Düster ruht die See - Kate Penrose - E-Book
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Düster ruht die See E-Book

Kate Penrose

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Beschreibung

Ein Jahrzehnte zurückliegender Mord erschüttert die Bewohner der Scilly-Inseln vor Cornwall – der sechste Fall für den charismatischen Ermittler Ben Kitto Bei Grabungen werden auf der Insel Bryher menschliche Überreste zutage gefördert. Wer ist der Tote und warum wurde er damals nicht als vermisst gemeldet? Ben Kitto taucht ab in die Vergangenheit seiner Heimatinsel vor Cornwall und sein Verdacht fällt bei den Ermittlungen auch auf Personen, die ihm nahestehen.  Als die Knochen vom Fundort gestohlen werden, ist klar: Der Mörder ist noch unter ihnen. Aber auch Kittos eigene Vergangenheit als Undercover-Polizist droht, ihn einzuholen. Ein Auftragsmörder sinnt auf Rache und kommt ihm und seiner schwangeren Freundin Nina von Tag zu Tag näher. »Tolle Urlaubslektüre« news-magazin »Ein spannender Plot vor einer Wahnsinnskulisse.« Westdeutsche Zeitung »Spannend und atmosphärisch erzählt Kate Penrose ihre Geschichte, die Einblick gibt in eine faszinierende Inselwelt.« Hamburger Abendblatt

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Seitenzahl: 487

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Ähnliche


Kate Penrose

Düster ruht die See

Ein Krimi auf den Scilly-Inseln

Roman

 

Aus dem Englischenvon Birgit Schmitz

 

Über dieses Buch

 

 

Auf der Insel Bryher soll ein Freizeitzentrum errichtet werden, was einen Keil zwischen die Bewohner der kleinen Gemeinde zu treiben droht. Bei ersten Grabungen treten menschliche Überreste zutage, die auf einen Jahrzehnte zurückliegenden Mord hinweisen. Wer ist der brutal zugerichtete Tote und warum wurde damals niemand als vermisst gemeldet? Detective Ben Kitto ermittelt in der Vergangenheit seiner Heimatinsel und gerät dabei auch auf die Spur von Personen, die ihm persönlich nahestehen. Als die Knochen vom Fundort verschwinden, ist Ben klar, dass jemand auf der Insel etwas mit dem Fall zu tun haben muss. Und auch er selbst wird von seiner Vergangenheit als Undercover-Ermittler eingeholt. Nach und nach werden ehemalige Kollegen ermordet, die zusammen mit ihm an einem Fall gearbeitet haben. Die Gefahr wird immer größer für Ben und seine hochschwangere Freundin Nina.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Über die Autorin und die Übersetzerin

 

Kate Penrose kennt die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls wie ihre Westentasche. Seit Kindertagen verbringt sie fast jeden Sommer dort und ist jedes Mal aufs Neue fasziniert von dem atemberaubenden Naturparadies. Die Idee für eine Krimiserie mit diesem einzigartigen Schauplatz kam ihr spontan bei einem Restaurantbesuch, und aus ein paar hastig hingekritzelten Stichworten auf der Speisekarte wurde einige Monate später der erste Insel-Krimi. Kate Penrose, die auch unter dem Namen Kate Rhodes schreibt, lebt mit ihrem Mann, dem Autor David Pescod, in Cambridge am Ufer des River Cam.

 

Birgit Schmitz hat Theater und Literatur studiert und arbeitete einige Jahre als Dramaturgin. Heute lebt sie als Literaturübersetzerin, Texterin und Lektorin in Frankfurt am Main.

Für meine drei brillanten Stiefsöhne

Jack, Matt und Frank Pescod.

Donnerstag, 1. Mai

Ruby Travis bricht am späten Nachmittag zu ihrem wöchentlichen Besuch bei dem einzigen Mann auf, den sie je geliebt hat. Möglicherweise ist das heute ihre letzte Gelegenheit, ihren Vater zu sehen, und sie ist entschlossen, jede Minute auszukosten. In der Londoner U-Bahn ist es unerträglich stickig. Während der Fahrt hängt sie ihren Gedanken an ihn nach. Craig Travis hat sie allein großgezogen, und er hat sie nie enttäuscht. Dennoch geistert sein kantiges, durch die Boulevardpresse bekanntes Gesicht durch unzählige Albträume. Ruby erinnert sich lieber daran, wie er gelächelt hat, wenn er sie früher von der Schule abholte. Er war der beste Dad der Welt und verwöhnte sie endlos mit Geschenken und Überraschungen, um sie für die Abwesenheit der Mutter zu entschädigen. Er gab ihr das Gefühl, unbesiegbar zu sein, bis die Polizei ihn ihr entrissen hat. In den Nachrichten bezeichnen sie ihn als Monster, aber sie kennt ihn anders. Obwohl sie sechs ihrer neunzehn Lebensjahre getrennt von ihm verbracht hat, bleibt ihr Vater ihr prägendster Einfluss. Er hat ihr alles beigebracht, was sie weiß.

Die psychiatrische Hochsicherheitsklinik von Crowthorne liegt direkt geradeaus, wenn sie aus der U-Bahn-Station tritt. Das Gebäude erinnert an eine Festung, einhundertfünfzig Londoner Winter haben seine Fassade geschwärzt. Ruby zögert, bevor sie hineingeht. Ihr Vater hat sie darauf trainiert, emotionslos zu sein, doch heute kann sie ihre Gefühle nicht ignorieren, dazu sind sie zu stark. Ruby hasst es, zu sehen, wie ihn die Kräfte verlassen, und doch sehnt sie sich danach, mit ihm zusammenzusein. Sie gibt ihre Tasche und ihre Jacke ab und bekommt dafür eine Plastikmarke mit einer Nummer, dann unterzieht man sie einer Leibesvisitation. Der Mann hinter dem Tresen betrachtet sie mit demselben mitleidigen Blick wie jede Woche, bevor er ihre Sachen in einem Schließfach verstaut. Ruby weiß nicht, ob er sie bedauert, weil ihr Vater stirbt oder weil die Gesellschaft ihn für bösartig hält.

Als ein Aufseher sie durch die Flure führt, schlägt ihr der typische sterile Crowthorne-Geruch entgegen; es stinkt nach Putzmittel, abgestandenem Kaffee und Panik. Jede einzelne Metalltür ist verschlossen, und die Schreie eines Mannes, der auf freien Fuß gesetzt zu werden verlangt, hallen von den Wänden wider.

Auf der Krankenstation wendet sich eine Schwester an Ruby und spricht so langsam mit ihr, als müsste sie einem Kind etwas sehr Kompliziertes erklären: »Ihr Dad möchte Sie sehen, aber er kann sich nur mit Mühe wachhalten.«

»Hat er Schmerzen?«

»Das Morphin hilft.« Die Krankenschwester legt Ruby eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, aber mehr können wir nicht für ihn tun.«

»Dürfen wir allein sein, nur dieses eine Mal, damit wir uns verabschieden können?«

»Tut mir leid. Sie kennen die Vorschriften.«

Ruby schlägt einen weichen, kindlichen Ton an und lässt eine Träne ihre Wange hinabrollen. »Bitte, es würde mir wirklich sehr viel bedeuten.«

Die Schwester denkt nach und nickt dann langsam. »Kann sein, dass ich deswegen Ärger bekomme, aber ich gebe Ihnen zehn Minuten.«

Ruby wendet sich lächelnd ab; andere zu manipulieren ist die größte Kunst, die ihr Vater sie je gelehrt hat. Sie kommt überall rein, wenn sie das Opfer spielt, aber kein Trick und keine Strategie kann jetzt das Leid ihres Vaters mindern. Craig Travis liegt in einem Krankenhausbett, sein rechter Arm ist mit einer Handschelle ans Bettgitter gefesselt – ein letzter Akt der Grausamkeit durch die Gefängnisleitung. Ruby erkennt sein eingefallenes Gesicht kaum wieder, bis er die Augen aufschlägt. Sie sind so dunkel, dass sie nur aus Pupillen zu bestehen scheinen, und sein Blick ist so durchdringend, als könnte er bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Er winkt sie zu sich, seine Stimme ist ein heiseres Flüstern.

»Komm ins Licht, Prinzessin, wo ich dich sehen kann.« Seine Finger schließen sich schmerzhaft um ihr Handgelenk. Der Griff ihres sterbenden Vaters ist wie eine Schraubzwinge. »Es ist so weit. Folge dem Plan, Ruby. Ich zähle auf dich.«

»Ich möchte in London bleiben, bitte. Ich kann dich doch so nicht alleinlassen, Dad.«

»Ich werde erst Frieden finden, wenn du angefangen hast. Vergiss nicht, dich genau an den Plan zu halten.«

»Ich kann ihn auswendig. Deine Freunde haben mir bei allem geholfen.«

»Leg noch heute los, Ruby. Zeig’s den Mistkerlen, die mich eingebuchtet haben. Nichts anderes zählt. Wenn’s Probleme gibt, knöpf dir ihre Familien vor. Hinterlass eine Spur der Verwüstung, damit uns niemand vergisst.«

»Ich werde dich nicht enttäuschen. Das verspreche ich.«

»Verlier niemals den Mut. Wir sind besser als die, Schatz. Vergiss das nie, hörst du?«

»Wie könnte ich? Du hast mir beigebracht, dass niemand anderes wichtig ist.«

»Wir sind der Mond und die Sterne, wir schauen auf diese Idioten herab.«

Das Licht in seinen Augen schwindet. Es bricht Ruby das Herz, doch sie kennt seine Willenskraft und weiß, dass er noch Tage durchhalten kann, bis seine letzten Wünsche erfüllt wurden.

Ruby geht den Plan in Gedanken noch einmal durch. Das Ganze wird auf einer kleinen Insel enden, bei DI Ben Kitto, der das Imperium ihres Vaters zerstört hat. Sie sieht den Mann immer noch genau vor sich, der mehr als ein Jahr lang als Fahrer für ihren Dad gearbeitet hat. Er hatte die Statur eines Riesen und eine undurchdringliche Miene. Kitto hat sich das Vertrauen ihres Vaters erschlichen und anschließend alle seine Geheimnisse verraten. Er verdient es, am meisten von allen zu leiden. Sie ist entschlossen, schnell vorzugehen, damit ihr Dad ihre Fortschritte an dem Radio mitverfolgen kann, das neben seinem Bett steht. In der Hoffnung auf weitere Liebesbekundungen bleibt sie bis zum Ende ihrer Besuchszeit, doch Travis ist nur noch halb bei sich, als sie ihn zum Abschied küsst.

Wieder draußen, fühlt Ruby sich gestärkt; der Rachetraum ihres Vaters beschleunigt ihren Puls. Wie auf Autopilot geht sie zurück zur U-Bahn; in allem, was sie tut, gehorcht sie jetzt ihm.

Teil 1

1

Nachdem ich den ganzen Tag langweiligen Papierkram für die Polizei erledigen musste, ist es eine Wohltat, zu einem Spaziergang über meine Heimatinsel aufzubrechen. Ich muss zu einem brandneuen Bauprojekt. Die Architektin hat mich aus unklaren Gründen dorthin bestellt, aber da sie eine alte Freundin von mir ist, stört mich das nicht. Auf Bryher spazieren zu gehen, das ist im Frühsommer immer ein Vergnügen. Die Insel öffnet sich vor mir, als ich von The Town aus über kleine Felder und Wiesen nach Norden laufe. Ein paar Ziegen meckern laut, sie hoffen wohl auf Futter. Ich nehme meinen Lieblingsweg über den Shipman Head Down. Dieses Gelände war in der Jungsteinzeit ein Gräberfeld, aber darauf würde man heute nicht mehr kommen. Das einzige Anzeichen dafür, dass ich über uralte Grabstätten gehe, sind die verstreut herumstehenden Cairns – aus Moos, Heidekraut und Farnen aufragende Steinhaufen.

Der Badplace Hill füllt den Himmel aus. Maeve Trenwith steht unweit der Hügelkuppe und schwenkt zur Begrüßung wild die Arme. Ihr langes schwarzes Haar ist selbst aus der Ferne ein Blickfang. In der Schule sah Maeve noch anders aus; damals war sie Schülersprecherin, eine intelligente Streberin mit Lockenmähne und einer Zahnspange. Sie ist ein paar Jahre vor mir auf Bryher geboren und hat einen anderen Berufsweg eingeschlagen. Heute ist Maeve eine innovative Architektin mit eigener Fernsehsendung. Sie hat glanzvolle Apartmenthäuser in Dubai entworfen, ein preisgekröntes Theater in L.A. sowie Refugien für Milliardäre auf der ganzen Welt. Ihr neuestes Projekt ist jedoch eher klein. Sie und ihr Ehemann wollen innerhalb von sechs Monaten ein Zentrum für Outdoor-Aktivitäten auf Bryher errichten, und obwohl die beiden es zum größten Teil selbst finanzieren, sorgen ihre Pläne für viel Unmut bei den Inselbewohnern. Viele befürchten, dass das Gebäude ein außenordentlich schönes Gelände auf der Insel verschandeln wird. Die Baugenehmigung haben die Trenwiths nur ergattert, weil sie betont haben, dass die Profite zu hundert Prozent in die Infrastruktur der Insel reinvestiert werden.

Maeve mag ja eine sehr elegante Erscheinung sein, von nahem funkelt jedoch naive Begeisterung in ihren Augen. Die Architektin tritt von einem Fuß auf den anderen, und es wirkt, als würde sie auf der Stelle tanzen. Die gespannte Erwartung in ihrer Miene erinnert mich an ein Kind vor der Weihnachtsbescherung. Genauso sieht Maeve aus, wenn sie ihre Architektursendung im Fernsehen präsentiert. Knallroter Lippenstift akzentuiert ihre markanten Gesichtszüge, und trotz der warmen Temperaturen ist sie von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet.

»Danke, dass du es einrichten konntest, Ben. Komm und schau dir unsere Fortschritte an.«

»Wie klappt es mit den Fundamenten?«

»Bislang super, aber das ist alles sehr aufwendig. Das Gebäude wird über das Kliff hinausragen, als würde es schweben, und wie eine Kaskade aus Glas aussehen, die bis hinunter zum Strand reicht.«

»Wenn es am Ende so ist wie in deinen Entwürfen, wird es beeindruckend sein.«

»Morgen reist das Fernsehteam noch mal an, um die nächste Bauphase zu dokumentieren. Danach kommen garantiert das ganze Jahr über Scharen von Design-Nerds auf die Insel.«

»Ich kann es gar nicht erwarten, dass der Frieden auf meiner Insel endgültig zerstört wird.«

Sie grinst mich an. »Kein Sarkasmus, bitte. Das Projekt bedeutet Danny und mir sehr viel.«

»Hast du deshalb auf meinem Diensttelefon angerufen, um mich herzubestellen?«

»Von dem Gebäude werden alle Bewohner von Bryher profitieren. Ich brauche deine Hilfe, um die Zweifler zu überzeugen.«

»Wieso? Ihr habt eine Baugenehmigung, dann könnt ihr doch volle Kraft voraus loslegen.«

»Du weißt sehr gut, dass es hier so nicht läuft. Die Leute können sich weigern, für uns zu arbeiten, und unsere Zulieferung blockieren. Wir brauchen alle auf unserer Seite.«

»Das erreichst du nicht über Nacht. Eure Pläne sind nur mit Ach und Krach vom Gemeinderat abgesegnet worden.«

»Haben die Leute denn schon vergessen, dass diese Hotelkette an exakt derselben Stelle bauen wollte? Wir haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, dass sie hier tonnenweise Beton abkippen.«

»Die Leute mögen keine Veränderung, das ist alles.«

»Das macht mich echt rasend. Unser Team wird exakt nach Plan bauen, die Profite gehen vollständig an die Gemeinde, und sobald das Zentrum eröffnet, bekommen sechs Inselbewohner dort eine Vollzeitstelle. Was wollen sie denn noch?« Sie setzt ihr breitestes Lächeln auf. »Dem Deputy Commander der Inselpolizei vertrauen alle. Wenn du uns unterstützt, werden alle einschwenken.«

»So einflussreich bin ich nicht.«

»Die Leute respektieren dich, Ben. Deine Meinung hat Gewicht.«

»Hast du mich herbestellt, um mich breitzuschlagen?«

»Komm mit und schau dir an, was wir machen. Ich bin sicher, das haut dich um.«

Während wir zum Rand des Kliffs gehen, schwärmt Maeve mir von ihrem Projekt vor, aber das meiste davon geht an mir vorbei, weil ich die Aussicht genieße. Die Insel ist nur zwei Meilen lang und eine halbe Meile breit, und doch langweilt mich die Landschaft nie, weil sie in ständiger Veränderung begriffen ist. Wir befinden uns am nördlichsten Zipfel von Bryher. Hier bleicht das Sonnenlicht die Steine so stark aus, dass sie hell wie Kreide sind. Als wir die Baustelle erreichen, gibt es nur ein Haus, das höher liegt. Der pensionierte Geschäftsmann Louis Hayle wohnt in dem imposanten Granitgebäude auf der Hügelkuppe. Es hat drei Stockwerke und bietet einen freien Blick über die gesamte Insel. Das Anwesen befindet sich nur fünfzig oder sechzig Meter oberhalb von Maeves Baustelle. Shipman Head, das offene Gelände direkt dahinter, ist mit Granitfelsen übersät. Es ist das letzte Stück festes Terrain, bevor der Atlantik beginnt.

Danny Trenwith steht mit dem Rücken zum Meer und schaut auf sein Klemmbrett. Das Erscheinungsbild des Mannes unterscheidet sich stark von dem Glamourlook seiner Frau. Seine Kleider sehen schmuddelig aus, seine Steppjacke und Jeans sind mit Matsch bespritzt. Er ist ebenfalls hier geboren, aber anders als Maeve hat er sich seit unserer Schulzeit nicht wesentlich verändert. Auch damals wirkte seine Schuluniform stets ungepflegt. Wo immer ich hinschaue, überall sind Beweise für die harte Arbeit der Bauleute zu sehen. Gigantische Maulwürfe scheinen quer über den Downs eine Spur der Verwüstung hinterlassen zu haben; riesige Erdhaufen sind dort aufgeworfen worden, und unweit der Kliffkante steht ein Bagger.

Zu dieser Jahreszeit hat der Ozean oft grausame Tricks auf Lager. Obwohl das Wasser unnatürlich ruhig wirkt, ziehen manchmal ganz plötzlich Stürme auf, doch heute weht kein Lüftchen, und die Möwen kreisen gemächlich am Himmel. Die Vögel der Insel sind jetzt mitten in der Brutzeit, und bis die Jungvögel Mitte August wegfliegen, darf niemand den Shipman Head betreten. An den Kliffs bauen Schwalbenmöwen und Sturmtaucher ihre Nester, Dutzende von ihnen schweben über dem dunkelgrünen Atlantik.

Erst als ich über die Schulter blicke, wird mir das Ausmaß von Maeves Projekt so richtig bewusst. Mächtige Stahlmaste ragen wie die Forken eines Gabelstaplers aus dem Felsen.

»Wie schafft ihr es denn, dass das ganze Ding nicht ins Meer fällt?«

»Mit Hilfe von Computermodellierung und robusten Materialien. Der Betonstahl sorgt dafür, dass das Zentrum trotz der Erosion durch die Gezeiten Jahrhunderte überdauern wird. Diese Träger stecken acht Meter weit im Felsen. Die würden nicht mal nachgeben, wenn man die Houses of Parliament darauf fallen ließe.«

»Schade eigentlich. Die meisten Politiker hätten eine kalte Dusche verdient.«

»Unsere Baustelle erfüllt höchste ökologische Vorgaben. Die Bauweise ist CO2-neutral. Auf der ganzen Welt wird es nichts Vergleichbares geben.«

»Ich habe dafür gestimmt, Maeve, schon vergessen? Spar dir deine Werbung für die Sturköpfe auf.«

Sie lacht. »Entschuldige, das ist meine neue Obsession. Dürfen wir Nina und dich heute Abend zum Essen ins The Rock einladen? Wäre toll, wenn Zoe auch kommen würde. Die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen.«

»Willst du uns mit Essenseinladungen bei Laune halten, damit wir weiter zu dir stehen?«

»Das könnte eine winzig kleine Rolle spielen«, gesteht sie grinsend.

»Ich schicke ihr eine Nachricht, um zu fragen, ob sie Zeit hat.«

Zoe Morrow war meine engste Freundin, als wir hier zusammen aufwuchsen, doch sie lebt inzwischen in Indien und ist nur für einen kurzen Urlaub auf der Insel.

»Ich verspreche auch, dass ich mich nicht den ganzen Abend über den Bau auslasse, Ben.«

»Warum habe ich nur das Gefühl, angeworben zu werden?«

»Weil es so ist. Bekommst du keine Lust, die Ärmel hochzukrempeln und mit anzufassen?«

»Lieber setze ich mich mit einem Buch aufs Sofa.«

»Wir kriegen dich heute Abend schon rum. Ist acht okay?«

»Müsste gehen.«

Ich verabschiede mich winkend. Mein Cottage liegt eine halbe Meile von hier und einen zehnminütigen Spaziergang von dem Hotel entfernt, das Zoes Eltern gehört. Das Hell Bay Hotel wurde über die Jahre erweitert, um die Gäste unterzubringen, die jeden Sommer in Scharen herkommen, um Vögel zu beobachten, zu wandern oder zu den örtlichen Schiffswracks zu tauchen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich noch nicht bei Zoe und ihrem Mann Dev vorbeigeschaut habe, obwohl sie schon zwei Tage hier sind, aber das Dinner heute Abend wird sie für dieses Versäumnis entschädigen. Glücklicherweise gehörte Zoe noch nie zu den Leuten, die schnell eingeschnappt sind.

Als ich den Pfad erreiche, der zum Strand hinunterführt, öffnet sich die Küstenlinie, und es wird offensichtlich, warum diese Bucht Hell Bay heißt. Das Ufer wird von zerklüfteten Felsnasen bewacht, die bei Flut unter Wasser verschwinden und über die Jahrhunderte für zahlreiche Schiffbrüche verantwortlich waren.

Ich will gerade nach Hause gehen, als eine distinguiert klingende Männerstimme meinen Namen ruft. »Benesek Kitto, dachte ich mir doch, dass Sie das sind. Kann ich Sie kurz sprechen?«

Louis Hayle muss von seinem Haus auf der Hügelkuppe herabmarschiert sein. Obwohl er erst seit wenigen Jahren dauerhaft hier lebt, steht er seit langem in dem Ruf, der reichste Mann der Insel zu sein. Schon in der Zeit, als er nur seine Sommer auf Bryher verbrachte, war er hier sehr präsent, weil er stark in die örtliche Wirtschaft investierte und ein Mentoringprogramm für die Kinder der Insel einrichtete. Seine Millionen hat er mit einem Speditionsunternehmen gemacht, mit Transportern, Lkws und Flugzeugen, die in der ganzen Welt unterwegs waren. Ich weiß noch, dass er, als ich klein war, eine riesige Yacht hatte und immer per Hubschrauber nach Bryher geflogen kam. Damals sah er aus wie ein Filmstar, groß und athletisch, seine Ehefrau mied das Rampenlicht allerdings. Jetzt ist er in seinen Siebzigern und immer noch sehr gepflegt. Den Reißverschluss seiner teuren Windjacke hat er trotz des milden Wetters bis zum Kinn zugezogen, und seine graue Monobraue lässt ihn permanent wütend aussehen.

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Hayle?«

»Ich hab gesehen, dass Sie mit Maeve Trenwith geredet haben; ich hoffe, Sie schlagen sich nicht auf ihre Seite. Ihr Mann war früher mal mein Protegé, aber heute quält er mich.«

»Was heißt das genau?«

»Ich hab die beiden aufgefordert, ihr verfluchtes Zentrum woanders zu bauen, nicht direkt vor meinem Grundstück. Wenn sie es trotzdem tun, werde ich ihre Firma verklagen.«

»Damit kommen Sie nicht durch. Der Gemeinderat hat den Bau genehmigt.«

»Ich war damals dagegen und bin es auch jetzt. Meine Aussicht wird verschandelt, und die Insulaner, die für sich in Anspruch nehmen, religiös zu sein, werden schockiert sein.«

»Was soll das heißen?«

»In alter Zeit sind die Siedler auf den Badplace Hill gestiegen, um Rituale zu feiern und ihre Toten zu bestatten. Wir stehen auf Tausenden von Gräbern.«

»Ich weiß, dass das hier eine Begräbnisstätte war, aber der Denkmalschutz sagt, dass sie in einiger Entfernung vom Rand des Kliffs lag, und hat dem Bau zugestimmt.«

»Das ist ganz schön großzügig ausgelegt, finden Sie nicht? Grabanlagen sollten respektiert werden, egal, wie alt sie sind. Es gibt sogar ein Volksmärchen darüber, dass sich in Gefahr bringt, wer auf dem Badplace Hill gräbt.«

»Das höre ich zum ersten Mal.«

»Ich glaube nicht an Sagen, aber laut dieser Geschichte bringt es Unglück, die Totenruhe auf dem Badplace Hill zu stören. Und wenn es auf dieser Welt gerecht zugeht, werden die Trenwiths ihr Vorgehen für den Rest ihres Lebens bereuen.«

Der Mann marschiert davon, bevor ich mich verabschieden kann. Diese arrogante Attitüde hatte er schon, als ich noch ein Kind war. Das war auch der Grund, warum ich nur ein Mal einen Sommerkurs bei ihm besucht habe. Er erwartete, dass jedes Kind seine Anordnungen sklavisch befolgte. Da habe ich dann die klaren Regeln beim Rugby und Boxen vorgezogen oder die Wochenenden lieber damit verbracht, mit Zoe die Insel unsicher zu machen. Doch irgendwas hat sich verändert. Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich früher so aufgeregt hat. Seine Klagen erinnern mich daran, dass Maeves Gebäude meine Gemeinde spaltet. In diejenigen, die das Projekt leidenschaftlich befürworten, und diejenigen, die sich gegen jede Veränderung stemmen. Maeve Trenwith mag sehr viel Charisma besitzen, aber sie war zu lange weg, um hier viele Gefolgsleute zu gewinnen. Sie hat vergessen, wie verbohrt die Insulaner sein können. Wenn Maeves Gebäude sie nicht überzeugt, wird ihr Aufschrei die Toten aufwecken, ohne dass dafür jemand den Boden aufreißen muss.

2

Ruby verspürt eine ganz neue Entschlossenheit, als sie ihren kleinen Bungalow betritt. Das winzige Häuschen mit den zwei Zimmern ist ihr Zuhause, seit sie vor drei Jahren mit sechzehn aus der Obhut des Jugendamts entlassen wurde. Davor war sie von einer Pflegefamilie in die andere weitergereicht worden, ohne je zu irgendjemandem eine engere Beziehung entwickeln zu können. Die Sozialarbeiter hatten versucht, einen Keil zwischen sie und ihren Vater zu treiben und ihre Besuche im Gefängnis zu unterbinden. Sie sagten, ihr Vater sei bösartig, der übelste Bandenführer, den London je gesehen habe. Und Ruby hasste sie dafür. Ihr Vater hatte sich lediglich ums Geschäft gekümmert. Er hatte Auftragsmörder angeheuert, Erpresserbanden angeleitet und im großen Stil Cyberkriminalität betrieben. Die Leute, die er umgebracht hatte, waren ohnehin Abschaum, und er hatte all das nur getan, um zu schützen, was er für sie aufgebaut hatte.

Die meisten guten Ratschläge der Sozialarbeiter hat Ruby in den Wind geschrieben – außer, einen neuen Namen anzunehmen und sich unauffällig zu verhalten. Das passte beides zu dem Plan, den ihr Dad vor Jahren für den Fall seiner Ergreifung entwickelt und ihr beigebracht hat. Die Polizei hatte außerdem nichts dagegen, weil sie fand, dass sie unbedingt neugierigen Journalisten aus dem Weg gehen sollte. Ihr Zuhause ist schäbig und nur wenig größer als ein Wohnwagen, aber es ist ihr Rückzugsort. Mit der Villa, in der sie als Kind mit ihrem Dad gelebt hat und wo ihr Zimmer mit allen erdenklichen Spielsachen gefüllt war, hat es nicht die geringste Ähnlichkeit.

Ruby hat viele einsame Abende damit verbracht, in ihrem Skizzenbuch zu malen oder zu lesen. Aber sie hat sich auch vorbereitet und für jeden Schritt des Plans genaue Nachforschungen angestellt. Drei Jahre lang hat sie Rechercheausflüge unternommen und in Abendkursen Judo gelernt, um optimal gerüstet zu sein. In diesem anonymen Vorort im Londoner Süden ist Rubys Existenz unbemerkt geblieben. Sie hat in der Küche eines örtlichen Cafés gearbeitet, ohne sich mit irgendjemandem anzufreunden. Und jetzt hat sie keinerlei Bedenken, ihr normales Leben aufzugeben, um endlich Rache für die Inhaftierung ihres Vaters zu nehmen.

Damit sie auch wirklich jedes Wort des Plans im Kopf hat, überfliegt sie ein letztes Mal die seitenlangen Anweisungen, die ihr Vater vor Jahren geschrieben hat. Dann geht sie ins Bad, um den ersten Schritt auszuführen, indem sie das Haarfärbemittel aufträgt, das sie vor Monaten gekauft hat. Während die Farbe einwirkt, späht sie durch die Stores nach draußen, aber es ist niemand zu sehen. Zum Glück ist das Haus durch hohe Ligusterhecken vor fremden Blicken geschützt. Dass man außer seinen engsten Verbündeten niemandem vertrauen sollte, ist eine der wichtigsten Lektionen, die sie von ihrem Vater gelernt hat. Eine Handvoll Mitglieder der alten Gang sind ihm treu geblieben, aber viele haben sich auch von ihm abgewandt, seit er nicht mehr das Kommando hat.

Als Ruby das Bleichmittel ausgewaschen hat, blickt ihr eine Fremde aus dem Spiegel entgegen. Ihre dunklen Locken sind durch blonde ersetzt worden, die ihr in sanften Wellen über die Schultern fallen. Normalerweise trägt sie Wimperntusche, Lippenstift und Grundierung, aber jetzt nicht mehr. Das Mädchen, das sie nun ist, sieht jünger und verletzlicher aus.

Sie durchwühlt eine Schuhschachtel voller Papiere und zieht ihren Pass heraus. Dann legt sie alle Briefe, Bücher und persönlichen Gegenstände aufs Sofa und behält lediglich ein Foto des Vaters in ihrem Portemonnaie. Jetzt muss sie nur noch jede Spur von dem Plan und ihrer Beteiligung verwischen. Ruby gießt Benzin aus einer Flasche auf den abgewetzten Teppich und wirft ein brennendes Streichholz darauf. In Sekundenschnelle breitet sich das Feuer über den ganzen Boden aus. Ruby wartet im Flur, bis die Flammen höher schlagen und die Farbe an den Wänden Blasen bildet. Dann tritt sie, ihren Rucksack über der Schulter, aus der Tür.

Es ist sieben Uhr abends, und in ihrem Viertel herrscht Ruhe. Als sie das Ende der Straße erreicht, hört sie eine Explosion und das Klirren von Glas. Ohne eine Spur des Bedauerns blickt Ruby zurück zu ihrem Haus, das gerade in Rauch aufgeht. Sicherheit ist ein Geisteszustand, sagt ihr Dad immer; man muss sich schnell anpassen, ganz gleich, wo man landet. In Rubys Gesicht steht Erregung, als in der Ferne eine Sirene erklingt. Mit schnellen Schritten bricht sie auf zu ihrer neuen Reise.

3

Als ich nach Hause komme, sitzt mein Hund auf der Türschwelle. Statt mich, wie sonst, stürmisch zu begrüßen, heißt er mich nur mit einem einzelnen Bellen willkommen. Seit Nina bei mir eingezogen ist, hat Shadow seine Loyalität gesplittet. Kaum hatte sie ihren Koffer ausgepackt, wurde der Wolfshund zu ihrem treuen Begleiter.

»Ob du mich wohl mal reinlässt?«, frage ich.

Der Hund mustert mich mit seinen hellen Augen, bevor er sich zurückzieht. Wenn ich wissen will, wo Nina sich aufhält, muss ich nur dem lauten Hämmern folgen, das inzwischen zur Alltäglichkeit geworden ist. Ich bin immer noch überrascht, dass sie nach endlosen Diskussionen schließlich doch bereit war, ihre Unabhängigkeit aufzugeben und hier einzuziehen. Ihre Schwangerschaft hat die Sache schließlich besiegelt. In praktischer Hinsicht funktioniert das Zusammenwohnen gut. Es gefällt mir, wie wir uns die Hausarbeit ganz ohne Streit teilen und wie sie sich hier eingerichtet hat. Nur ihre zwanghafte Ordnungsliebe und ihr Bedürfnis, sich ständig zu beschäftigen, obwohl sie sich eigentlich schonen sollte, machen mir zu schaffen. Weil sie das Thema nie anspricht, habe ich das Gefühl, dass sie sich mit Kritik an unserem Zusammenleben zurückhält, bis das Baby da ist.

Über die Heimwerker-Wunder, die sie jeden Tag vollbringt, kann ich mich echt nicht beklagen. Es scheint ihr richtig Spaß zu machen, den Laden hier auf Vordermann zu bringen. Das einstöckige, von meinem Großvater erbaute Haus war noch nie in einem besseren Zustand; selbst die Natursteinplatten in der Küche glänzen inzwischen, denn sie sind frisch lackiert. Nina ist im Bad und summt leise vor sich hin, während sie den Werkzeugkasten durchwühlt. Sie hat den Siphon vom Waschbecken abmontiert. Ein U-förmiges Rohr, Schellen und Kupferrohre liegen ordentlich aufgereiht vor ihr.

»Was nimmst du denn jetzt schon wieder auseinander?«, frage ich.

»Ich habe die Armatur erneuert. Und wenn ich einmal dabei bin, kann ich mich auch gleich um den verstopften Abfluss kümmern.«

»Wie wär’s, wenn du dich ausruhst? Die Krankenschwester hat gesagt, dein Blutdruck ist zu hoch.«

»Das war nur ein Ausreißer. Als sie heute hier war, war der Blutdruck in Ordnung.«

»Das sind gute Nachrichten. Welche Belohnung möchtest du für all die harte Arbeit?«

Sie blickt zu mir hoch. »Du könntest mir hin und wieder sagen, dass du mich liebst.«

»Sollte man das nicht eher spontan tun?«

»Du gefühlloser Klotz.« Ich weiß, dass sie mich nur neckt, aber ihr Einwand ist nicht ganz unberechtigt. Ich kann nicht erklären, warum mir die Worte nicht über die Lippen wollen, obwohl ich das ganze letzte Jahr versucht habe, sie davon zu überzeugen, mich zu heiraten.

»Wie war’s denn auf der Baustelle?«, fragt sie.

»Ziemlich beeindruckend. Sie haben riesige Metallträger in den Felsen getrieben.«

»Warum lieben Männer große Maschinen so sehr?«

»Wahrscheinlich spielen sie als Kinder zu viel mit Lego. Übertreib’s nicht, ja?«

Sie tut so, als hätte sie mich nicht gehört, als wäre sie zu sehr in ihre Arbeit vertieft, um sich um Ratschläge bezüglich ihrer Gesundheit zu kümmern. Nina streicht sich ihre schokobraunen Haare hinter die Ohren, während sie eine Anleitung durchliest, die sie aus dem Internet ausgedruckt hat. Dass sie im achteinhalbten Monat ist, mindert ihre Attraktivität nicht im Geringsten. Bis auf den stark gewölbten Bauch hat sich ihre Silhouette kaum verändert. Vor allem ihr Gesichtsausdruck schlägt mich immer wieder in den Bann. Sie ist ausgebildete Therapeutin, trotzdem widmet sie dieser Klempnerarbeit hundert Prozent ihrer Aufmerksamkeit und kaut auf ihrer Unterlippe, weil sie sich so stark konzentriert. Nina tut alles, was sie tut, mit absoluter Zielstrebigkeit, egal, ob sie meine zahllosen Romane alphabetisch sortiert oder die Hälfte meiner Kleider ausrangiert, weil sie findet, dass sie schäbig geworden sind. Und ich bin sicher, dass sie, seit wir zusammen sind, mit derselben stringenten Vorgehensweise auch versucht, meinen persönlichen Schwächen zu Leibe zu rücken.

Ich mache mir immer noch Vorwürfe, weil Nina vor vier Monaten im Zuge meiner Ermittlungen in einem anderen Fall attackiert wurde und beinahe die Sehkraft ihres linken Auges verloren hätte. Glücklicherweise ist keine Beeinträchtigung zurückgeblieben, abgesehen von einer Narbe an ihrer Schläfe, die aber bereits verblasst. Sie hat beschlossen, das alles als Teil der Vergangenheit zu betrachten und zu ignorieren, aber bei mir meldet sich jedes Mal, wenn ich die Narbe sehe, das schlechte Gewissen. Ich würde Nina gern in Watte packen, bis das Baby da ist, und Shadow scheint es ähnlich zu gehen, doch sie wehrt sich nach Kräften dagegen.

»Steh nicht nur da und starr mich an, Ben. Ich sterbe vor Durst.«

»Ich setze Wasser auf.«

»Übrigens hat vorhin eine Frau namens Sarah Goldman angerufen. Sie bittet dringend um Rückruf via Skype«, sagt Nina. »Ist das eine Kollegin?«

»Das ist meine ehemalige Chefin aus London. Hat aber bestimmt nichts zu sagen. Ich koche uns erst mal einen Tee.«

Mir ist sofort klar, dass irgendwas nicht stimmt. Commander Goldman ist eine vorbildliche Vorgesetzte. Sie beaufsichtigt von den Büroräumen bei der Metropolitan Police aus vierhundert Einsatzbeamte, einschließlich Londons größter Gruppe von Undercover-Ermittlern. Sie hat keine Zeit, ehemalige Mitarbeiter anzurufen, um mit ihnen zu plaudern. Während das Wasser heiß wird, blicke ich nach draußen und denke ich an meinen alten Job zurück. Das Meer jenseits des Küchenfensters wirkt unnatürlich ruhig. Als ich ins Bad zurückkehre, liegt Nina mit einem Schraubenzieher in der Hand flach auf dem Rücken und ist zu beschäftigt, um Notiz von dem Becher Tee zu nehmen, den ich auf dem Boden abstelle.

Es dauert einige Minuten, bis ich über Skype eine Verbindung herstellen kann, was zum Inselleben dazugehört. Auf den Scillys kann man sich nie darauf verlassen, dass man Empfang hat, schon gar nicht im Winter, was uns in die Zeit zurückwirft, in der das Internet noch nicht die Welt beherrschte. Commander Goldmans Gesicht sieht älter aus, als sie schließlich auf meinem Computer-Bildschirm erscheint. Sie gehört zu einer Sondereinheit, die institutionellen Rassismus und Sexismus bei der Metropolitan Police zu bekämpfen versucht, was eine schwierige Aufgabe sein dürfte. Ihr Haar ist schlohweiß, so als würden alle Londoner Verbrechen allein auf ihrem Gewissen lasten.

»Ich höre nur Gutes über Sie, Kitto. DCI Madron sagt, sie seien ein guter Deputy.«

»Das überrascht mich, Ma’am. Er geht sehr sparsam mit Lob um.«

»Schmieden Sie das Eisen, solange es heiß ist.« Ihr meist ausdrucksloses Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. »Bitten Sie ihn darum, in eine andere Besoldungsgruppe eingestuft zu werden.«

»Wie läuft es denn so im Präsidium?«

»Hektisch wie immer, aber das ist nicht der Grund meines Anrufs. Ich habe eine Information für Sie. Erinnern Sie sich an den Travis-Fall?«

»Der ist schwer zu vergessen.«

Craig Travis leitete ein riesiges Netzwerk von kriminellen Banden, das mit meinem Zutun vor sechs Jahren ausgehoben werden konnte. Das war mein letzter Job als Undercover-Ermittler bei der Mordkommission. Damals arbeitete ich mit zwei Kollegen zusammen, Annie Hardwick und Steve Pullen, um in Travis’ engsten Führungskreis vorzudringen, und irgendwann hatte der Mann mich tatsächlich in sein Herz geschlossen. Ich war ein Jahr lang sein Bodyguard, dann wurde ich sein Fahrer. Zuerst hat er mich mit Samthandschuhen angefasst und die üble Brutalität von mir ferngehalten, mit deren Hilfe er sich lange Zeit an der Macht gehalten hat. Um bei ihrem Chef Eindruck zu schinden, taten manche Mitglieder seiner Bande gern so, als wären sie ganz harte Jungs, doch Travis war schlimmer als sie alle zusammen. Vollkommen gewissenlos und ohne irgendein Zeichen des Bedauerns brachte er jeden um, der ihm in die Quere kam. Als ich ihn schließlich auf frischer Tat ertappt hatte und festnehmen konnte, befehligte er Hunderte von Mitarbeitern, von Berufskillern und Betrügern bis hin zu Hackern und Drogenhändlern. Sein komplexes Imperium erstreckte sich über das gesamte Londoner Stadtgebiet.

»Angesichts seines Netzwerks wollte ich Sie über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden halten. Travis liegt im Crowthorne im Sterben. Er hat Krebs, aber wir glauben, dass er nach wie vor eine Bedrohung darstellt.«

»Wie meinen Sie das, Ma’am?«

»Eine Krankenschwester hat ihn davon reden hören, dass er es den Beamten, die zu seiner Ergreifung beigetragen haben, heimzahlen will. Und das Ganze klang offenbar glaubwürdig. Er verfügt nach wie vor über genügend Kontakte. Alte Loyalitäten bleiben in der Welt der Banden lange bestehen, wie Sie wissen.«

»Ich bin eine dreistündige Fährfahrt vom Festland entfernt. Mich erreicht hier niemand. Ma’am.«

»Unterschätzen Sie ihn nicht.«

»Die meisten seiner Kumpane sind tot oder hinter Gittern. Wie sollte er uns finden?«

»Vielleicht hat er ja irgendwem im Crowthorne die nötigen Informationen abgekauft.«

»Wenn er so lange dafür gebraucht hat, sind sie nicht mehr aktuell.«

»Ich möchte, dass Sie diese Sache ernst nehmen. Vielleicht ist er einfach nur ein dahinsiechender Psychopath, der seine verdiente Strafe bekommen hat, wir sollten jedoch trotzdem vorsichtig sein. Steve Pullen weiß auch schon Bescheid, ich muss allerdings Annie Hardwick noch ausfindig machen. Haben Sie noch Kontakt zu ihr?«

»Ich hab ein paarmal mit ihr telefoniert, aber sie hat die Nummer gewechselt. Sie wollte, nachdem sie den Dienst quittiert hat, nach Südwestengland ziehen und als Selbstversorgerin auf einem kleinen Bauernhof leben.«

»Sie ist wie vom Erdboden verschwunden, was mir Sorgen bereitet. Wenn die Sache eskaliert, kann ich ihr keinerlei Schutz bieten.«

»Annie kann auf sich selbst aufpassen; sie ist total tough.«

»Nicht, wenn sie unvorbereitet ist.«

»Danke, dass Sie mir Bescheid geben, Ma’am.«

»Seien Sie auf der Hut, bis wir uns wieder sprechen, Kitto.« Das Gesicht von Commander Goldman verschwindet, und ich sehe nur noch verschwommene Pixel.

Ich erinnere mich noch gut an das sadistische Vergnügen, mit dem Craig Travis jeden angegangen ist, der seine Autorität in Frage stellte. Aber am meisten tut mir seine Tochter leid. Ich lernte Ruby in der Zeit, in der ich für ihren Vater gearbeitet habe, ein bisschen kennen; sie war erst zwölf oder dreizehn Jahre alt, als sein Imperium zusammenbrach. Ruby war seine Prinzessin, der einzige Mensch, dem er mit Zärtlichkeit begegnete. Das Mädchen war garantiert nicht auf das Leben außerhalb ihres Elfenbeinturms vorbereitet. Wenn Travis sich um sie kümmerte, wirkte er wie ein typischer treusorgender Vater. Aber es war wirklich furchteinflößend, dass ihm für den Rest der Menschheit jegliches Mitgefühl fehlte.

Plötzlich ist es im Haus so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Während meiner Arbeit an diesem Fall habe ich eine Hypervigilanz entwickelt, eine Überwachsamkeit, die sich nur dann einstellt, wenn ich unter Druck stehe. Sie ist wie ein sechster Sinn, der mich vor einer potenziellen Gefahr warnt. Nina hat aufgehört zu hämmern, und in der Fensterscheibe gegenüber sehe ich mein eigenes Spiegelbild. Ich bin über meinen Computer gebeugt wie ein Riese, der in einem Puppenhaus gefangen ist, mit zerzaustem schwarzem Haar und verblüfftem Gesichtsausdruck.

4

London liegt in tiefer Dunkelheit, als Ruby Travis dem Lauf der Themse durch Greenwich folgt. Sie kennt diese Gegend wie ihre Westentasche. Sie ist in Southwark aufgewachsen, bevor die Geschäfte ihres Vaters sie von einer Sozialwohnung in Bermondsey in eine Villa in Blackheath brachten. Damals erzählte er ihr, die Mitglieder des Königshauses hätten früher ihre Pferde im nahegelegenen Greenwich Park trainiert, und versprach, dass auch sie für den Rest ihrer Tage wie eine Prinzessin leben werde. Sie hat geglaubt, dass sie immer zusammen sein würden, doch dann wurde er ihr entrissen, und seitdem liegt ihr Leben auf Eis. Jetzt muss sie ihr Versprechen erfüllen.

Angst und Erregung lassen ihr Herz schneller schlagen, als sie stehen bleibt, die Hände aufs Geländer legt und über den Fluss nach Canary Wharf hinüberschaut. Die Gebäude dort funkeln vor Geld und verteilen Goldmünzen aus Licht auf dem langsam dahinfließenden Wasser. Der Fußgängerweg ist ziemlich leer, nur einige Pärchen machen hier einen Abendspaziergang und sind viel zu sehr aufeinander fixiert, um die schlanke blonde Jugendliche zu bemerken, die auf jemanden zu warten scheint. Niemand sieht, wie sie die Stufen hinuntersteigt, ganz vorsichtig, damit sie nicht auf den dunkelgrünen Algen ausrutscht. Als sie noch klein war, hat ihr Dad hier mit ihr Tonpfeifen und Glasflaschen aus dem Schlamm gefischt. Der Geruch des Flusses erinnert sie an die Nachmittage, die sie damit verbrachte, suchend in den Schlick hinabzustarren. Wenn sie dann anschließend, die Taschen voller Gegenstände, die eine Geschichte erzählten, wieder nach Hause gingen, hatte er ihr den Arm um die Schultern gelegt. Die Themse riecht wie eh und je nach Gewürzen, Salz und Abwasser. Der Fluss wird sämtliche Spuren ihres alten Lebens mit sich forttragen, nur die innige Liebe nicht, die sie für ihren Vater empfindet.

Bevor sie ihren Rucksack auspackt, schaut Ruby noch einmal zum Weg hoch. Dann nimmt sie eine Jacke, Schuhe, ihren alten Pass und ein gefaltetes Blatt heraus, legt alles knapp oberhalb der Hochwassermarke auf die Stufen und beschwert es mit einem Stein. Ein letztes Mal betrachtet sie ihr Gesicht in dem Pass. Für ihren Geschmack ist es ein bisschen zu einfach, ihre Sachen am Flussufer liegen zu lassen. Doch die Polizei liebt einfache Lösungen; sie wird glauben, dass sie sich das Leben genommen hat. Von jetzt an wird sie Chloe Moore sein, eine angehende Kunststudentin aus Brighton.

Als sie über sich die schweren Schritte eines Mannes hört, drückt sie sich mit dem Rücken an die Wand, bis das Geräusch verklingt. Sobald die Luft rein ist, eilt sie zurück nach oben und lässt ihr früheres Leben hinter sich wie ein Schmetterling, der seinen Kokon abwirft.

5

Bewegung gehört auf Bryher einfach zum Leben dazu, und nach dem angespannten Gespräch mit Goldman tut es gut, am Abend ein bisschen Dampf abzulassen. Es gibt auf der Insel zwar einige Jeeps, Traktoren, Golfbuggys und Fahrräder, aber die meisten Leute gehen zu Fuß dahin, wo es sie hinzieht. Die einzige asphaltierte Straße verläuft vom Hell Bay Hotel an der Westküste hoch nach Kitchen Porth im Osten, wo meine Patentante, Maggie Nancarrow, seit vierzig Jahre den einzigen Pub der Insel führt. Nina und ich laufen den kurzen Weg zum The Rock über einen Pfad, den ich so gut kenne, dass ich ihn auch mit geschlossenen Augen entlangsprinten könnte.

Heute Abend haben wir es nicht eilig, was mir sehr gelegen kommt. Der andere Lebensrhythmus hier ist eines der Dinge, die mich vor Jahren aus London zurück auf die Insel gezogen haben, und auch Nina hat sich inzwischen gut daran angepasst. Sie macht sich nicht die Mühe, unterwegs mit mir zu plaudern, dazu ist sie zu sehr damit beschäftigt, den Klatschmohn und den Agapanthus zu bewundern, die aus den Ritzen der Bruchsteinmauern rund um die Felder wachsen. Sie genießt die Stille, ich wüsste allerdings gern genauer, wie es ihr geht. Sie scheint die Schwangerschaft gut wegzustecken, doch Nina hat ein stoisches Gemüt. Da sie sich nur selten beklagt, könnte es auch sein, dass sie jede Minute der Schwangerschaft hasst, ohne dass ich es ahne. Die Krankenschwester hat ihr geraten, sich zu schonen, und es bereitet mir Sorgen, dass sie diesen Rat ignoriert, auch wenn ich wahrscheinlich dasselbe tun würde. Nina hasst es, Anweisungen zu befolgen – ein Charakterzug, den wir teilen.

»Hast du noch mal über einen Namen für das Baby nachgedacht?«, fragt sie.

»Oh, nein, bitte nicht schon wieder.« Das ist das einzige Thema, bei dem wir uns nicht einig werden, und ich ertrage es nicht, es heute Abend erneut zu besprechen. »Lass uns das entscheiden, wenn er da ist.«

»Wir müssen vorbereitet sein.«

»Wie wär’s mit Engelbert?«

»Gott, du nervst. Was, wenn es ein Mädchen ist?«

»Veronica? Oder Delilah?«

»Wir werden immer wieder auf dieses Problem zurückkommen, Ben. Es wird sich nicht von selbst lösen.«

»Ich habe kein Problem damit, eine Tochter zu bekommen, solange sie keine Strickliesel ist.«

Nina lacht leise. »Und wenn doch? Mir macht ein bisschen Handarbeit hin und wieder durchaus Spaß.«

»Ich werd’s verkraften, aber lieber hätte ich ein Kind, das gern draußen herumflitzt.«

»Wir können uns nicht aussuchen, was wir kriegen, Ben. Unser Baby weiß übrigens, dass wir gerade über es sprechen. Es will deine ungeteilte Aufmerksamkeit.«

Sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihren Bauch. Durch ihr Leinen-Top hindurch spüre ich die regelmäßigen Tritte unseres Kindes. Es tanzt zu einem Rhythmus, den wir nicht hören können.

»Er ist gerade beim Workout.«

»Ich liebe das«, sagt sie. »Aber bald will ich meinen Körper zurück. Ich hätte nämlich echt Bock auf einen Wodka Lemon.«

Als wir uns im The Rock unter die Leute mischen, kenne ich fast jeden. Maggies Kneipe überblickt schon seit zweihundert Jahren den New Grimsby Sound. Damals haben Schmuggler in dem niedrigen Raum mit dem großen offenen Kamin ihre Saufgelage abgehalten. Einige alte Fischer verbringen diese Tageszeit gern in genau dieser Ecke.

Maggie spricht hinter dem Tresen angeregt mit jemandem am Telefon. Sie ist das reinste Energiebündel, obwohl sie nur eins fünfundsechzig groß und schon weit über sechzig Jahre alt ist. Sie sieht noch fast genauso aus, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung habe. Ihr zierlicher Körper ist noch immer schlank und fit, ihre Lockenmähne ist inzwischen ergraut, und sie trägt eine Nickelbrille auf der Nase.

Billy Reese bedient uns, ohne sich ein Lächeln abzuringen. Maggies Lebensgefährte müsste ebenfalls inzwischen Rentner sein, aber er kleidet sich wie ein Biker. Er hat graues Haar und einen langen Bart, und auf sein T-Shirt ist in großen Lettern Guns N’Roses gedruckt. Schon während er uns unsere Getränke einschenkt, kommt er auf das heißeste Thema der Insel zu sprechen.

»Und wo steht ihr zwei, was diesen Bau-Wahnsinn angeht?«, fragt er. »Wir kriegen doch auch ohne so ein verdammtes Zentrum für Outdoor-Aktivitäten genügend Besucher hierher, oder etwa nicht?«

»Die Einheimischen werden es auch nutzen«, sagt Nina.

»Können die Leute denn keine Vögel beobachten, ohne dass ihnen irgendein Experte dabei Händchen hält? Louis Hayle tut mir echt leid; das Ding wird ihm direkt vor die Nase gesetzt.«

»Wenigstens finanzieren die Trenwiths es«, erwidere ich. »Unsere Wirtschaft kann ein bisschen Auftrieb gut gebrauchen.«

Billys wettergegerbtes Gesicht verzieht sich zu einem finsteren Ausdruck. »Die haben dich einer Gehirnwäsche unterzogen, mein Freund. Warst du in letzter Zeit mal bei Louis?«

»Nein, schon seit zwanzig Jahren nicht mehr. Aber wir haben uns vorhin unterhalten. Er glaubt, dass ich auf der Seite des Feindes stehe.«

»Ich spiele manchmal mit ihm Schach, und diese Geschichte macht ihn echt fertig. Was würdest du denn sagen, wenn dir jemand so ein Monstrum in den Vorgarten stellen würde, wenn du alt bist?«

»Unterhalt dich mit Maeve, Billy. Sie kommt gleich mit Danny her.«

»Den beiden ist das doch alles schnuppe. Die verziehen sich eh wieder, sobald das Ding steht.«

»Ignoriert ihn einfach«, sagt Maggie, als ihr Telefonat zu Ende ist. »Seine Küchenhilfe hat heute gekündigt; seitdem ist er ungenießbar.«

Billy seufzt laut. »Der Junge hat sich einen schicken Job auf dem Festland gesucht, ohne mir Bescheid zu sagen. Ich finde keinen Ersatz, und außerdem ist mir dieses Bauprojekt echt ein Dorn im Auge.«

»Jetzt krieg dich mal wieder ein«, sagt Maggie zu ihm. »Lass uns mit der Zeit gehen.«

»Das Ding wird potthässlich.«

»Bleib in deiner Küche, bis du wieder bessere Laune hast.« Maggie schenkt uns ein langmütiges Lächeln. »Sucht euch einen Tisch. Ich bringe euch was zu essen.«

»Wir warten noch auf Danny und Maeve, wenn das okay für dich ist?«

»Klar, kein Problem. Dann bringe ich euch was, wenn sie da sind.«

»Perfekt.«

Sie wedelt fröhlich mit der Hand durch die Luft, dann bedient sie den nächsten Stammgast. Meine Patentante liebt es, uns mit Essen und Getränken abzufüllen; sie lässt uns selten eine Wahl, aber ich will mich nicht beklagen. Sie kann irgendwie nicht anders, als die gesamte Gemeinde zu füttern, in guten wie in schlechten Zeiten, und sie schließt den Pub auch im Winter nicht, wenn sich deutlich weniger Leute auf der Insel aufhalten. Vermutlich hält auch ihre Beziehung mit Billy nur wegen ihrer unerschöpflichen Gutmütigkeit.

Nina und ich entdecken einen Tisch in der Ecke, wo einige Computerausdrucke der Baupläne an die Wand gepinnt sind. Ein cleverer Schachzug von Maeve. Der Pub fungiert nämlich quasi als Gemeindezentrum. Hier finden jede Woche Musikabende statt, aber auch Yogakurse und Geburtstagspartys. Auf diese Weise hat jeder von der Insel die Zeichnungen inzwischen gesehen. Darauf ist ein Gebäude abgebildet, das zu fragil erscheint, um einen Sturm zu überstehen. Es ist ein Wunder aus Glas und Stahl, zusammengehalten durch Zuversicht, was charakteristisch für Maeves Arbeit ist. Ich habe mir im Internet Fotos von ihrem berühmtesten Wohnblock angeschaut. Er sieht so zart wie Seidenpapier aus, und seine Paneele reflektieren das intensive Sonnenlicht von Dubai.

Als wir Platz nehmen, lasse ich meinen Blick auf der Suche nach Zoe durch den gut gefüllten Raum schweifen, doch weder sie noch Dev sind da. Seit sie aus Indien zurück ist, macht meine Freundin sich ganz schön rar. Sie hat auch nicht auf meine Nachrichten reagiert, was ungewöhnlich ist. Mein Blick fällt auf eine Frau, die allein an einem Tisch sitzt. Sie ist um die sechzig und sieht attraktiv aus mit ihren hohen Wangenknochen und dem sorgfältig frisierten schwarzen Haar. Unter der Woche verbringt Sandra Trescothick ihre Tage im Rathaus von St. Mary’s. Sie führt das Personenstandsregister und weiß daher alles über die ansässigen Familien. Ihre Körpersprache ist interessant. Während sie an ihrem Wein nippt, beobachtet sie die Welt um sich herum. Es ist ungewöhnlich, dass jemand in einem öffentlichen Raum so entspannt wirkt und nicht das Bedürfnis verspürt, ein Buch zu lesen oder auf sein Handy zu schauen.

Als die Trenwiths kommen, wird es still im Pub, so als hätten alle hinter ihrem Rücken über sie geredet. Sobald die beiden bei uns Platz genommen haben, setzt die normale Lautstärke wieder ein. Maeve und ihr Mann wirken auf mich nach wie vor wie ein sehr ungleiches Paar. Sie sieht aus wie eine Rockerbraut mit ihrer Lederjacke, den Jeans und ihrem in lockeren Wellen über die Schultern fallenden, schwarzen Haar. Danny ist dagegen eine sehr viel unauffälligere Erscheinung. Er ist in seinen Vierzigern und trägt eine abgewetzte Cordjacke und eine ausgebeulte Jeans. Seine Brillengläser sind so dick, dass die Augen dahinter wie feuchte Schieferstückchen aussehen.

»Entschuldigt die Verspätung«, sagt er. »DCI Madron hat wegen der Haftpflichtversicherung angerufen. Er will, dass ich morgen mit dem Antrag nach St. Mary’s rüberfahre.«

»Mein Chef liebt Papierkram. Seid gewarnt.«

»Gott sei Dank ist er nicht mein Problem«, sagt Maeve. »Solche Leute treiben mich in den Wahnsinn.«

Ihre Rollen scheinen klar verteilt zu sein. Maeve genießt das Rampenlicht, während Danny als Projektleiter froh ist, nicht in der Öffentlichkeit stehen zu müssen und sich dafür um alle praktischen Belange zu kümmern. Ich kann mich aus der Schule kaum noch an ihn erinnern, aber als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, hat er mit meinem Bruder und mir eines von Louis Hayles Sommercamps besucht. Damals schien es ihm großen Spaß zu machen, auf Hayles Boot mitzusegeln und am Strand Drachen zu bauen. Heute wirkt er deutlich weniger fröhlich, so als hätte die harte Arbeit seine Lebensfreude aufgezehrt.

Ich höre zu, während Maeve Nina dazu befragt, was sie nach Bryher gezogen hat, und kann sehen, dass die verschlungenen Wege, die Nina hierhergeführt haben, sie faszinieren. Meine Freundin musste sich entscheiden, ob sie Ärztin werden oder zur Musikschule gehen und Violine lernen wollte. Sie hat sich für das Medizinstudium entschieden, die Ausbildung nach dem Tod ihres Mannes jedoch abgebrochen. Danach folgte eine Ausbildung zur Chiropraktikerin, und schließlich ist sie Therapeutin geworden. Nina hat sich eine Halbtagsstelle im St. Mary’s Hospital gesichert, wo sie anfangen wird, sobald ihr Mutterschaftsurlaub endet. Nachdem sie alle Fragen beantwortet hat, wird Nina still. Sie hört lieber zu, als selbst zu reden, wie Danny. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, während Maeve übers ganze Gesicht strahlend Anekdoten zum Besten gibt.

Wir verbringen einen entspannten Abend mit ein paar Bier und einem hervorragenden Meeresfrüchte-Risotto, einer der Spezialitäten des The Rock. Während des Essens fällt mein Blick auf Maeves Hände. Jeden ihrer Finger ziert ein schwerer Silberring, einige sind mit Edelsteinen besetzt, andere tragen Symbole oder Buchstaben.

»Du trägst ungewöhnlichen Schmuck«, sage ich.

»Ist das deine Umschreibung für hässlich?«, fragt Maeve grinsend. »Die Ringe hab ich selbst gemacht. Jeder Einzelne hat eine spezielle Bedeutung. Mit dem Silberschmiedehandwerk halte ich zwischen den Bauprojekten meine Kreativität in Schwung.«

»Ben hat große Angst, dass unser Kind künstlerische Neigungen entwickeln könnte«, sagt Nina lachend.

»Ja, denn seine eigenen kehrt er gern unter den Teppich«, erwidert Maeve. »Ben war früher immer der Beste in Englisch. Wenn er nicht beim Rugby oder Boxen war, las er ständig amerikanische Romane.«

Das Gespräch kehrt immer wieder zu der Arbeit der beiden zurück. Ihr Leben klingt wie eine Achterbahnfahrt, mal mit Siegen, mal mit Pechsträhnen. Beim Kaffee kommen wir erneut auf das geplante Zentrum zu sprechen.

»Warum seid ihr eigentlich zurückgekommen?«, fragt Nina. »Ihr könntet doch genauso gut Paläste für Superreiche in irgendeiner exotischen Stadt bauen.«

»Wir konnten nicht zulassen, dass auf Bryher ein hässliches vierstöckiges Hotel gebaut wird«, erklärt Maeve. »Aber es gibt auch persönliche Gründe. Wir mussten weggehen, weil es hier keine guten Jobs gab. Das Zentrum bedeutet, dass wir einigen jungen Leuten von der Insel eine Zukunft geben können.«

»Was das Gebäude am Ende hier für die Menschen verändert, kümmert mich persönlich, ehrlich gesagt, nicht so sehr«, sagt Danny. Seine Miene ist angespannt. »Ich will nur, dass es irgendwann steht und funktioniert. Als Nächstes bauen wir ein riesiges Konferenzzentrum in Madrid, aber Maeve gibt nicht eher Ruhe, bis ihr kostbares Zentrum steht.« Er blickt finster drein, als er den Satz beendet hat. Das ist das erste Mal, dass das Paar uneins wirkt.

Maeve stupst ihn an. »Ursprünglich war es deine Idee, schon vergessen? Wir haben viel Glück gehabt, warum also nicht auch mal was zurückgeben? Es hat mir das Herz gebrochen, die Scillys verlassen zu müssen. Ich habe jahrelang von den Inseln geträumt; der weite Himmel und die Cairns haben meine Phantasie entscheidend geprägt.«

»Es ist schon seltsam, dass Louis Hayle so heftig dagegen opponiert. Ich weiß, dass euer Gebäude sich auf seine Aussicht auswirkt, aber seine Reaktion ist trotzdem ziemlich extrem. Euer Projekt ist immer noch um Längen besser als ein Hotelkomplex«, sage ich. »Er erwähnte, dass er vor Jahren dein Mentor war, Danny.«

»Ja, Maeve hat er auch geholfen, aber für mich war Louis ein Held, als ich klein war«, antwortet er. »Ich versuche die ganze Zeit, ihn von unserem Projekt zu überzeugen, aber er will nichts davon wissen, was echt schade ist. Früher kam er mir wie James Bond vor mit seinem Hubschrauber und seiner hochseetauglichen Yacht. Du warst damals auch hier, Ben. Du musst dich doch auch daran erinnern, welchen Glamour er ausgestrahlt hat.«

»Mein Bruder und ich waren in einem seiner Sommercamps. Ein paar Tage lang hat es uns Spaß gemacht, aber dann waren uns seine Regeln zu streng. Ich wollte lieber mit Zoe die Gegend unsicher machen. Ihr beiden seid wochenlang dabeigeblieben, oder?«

»Er hat uns das Segeln beigebracht. Es ist traurig, wenn ehemalige Vorbilder einen enttäuschen«, sagt Danny ernst. »Louis kann nicht einsehen, dass wir etwas Positives machen. Alle auf Bryher werden davon profitieren, aber er sorgt sich nur um seinen verdammten Ausblick.«

»Vielleicht ist er daran gewöhnt, seinen Kopf durchzusetzen«, sagt Nina. »Wenn wir alt werden, verlieren wir alle an Macht und Einfluss. Außerdem wird er noch um seine Frau trauern.«

»Wir würden nie etwas tun, was sein Grundstück verschandelt. Ich möchte ja eines Tages wieder hier leben«, sagt Maeve. »Wir behalten das alte Cottage meiner Eltern als Ferienhaus.«

»Es ist gut, hier noch eine Basis zu haben.« Danny schaut mich an. »Wie kommt es, dass Zoe heute Abend nicht aufgetaucht ist?«

»Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher, ihr seht sie noch, bevor sie nach Indien zurückfliegt. Sie und ihr Mann bleiben zehn Tage hier.«

»Zoe gehört auch zu denen, die von Bryher weggehen mussten, um ihr volles Potenzial entfalten zu können«, sagt Maeve.

Die beiden sehen nachdenklich aus, als wir uns verabschieden, so als hätte das Gespräch über die Vergangenheit einen empfindlichen Nerv bei ihnen getroffen. Wir sind schon auf dem Weg zur Tür, als meine Tante mit einer Tragetasche im Arm angerannt kommt. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um Nina und mich auf die Wange zu küssen, und sagt uns, dass wir das Geschenk erst zu Hause aufmachen sollen. Bevor wir uns bedanken können, ist Maggie schon wieder weg und hinterlässt einen Schwung Energie. Als ich erneut zu Sandra Trescothick hinschaue, sitzt mein Onkel bei ihr, was mich überrascht. Ray ist dafür bekannt, dass er ein Einzelgänger ist. Ein Bootsbauer, der Smalltalk hasst wie die Pest, doch heute Abend wirkt er vollkommen entspannt. Sandra lächelt, als hätte er einen erstklassigen Witz gemacht. Ray hat seine Öljacke über die Rückenlehne gehängt, was beweist, dass er eine Weile zu bleiben gedenkt. Ich habe ihn noch nie mit einer Frau bei einem Drink sitzen sehen und nehme mir vor, ihn später damit aufzuziehen.

Es ist elf Uhr, als wir schließlich aufbrechen. Nach der Helligkeit im Pub dauert es eine Weile, bis sich meine Augen an die vollkommene Dunkelheit gewöhnt haben. Auf den Scilly-Inseln gibt es so gut wie keine Lichtverschmutzung; hier lenkt einen nichts vom Nachthimmel ab. Doch plötzlich überkommt mich wie aus dem Nichts Panik. Die Dunkelheit ist so undurchdringlich, dass uns jeder aus dem Schatten heraus beobachten könnte. Ich habe noch Goldmans Warnung im Ohr. Ich muss unvermittelt daran denken, wie ich Craig Travis einmal nachts zu einem Treffen in eine Gegend mit leerstehenden Wohnungen gefahren habe. Das war, noch bevor mir klargeworden war, wie brutal er ist. Ich konnte im Dunkeln nur Schemen erkennen, doch die Geräusche werde ich nie vergessen. Wenn man einmal gehört hat, wie ein Mann verzweifelt um sein Leben fleht, wird man das nie mehr los. Es dauerte lange, bis die Schreie verstummten. Zwei von Travis’ Schlägertypen schwangen Macheten, und es sah aus, als würden sie ihn zerstückeln.

»Ist alles in Ordnung, Ben? Du bist völlig in Gedanken.« Ninas Frage katapultiert mich zurück in die Gegenwart.

»Ach, ich musste nur gerade an was denken.«

»Du machst dir Sorgen wegen des Babys, hab ich recht? Geht mir genauso. Es wird alles verändern. An manchen Tagen bekomme ich regelrecht Panik.«

»Ich freue mich darauf.«

Sie blickt mich amüsiert an. »Typisch Ben. Bloß kein Anzeichen von Schwäche zeigen.«

»Davon habe ich jede Menge, aber mehr als alles andere möchte ich mit dir eine Familie haben, und dafür bin ich bereit, Opfer zu bringen.«

»Das ist eine gute Antwort. Vielleicht spielen nur meine Hormone verrückt.«

Als wir an dem ersten Zaunübertritt ankommen, bleiben wir stehen, um zu den Sternen hochzublicken. Ihre Hand liegt in meiner. Ich betrachte den Polarstern. Er ist der Hellste am Himmel und leuchtet neon-weiß vor funkelndem Hintergrund. Diese endlose Weite macht einen demütig, doch ich verspüre weiterhin diese innere Anspannung. Vom Meer weht noch immer keine Brise herüber. Mit Nina bin ich glücklicher, als ich es je war, trotzdem traue ich mich nicht, aufzuatmen, für den Fall, dass die fragile Brücke, die wir zwischen uns errichtet haben, ohne Vorwarnung zusammenbricht.

6

Um die Zeit totzuschlagen, hat Ruby den Abend im Kino verbracht und sich Actionfilme angeschaut. Es ist nach Mitternacht, als sie in Soho ankommt. Sie geht zu einem abends lange geöffneten Privatclub, um Ausschau nach jemandem zu halten. Die Zahl der Nachtschwärmer schwindet bereits, als Ruby sich an einem Stand, der gerade zumachen will, einen Kaffee kauft. Leute halten Taxis an oder warten auf Nachtbusse, während sie gegenüber vom Haupteingang der Bar Posten bezieht. Sie atmet ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen, und hofft, dass der Mann, den sie sucht, bald nach Hause will.

Als er zehn Minuten später die Stufen hinuntertorkelt, tritt sie ihm mit kühler Berechnung in den Weg. Er stolpert so hart gegen sie, dass sie beinahe stürzt und Kaffee über ihre Jacke schwappt. Ruby verspürt glühenden Hass, als sie zu dem ehemaligen Kumpan ihres Vaters hochblickt. Sie hat Malcom Pierce schon Jahre nicht mehr gesehen, und er erkennt sie offensichtlich nicht. Er war ein einflussreiches Mitglied in der Bande ihres Vaters, aber jetzt ist er einfach nur ein betrunkener Mann mittleren Alters in einem speckigen billigen Anzug.

»’tschuldigung, Kleines. Bin nicht mehr ganz nüchtern. Alles in Ordnung?«

»Ich werd’s überleben.« Für den Fall, dass jemand zuhört, spricht sie mit dem osteuropäischen Akzent, den sie fleißig geübt hat. »Haben Sie gefeiert?«

»Na ja, eher meine Sorgen ertränkt. Ich verbringe einfach zu viel Zeit in diesem verdammten Club.« Er fokussiert den Blick auf sie. »Du bist viel zu hübsch, um so spät noch draußen rumzulaufen.«

»Ich komme gerade von der Arbeit, bin auf dem Heimweg.«

»Warte, nimm ein bisschen Geld für die Reinigung.« Er macht einen Schritt auf sie zu und kramt nach seiner Brieftasche.

»Nein, nicht nötig. Das geht beim Waschen wieder raus.« Sie lächelt ihn versöhnlich an.

»Dann lass mich dir wenigstens ein Getränk ausgeben.«

»Aber nur, wenn das auf meinem Weg liegt.«

»Nur ganz schnell, bitte, ja? Jetzt lass mich doch nicht betteln.«

Ruby sieht den Kummer in seinen Augen und erinnert sich. Ihr Vater hat ihr erzählt, der Mann habe schon immer zu Selbstmitleid geneigt. »Einen Kaffee, mehr nicht.«

Er strahlt sie an. »Du bist ein Engel. Das wusste ich gleich, als ich dich gesehen hab.«

Pierce stützt sich auf Rubys Schulter, während sie ihn in einen Fast-Food-Laden führt, in dem es nach Speck und Bratfett stinkt. Noch bevor ihre Getränke gebracht werden, hat dieser Typ ihr schon die Ohren vollgejammert. Weil er eine sehr wichtige Entscheidung in den Sand gesetzt hat, haben sich seine Freunde von ihm abgewandt. Seitdem befindet sich sein Leben im freien Fall. Die Sache hat ihn sogar seine Ehe gekostet. Seine Kinder sieht er nur noch alle Jubeljahre.

»Die Armen! Kinder brauchen ihre Väter«, flüstert Ruby.

»Du hast eine schöne Stimme. Woher kommst du genau?«

»Aus Riga. Aber ich musste da weg. Ich bin nach London gekommen, um bessere Chancen zu haben.«

»Das wird kein Problem. So, wie du aussiehst.«

»Das ist sehr nett, vielen Dank.«

Jetzt, wo Ruby ihn an der Angel hat, konzentriert sie sich auf den nächsten Schritt. Sie tut so, als wollte sie aufbrechen, und sagt, dass sie ein paar Straßen weiter in einer WG wohnt. Pierce protestiert sofort lautstark.

»Ich bring dich da hin, Süße«, sagt er lallend. »Um die Zeit ist es nicht mehr sicher draußen.«

Sie ziert sich eine Weile und willigt schließlich ein. Er klagt ihr noch immer sein Leid, als sie ihn hinausführt. Sie folgen der Straße, bis sie an eine Gasse kommen, die sie vor Monaten bei einem ihrer Rechercheausflüge ausgesucht hat, weil dort keine Überwachungskameras sind. Bis auf einige Mülltonnen und vernagelte Fenster gibt es nichts.

»Das ist der schnellste Weg.«