach nicht die Kraft dazu, den leichten Stoff auf ihrer Haut zu tragen, der sie mit jeder Faser an die gemeinsame Zeit erinnerte, die sie nie wieder erleben sollte. Ina hatte sich seither auf keinem der Feste blicken lassen, die es hier gab. Es kam ihr falsch vor, sich zu amüsieren. Lange Zeit konnte sie nicht einmal in den Spiegel blicken und dabei lächeln. Ihr starrten nur zwei Augen aus dem blassen Gesicht entgegen, die ihre Farben verloren hatten.

Doch jetzt war es besser geworden, sie wusste nichts dagegen einzuwenden und versprach, selbstgebackene Zimtschnecken mitzubringen. Ihre absolute Lieblingssüßspeise, falls man Süßes zu einer Leibspeise zählen konnte. Das helle Gelächter ihrer Freundin am anderen Ende der Leitung mussten selbst die Glühwürmchen hören, die in der großen Eiche herumschwirrten, und Aslan hob fragend seinen kleinen, wuscheligen Kopf, wobei seine Augen neugierig funkelten.

»Dann sehen wir uns in ein paar Tagen, Anna. Gute Nacht.«

Eine Weile lang starrte sie danach noch in den schlafenden Garten hinaus. Über ihrem Kopf erhellten kleine Papierlampions die Nacht, die sie zuvor in einer Kiste ausgegraben hatte, die in einer der Kästchen mit den Töpfen lag. Was auch immer die dort drin verloren hatten, sie kamen ihr genau zur rechten Zeit in die Finger. Das schummrige Licht reichte aber kaum aus, um draußen etwas zu erkennen, wo Nacht und Schatten ineinander verschmolzen.

Aslan quiekte im Schlaf und strampelte einige Male mit seinen weißen Beinchen, die hin und wieder im Licht schimmerten wie Silber. Nachdenklich streckte Ina sich und genoss die restliche Wärme des Tages, die sich in den Holzbalken gesammelt hatte und sich nun angenehm auf ihre Haut legte. Wobei sie aber nicht verleugnen konnte, dass sie sich schon nach den etwas kühleren Nächten sehnte.

Kurz bevor sie zu Bett gehen wollte, schlich noch einmal dieses seltsam vertraute Gefühl, das sich mit dem angenehmen Duft vermischte, über ihren Körper, der sich jetzt viel zu warm anfühlte. Ina bildete sich ein, dass die Nacht hier draußen so riechen musste. Vielleicht hatte alles seinen ganz eigenen Geruch. Warum sonst verbinden die Menschen ihre Erinnerungen und auch Ängste mit einem vertrauten Duft?

Sie war in ein bequemes Top geschlüpft, das ihr bis über die Knie fiel, ein Pony mit regenbogenfarbigem Schweif starrte sie mit großen Kulleraugen darauf an, als sie sich die Haare vor dem Spiegel zusammenflocht, um zu Bett zu gehen. Das Fenster stand offen und kühler Wind kroch hinein. Ihr Zimmer war in fahles Licht getaucht und irgendwo flatterte etwas mit kräftigen Flügelschlägen in die Nacht davon. Aslan hatte sich bereits auf dem Bett eingerollt und atmete gleichmäßig. Ein angenehmes Kribbeln kroch ihren Nacken hoch und legte sich schwer auf ihr Gemüt. Unglaublich müde ließ sie sich neben Aslan fallen und beobachtete ihn eine Weile, bis ihr Puls ruhiger wurde. Die Geräusche der Nacht umarmten sie wie ein alter Freund, als sie in einen Schlaf fiel, der ihr einen merkwürdigen Traum brachte. Einen Traum, in dem der Schleier der Welten ineinanderschmolz wie Tinte, die zusammenlief und sich unwiderruflich ineinander verformte. Etwas Weiches streifte dabei ihre Wange und weckte tief in ihrem Inneren einen warmen Funken, der sich in ihr ausbreitete.

Kapitel 4

Draußen war es noch dämmerig, als sie die Augen blinzelnd öffnete, doch die Wärme kroch bereits die Holzdielen hoch und ließ das Haus ächzen. Aslan lag wie eine eingerollte Schnecke auf ihrer Decke und schnarchte leise vor sich hin, während sein zerzaustes Fell in alle Richtungen abstand.

Sie lehnte sich nachdenklich an ihre Bettlehne und betrachtete ihr Zimmer. Sie hatte die Einrichtung gegen einen lächerlich geringen Abschlag komplett von der alten Dame übernehmen können. Etwas Angespartes hatte sie von Irene geerbt, sonst hätte sie sich das nie im Leben leisten können. Frau Edgar, die vorherige Besitzerin, hatte ausdrücklich gewünscht, dass sie sich um ihr Haus und den Garten kümmerte, insbesondere dem Flieder galt besondere Aufmerksamkeit. Im Vertrag war es ihr ausdrücklich verboten, ihn zu fällen. Die Frau wollte ins Altenheim ziehen, und Ina hatte sie nie persönlich kennengelernt. Sie war tatsächlich spurlos verschwunden: Ina wollte ihr damals ihren Dank aussprechen, wurde aber in jedem Altenheim in der Gegend abgewiesen, weil nie eine Frau ihrer Beschreibung dort gewesen sei. Zuerst empfand sie das als sehr seltsam, doch vielleicht wollte die alte Dame einfach nicht gefunden werden. Viele Menschen verschwanden irgendwann, und manchmal fühlte es sich an, als hätten sie schon vor langer Zeit aufgehört zu existieren. Sie verschwanden und alles, was sie hinterließen, war eine flüchtige Erinnerung.

Daraufhin betrachtete sie die Zeichnung, die das Gesicht ihrer Pflegemutter zeigte und so ziemlich der einzige persönliche Gegenstand nebst ihrer Kleidung war, den sie mitgebracht hatte. Das Bild hing an der Wand gegenüber dem Bett. Ina verewigte viele Erinnerungen und Gedanken, die sie nicht verarbeiten konnte, auf Papier. Wie sonst konnte sie daran festhalten, ohne zu zerbrechen? Sie zeichnete schon immer, seit sie denken konnte. Doch mittlerweile war es zu einer Art Therapie für sie geworden. Ihr Schmerz und auch ihre Freude flossen gemeinsam mit der Tinte in die Papierblätter hinein.

Heute war sie fest dazu entschlossen, vor der Arbeit ins Dorf zu fahren, um ein paar anständige Werkzeuge und ein Gartenhandbuch zu besorgen. Ihre Motivation zwang sie aus dem Bett. Sie schnappte sich eine kurze Hose und ein Oberteil und ging in die kleine Küche hinunter, wo sie sich zuerst mit einer großen Tasse Kaffee und einem gut beschmierten Toast stärkte. Aslan war bereits im Garten verschwunden und tollte durch den Kräutergarten, der danach wahrscheinlich wieder so chaotisch aussehen würde wie vor der Arbeit gestern. Nachdenklich schaute sie eine Weile hinaus und genoss den Sonnenaufgang.

Viel zu lange trödelte sie herum und starrte irgendwann entsetzt auf die Wanduhr, die heute eindeutig zu schnell voranschritt.

»Oh, Mist!«

Leise fluchend schwang sie sich vom Stuhl, suchte die Autoschlüssel, während ein Bein in der Luft hing, und versuchte sich in die Schuhe hineinzuzwängen. Schließlich fand sie den Schlüssel auf dem Sofa und fragte sich, wie er schon wieder dort landen konnte. Hastig zog sie die Tür hinter sich zu und stolperte unvorsichtig die Treppe hinunter, wobei sie beinahe auf die Nase fiel.

Sie saß bereits im Auto und durchwühlte gerade ihre Tasche, um nach ihrer Geldbörse zu suchen, als sie nach Aslan rief. Er schien aber nicht auf ihr Rufen zu reagieren, also stieg sie noch einmal aus und sah sich um. Der Kleine bellte den Flieder an und sprang immer wieder daran hoch. Er beachtete sie nicht, als sie hinter ihn trat und verwirrt den Kopf schüttelte. Erst als sie vor ihm in die Hocke ging, hörte er endlich damit auf und wedelte freudig mit dem Schwänzchen.

»Was hast du denn, mein Liebling? Da ist nichts. Komm schon, ich habe heute nicht so viel Zeit.« Sie kraulte Aslans Bauch, wobei er sich auf dem Rücken wälzte und entspannt hechelte. »Hast du etwa einen Baumgeist gesehen, du trotziger Wirbelwind?« Liebevoll hob sie ihn hoch und wollte gerade gehen, als ein kräftiger Windstoß über die Wiese fegte und das bunte Windspiel mit den Glasscherben sich auf der Veranda wild um sich selber drehte und sie blendete. Fliederblüten wehten ihr ins Haar und dieser vertraute Duft schlich sich in ihre Sinne. Verwundert drehte sie sich um und ließ ihren Blick über den Garten schweifen, der nun wieder ruhig vor ihnen lag, und kein Grashalm schien sich mehr zu bewegen. Es war keine Spur von aufkommendem Wind zu sehen und die Wärme flirrte bereits in der Ferne.

Der Motor ihres Autos startete beinahe ächzend und dunkler Qualm röchelte hinten aus dem Auspuff hinaus, als sie hustend die Fenster öffnete und das Radio anmachte.

»Jetzt bloß nicht schlappmachen, mein Guter.«

Ein Schatten machte sich unbemerkt hinter dem Flieder davon, nur Aslan bellte wie wild, als er auf dem Beifahrersitz hinübersah. Dabei hüpfte er auf und ab. Sie mahnte ihn, endlich Ruhe zu geben, und schenkte dem nicht weiter Beachtung. Auch die schwarze, schimmernde Feder wehte ungesehen davon und schwebte in den heißer werdenden Spätsommertag dahin.

Kapitel 5

Das Dorf war bereits von Leben erfüllt, als sie über die holprige Straße in eine Seitengasse abbog. Die Leute, die ihre Geschäfte öffneten, Schilder hinausstellten, noch einmal ihre Schaufenster polierten oder ihren Laden fegten, wirkten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Auf dem Marktplatz herrschte bereits wildes Getümmel. Der Wochenmarkt hatte seine ersten Verkaufsstände offen. Frisches Obst und Gemüse strahlten in allen Farben um die Wette. Selbstgekochte Konfitüren, goldener Honig und frisch gebackene Brote zierten die verschiedenen Marktstände. Es roch nach Fisch und würzigem Fleisch. Ina öffnete die Seitenfenster ihres Autos, um die wunderbaren Gerüche einzuatmen. Aslan ließ gemächlich seine Zunge aus dem Fenster baumeln und seine Ohren flatterten im Wind.

In einer Gasse vor einer Buchhandlung parkte Ina ihren Wagen. Ihr kleiner Hund hüpfte aus dem Auto, als sie ihm die Tür aufhielt wie ein Chauffeur seinen Fahrgästen. Eilig schnappte sie sich ihren Einkaufskorb, den sie mit ihrer Freundin zusammen geflochten hatte, und hörte noch Annas schallendes Gelächter, als die beiden wie zwei alte Damen vor dem Hof in der Wiese hockten und verbissen versuchten, die Ruten ineinander zu verflechten. Das Glöckchen an der Tür der Buchhandlung ließ Aslan zusammenzucken, bevor er freudig hineinstürmte. Ina spähte prüfend in den großen Raum, der nach warmem Feuer und alten Büchern roch, hinein. Über dem kleinen Tresen mit der altmodischen Kasse hing ein Schild, auf dem in großen, verschnörkelten Buchstaben stand Zur magischen Schriftrolle.

»Hallo, bist du da?«

Irgendwo fiel ein Stapel Kartons um und Finn kam hinter ihm hervor.

»Hi Ina, hallo kleiner Racker.« Finn kraulte Aslan und gab ihm seinen Daumen, an dem er genüsslich herumknab­berte.

Ina lachte erfreut auf. »Irgendwann wird dir das noch leidtun, spätestens wenn er deinen Finger davonträgt.«

»Wie dramatisch«, gab er grinsend zur Antwort, bevor er sich wieder erhob, verschmitzt lächelte und fragte, was sie diesmal hierher verschlagen habe. Der Buchladenbesitzer war etwa in ihrem Alter, großgewachsen, strohblond und immer freundlich. Er hatte erstaunlich blaue Augen und musterte sie stets, als hätte sie einen Fleck auf der Stirn, wobei ihm seine blonden Locken in die Augen fielen und seine Stirn verdeckten. Sie kannte ihn nun schon eine Weile. Seit sie hier in die Nähe dieses Dorfes gezogen war und ab und zu in seiner Buchhandlung vorbeischaute, um ihre Büchersammlung aufzustocken. Oder einfach ein bisschen zu reden. Sie verstanden sich gut und schienen auf einer Wellenlänge zu sein.

»Ich brauche klugen Rat im Sträucherschneiden und Kräuter-Friedhöfen-zu-neuem-Leben-Verhelfen.«

Finn bat sie vergnügt, ihm ins obere Stockwerk zu folgen. »Ist es nicht etwas spät, noch etwas im Garten zu tun?«

Sie sah sich um und murmelte nur: »Ja, klar.«

Es war meist etwas staubig und unordentlich in dem Buchladen. Sie staunte immer wieder, wie er in all dem Chaos etwas finden konnte, und merkte, wie ähnlich sie sich dabei waren. Als er vor ihr stehen blieb, prallte sie beinahe in ihn hinein. Mit hochgezogener Augenbraue sah er auf sie hinunter.

»Ja, alles klar, du scheinst dich mit Pflanzen auszukennen.«

Ina sah ihn zunächst verwirrt an und kaute dabei unbeholfen auf ihren Lippen. »Tut mir leid, ich war abgelenkt von deiner Sammlung.«

Sein Blick schweifte über die Türme von ungeordneten Büchern und teils sogar Schriftrollen.

»Ja, ich weiß, ich habe da mein ganz eigenes System.« Zwinkernd wandte er sich wieder den Büchern zu und suchte dann in einem großen Regal nach einem Gartenbuch.

War es so offensichtlich gewesen, was sie dachte? Oder war er einfach nur gut darin, alles in ihrem Gesicht zu lesen? »Ich habe kein Problem damit, ich mag es etwas chaotisch.«

Lächelnd schüttelte er seinen Kopf und sie schaute sich derweilen ein wenig um. »Chaotisch, es ist nicht chaotisch. Jedes Ding hat seinen Platz.«

Über ihnen ragte die hohe Dachschräge in den Himmel und das kleine Dachfenster warf spärliches Licht auf die Bücherregale. Im hintersten Eck stand ein alter Schreibtisch mit hunderten Kritzeleien und Zeichnungen. Finn schien neben seiner erstaunlichen Fähigkeit, immer das Richtige zu finden, auch künstlerisch begabt zu sein. Hinter einer schweren Holztür schien ein flackerndes Licht hindurch, was den aufwirbelnden Staub im schwachen Schein tanzen ließ. Die Tür besaß jedoch keinen Türknauf. Verwundert betrachtete sie die schön verzierte Holztür und wollte die Inschriften mit den Fingern nachfahren, als ihr ein unangenehmer Schmerz, der sich anfühlte wie ein Stromschlag, in die Fingerkuppen jagte. Verwundert rieb sie sich die Hand und meinte, einen knisternden Funken über das dunkle Holz hüpfen zu sehen. Eilig ging sie schließlich zum nächsten Regal, bei dem sie zuerst über einige Stapel loser Papiere stieg. Akribisch prüfte sie die Buchrücken und las die verschiedenen Titel darauf. Meist wählte sie sich dann ein Buch aus, bei dem ihr der Titel besonders gut gefiel. Die Zusammenfassung las sie jedoch nie. Ein guter Titel machte meist schon das ganze Buch aus.

»Cogito ergo sum.«

Fragend wandte sie sich zu ihm um.

»Ich denke, also bin ich.« Sagte er beiläufig und zog das Buch, das sie betrachtet hatte, aus dem Regal. Wobei er verstohlen zur Tür ohne Knauf schaute. »Descartes, ein wahrer Meister seiner Worte. Principia philosophiae ist eines seiner Meisterstücke, über die Prinzipien der Philosophie. Eine gute Wahl. Interessierst du dich für die Philosophie der Wissenschaft?« Er gab ihr das literarische Werk in die Hände, wobei Ina ihren Kopf schüttelte und den Buchdeckel betrachtete.

»Ich mochte den Titel.«

Finn lachte auf und gab ihr das dicke Gartenbuch ebenfalls. »Dann wird der hier dir besonders gut gefallen.

»Gärten für Anfänger«, las sie laut vor. »Na, vielen Dank auch.«

»Immer wieder gern.« Sein Grinsen zog sich bis über beide Ohren und ließ seine Augen verwegen funkeln. Eine Weile schien er etwas in ihr zu suchen. Dann war ein lautes Krachen von unten zu hören.

Zwischen den Bücherkartons schnupperte Aslan sich ungeschickt hindurch und warf hin und wieder einen Stapel davon um. Ina hob ihre Schultern entschuldigend und ging hastig hinunter, um die rausgefallenen Bücher wieder aufzuheben.

»Komm schon, Aslan, lass das!«

Finn folgte ihr die knarrende Treppe hinunter. »Lass nur, es herrscht sowieso endloses Durcheinander.«

Sie wischte sich die staubigen Hände an der Hose ab. »Ich dachte, hier herrscht kein Chaos?«

Der Schalk machte sich auch auf Finns Gesicht breit und er grinste amüsiert.

»Ich kann dir gerne dabei helfen, das Durcheinander etwas zu ordnen, wenn du magst.«

Finn lehnte das Angebot dankend ab und fischte ihr dabei ein Staubfusel aus den Haaren. »Ich fühl mich wohl so. Die Welt ist schon zu geordnet und gegliedert, findest du nicht auch?« Kurz huschte so etwas wie Bedauern über sein markantes Gesicht und ließ ihn älter wirken, als er war.

Verlegen trat sie einen Schritt zurück und stimmte ihm nickend zu. Sie fragte sich insgeheim, warum nicht alle Menschen ein wenig gelassener sein konnten, um nicht ständig nach Ordnung und Struktur zu streben, sondern die kleinen, wichtigen Dinge wahrzunehmen, die um sie herum geschahen. Doch das schien in Vergessenheit geraten zu sein, und die Hektik des Alltags verwandelte alles in den gewohnten Wahnsinn.

Finn ließ sie noch ein wenig herumstöbern und verstaute weiter schwere Bücher in die Regale. Sie fand noch eine interessante Landkarte der Gegend und ein hübsches Buchzeichen, das er selbst gebastelt zu haben schien.

»Das ist wunderschön.«

Finn betrachtete sein eigenes Werk, auf dem ein kleines Segelboot auf dem Wasser schaukelte und ein goldener Kompass den Rest des Buchzeichens zierte. Sorgsam packte er es in eine Papiertüte. »Ich bin froh, dass es dir gefällt.« Sein Mundwinkel zuckte zufrieden, als er ihr alles in ihren Korb legte.

Seltsam beruhigt verließ sie sein Geschäft mit dem dicken Handbuch »Gärten für Anfänger« und Descartes »Principia philosophiae«. Finn hatte es ihr mit den anderen Dingen in den Korb gelegt und ihr viel Spaß beim Lesen des schönen Titels gewünscht. Dabei grinste er verschwörerisch und hinterließ ein Lächeln auf ihren Lippen, fast so warm wie die Sonnenstrahlen, die bereits mit einer geballten Ladung auf ihre Wangen schienen. Für diese Gegend war es diesen Sommer ganz schön warm gewesen, was eher ungewöhnlich war. In letzter Zeit machte das Wetter immer wieder seltsame Wechsel, und ungewohnte Temperaturanstiege oder Abfälle donnerten über das Land.

Bevor sie aber weiter zu Hannes ging, bei dem es alles für Gartenfreunde zu finden gab, konnte sie dem Markt nicht widerstehen. Die herrlichen Gerüche lockten sie zu den bunten Ständen, schienen sie zu umgarnen und einzuhüllen wie eine Decke aus weichem Samt. Ihr Hund war bereits davon und hatte sich den nächsten verzückten Menschen gesucht, der ihm den Bauch kraulte. Die junge Frau gab ihm ein Stück Trockenfleisch und alberte mit ihm herum. Ina verputze bereits ihr zweites Stück Räucherforelle, die sie angeboten bekam, und schüttelte den Kopf.

»Du bist unmöglich, Aslan, weißt du das?«

Die Verkäuferin klopfte ihre Hände an ihrer zahlreich geblümten Schürze ab und lächelte dabei aufgeschlossen.

Sie ging weiter an den Ständen vorbei, blieb ab und zu stehen und schaute sich selbst gezogene Kerzen und handgemachte Kunstwerke aus Holz an. Ein Schmied bearbeitete gerade ein mittelalterliches Schwert, und heiße Funken stoben auf allen Seiten empor. Dutzende neugierige Kinder hatten sich um ihn herumgestellt und sahen ihm fasziniert dabei zu, wie er kraftvoll auf das heiße Eisen einschlug. Vor ihm lagen schon einige fertiggestellte Waffen, und Ina begutachtete begeistert einige Messer. Sie berührte sachte eine der scharfen Klingen und erschrak sich, als der kühle Stahl unter ihren Fingern kaum merkbar knisterte. Das war schon das zweite Mal heute! Vielleicht war sie irgendwie aufgeladen oder bildete sich das nur ein. Manchmal wusste sie ohnehin nicht genau, was echt war und was manchmal nur in ihrem Kopf stattzufinden schien. Sie war schon immer ein wenig anders, manchmal kam sie gut damit klar, an anderen Tagen weniger. Verstohlen blickte sie sich um, doch niemand schien es bemerkt zu haben, also ließ sie den Stand ohne weiteren Gedanken daran hinter sich.

An einem weiteren blieb sie fasziniert stehen und konnte ihren Blick nicht von dem alten Mann lösen, der wundervolle Blumenkränze mit verschiedensten bunten Bändern und Blumen flocht, die bestimmt für das anstehende Spätsommerfest gefertigt wurden. Es duftete herrlich nach Lavendel, Rosen und wilder Kamille. Die wunderbaren Farben verzauberten sie und ließen sie näher herantreten, um ihm dabei zuzusehen, wie er mit seinen knorrigen Händen, bei denen jede Kerbe und jede Falte eine Lebensgeschichte erzählte, etwas Wunderbares entstehen ließ. Er sah auf und lächelte sie mit seinen dunkelblauen Augen an, dann hielt er ihr eine Rose hin und musterte sie einen Augenblick prüfend. Dabei berührte sie seine rauen Finger, als sie die Blüte entgegennahm, und der auflodernde Funke in seinen so jungenhaften Augen entging ihr nicht. Er schien für den Hauch einer Sekunde verwirrt zu sein.

»Für dich, Träumerin! Verlier dich nicht in seiner Welt. Du überschreitest die Schwelle bereits, Menschenkind.«

Ina hielt inne und musterte ihn fragend. Er beobachtete sie noch eine Weile so und machte sich schließlich wieder an die Arbeit, als hätte sie gar nie dort gestanden und ihn angesehen.

Sie hatte die Blüte dankend angenommen und versank in Gedanken, während sie weiterspazierte. Was für ein wunderlicher alter Mann! Wer war denn hier der Träumer, sie oder er? Die Schwelle überschreiten …

Ein kleines Mädchen starrte sie an und hielt inne, als sie gerade in ihr süßes Brötchen beißen wollte. Wahrscheinlich dachte sie wieder laut und sie versuchte sie anzulächeln, doch ihre Mutter zog sie zu sich und wischte ihr aufgebracht den Mund ab.

»Komm, bleib bei mir!«

Inas Finger kribbelten eigenartig, und sie steckte sich die Blüte aufgewühlt hinters Ohr. Gedankenverloren verstaute sie noch Honig, den sie gekauft hatte und der herrlich in der Sonne schimmerte, und ein frisch gebackenes Brot in ihren Korb. Gemütlich schlenderte sie ein wenig durch das rege Getümmel und setzte sich den großartigen Strohhut, den ihr ein Junge verkauft hatte, der über und über mit Sommersprossen voll gewesen war, auf ihren Kopf, nur um am nächsten Stand ein Paar zartrosa Handschuhe zu bezahlen. Die letzten hatte sie wohl im vergangenen Herbst irgendwo liegen gelassen. Falls sie es endlich zurück in den Garten schaffen sollte, musste sie sich langsam beeilen. Aber wenn sie weiterhin so herumtrödelte, würde das bestimmt nichts mehr werden.

Also ging sie schließlich auf direktem Weg zu Hannes Gartenwelt und besorgte sich alles Nötige, das sie noch brauchen würde. Mit dem Buch in der Hand hatte sie vor ihm gestanden und auf einige Gartengeräte gezeigt, die sie benötigte. Der groß gewachsene Mann mit den grünen Gummistiefeln und dem roten Wikinger-Bart sah sie nur belustigt an und zeigte ihr die verschiedenen Werkzeuge. Zögerlich drückte er ihr zum Schluss eine große Heckenschere in die Hände, bei der sie den Preis etwas herunterhandeln konnte, und duckte sich hastig, als Ina damit herumfuchtelte wie mit einem harmlosen Besen.

»Du bist dir sicher, was du tust?« Die Frage klang mehr wie eine verzweifelte Feststellung.

»Natürlich, warum nicht?«

Hannes musterte skeptisch die Spitzhacke, die sie sich unter den Arm klemmte, dabei ihr Geld herauskramte, um zu bezahlen, und half ihr, die scharfe Ast-Säge ungefährlich in ihrem Korb zu verstauen. »Der Sommer ist so gut wie vorbei, was hast du denn noch in deinem Garten vor?«

Ina zuckte mit den Schultern. »Hm, mal schauen.«

Mit der Hacke und der Heckenschere über ihrer Schulter spazierte sie schließlich zurück zu ihrem Wagen und meinte dabei auszusehen wie eine Irre – so mit Hacke und übergroßer Schere. Nur mit Mühe schlich sie an ihrem Lieblingscafé vorbei, in dem es im Herbst ein wunderbares Getränk gab, das herrlich nach Kürbis und Zimt roch. Was würde sie jetzt für so eines hergeben! Oder einen starken Kaffee mit einem dieser Hefeknoten, die ihr von der Theke aus zulächelten. Ina mahnte sich selbst, damit aufzuhören, sich Dinge vorzunehmen, für die sie nun wirklich keine Zeit hatte. Außerdem sollte sie nicht noch mehr Geld ausgeben. Die Gartenutensilien hatten sie schon mehr gekostet, als sie eigentlich hätte ausgeben sollen, und würde sie die nächsten Wochen nicht darum herumbringen, sich von Dosenravioli und Toast zu ernähren. Entnervt lehnte sie sich an die Schaufensterscheibe und starrte seufzend in den Himmel hinauf.

»Eine heiße Quelle wäre jetzt auch toll. Hörst du, Aslan, ich muss wirklich damit aufhören, nicht?«

Eine junge Frau in ihrem Alter starrte sie verwundert an, als sie hastig mit ihrem Kinderwagen an ihnen vorbeiging. Ihr verwirrter Blick, den sie noch zurückwarf, entging Ina dabei nicht. Wie peinlich! Sie sprach schon wieder mit ihrem Hund, stand mit einer gut einen Meter langen Heckenschere und einer Hacke vor dem Schaufenster des Cafés, und der Strohhut sowie die rosa Wollhandschuhe, die sie anhatte, damit sie sie nicht wieder verlor, bis sie zu Hause war, musste auch sehr verstörend auf ihre Mitmenschen wirken. Sie war anscheinend zu oft allein. Mit ihren gerade einmal neunzehn Jahren sah sie sich jetzt schon mit drei Hunden und zehn Katzen auf der Veranda sitzen. Hastig schüttelte Ina ihren Kopf und ging zum Auto, das sich bereits wie eine Sauna aufgeheizt hatte. Aslan schlüpfte diesmal auf den Hintersitz und rollte sich auf der flauschigen Decke ein. Noch einmal schweifte ihr Blick verzaubert über das bunte Dorf mit den vielen kleinen Gassen und den Pflastersteinen, die sich ineinanderklammerten wie ein unendliches Mosaik. Es erinnerte sie an ihr altes Zuhause und ließ sie in Erinnerungen schwelgen, als sie erschrocken feststellte, dass es bereits Mittag war. Die Sonne stand schon hoch über den Dächern und ihr gleißendes Licht spiegelte sich in den vielen Fenstern.

Auf der Rückfahrt fuhr sie an herrlich goldenen Feldern vorbei, wobei es einige Male heftig unter den Rädern holperte, da die Landstraßen nicht mehr die neusten waren. Der Radiosprecher las übermotiviert seinen Text vor und erzählte von einigen Erdbeben und aufkommenden Stürmen in der Gegend. Sie wechselte den Sender und summte ein älteres Lied nach, das dort gespielt wurde, und je weiter sie hinausfuhr, desto mehr anfing, in knackendem Rauschen unterzugehen. Bis sie schließlich mit vollgepackten Armen aus dem Auto stieg und beinahe alles fallen ließ, als Aslan schnurstracks an ihr vorbeischoss.

Kapitel 6

Sie begann, zuerst das hohe Gras am Verandageländer zu stutzen. Danach jätete sie noch das Blumenbeet unter der großen Eiche, unter der sie es sich gemütlich eingerichtet hatte. Dabei entdeckte sie noch eine Hecke mit süßen, kleinen Moltebeeren, die sie verputzte und Aslan immer wieder eine zuwarf. Ein kleiner Tisch und zwei Stühle, die sie im Gartenschuppen fand, völlig verstaubt und verdreckt, zierten jetzt den gemütlichen Sitzplatz. Die letzten Blüten des großen Rosenstrauchs, der sich zum Wohnzimmerfenster hinaufschlängelte, verwehten im Wind und verteilten sich verträumt über die Naturwiese hinter dem Haus, in der blaue Kornblumen sich sachte im Wind hin und her wiegten.

Mit der Heckenschere schnitt Ina verbissen die hohe Hecke um den Flieder herum. Der Schweiß rann über ihr Gesicht und es war ganz schön anstrengend, den widerspenstigen Ästen den Garaus zu machen.

Irgendwann hielt sie inne, zog ihre Gartenhandschuhe und -schuhe aus und ließ sich ins Gras fallen, wo sie einen Moment lang zur Ruhe kam. Ihr Strohhut rutschte ihr in die Stirn und sie schloss ihre Augen, lauschte dem Wispern des Windes, der durch die Baumwipfel streifte, und griff nach den Grashalmen, die sie kitzelten. Was er wohl zu erzählen vermochte, wenn er durch die Blätter blies, die sich langsam, aber sicher anfingen zu färben?

Aslan schlief unter dem Fliederstrauch, der auch seine letzten Blüten trug. Sie lächelte und ging zu ihm hinüber, lehnte sich an den knorrigen Strauch – und Aslan sich schlaftrunken an ihr Bein.

»Ihr seid ja doch noch Freunde geworden.«

Sie grinste und strich dem Hund mit einer Blüte über die Schnauze, wobei er anfing zu niesen. Hinter ihnen summten einige Bienen, und hie und da schaute ein hübscher Schmetterling vorbei, der sich an dem süßen Nektar der Blüten erfreute. Ein wohliger Schauer machte sich in ihr breit. Sie genoss die Ruhe und die Atmosphäre, die dieser Ort verströmte. Dann nahm sie das dicke Gartenbuch zur Hand und blätterte sich konzentriert hindurch.

Nach einer Weile holte sie sich eine Tasse Kaffee und schickte Anna ein Foto ihres Werkes. Sie war ganz zufrieden mit der getanen Arbeit. Fehlte nur noch der widerspenstige Fliederstrauch, doch es war bereits später Nachmittag und sie sollte sich schon längst zur Arbeit aufmachen.

Sie ließ alles stehen und liegen, wie sie es so oft tat, und spurtete hinauf ins Bad, wo sie sich den Dreck abwusch und sich frischmachte. Bevor sie das Haus verließ, blickte sie noch flüchtig in den Spiegel. Ihr Shirt saß eng an ihrer schmalen Taille. Auf dem Shirt stand in großen, grünen Buchstaben »Midgard«, was so viel wie Mittelhof oder Mittelgarten, genau genommen der Wohnort der Menschen in den alten germanischen Sprachen bedeutet. Der Lokal-Besitzer war sehr von der nordischen Mythologie angetan. Warum es auch nicht abwegig war, dass zu dem meistverkauften Getränk im Pub Met gehörte und seine beiden monströsen Hunde Thor und Loki hießen. Sie mochte ihren Job nicht besonders, doch er hielt sie über Wasser, und das war momentan wichtiger.

Ihr Zopf sah ein wenig ungleichmäßig aus, also knüpfte sie ihre Haare wieder auseinander und band sie zu einem Knoten zusammen, der alles noch schlimmer machte. Ihre Wangen färbten sich rosa, weil sie schon viel zu spät dran war. Ihre Augen wirkten viel zu groß in ihrem schmalen, blassen Gesicht, dennoch mochte sie ihre Lippen. Ja, ihre Lippen waren voll und rosa und wenn sie nicht immer darauf herumkauen würde, bestimmt ganz makellos.

Sie löschte überall das Licht und ließ nur die kleinen Lampions draußen leuchten. Zudem hatte sie heute noch ein paar bunte Flaschen mit LEDs gefunden, die jetzt in der alten Eiche hingen und mit den Glühwürmchen um die Wette strahlten. Liebevoll drückte sie Aslan noch einmal an sich und er rollte sich danach auf dem Bettchen auf der Veranda ein. Sie wollte ihn nur ungern bei Loki und Thor lassen, die beiden Hunde waren ihr nicht ganz geheuer.

Es war viel los heute. Der Pub füllte sich immer mehr und Ina wirbelte von einem Tisch zum anderen, verteilte den Gästen ihre Getränke, und hin und wieder bestellten die etwas zu essen. Manchmal kamen sie ins Plaudern, andere wieder wollten nur für sich sein, was sie sehr gut nachvollziehen konnte. Aber warum kamen sie dann hierher? Das war kein Ort, um Ruhe zu haben. Im Gegenteil, es war immer laut, stickig und voll. Das Lokal war nicht sehr groß. Die Tische und Stühle standen alle dicht beieinander, und der Tresen beanspruchte nahezu den ganzen Platz. Aus der bescheidenen Küche hörte man ab und an etwas klirren, und die Hitze staute sich allmählich im Raum, wobei sich dieses Gefühl der Beklommenheit wieder in ihr breit machte. Zum Glück konnte sie für einen kurzen Moment den Müll rausbringen, bevor sie sich wieder hinein ins Getümmel stürzte. Loki und Thor lagen am Eingang und beobachteten das Ganze aufmerksam. Manchmal kam es ihr fast schon so vor, als würden sie sie nicht aus den Augen lassen und jeden ihrer Schritte verfolgen.

Kurz vor 24 Uhr endete ihre Schicht. Bran und Edith, die beiden Lokalbesitzer, bestanden darauf, dass sie noch eine Weile blieb, um mit ihnen und den anderen den Geburtstag ihres Sohnes zu feiern. Unfreiwillig setzte sie sich an den Tresen. Zwei ihrer Stammgäste waren auch geblieben und hoben schon ziemlich angeheitert ihre Gläser. Marlon wurde heute achtzehn. Er hatte noch einige seiner Freunde dazugeholt und wurde gerade von seinen Eltern geknuddelt, als er sich sichtlich errötet neben Ina setzte.

»Alles Gute, Marlon.« Sie hob ihr Wasserglas und prostete ihm halbherzig zu.

»Vielen Dank. Trinkst du nichts?« Unaufgefordert bestellte er ein Bier, was sie jedoch ablehnte. Außerdem war sie diejenige, die den Tresen meistens selbst bediente, daher war keiner da, um einzuschenken. Räuspernd nippte sie an ihrem Wasser und blickte verstohlen auf die Wanduhr, deren Zeiger heute Abend viel zu langsam gingen. Marlon kicherte betrunken und unterhielt sich derweilen lautstark mit einem seiner Freunde. Sie fühlte sich fehl am Platz und machte sich stattdessen daran, Gläser abzuräumen, die die Geburtstagsgäste bereits überall stehen gelassen hatten.

Edith legte ihr den Arm um die Schultern und lächelte sie mit geröteten Wangen an. Die kleine, eher rundliche Frau mit den silbergrauen Haaren, die stets zu einem Dutt geknöpft waren, zog sie mit sich.

»Komm schon, meine Liebe, du bist fertig mit deiner Schicht. Genieße den Abend. Trink etwas, unterhalte dich.«

Ina versuchte sich mit allen Mitteln rauszureden, um noch ein bisschen aufzuräumen, doch Edith bestand darauf und platzierte sie wieder auf dem Barhocker. Sie fühlte sich gerade wie ein trotziges Kind und drehte einige der herumliegenden Bierunterlagen auf der Fläche mit den tiefen Kerben, als der stämmige Koch, überwältigt von seiner eigenen Kreation von Torte, durch die Klapptür zur Küche kam und das Backwerk freudig dem Geburtstagskind übergab. Jemand legte sanft seine Hand auf ihren Rücken und mit der anderen griff er an ihre Schulter. Sie sah einen silbernen Ring mit kleinem blauem Stein an dieser Hand. Finn lächelte sie mit seinen blauen Augen herzlich an, setzte sich neben sie auf einen Hocker und griff sich eine Handvoll Nüsse. Er sah anders aus mit seiner Lederjacke und der ausgefransten Jeans.

»Na, amüsierst du dich?«

Überrascht schob sie ihm einen Becher mit dem roten, klebrigen Getränk hin, das überall herumstand.

»So sehr, wie seit Jahren nicht mehr.«

Ihr Sarkasmus ließ seine Mundwinkel verschwörerisch zucken. Kritisch roch er an der Flüssigkeit und schob sie einfach einer jungen Frau weiter, die sich gerade sehr über etwas zu amüsieren schien. Der Blick, den sie ihm zuwarf, war sehr eindeutig und er schenkte ihr ein charmantes Lächeln. Die blonde Frau strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr und blickte ihn verstohlen an. Mit erhobener Augenbraue grinste Ina ihn an und nahm sich ebenfalls ein paar Nüsse aus der kleinen Schale.

»Du scheinst dich auch bestens zu amüsieren.«

Finn zwinkerte ihr zu, wobei er sie mit seiner Schulter anschubste. »Bei dir funktioniert mein charmantes Lächeln ja nicht.«

Über ihr Gesicht huschte ein amüsiertes Lächeln. »Nein, auf den Ich-bin-ein-braver-Junge-Blick fall ich nicht rein. Außerdem …«

Finn lehnte sich beachtlich nah zu ihr rüber, es war ziemlich laut geworden in dem beengten Raum, und dabei streifte sein Atem ihre Wange. »Außerdem was?« Raunte er ihr spielerisch zu.

»Bist du einfach nicht mein Typ. Tut mir leid.«

Theatralisch fasste er sich an seine Brust und rutschte beinahe vom Stuhl. »Autsch.«

Die beiden lachten herzlich und er schenkte sich über den Tresen lehnend ein Glas Wasser ein. »Na dann, auf die Freundschaft.«

Ina nickte ihm zu und hob ihr Glas, als Marlon sich erneut aufdrängte und mit ihr anstoßen wollte. »Auf meinen Geburtstag, würde ich mal meinen. Belästigt der blonde Cole Sprouse dich etwa?«

Finn runzelte die Stirn und stieß Marlon vorsichtig auf die Seite, damit er Abstand zu ihr gewann.

»Cole Sprouse? Du vergleichst mich jetzt nicht wirklich mit dem Beani tragenden Typen von Riverdale, oder?

»Schon gut, Finn, lass nur. Er hat recht: Du bist wirklich ein wenig lästig.«

Ihr zuckersüßes Lächeln ließ Finn aus allen Wolken fallen und er grinste süffisant.

»Was du nicht sagst, ich finde den da lästiger.«

Finns Blick streifte Marlon herausfordernd, und der starrte ihn entsetzt an. Offensichtlich verstand er die Stichelei zwischen den beiden nicht und vergaß, was er sagen wollte, als Finn aufstand und ihn um einiges überragte. Er öffnete gerade den Mund und schloss ihn dann wieder. So betrunken, wie er war, ließ er die beiden dann doch links liegen, um einen anderen seiner Gäste zu unterhalten. Finn setzte sich wieder hin und musterte sie einen Moment, während er an seinem Glas nippte.

»Was machst du eigentlich hier?«

Ina steckte ihm ein kleines Getränkeschirmchen in sein Glas und stützte gelangweilt ihren Kopf auf. »Ich bin zur Unterhaltung der Gäste hier.«

Er nahm das rosa Ding in die Finger und steckte es ihr hinter das Ohr. »Was du nicht sagst. Arbeitest du schon lange hier?«

Sie schüttelte den Kopf und sah sich um. Es war laut, heiß und stickig, so ziemlich alles, was sie nicht mochte, war in einem einzigen Raum zusammengequetscht. »Ein paar Monate vielleicht. Und du, kennst du Marlon?«