Durchsichtige Dinge - Vladimir Nabokov - E-Book

Durchsichtige Dinge E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

«Es drängte den Magier Nabokov, die analytische Tendenz unseres Jahrhunderts als eine Geißel der Menschheit anzuklagen. Hohn- und spottvoll demonstriert er an gleichgültigen Gegenständen, wohin die totale Durchleuchtung seiner Meinung nach führt, nämlich in eine uferlose Scharlatanerie.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Vladimir Nabokov

Durchsichtige Dinge

Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Es drängte den Magier Nabokov, die analytische Tendenz unseres Jahrhunderts als eine Geißel der Menschheit anzuklagen. Hohn- und spottvoll demonstriert er an gleichgültigen Gegenständen, wohin die totale Durchleuchtung seiner Meinung nach führt, nämlich in eine uferlose Scharlatanerie.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Für Véra

1

Da ist ja die Person, die ich erwartet habe. He, Sie, Person! Hört mich nicht.

Wenn die Zukunft konkret und individuell existierte, als etwas, das einem überlegenen Hirn erkennbar wäre, dann vielleicht wirkte die Vergangenheit nicht derart verlockend: Ihre Ansprüche würden von denen der Zukunft aufgewogen. Person wie jede andere Person könnte dann mit gespreizten Beinen auf dem Mittelteil der Wippe stehen und hin und her kippeln, um diesen oder jenen Gegenstand in Augenschein zu nehmen. Sicher würde es Spaß machen.

Doch die Zukunft hat keine Realität (wie sie die erinnerte Vergangenheit und die wahrgenommene Gegenwart besitzen); die Zukunft ist lediglich eine Redensart, ein Gedankenphantom.

He, Sie, Person! Was ist denn, nicht an mir zerren. Ich belästige ihn doch gar nicht. Na, schon gut. He, Sie, Person … (ein letztes Mal mit sehr leiser Stimme).

Wenn wir uns auf einen materiellen Gegenstand konzentrieren, wo auch immer er sich befindet, so kann der bloße Akt der Aufmerksamkeit dazu führen, dass wir unwillkürlich in die Geschichte dieses Gegenstands versinken. Novizen müssen lernen, über die Materie dahinzugleiten, wollen sie, dass die Materie genau auf der Höhe des Augenblicks bleibt. Durchsichtige Dinge, durch welche die Vergangenheit schimmert!

Bei Gegenständen, ob Werk des Menschen oder Werk der Natur, die in sich leblos, doch vom gedankenlosen Leben stark frequentiert worden sind (es ließe sich, und das durchaus mit Recht, an einen Stein auf einem Hang denken, über den im Laufe unzähliger Jahreszeiten eine Vielzahl kleiner Tiere gekrabbelt sind), lässt sich die Oberfläche besonders schwer scharf im Blick behalten: Anfänger fallen glücklich vor sich hin summend durch die Oberfläche hindurch und vergnügen sich alsbald mit kindlicher Hingabe an der Geschichte dieses Steins, jener Heide. Ich erkläre das noch. Ein dünnes Furnier unmittelbarer Realität ist über die natürliche und künstliche Materie gebreitet, und wer in der Gegenwart, bei der Gegenwart, auf der Gegenwart zu bleiben wünscht, der sollte ihre Spannungsschicht besser nicht beschädigen. Sonst nämlich wird der unerfahrene Wundermann feststellen, dass er nicht länger auf dem Wasser wandelt, sondern aufrecht inmitten starrender Fische versinkt. Gleich mehr.

2

Als die Person, als Hugh Person (von einigen zu ‹Peterson› entstellt, von einigen als ‹Parson›, Pastor, ausgesprochen) seine eckige Masse aus dem Taxi hievte, das ihn aus Trux in diesen talminen Gebirgskurort gebracht hatte, und während sich sein Kopf noch in der Öffnung duckte, die für aussteigende Zwerge gedacht war, glitt sein Blick aufwärts – nicht um die hilfreiche Geste zu bestätigen, die der Fahrer andeutete, welcher ihm die Tür geöffnet hatte, sondern um den Anblick des Hotels Ascot (Ascot!)[1] an einer acht Jahre alten Erinnerung zu prüfen, ein von Leid gesättigtes Fünftel seines Lebens. Ein grässliches Gebäude aus grauem Stein und braunem Holz, das mit kirschroten Fensterläden prahlte (nicht alle geschlossen), welche er auf Grund irgendeines mnemoptischen Tricks als apfelgrün in Erinnerung hatte. Die Stufen zur Eingangsveranda waren von elektrifizierten Kutschenlampen auf einem Paar Eisenpfosten flankiert. Diese Stufen herab kam ein beschürzter Hausdiener getrippelt, um die zwei Koffer sowie (unter einem Arm) den Schuhkarton hineinzutragen, die der Fahrer alle umsichtig aus dem gähnenden Kofferraum hervorgeholt hatte. Person bezahlt umsichtigen Fahrer.

Die nicht wiedererkennbare Lobby war zweifellos genauso verwahrlost wie je.

Während er am Empfangspult seinen Namen schrieb und seinen Pass abtrat, fragte er auf Französisch, Englisch, Deutsch und wieder Englisch, ob der alte Herr Kronig, der Direktor, dessen feistes Gesicht und falsche Jovialität er so deutlich in Erinnerung hatte, immer noch da sei.

Die Empfangsdame (blonder Dutt, hübscher Hals) sagte Nein, Monsieur Kronig sei nicht mehr da, er sei, stellen Sie sich nur vor, Manager des Fantastic in Blur (so klang es jedenfalls) geworden. Eine grasgrüne himmelblaue Postkarte, die ruhende Hotelgäste im Bilde festhielt, wurde zur Illustrierung oder zum Beweis vorgelegt. Die Aufschrift war dreisprachig, und nur der deutsche Teil war sprachlich korrekt. Der englische lautete: Lying Lawn, liegender oder lügender Rasen – und wie mit Absicht hatte eine betrügerische Perspektive die Wiese zu ungeheuerlichen Proportionen geweitet.

«Er ist letztes Jahr gestorben», fügte die junge Frau hinzu (die en face Armande kein bisschen ähnlich sah) und löschte damit jedes Interesse aus, das ein Farbphoto des Majestic in Chur besessen haben mochte.

«Es ist also niemand da, der sich an mich erinnern könnte?»

«Ich bedauere», sagte sie in dem Tonfall, der seiner verstorbenen Frau eigen gewesen war.

Sie bedauerte ebenfalls, dass sie ihrerseits ihm das Zimmer im dritten Stock nicht geben könne, da er ja seinerseits nicht zu sagen wisse, welches, und das umso weniger, als alle Zimmer in dieser Etage sowieso belegt seien. Die Hand an der Stirn, sagte Person, es sei eines mitten in den Dreihunderter-Nummern und gehe nach Osten, die Sonne habe ihn auf dem Bettvorleger begrüßt, obwohl das Zimmer praktisch keine Aussicht habe. Es verlangte ihn sehr danach, doch das Gesetz schrieb die Vernichtung der Unterlagen vor, wenn ein Direktor, selbst ein ehemaliger Direktor, tat, was Kronig getan hatte (man musste vermuten, Selbstmord sei eine Art Bilanzfälschung). Ihr Assistent, ein gutaussehender junger Kerl in Schwarz und mit Pickeln an Kinn und Kehle, brachte Person zu einem Zimmer im vierten Stock hinauf und starrte die ganze Zeit über mit der Versunkenheit eines Fernsehglotzers auf die abwärtsgleitende leere bläuliche Wand, während auf der anderen Seite der nicht weniger vertiefte Spiegel im Lift für einige wenige luzide Momente den Herrn aus Massachusetts reflektierte, der ein langes, mageres, kummervolles Gesicht mit einem leicht unterschlächtigen Kiefer hatte und dessen Mund von einem Paar symmetrischer Falten gerahmt war, alles in allem ein zerfurchtes, vierschrötiges, bergsteigerhaftes Ensemble von Zügen, hätte die melancholisch gebeugte Körperhaltung nicht jeden Zoll dieser phantastischen Majestät Lügen gestraft.

Das Fenster ging wohl nach Osten, bot indessen durchaus einen Ausblick: nämlich auf einen riesigen Krater voller Baggergerät (still am Samstagnachmittag und den ganzen Sonntag über).

Der Hausdiener mit der apfelgrünen Schürze brachte die beiden Koffer und den Pappkarton, auf dessen Einwickelpapier «Fit» stand; woraufhin Person allein blieb. Er wusste, es war ein altmodisches Hotel, aber dies hieß es übertreiben. Die belle chambre au quatrième[2], obwohl zu groß für einen Gast und zu eng für eine Gruppe, entbehrte jeglichen Komforts. Er erinnerte sich, dass das tiefer gelegene Zimmer, wo er, ein erwachsener Mann von zweiunddreißig Jahren, öfter und bitterer geweint hatte als je in seiner traurigen Kindheit, ebenfalls hässlich gewesen war, aber wenigstens nicht so liederlich und planlos vollgestopft wie seine neue Bleibe. Sein Bett war ein Albtraum. Sein «Badezimmer» enthielt ein Bidet (geräumig genug, einen sitzenden Zirkuselefanten aufzunehmen), doch keine Badewanne. Der Toilettensitz weigerte sich, aufrecht stehen zu bleiben. Der Wasserhahn protestierte, indem er einen scharfen Strahl rostigen Wassers von sich gab, bevor er sich dazu bequemte, das unscheinbare normale Zeug herauszurücken – das man nicht ausreichend zu schätzen weiß, das ein strömendes Geheimnis ist, und, ja doch, ja, das verdient, dass ihm Denkmäler errichtet werden, kühle Schreine! Beim Verlassen dieses unwürdigen Waschraums schloss Hugh sacht die Tür hinter sich, doch wie ein dummes Haustier brach sie in Gewinsel aus und folgte ihm sofort ins Zimmer. Jetzt wollen wir unsere Schwierigkeiten veranschaulichen.

3

Auf der Suche nach einer Kommode, in der er seine Habseligkeiten verstauen konnte, bemerkte Hugh Person, ein ordnungsliebender Mann, dass das Mittelfach eines in eine dunkle Zimmerecke verbannten Schreibtisches, auf dem eine glühbirnen- und schirmlose Lampe stand, welche dem Kadaver eines kaputten Regenschirms ähnelte, von dem Gast oder Zimmermädchen (in Wahrheit keinem von beiden), die als Letzte nachgesehen hatten, ob es leer sei (kein Mensch hatte nachgesehen), nicht richtig zurückgeschoben worden war. Mein guter Hugh versuchte, ihn hineinzuruckeln; zunächst verweigerte er jegliche Bewegung; dann schoss er als Antwort auf die Gegenkraft eines zufälligen Zerrens (das unvermeidlich von der kumulierten Energie mehrerer Stöße profitierte) hervor und exmittierte einen Bleistift. Diesen sah er kurz an, ehe er ihn zurücklegte.

Er war keine sechseckige Schönheit aus Virginischem Wacholder oder afrikanischer Zeder, der der Name des Herstellers in Silberfolie aufgeprägt ist, sondern ein sehr schlichter, runder, technisch gesichtsloser alter Bleistift aus billigem Kiefernholz, das schmuddelig lila gefärbt war. Er war zehn Jahre zuvor von einem Tischler verlegt worden, der die Examinierung, geschweige denn die Reparatur des alten Tisches nie zu Ende führen sollte, da er ein Werkzeug holen gegangen war, das er niemals fand. Jetzt kommt der Akt der Aufmerksamkeit.

In dieser Tischlerwerkstatt, und lange vorher in der Dorfschule, war der Stift bis auf zwei Drittel seiner ursprünglichen Länge aufgebraucht worden. Das nackte Holz seines angespitzten Endes war zu einem bleiernen Pflaumenblau gedunkelt und verschmolz also farblich mit der stumpfen Graphitspitze, die einzig ihr blinder Glanz von dem Holz unterschied. Ein Messer und ein Messinganspitzer hatten sich gründlich an ihm zu schaffen gemacht, und wenn es erforderlich wäre, könnten wir das komplizierte Schicksal der Späne verfolgen, alle in frischem Zustand auf der einen Seite blassviolett und auf der anderen lohfarben, doch nunmehr zu Staubatomen reduziert, deren weite, weite Streuung einer atemlosen Panik gleichkommt, aber man sollte darüberstehen, man gewöhnt sich ziemlich rasch daran (es gibt schlimmere Schrecken). Alles in allem ließ er sich dank seiner altmodischen Machart gefügig anspitzen. Etliche Saisons zurückgehend (jedoch nicht bis zu Shakespeares Geburtsjahr, als die Graphitmine entdeckt wurde[1]), und die Geschichte des Dings in Richtung Jetzt aufnehmend, sehen wir, wie sehr fein gemahlenes Graphit von jungen Mädchen und alten Männern mit feuchtem Ton gemischt wird. Diese Masse, dieser gepresste Kaviar wird in einen Metallzylinder getan, der ein blaues Auge hat, einen Saphir mit einem ausgebohrten Loch, und durch diese Düse wird der Kaviar gezwängt. Es tritt als eine fortlaufende appetitliche dünne Stange aus (achte auf unsern kleinen Freund!), die so aussieht, als bewahrte sie die Gestalt des Verdauungstrakts eines Regenwurms (aber pass doch auf, pass doch auf, lass dich nicht ablenken!). Es wird jetzt in Stücke geschnitten, die der Länge dieser speziellen Bleistifte entsprechen (wir erhaschen einen Blick auf den, dem das Schneiden obliegt, den alten Elias Borrowdale, und sind schon im Begriff, uns wie Mäuschen auf einem Nebeninspektionsgang seinen Unterarm hinaufzustehlen, doch halten wir ein, halten ein und weichen zurück in unserer Eile, das individuelle Segment nicht aus dem Auge zu verlieren). Sehen, wie es gebacken wird, sehen, wie es in Fett gekocht wird (hier eine Aufnahme des wolligen Fettspenders, der gerade geschlachtet wird, eine Aufnahme des Schlächters, eine Aufnahme des Schäfers, eine Aufnahme des Vaters des Schäfers, eines Mexikaners) und wie man das Segment in den Holzschaft einpasst.

Jetzt wollen wir aber bloß unser kostbares bisschen Graphit nicht aus dem Auge verlieren, während wir das Holz zurichten. Hier ist der Baum! Diese spezielle Kiefer! Sie wird gefällt. Nur der Stamm, seiner Rinde entkleidet, wird gebraucht. Wir hören das Jaulen einer jüngst erfundenen Motorsäge, wir sehen, wie Stämme getrocknet und glatt gehobelt werden. Hier ist das Brett, das die Umhüllung des Stifts in dem (immer noch nicht geschlossenen) flachen Schubfach liefern wird. Wir erkennen seine Anwesenheit in dem Stamm, wie wir den Stamm im Baum erkannten und den Baum im Wald und den Wald in der Welt, die Jack baute.[2] Wir erkennen diese Anwesenheit an etwas, das uns vollkommen klar ist, aber keinen Namen hat und sich so wenig beschreiben lässt, wie jemandem ein Lächeln beschrieben werden kann, der niemals lächelnde Augen gesehen hat.

So entfaltet sich denn in einem einzigen Augenblick das gesamte kleine Drama vom kristallisierten Kohlenstoff und der gefällten Kiefer bis zu diesem bescheidenen Schreibgerät, diesem durchsichtigen Ding. Ach, der feste Stift, den Hugh Persons Finger kurz betasten, entgeht uns irgendwie immer noch! Aber er selber nicht, o nein.

4

Es war dies seine vierte Reise in die Schweiz. Die erste hatte achtzehn Jahre vorher stattgefunden, als er sich mit seinem Vater ein paar Tage lang in Trux aufgehalten hatte. Zehn Jahre später, mit zweiunddreißig, war er abermals in jenes alte Städtchen am See gefahren und hatte erfolgreich um einen Gefühlsschauer geworben, halb Verwunderung und halb Gewissensbiss, indem er ihr Hotel aufgesucht hatte. Von der Höhe des Sees, wo ihn der Personenzug an einem unbemerkenswerten Bahnhof abgesetzt hatte, führten eine steile Gasse und eine alte Treppe zu ihm hinauf. Er hatte den Namen des Hotels behalten, Locquet, weil er dem Mädchennamen seiner Mutter glich, einer Frankokanadierin, die Person sen. um weniger als ein Jahr überleben sollte. Er erinnerte sich auch, dass es düster und billig war und verachtenswert neben einem anderen, viel besseren Hotel stand, durch dessen Erdgeschossfenster hindurch man die Geister bleicher Tische und submariner Kellner ausmachen konnte. Beide Hotels gab es jetzt nicht mehr, und an ihrer statt erhob sich die Banque Bleue, ein stählernes Bauwerk, ganz blanke Oberflächen, Spiegelglas und Topfpflanzen.

Er hatte in einer Art halbherzigem Alkoven geschlafen, von dem Bett seines Vaters durch einen Türbogen und einen Garderobenständer getrennt. Die Nacht ist stets ein Riese, doch diese war besonders schrecklich. Zuhause hatte Hugh immer sein eigenes Zimmer gehabt, er hasste dieses gemeinsame Schlafgrab, er hoffte voller Ingrimm, dass das Versprechen getrennter Schlafzimmer auf den folgenden Stationen ihrer Schweiz-Reise, die vor ihm in koloriertem Nebel schimmerten, eingehalten werden würde. Sein Vater, ein Mann von sechzig Jahren, kleiner als Hugh und auch fülliger, war seit dem nur wenig zurückliegenden Tod seiner Frau unappetitlich gealtert; von seinen Sachen ging ein charakteristischer schwacher, aber unverwechselbarer Geruch aus, und er ächzte und seufzte im Schlaf, wenn er von großen, unhandlichen Blöcken aus Schwärze träumte, die sortiert und aus dem Weg geräumt werden mussten oder über die man in quälend hinfälligen oder verzweifelten Haltungen hinwegzuklettern hatte. In den Annalen der Europa-Reisen, die pensionierten alten Leutchen von ihren Hausärzten empfohlen werden, um den Kummer der Einsamkeit zu lindern, können wir keine einzige Reise finden, die diesen Zweck erfüllt hätte.

Person sen. hatte immer ungeschickte Hände gehabt, doch in letzter Zeit wurde es nachgerade komisch, wie er im Badewasser des Raums nach den Dingen fingerte, wie er nach der durchsichtigen Seife unfassbarer Materie tastete oder sich vergebens abmühte, jene Teile der Industrieartikel auf- oder zuzubinden, die zusammengefügt oder gelöst werden mussten. Hugh hatte einiges von dieser Unbeholfenheit geerbt; ihre gegenwärtige Übertreibung genierte ihn wie eine Parodie voller Wiederholungen. Am Morgen des letzten Tages, die der Witwer in der sogenannten Schweiz verbrachte (das heißt, ganz kurz vor dem Ereignis, das für ihn alles «sogenannt» werden lassen sollte), rang der alte Tollpatsch mit der Jalousie, um nach dem Wetter zu schauen, erspähte gerade noch ein Stück nasses Pflaster, ehe die Jalousie als rasselnde Lawine wieder heruntergesaust kam, und beschloss, seinen Regenschirm mitzunehmen. Der war falsch zusammengefaltet, und er machte sich daran, diesen Zustand zu bessern. Zuerst sah Hugh mit geweiteten und bebenden Nasenflügeln in angewidertem Schweigen zu. Die Verachtung war unverdient, da eine Menge Dinge existieren, von lebenden Zellen bis zu toten Sternen, denen dann und wann von den nicht immer fähigen oder sorgsamen Händen anonymer Gestalter ein zufälliges kleines Missgeschick zustößt. Die schwarzen Lappen schlappten schlampig herum und mussten neu geglättet werden, und als schließlich die Öse des Bandes (ein winziger fassbarer Kreis zwischen Zeigefinger und Daumen) zum Gebrauch bereit war, war sein Kopf zwischen den Falten und Furchen des Raums verschwunden. Als er dieser unzulänglichen Fummelei eine Weile zugesehen hatte, riss Hugh seinem Vater den Regenschirm so brüsk aus der Hand, dass der alte Mann noch einen Augenblick lang die Luft knetete, bevor er die plötzliche Unhöflichkeit mit einem sanften entschuldigenden Lächeln erwiderte. Immer noch ohne ein Wort zu sagen, faltete Hugh den Schirm und knöpfte ihn wütend zu – der, die Wahrheit zu sagen, dadurch kaum eine bessere Gestalt annahm, als sein Vater ihm schließlich gegeben hätte.

Welche Pläne hatten sie für den Tag? Sie wollten dort frühstücken, wo sie am Vorabend gegessen hatten, und dann einige Einkäufe machen und allerlei besichtigen. Ein lokales Naturwunder, der Tara-Wasserfall, war auf die WC-Tür im Korridor gemalt und desgleichen auf einer riesigen Photographie an der Wand der Lobby abgebildet. Dr. Person blieb an der Rezeption stehen, um sich in seinem gewöhnlichen Übereifer zu erkundigen, ob Post für ihn da sei (nicht dass er welche erwartete). Nach kurzer Suche wurde ein Telegramm an eine Mrs. Parson zutage gefördert, jedoch nichts für ihn (außer dem gedämpften Schreck eines unvollkommenen Zusammentreffens). Zufällig lag ein zusammengerolltes Zentimetermaß in seiner Nähe, und er begann, es um seine dicke Taille zu wickeln, wobei er das Ende mehrmals verlor und die ganze Zeit dem finsteren Portier auseinandersetzte, dass er sich mit der Absicht trage, in der Stadt eine leichte Hose zu kaufen, und dabei mit Bedacht zu Werke zu gehen gedenke. Diese Posse war Hugh derart zuwider, dass er sich zum Ausgang in Bewegung setzte, noch ehe das graue Band wieder zusammengerollt war.

5

Nach dem Frühstück fanden sie einen angemessen wirkenden Laden. Confections. Notre vente triomphale de soldes.[1] Unser Windbruch triumphierend verkauft, übersetzte sein Vater, und mit müder Verachtung wurde er von Hugh korrigiert. Ein Korb mit gefalteten Hemden stand auf einem Eisendreifuß vor dem Fenster, dem Regen ausgesetzt, der jetzt zugenommen hatte. Ein Donnergrollen erscholl. Schauen wir doch hier mal rein, sagte nervös Dr. Person, dessen Angst vor Gewittern für seinen Sohn eine weitere Quelle der Gereiztheit war.

An jenem Morgen musste sich Irma, eine müde und mürrische Verkäuferin, zufällig alleine um das schäbige Bekleidungsgeschäft kümmern, in das Hugh seinem Vater widerstrebend folgte. Ihre beiden Kollegen, ein Ehepaar, waren nach einem Brand in ihrer kleinen Wohnung gerade ins Krankenhaus gebracht worden, der Chef war geschäftlich unterwegs, und es kamen mehr Leute als an normalen Donnerstagen. Im Augenblick war sie damit beschäftigt, drei älteren Frauen (dem Teil einer Busladung aus London) bei ihrer Entscheidung behilflich zu sein und gleichzeitig jemand anderem, einer deutschen Blondine in Schwarz, den Weg zu einem Passphotoautomaten zu zeigen. Eine alte Frau nach der anderen breitete dasselbe blumengemusterte Kleid an ihrem Busen aus, und Dr. Person übersetzte ihr Cockney-Geschnatter eifrig in schlechtes Französisch. Die Frau in Trauer kam zurück, um ein Paket zu holen, das sie liegen gelassen hatte. Mehr Kleider wurden ausgebreitet, auf mehr Preisschilder wurde geschielt. Ein weiterer Kunde mit zwei kleinen Mädchen trat ein. Dazwischen fragte Dr. Person nach einer Hose. Es wurden ihm einige ausgehändigt, die er in einem Kabuff an der Seite anprobieren sollte; und Hugh stahl sich aus dem Laden fort.

Ziellos streifte er umher, immer im Schutz verschiedener architektonischer Vorsprünge, denn vergebens forderte die Tageszeitung jener regnerischen Stadt den Bau von Arkaden im Einkaufsviertel. Hugh nahm die Gegenstände in einem Andenkenladen in Augenschein. Recht einnehmend fand er die grüne Figurine einer Skiläuferin, die aus einer Substanz bestand, welche er durch die Schaufensterscheibe hindurch nicht zu identifizieren vermochte (es war «Alabasterette», eine Aragonit-Imitation, im Gefängnis von Grumbel von einem homosexuellen Insassen geschnitzt und angemalt, dem derben Armand Rave, der die inzestuöse Schwester seines Freundes erwürgt hatte). Und was ist mit diesem Kamm in einem Etui aus echtem Leder, was ist, was ist mit ihm – ach, binnen kurzem wäre er verschmutzt, und eine Stunde Arbeit wäre nötig, um den Dreck zwischen seinen engen Zacken zu entfernen, mit einer der kleineren Klingen jenes Taschenmessers dort drüben, das stachelstrotzend seine unverschämten Innereien vorführte. Hübsche Armbanduhr, das Ziffernblatt geschmückt mit dem Bild eines Hündchens, für nur zweiundzwanzig Franken. Oder sollte man (für den Zimmergenossen im College) jenen Holzteller kaufen mit einem weißen Kreuz in der Mitte, das von sämtlichen zweiundzwanzig Kantonen umgeben war? Auch Hugh war zweiundzwanzig und immer von der zufälligen Übereinstimmung von Symbolen gepeinigt worden.

Eine Bimbamglocke und ein rotes Blinklicht am Bahnübergang kündigten ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis an: Unerbittlich senkte sich die langsame Schranke.