Tödlich rauscht die Brandung - Kate Penrose - E-Book

Tödlich rauscht die Brandung E-Book

Kate Penrose

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Beschreibung

Ein Täter, so gefährlich wie der Ozean selbst – der 7. Band der Krimi-Reihe auf den Scilly-Inseln vor Cornwall um den charismatischen Detective Kitto Detective Inspector Ben Kitto hat sich freiwillig bei der Seenotrettung der Scilly-Inseln gemeldet und wird zu einem persönlichen Einsatz gerufen: Jez Cardew, ebenfalls Mitglied des Rettungsteams der Inselgruppe, ist auf See verschollen. Er ist ein erfahrener Kapitän und gefeierter Held - der nun selbst in Lebensgefahr ist. Als Jez' Boot zwischen St. Mary's und St. Agnes gefunden wird, ist Ben klar, dass Jez einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein muss. Und je mehr Ben sich in den Fall stürzt, umso näher kommt er selbst den gefährlichen Fluten.

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Seitenzahl: 444

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Ähnliche


Kate Penrose

Tödlich rauscht die Brandung

Ein Krimi auf den Scilly-Inseln

 

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Täter, so gefährlich wie der Ozean selbst

Detective Inspector Ben Kitto hat sich freiwillig bei der Seenotrettung der Scilly-Inseln gemeldet und wird zu einem persönlichen Einsatz gerufen: Jez Cardew, ebenfalls Mitglied des Rettungsteams, ist auf See verschollen. Er ist ein erfahrener Kapitän und gefeierter Held - der nun selbst in Lebensgefahr ist.

Als Jez’ Boot zwischen St. Mary’s und St. Agnes gefunden wird, ist Ben klar, dass Jez einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein muss. Und je mehr Ben sich in den Fall stürzt, umso näher kommt er selbst den gefährlichen Fluten.

Der siebte Band der Krimireihe auf den Scilly-Inseln mit dem charismatischen Ermittler Ben Kitto

»Die Krimis um Ben Kitto sind spannend, unterhaltsam und eine gelungene (Urlaubs-)Lektüre in illustrer Inselkulisse.« Aachener Zeitung, Franzis Hensch

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kate Penrose kennt die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls wie ihre Westentasche. Seit Kindertagen verbringt sie fast jeden Sommer dort und ist jedes Mal aufs Neue fasziniert von dem atemberaubenden Naturparadies. Die Idee für eine Krimiserie mit diesem einzigartigen Schauplatz kam ihr spontan bei einem Restaurantbesuch, und aus ein paar hastig hingekritzelten Stichworten auf der Speisekarte wurde einige Monate später der erste Insel-Krimi. Kate Penrose, die auch unter dem Namen Kate Rhodes schreibt, lebt mit ihrem Mann, dem Autor David Pescod, in Cambridge am Ufer des River Cam.

 

Birgit Schmitz hat Theater und Literatur studiert und arbeitete einige Jahre als Dramaturgin. Heute lebt sie als Literaturübersetzerin, Texterin und Lektorin in Frankfurt am Main.

Inhalt

[Widmung]

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Teil 2

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Teil 3

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

Dank

Für meine brillanten Schwiegertöchter

Jess Fulcher und Harriet Churchward.

Teil 1

»Die Höll ist ledig, und alle Teufel hier!«

William Shakespeare, Der Sturm

1

Freitag, 25. August

Jez Cardew weiß gleich, als er die Augen aufschlägt, dass er in Gefahr ist. Er liegt auf dem Rücken und ist nass bis auf die Haut, in seinem Kopf pulsiert der Schmerz. Über ihm spannt sich ein mitternachtsblaues Himmelszelt, das funkelt wie eine Kinderzeichnung mit zu viel Glitter. Die Sterne sehen verschwommen und durcheinander aus. Beim Luftholen spürt er den Geschmack von Meerwasser im Rachen. Er weiß nur noch, dass er von St. Agnes losgefahren ist, allein, mit dem Boot seines Vaters, danach setzt seine Erinnerung aus. Doch anstelle des verkratzten Lacks des alten Kajütboots spürt er glatte Glasfaser unter seinen Fingern.

Er sinkt zurück in die Dunkelheit, und als er die Augen wieder öffnet, steht eine Gestalt oben im Steuerhaus. Jez ist erleichtert; das wird ein Fischer von den Inseln sein, der ihn nach Hause bringt. Aber er versteht noch immer nicht, wie er auf das fremde Boot gekommen ist. Er verspürt einen brennenden Schmerz am Hinterkopf, und beim Versuch sich aufzusetzen wird ihm schwindlig. Als er die Wunde berührt, läuft ihm Blut über den Hals.

»Wo bin ich? Wer sind Sie?«, ruft er.

Stille hängt in der Sommerluft, der Wind hält den Atem an. Der Schattenmann antwortet nicht. Jez schaut über das Dollbord, doch unerklärlicherweise ist nirgends Land in Sicht. Die Scillys liegen so dicht beieinander, dass stets Lichter benachbarter Inseln zu sehen sind, aber jetzt ist da nur die dunkle Weite des Atlantiks.

»Bitte antworten Sie mir!«, ruft er, plötzlich verängstigt. »Wohin fahren wir?«

»Raus aufs Meer«, murmelt der Mann leise.

»Ich brauche einen Arzt.«

Lautes Gelächter erklingt. »Auf dem Atlantik wirst du keinen finden.«

Jez will aufstehen, fällt aber zurück aufs Deck. Immer wieder verliert er das Bewusstsein. Als er die Augen das nächste Mal aufschlägt, fühlt er sich endlich wieder etwas kräftiger. Das Boot liegt vor Anker. In seinem linken Handgelenk meldet sich ein starker Schmerz. Er hatte es vorher gar nicht bemerkt, aber jemand hat ein Seil darum gebunden, das ihm in die Haut schneidet und sich nicht lockern lässt. In Jez’ Verwirrung mischt sich wilde Panik. Das Boot schaukelt im Seegang von Steuerbord nach Backbord. Mit der einen Woge geht’s nach oben, mit der nächsten nach unten. In Jez’ Ohren klingt das Rauschen der Wellen wie eine leise Drohung.

»Was soll das, zum Teufel?«

Er kann den Pager erreichen, den er für den Fall, dass die Seenotrettung zu einem Einsatz ruft, immer bei sich trägt, nur nützt er ihm jetzt nichts. Der Pager dient einzig und allein dem Zweck, zu melden, dass ein Boot in Schwierigkeiten steckt, aber im Moment ist er ja derjenige, der in Not ist. Als sich die Gestalt im Steuerhaus umdreht, bekommt Jez erneut Angst. Um Einzelheiten erkennen zu können, reicht das Licht nicht aus; er kann nur lauschen, während der Mann den Anker lichtet und das Boot auf den Wellen dahintreibt. Plötzlich wird Jez an seinem freien Handgelenk hochgezogen, und als er gegen das Dollbord stößt, hört er erneut Gelächter.

»Los, du Held! Jetzt zeig mal, wie tapfer du bist!«

Jez kämpft sich mühsam in eine aufrechte Position, wird jedoch nach hinten gestoßen und fällt ins Meer. Die brutale Kälte löscht seinen Schmerz aus, und das tosende Wasser dröhnt ihm so hässlich in den Ohren wie höhnende Fußballfans im Stadion. Jez spuckt Wasser und strampelt, um nicht unterzugehen. Er ist mit dem linken Arm am Dollbord festgebunden, und plötzlich fährt der Fremde den Motor hoch. Jez kämpft darum, den Kopf über Wasser zu halten, während er hinter dem Boot hergezogen wird. Er darf nicht sterben, nicht so; noch bevor er dreißig Jahre alt ist, in einer ruhigen Augustnacht. Er hat doch gerade erst seinen Weg gefunden.

Zehn Meter weiter kommt das Boot wieder zum Stehen; seine Lichter strahlen wie ein Leuchtfeuer, das Sicherheit verheißt, doch der Mann an Bord scheint entschlossen zu sein, ihm beim Ertrinken zuzusehen.

Jez zerrt an dem Seil an seinem Handgelenk, aber der Knoten löst sich nicht. Bei der Ausbildung zum Seenotretter wurde ihm beigebracht, in einer Krise mit seinen Kräften zu haushalten. »Legt euch auf den Rücken und lasst euch treiben wie ein Seestern«, hatte der Ausbilder gesagt, doch sein Instinkt befiehlt ihm, in Bewegung zu bleiben, um die Kälte abzuwehren. Vielleicht steckt ein Kumpel mit einem kranken Sinn für Humor hinter all dem. Jez schafft es, sich an dem Seil zurück zum Boot zu ziehen, aber als er an Bord klettern will, tritt der Mann ihn weg. Die Panik schwächt ihn. Es ist weiterhin kein Land in Sicht; er hofft die ganze Zeit, wenigstens den Zipfel einer Insel zu erblicken, aber da ist meilenweit nichts als Wasser.

Als das Boot nach vorn schießt, schreit er um Hilfe, doch seine einzigen Zeugen sind die Wellen und der Himmel. Die Strömung zieht ihn unter Wasser. Durch seinen Kopf hallt der Choral, der bei der Beerdigung seiner Großmutter gesungen wurde. O ewig Gott, mit starker Hand hältst Du die See in Rand und Band … Die Melodie geht weiter, der Text wird jedoch vom Lärm des auf Hochtouren laufenden Motors übertönt. Über seinem Kopf türmen sich schwarze Wellen auf; er ringt nach Luft, aber der mächtigen Umarmung des Meeres kann niemand widerstehen.

2

Samstag, 26. August

Ich kann mir an einem dienstfreien Spätsommermorgen schönere Beschäftigungen vorstellen, aber ich stehe wie eine Vogelscheuche mit ausgestreckten Armen in Janet Fearnleys Wohnzimmer in Hugh Town und lasse mich von ihr mit Stecknadeln pieksen. Ich sollte dankbar sein, dass die beste Schneiderin der Scilly-Inseln nur eine Woche vor dem großen Tag meinen Hochzeitsanzug zu ändern bereit ist, doch ich wäre lieber am Strand. Eddie Nickell, mein jüngerer Kollege bei der Inselpolizei, grinst mich von seinem Platz in der Ecke aus an. Auch wenn er mir mit seinem sonnigen Gemüt manchmal auf die Nerven geht, haben wir uns angefreundet, seit er zu unserem Team hier vor Ort gestoßen ist. Wir schwimmen beide leidenschaftlich gern im Meer und sehen uns noch häufiger, seit wir beide Mitglieder der Seenotrettung geworden sind. Eddie hat eingewilligt, mein Trauzeuge zu werden, da mein Bruder Ian seine Anreise etwas knapp kalkuliert hat und erst wenige Stunden vor der Hochzeit aus Amerika einfliegen wird. Eddie ist schlank, und sein Anzug passt noch wie angegossen, während ich armes Schwein diese Prozedur mit den Nadeln über mich ergehen lassen muss. Das ist das erste Mal, dass er mitbekommt, wie ich mich um ein gepflegtes Äußeres bemühe, und es scheint ihn ohne Ende zu amüsieren. Die Hitze steigert mein Unwohlsein noch. Es ist erst zehn Uhr, aber mir wird minütlich heißer, obwohl das Fenster weit offen steht.

»Mein Mann war genauso wie Sie. Den zog es auch ständig raus«, sagt Janet. »Für Trevor war nichts schlimmer, als drinnen eingesperrt zu sein. Machen Sie dieses Jahr wieder beim Insel-Schwimmwettbewerb mit?«

»Angemeldet bin ich, aber seit Noah da ist, komme ich nicht mehr zum Trainieren.«

»Wie alt ist er jetzt?«

»Drei Monate und putzmunter.«

»Dann müssen Sie ihm das Schwimmen beibringen.«

»Ja, er liebt das Wasser schon jetzt.« Ich beobachte, wie Janets Hände über den Stoff fliegen. »War es sehr viel Arbeit, das Festival der Seenotrettung zu organisieren, Janet?«

»Ja, das hat schon einige Zeit in Anspruch genommen, zumal es ja auf allen Inseln Events geben soll, aber wir haben einen guten Start hingelegt.«

Ich sehe eine Kiste mit Ansteckern der Royal National Lifeboat Institution auf ihrem Tisch. »Haben Sie mir davon neulich ein paar geschickt?«

»Ich hab auch welche bekommen«, wirft Eddie ein. »Und es lag ein Zettel dabei mit einem Strichmännchen, das an einem Mast baumelte, so als hätte ein Kind Galgenmännchen gespielt. Sollte wohl eine Art Scherz sein.«

Janet schaut ihn überrascht an. »Das ist ja komisch. Ich hab tausend Stück von den Ansteckern machen lassen. Als Give-away für Spendenaktionen. Aber im Planungsausschuss war keine Rede davon, dass sie auch verschickt werden sollen.«

»Bei mir lag kein Zettel dabei«, sage ich. »Vielleicht sind die Anstecker für die Kinder auf unseren Inseln gedacht. Offenbar tragen die meisten Familien ja irgendwas zu dem Festival bei.«

»Wir sind wild entschlossen, die Spendensumme, die beim letzten Mal zusammenkam, dieses Jahr noch zu toppen.«

»Das tun Sie doch jedes Mal.«

»Seit ich Trevor verloren habe, ist mir das wichtiger denn je.«

»Alle wissen die Arbeit sehr zu schätzen, die Sie leisten, Janet.«

Ihr Mann ist erst letztes Jahr gestorben. Er kam ums Leben, als er allein zum Angeln aufs Meer rausgefahren war. Aber ihre Trauerzeit ist inzwischen vorbei, zumindest in der Öffentlichkeit. Obwohl sie bereits über siebzig ist, schneidert sie immer noch makellose Hochzeitskleider und Anzüge. Während der halben Stunde, die es jetzt schon dauert, meine Anzugjacke anzupassen, hat sie unentwegt gelächelt. Janet ist eine typische Scillonierin; sie hat ihr ganzes Leben hier verbracht und legt in guten wie in schlechten Zeiten einen unerschütterlichen Optimismus an den Tag. Vielleicht helfen ihr die Klassiker in ihrem Bücherregal dabei, diese entspannte Haltung aufrechtzuerhalten. Dort sehe ich Das verlorene Paradies, Romeo und Julia und mehrere Gedichtsammlungen.

Als ich aus dem Fenster blicke, verkaufen drei Insulaner Kuchen und hausgemachte Limonade am Straßenrand. Ihr Verkaufsstand ist Bestandteil des einwöchigen Festivals der Seenotrettung. Außerdem gibt es im Gemeindehaus Stand-up-Comedy und eine Theateraufführung von und mit Kindern von hier, einige Gigs in den örtlichen Pubs sowie mehrere Basare. In Janets Wohnzimmer sind überall Zeugnisse ihres großen Engagements verstreut: aufgerollte Poster, Verlosungspreise und stapelweise Flyer.

»Freuen Sie sich denn auf die Hochzeit, Ben?«

»Dieses ganze Rausputzen ist ja nicht so meins. Das Picknick am Strand ist eher mein Stil. Ich hoffe, Sie kommen auch?«

»Das lasse ich mir um nichts auf der Welt entgehen. Ninas Kleid ist ein Traum, wenn ich das mal so sagen darf. Sie wird eine perfekte Braut abgeben.« Janet zeigt auf den Spiegel. »Schauen Sie jetzt mal, Ben.«

Ich verbringe nicht viel Zeit vor dem Spiegel, und das aus gutem Grund. Da mein Sohn ein Frühaufsteher ist, ist mir deutlich anzusehen, dass Schlafmangel für mich die neue Normalität ist. Aus Janets Ganzkörperspiegel blickt mir ein Hüne mit einer wilden schwarzen Mähne und dunklen Schatten unter den Augen entgegen; er geht auf die Vierzig zu und hat einen hässlichen Bartschatten. Eddie scheint einer höherentwickelten Spezies anzugehören. Er sieht sonnengebräunt und entspannt aus, während ich finster dreinblicke.

»Die Anzugjacke ist super«, sage ich. »Über den Rest schweigen wir lieber.«

Janet verdreht die Augen. »Keine falsche Bescheidenheit, bitte. Sie und Nina sollten für Bride and Groom modeln.«

»Im Augenblick könnte ich als Höhlenmensch durchgehen.«

»Eher als Poldark, würde ich sagen. Noch zwei Minuten, dann sind Sie entlassen.«

Ihre Finger bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit und zupfen hier und stecken da fest, während ich die Arme weiter nach oben recke.

Draußen kann ich meine Zukünftige sehen. Nina steht mit unserem Sohn, der im Buggy sitzt, ein Stück weiter den Strand von Hugh Town hinunter, ihre schokobraunen Haare glänzen in der Morgensonne. Ich beobachte, wie sie sich bückt und Noah einen Stein oder eine Muschel zeigt, die sie aus dem Sand gezogen hat. Es ist eine Erleichterung, sie gesund und munter vor mir zu sehen. Bei Noahs Geburt vor drei Monaten wäre sie fast gestorben, aber darauf würde heute niemand mehr kommen. Das Muttersein steht ihr, und Noah ist ein zufriedenes Kind. Jeden Morgen wacht er um vier Uhr auf und ist bereit für die Abenteuer, die das Leben zu bieten hat. Ich kann nicht erklären, warum sich unsere Familie für mich immer noch wie ein Kartenhaus anfühlt. Vielleicht liegt es daran, dass die Kardiologin in Penzance darauf besteht, Nina, auch wenn sie fit und gesund wirkt, alle drei Monate zu untersuchen, um ihre Herzfunktion zu überprüfen. Auch mein Wolfshund Shadow ist beunruhigt; obwohl er sonst am liebsten über die Insel streunt, weicht er Nina nicht von der Seite, sein helles Fell ist mit Salzwasser vollgesogen.

»Es ist zu ruhig da draußen«, murmele ich leise.

»Wie meinen Sie das?« Janet schaut zu mir hoch.

»Es weht nicht mal ein Lüftchen, alles steht still.«

»Es ist ein schöner Sommertag. Genießen Sie ihn, solange er dauert.«

Während sie an dem mittelblauen Stoff, den ich für mich und meinen Onkel Ray ausgesucht habe, ihre Wunder vollbringt, lasse ich die Aussicht auf mich wirken. In der Ferne schimmern die anderen Inseln unter einem Dunstschleier. Der Atlantik liegt vollkommen ruhig da wie ein mit flüssigem Silber gefülltes Becken. Einige Inselkinder bauen Sandburgen am Strand, offensichtlich glücklich darüber, dass die Schule erst in zwei Wochen wieder anfängt.

»Dauert nicht mehr lange, wir sind so gut wie fertig«, sagt Janet.

Plötzlich ertönt ein Piepton, der meinen Adrenalinpegel hochschnellen lässt. Mein Instinkt befiehlt mir, die Jacke sofort auszuziehen, wodurch ein Teil der Nadeln zu Boden fällt. Eddies Pager von der Seenotrettung bildet ein Echo zu meinem, mein Kollege ist bereits aufgesprungen. Wenn wir auf den anderen Inseln unterwegs sind, verpassen wir die Einsätze meistens, aber heute werden wir es schaffen, rechtzeitig dort zu sein. Janet bleibt ruhig, als ich mich für unseren überstürzten Aufbruch entschuldige. Jeder Insulaner kennt den Alarmton der Seenotrettung, und Janet leitet schon seit Jahren das Unterstützerteam. Sie wünscht uns Glück, als wir ihre Wohnung an der Fore Street im Laufschritt verlassen, und ich rufe ihr noch zu, dass sie bitte Nina darüber informieren soll, wo ich abgeblieben bin.

Wir sind nur wenige Minuten von dem zweihundert Jahre alten Rettungsbootschuppen entfernt, der auf einem Felsen über dem Hafen von Hugh Town liegt. Nina wird nicht begeistert sein, dass ich erst spät nach Hause komme. Ich habe die ganze Woche Urlaub und hatte ihr versprochen, alles Mögliche für die Hochzeit mit unserem Boot nach Bryher zu bringen. Doch es lässt sich nicht ändern. Ich bin der Crew im vergangenen Jahr beigetreten. Seit Noahs Geburt hat sich meine Bereitschaft, Risiken einzugehen, jedoch verändert. Ich schiebe meine Zweifel beiseite, als wir in den Schuppen stürmen. Wir gehören zu den Ersten, die eintreffen, also werden wir auch ganz bestimmt an der Mission teilnehmen, egal, ob die Sache ernst ist oder nicht.

Der Bootsführer, Liam Quick, ist zu sehr damit beschäftigt, sein Ölzeug anzuziehen, um uns zu begrüßen. Liam ist um die fünfzig, hat eine athletische Figur, das wettergegerbte Gesicht eines Seemanns und ein flüchtiges Lächeln. Er ist der einzige Vollprofi der Inselmannschaft. Wir wissen alle, mit wie viel Herzblut er seinen Beruf ausübt; er nimmt jeden Einsatz ernst, auch wenn nur geringe Lebensgefahr besteht. Der Lautsprecher der Küstenwache gibt in voller Lautstärke die nautischen Koordinaten eines vermissten Bootes durch. Beim Anziehen der Ausrüstung komme ich noch mehr ins Schwitzen. An einem heißen Tag wie diesem ist das wirklich eine Strafe. Das gelb-schwarze Ölzeug ist am Hals und an den Handgelenken extra abgedichtet, damit kein Wasser eindringen kann, und die Stiefel haben Stahlkappen. Eine Spezial-Rettungsweste für Seenotretter und ein Gecko genannter Schutzhelm vervollständigen die Ausrüstung.

Ich bin bereits nass geschwitzt, als das nächste Crewmitglied eintrifft. Constable Isla Tremayne ist außer Atem, weil sie hierher gesprintet ist. Unser Boss wird außer sich sein, dass der Großteil seines fünfköpfigen Polizeiteams an einer Rettungsmission teilnimmt, aber worüber regt Madron sich nicht auf. Als Nächster kommt mein Schulfreund Paul Keast an. Ich bin erleichtert, ihn zu sehen. Er ist seit zwanzig Jahren bei der Seenotrettung und in jeder Krisensituation ein Fels in der Brandung. Beim Eintreffen der nächsten beiden Teammitglieder lausche ich gerade dem Briefing des Bootsführers, so dass ich nicht mitbekomme, wer es ist, aber der Einsatz ist bereits angelaufen. Vor der Küste von St. Agnes wird ein Boot vermisst, und es wird vermutet, dass sich zwei Männer von den Inseln an Bord befinden.

Da das Haupt-Rettungsboot in der Bucht vor Anker liegt, müssen wir uns in unser Spezial-Schnellboot quetschen, um dort hinzugelangen. Die Organisatoren des Festivals werden sich freuen, dass die Passanten uns in Aktion sehen, weil das zu großzügigeren Spenden führt. Ich spüre, dass ich aufgeregt bin, als das Boot über die Slipanlage ins Hafenbecken gleitet. Mein ganzer Körper vibriert, während wir in vollem Tempo übers Wasser schießen, und kurz darauf erreichen wir das Rettungsboot der Inseln. Sein siebzehn Meter langer Rumpf ist dunkelblau, aber das Vorderdeck und das Steuerhaus sind in dem für die RNLI charakteristischen leuchtenden Orange gehalten, das das Boot über Meilen hinweg sichtbar macht. Alle Seeleute verbinden mit dieser leuchtkräftigen Farbe das Gefühl von Sicherheit, selbst wenn das Rettungsboot in einem Sturm der Windstärke neun nur stecknadelgroß am Horizont zu sehen ist.

Nachdem wir an Bord gegangen sind, hält sich jedes Crewmitglied genauestens an seine eingeübte Rolle. Liam ist Skipper und Stuart Cardew für die Navigation zuständig; als der Motor startet, ist sein Blick bereits auf das GPS-System gerichtet. Ich verbleibe in meiner Funktion als Springer im Steuerhaus, um Mitteilungen an den Rest der Crew weiterzugeben. Als der Zweizylindermotor hochfährt, halte ich mich am Handlauf fest. Der Motor ist so stark, dass der Boden bebt. Das Bugstrahlruder springt ebenfalls an und verleiht uns zusätzlichen Schub, während wir auslaufen, um das havarierte Gefährt ausfindig zu machen. Unsere Höchstgeschwindigkeit von fünfundzwanzig Knoten in der Stunde ist innerhalb kurzer Zeit erreicht, und außer dem Dröhnen des Motors kann ich durch meinen Gecko nicht viel hören. Wir haben den St.-Mary’s-Sund blitzschnell durchquert, und nun ragen bereits die Spitzen der Bartholomew Ledges wie schwarze Zähne aus dem Meer. Sie erinnern uns daran, welche Gefahren im Meer rund um die Scilly-Inseln lauern. Da die Inseln selbst die Gipfel einer untergegangenen Bergkette darstellen, befinden sich knapp unterhalb der Wasseroberfläche Hunderte Felsspitzen. Kein Seemann kann sich hier nur auf sein GPS-System verlassen, wenn er dem Untergang entgehen will, sondern er muss auch etwas von den Gezeiten verstehen.

Über Funk dringt eine blecherne Stimme an mein Ohr, die meldet, dass der Rettungshubschrauber gestartet sei. Für den Flug vom Festland hierher wird er eine Viertelstunde brauchen. Jetzt kommen auch gleich weitere Infos über Funk. Zwei Männer haben St. Agnes gestern am späteren Abend mit einem Kabinenkreuzer verlassen, der bislang nirgendwo mehr aufgetaucht ist. Mir erscheint das seltsam. Warum sollte ein Boot bei ruhiger See Probleme bekommen? Wenn der Motor versagt hat, hatten die Männer doch sicher ein Handy dabei oder konnten über Funk Hilfe holen.

Als ich wieder aus dem Fenster schaue, sind die Inseln verschwunden. Wir fahren in westlicher Richtung aufs offene Meer hinaus. Die See tut ganz unschuldig; sie erinnert eher ans Mittelmeer als an den kalten Atlantik. Ihre blaue, sonnenbeschienene Oberfläche ist spiegelglatt, und es sind keine anderen Boote in Sicht.

3

Sam Austell kommt zu spät für den Einsatz. Das Rettungsboot ist bei seinem Eintreffen nur noch ein orangefarbener Fleck am Horizont. Er wäre zu gern mit an Bord. Es halten sich noch zwei andere Männer im Bootsschuppen auf, um sich über die Mission auf dem Laufenden zu halten, und ihre Körpersprache macht deutlich, dass Sam nicht willkommen ist, obwohl er seit einem halben Jahr zur Crew gehört. Als er sich die Koordinaten anschaut, die die Küstenwache durchgegeben hat, fällt sein Blick auf die Reflexion seines Gesichts auf Computerbildschirm. Er ist blass und mager, wenngleich er Mitte zwanzig ist und gut auf sich achtgibt. So ähnelt er noch immer den Drogendealern, mit denen er in Penzance herumgehangen hat, bevor er eine Zeitlang im Gefängnis saß. Und es ist wenig erstaunlich, dass einige aus der Seenotrettungs-Crew nicht wollten, dass er zu ihnen stößt.

Als er sich umschaut, erinnert so manches in dem Raum daran, dass Ortsansässige hier seit hundertfünfzig Jahren ihr Leben als freiwillige Seenotretter riskieren. Die Gewässer rund um die Inseln gehören zu den gefährlichsten des Vereinigten Königreichs, vor allem im Winter, wenn vom Atlantik her scharfer Wind landeinwärts bläst. Ein Foto an der Wand zeigt den Leuchtturm auf dem Bishop Rock drei Meilen westlich von den Scilly-Inseln; obwohl er fünfzig Meter hoch ist, sieht man auf dem Bild, wie eine Riesenwelle über ihn hinwegfegt. Auf der Tafel daneben ist jede einzelne Rettungsmission des letzten Jahrhunderts verzeichnet, die Leben gekostet oder gerettet hat. Auch die Namen der Freiwilligen, die Tapferkeitsmedaillen bekommen haben, sind dort zu lesen. Es ist eine Auflistung derer, die Großes auf den Inseln und für die Inseln geleistet haben. Sam möchte eines Tages auch zu diesen Helden gehören – wenn er die Crew erst einmal dazu bringen kann, ihn anzuerkennen. Als er nach Einzelheiten des aktuellen Einsatzes fragt, antwortet ihm nur ein einziger Mann. Die anderen schauen ihn verdrießlich an, als würde Scheiße an seinen Schuhen kleben.

»Dein Freund Jez Cardew wird vermisst, mit dem Boot seines Vaters.«

Sam ist zu geschockt, um etwas zu erwidern. Er war gestern Abend bis ungefähr neun Uhr mit Jez zusammen, aber er hat nicht gehört, wie er nach Hause gekommen ist. Sie teilen sich ein Haus mit ihrem Vermieter. Nachdenklich geht er nun dorthin zurück.

Am Hugh Town Beach sind zahlreiche Fischerboote verstreut. Sie sind gestrandet, seit die Flut zurückgewichen ist, und ihre Verankerungsleinen liegen schlaff auf dem Sand. Familien spazieren Eis essend durch den Sonnenschein, so als wäre die Welt vollkommen in Ordnung. Sam starrt auf die flachen Wellen und hofft, dass sein Freund in Sicherheit ist. Dann nimmt er die friedliche Stimmung noch einmal in sich auf und macht sich auf den Heimweg. Eine Frau kommt auf ihn zu. Als sie mit einer Spendendose rasselt, auf der das Logo des RNLI steht, steckt er instinktiv ein bisschen Kleingeld in den Schlitz. Schließlich könnte auch er die Hilfe der Seenotrettung eines Tages brauchen.

Seine Bleibe sieht von außen noch am besten aus. Es ist ein zweigeschossiges, aus dem grauen Gestein der Insel erbautes Haus auf der Quay Street, das früher wahrscheinlich mal ein Fischerhäuschen war. Heute gehört es Callum Moyle, und Sam ist dankbar dafür, dass Moyle ihm und Jez nicht nur Jobs auf dem Bau, sondern auch eine Unterkunft bietet. Nicht viele Leute von der Insel würden einen ehemaligen Häftling bei sich aufnehmen. Das Haus ist kein Palast, aber momentan seine einzige Option. Die Blumentapete im Wohnzimmer hätte eigentlich schon vor Jahrzehnten ersetzt werden können; es riecht nach Tabak und abgestandenem Bier, und der Couchtisch verschwindet förmlich unter alten Pizzakartons. Der Teppich ist fleckig und voller Sand, der vom Strand hereingetragen wurde.

Er späht oben in Jez’ Zimmer. Dort herrscht wie immer Chaos. Die Tür ist weit geöffnet, und Jez’ komplettes Leben liegt offen zutage. Neben den Stiefeln mit den Stahlkappen, die er auf dem Bau trägt, stapelt sich Kleidung auf dem Boden. Sam zieht es vor, Ordnung zu halten. Das hat er im Gefängnis gelernt.

Als er sein Zimmer betritt, bemerkt er sofort, dass etwas fehlt. Eigentlich müsste sein Handy auf dem Nachttisch liegen. Noch während er danach sucht, klopft es laut an der Tür. Und bevor er reagieren kann, steht Callum Moyle schon im Zimmer, was Sam gar nicht gefällt. Sein Vermieter legt selten Wert auf Förmlichkeiten, und Sam weiß, dass es schon seit Monaten Spannungen zwischen ihm und Jez gibt. Moyle ist Ende dreißig, also gut zehn Jahre älter als seine beiden Untermieter, und von kräftiger Statur. Viele Jahre körperlicher Arbeit haben ihm einen Stiernacken und ausgeprägte Muskeln beschert, sein braunes Haar trägt er raspelkurz. Wegen seiner schroffen, aggressiven Art hat er nur wenig Freunde. Sam kann nicht verstehen, warum ein Mann, der ein Haus und eine zwar kleine, aber erfolgreiche Baufirma besitzt, ständig unzufrieden zu sein scheint. Moyles Augen sind blutunterlaufen, was beweist, dass er gestern Abend zu lange im Pub war, sein Lächeln ist eher ein höhnisches Grinsen.

»Wo steckt Loverboy denn?«, fragt er.

»Irgendwo auf dem Boot seines Vaters. Die Seenotrettung sucht gerade nach ihm.«

»Beschissenes Timing«, sagt Moyle, und sein Grinsen verschwindet. »Das macht mir einen fetten Strich durch die Planung für heute. Ich will, dass diese Küche fertig wird, und zwar pronto.«

»Er wird schon die ganze Nacht vermisst, Callum. Er könnte in Schwierigkeiten sein.«

»Na und? Ich hab trotzdem einen Vertrag zu erfüllen.«

»Du hast uns das Wochenende freigegeben.«

»Planänderung, wir müssen weitermachen. Den Morgen kannst du haben, aber um zwei bist du da, alles klar? Und bring seine Lordschaft mit, wenn er von seinem Abenteuer zurück ist.« Moyle nimmt einen wattierten Umschlag vom Tisch und drückt ihn Sam in die Hand. »Das ist übrigens gestern für dich gekommen.«

Moyle stolziert davon, und Sam fühlt sich hilfloser denn je. Er braucht die Arbeit, selbst wenn das bedeutet, dass er nie Freizeit hat. Er kann immer noch nicht glauben, dass Jez verschwunden ist, und jetzt ist auch noch sein Handy weg, in dem sein ganzes Leben steckt. Er muss es gestern Abend irgendwo verloren haben.

Sam öffnet den Umschlag. Der Inhalt ergibt keinen Sinn: Eine Handvoll RNLI-Anstecker und ein handbeschriebener Zettel mit einer Galgenmännchen-Zeichnung oben in der Ecke. Ein Strichmännchen baumelt an einem Strick, sein Kopf hängt leblos herab. Darunter steht in ungleichmäßigen Großbuchstaben:

»AM UFER HALB, HALB SCHON ZUR SEE

REIZT, LOCKT SIE NUR DAS NEUE.«

Warum schickt ihm jemand eine anonyme Nachricht, die keinen Sinn ergibt?

Er schaut aus dem Fenster. Der Hafen von Hugh Town liegt ruhig da. Die malerischen Fischerhäuschen sind durch den langen Kai vor der Flut geschützt, trotzdem hat Sam sich noch nie so verwundbar gefühlt.

4

Der Himmel ist noch immer wolkenlos. Wir fahren über flache Wellen. Isla und Paul sind an Deck gekommen, um besser Ausschau halten zu können, da die Bullaugen unten aus sicherheitstechnischen Gründen nur eine eingeschränkte Sicht bieten. Jedes Detail dieses Bootes wurde bis zur Belastungsgrenze getestet, und ich weiß, dass es so gut wie unsinkbar ist; es richtet sich von selbst wieder auf, sogar unter den schlimmstmöglichen Seeverhältnissen und auch, wenn es teilweise überflutet ist. Es hat eine 360-Grad-Rolle hingelegt, ohne dass an Crew oder Ausrüstung größerer Schaden entstanden ist. Obwohl es sich anfühlte, als wären wir in einer riesigen Waschmaschine eingeschlossen, sind wir mit ein paar Schrammen davongekommen.

Als ich mich an Deck umschaue, ist alles in Ordnung. Das Boot ist mit einem Hydraulikkran ausgestattet, mit dem das kleine Schlauchboot zu Wasser gelassen werden kann, das für Höhlenrettungen gebraucht wird oder um an Land zu gehen. Außerdem gibt es Dutzende Rettungswesten und Bojen an Bord, aber eigentlich ist es nicht das Boot, das mir Sorgen bereitet. Die Küstenwache hat uns mitgeteilt, dass zwei junge Männer auf einem Boot vermisst werden, das letzte Nacht in St. Mary’s zurückerwartet wurde, und bereits zu Schaden gekommen sein könnten. Wir sind nicht weit von der Schifffahrtsroute über den Atlantik entfernt, auf der jedes führerlos dahintreibende Boot in Gefahr ist. In den letzten zehn Jahren sind mehrere kleinere Gefährte von Frachtern zerteilt worden. Frachtschiffe sind so schwer und so schnell unterwegs, dass sie eine Meile brauchen, um ihr Tempo zu verlangsamen, und bei schlechter Witterung werden Fischerboote manchmal zu spät oder gar nicht gesichtet. Mein Blick klebt an der Wasseroberfläche. Jedes vorbeitreibende Holzstück wäre ein schlechtes Zeichen, aber bislang ist nichts zu sehen.

Der Rettungshubschrauber fliegt bereits dröhnend über uns, der Wind der Rotoren bläst mir heiße Luft ins Gesicht und kräuselt die Wasseroberfläche. Der Heli kann bis zu drei Stunden und über eine Reichweite von zweihundert Meilen bei der Suche helfen, dann muss er wieder aufgetankt werden. Die Crew in der Luft hat bessere Chancen, das Boot oder einen Verunglückten zu entdecken als wir, denn sie verfügt über eine Wärmebildkamera, die Schwimmer als rote Punkte auf dem kalten Wasser anzeigt. Mein Blick gleitet über den Horizont, aber es dauert nicht lange, bis meine Augen mir Streiche spielen. Das blendende Sonnenlicht macht das Abschätzen von Entfernungen zu einer Herausforderung. Bei der kleinsten Welle glaubt man einen Körper zu sehen, der auf dem Wasser treibt.

Sobald wir langsamer werden, gehe ich zurück ins Steuerhaus; wir folgen dem Kurs, den ein manövrierunfähiges, der Strömung ausgeliefertes Boot letzte Nacht genommen hätte. Der Skipper hält beide Hände am Steuerrad und schaut starr geradeaus. Liam Quicks hervorragendes Sehvermögen hat ihm den Spitznamen Adlerauge eingebracht, da er schon viele Opfer im Wasser entdeckt hat. Ich sehe, wie ruhig er nach Hunderten solcher Missionen bleibt. Stuart Cardew wirkt sehr viel weniger entspannt. Der grundsympathische Mittfünfziger ist auf den Inseln allgemein bekannt. Er unterrichtet Musik an der Five Islands School und spielt einmal im Monat Volkslieder in einem örtlichen Pub. Ich hab ihn schon als Teenie auf seiner Gitarre schrammeln hören. Er trägt sein graues Haar stets zum Pferdeschwanz gebunden, und sein Vollbart lässt ihn aussehen wie Käpt’n Iglo. Doch heute ist nichts von seiner üblichen Lässigkeit zu spüren. Er ist grau im Gesicht und behält auf der Suche nach Echozeichen auf dem Radar den GPS-Tracker im Blick. Als ich ihn an der Schulter berühre, zuckt er zusammen.

»Alles in Ordnung, Stuart?«

»Ich hatte schon bessere Tage. Meine Frau weiß nicht, dass ich hier bin.«

»Möchtest du, dass ich das Navigieren übernehme, damit du sie anrufen kannst?«

»Ich möchte mich lieber beschäftigen.«

Bei mir fällt erst der Groschen, als ich erneut seine verkniffene Miene betrachte. »Ist das vermisste Boot etwa deines?«

»Mein Sohn hat es sich für einen Ausflug nach St. Agnes mit Sam Austell ausgeliehen.« Die Falten auf seiner Stirn werden noch tiefer. »Er hatte versprochen, dass es heute Morgen wieder im Hafen von Hugh Town ist, aber da ist es nicht. Und die beiden gehen auch nicht an ihre Handys.«

»Bist du sicher, dass sie nicht über Nacht auf St. Agnes geblieben sind?

»Ich hab schon überall angerufen. Niemand hat das Boot gesehen.«

»Weißt du noch, der Notruf im letzten Jahr, als eine Jacht von ihrem Liegeplatz abgetrieben ist? Wir haben stundenlang nach ihr gesucht, dabei saß der Skipper bei bester Gesundheit mit seinen Freunden beim Mittagessen an Land.«

»Hoffen wir mal, dass du recht hast.«

»Jez kennt sich aus, er weiß sich zu helfen, Stuart. Er hat eine Medaille bekommen, schon vergessen?«

Seine Stirn glättet sich nicht. »Das Problem ist, dass ich Sam in einer Krisensituation nicht traue.«

»Mach dir keine Sorgen. Er hat die RNLI-Prüfung mit Bravour bestanden.«

Aber Cardew scheint gegen Tröstungen immun zu sein, und bevor sein Boot nicht wieder aufgetaucht ist, helfen alle Beschwichtigungen nichts. Er bleibt hundertprozentig auf die pulsierenden grünen Punkte auf dem Bildschirm konzentriert, als hätte er vergessen, wie man blinzelt.

Wenn wir zwei unserer jüngsten Freiwilligen verlieren würden, hätte das eine verheerende Wirkung auf die Crew. Einige aus der Mannschaft waren nicht sonderlich angetan, als Sam Austell zur Seenotrettung stieß, aber Jez hat die höchste Tapferkeitsmedaille der RNLI verliehen bekommen, weil er unter schwierigsten Bedingungen auf einen sinkenden Trawler aufgesprungen ist. Doch Heldentum spielt heute keine Rolle. Wir verstehen uns ohne Worte; das regelmäßige Training, gemeinsame Ziele und unzählige gemeinsam absolvierte, gefährliche Rettungsmissionen haben uns zusammengeschweißt. Ich betrachte das Team als eine erweiterte Familie.

Jez Cardew ist Eddies Cousin und hat denselben Blondschopf und dasselbe gute Aussehen. Er ist Ende zwanzig, Bauarbeiter von Beruf und, wie alle Männer seiner Familie, mit vollem Herzen dabei, wenn es um die Seenotrettung geht. Alle anderen Dinge in seinem Leben scheint er eher entspannt anzugehen. Sam Austell dagegen ist ein anders gelagerter Fall. Er war schon immer eine unruhige Seele. Vor einigen Jahren ist sein Leben aus dem Ruder gelaufen, und er hat auf dem Festland wegen Drogenhandels im Gefängnis gesessen. Nach seiner Entlassung hatte ich einige Mühe, die Crew dazu zu bringen, ihn als neues Mitglied zu akzeptieren. Ich war der Meinung, dass ihm das helfen wird, sich wieder in die Gemeinschaft zu integrieren, und irgendwann haben die anderen zugestimmt, aber es gibt noch immer Einzelne, die diese Entscheidung anzweifeln.

Michael Kerrigan ist das erste Crew-Mitglied, das ich unten im Schiffsraum treffe. Er ist der einzige katholische Priester der Inseln, wird von allen Father Mike genannt und gilt als vertrauenswürdig. Es ist ungemein hilfreich, dass er immer ansprechbar ist. Er ist in seinen Fünfzigern, gibt sich aber immer noch als Schiedsrichter bei den örtlichen Fußballspielen her und besucht an den meisten Wochenenden das Ship, ein Pub, um Darts zu spielen und in Ruhe ein Pint zu trinken. Er hat mir mal erzählt, dass die Leute bei einem Drink leichter über ihren Kummer reden können als im Beichtstuhl. Jetzt lächelt er mir zu und checkt dann sein Handy, als würde er sich um Gemeindemitglieder sorgen, die ihn brauchen könnten, auch wenn wir meilenweit von der Küste entfernt sind.

Eddie steht am Fenster, seine Nase ist nur Millimeter von der Scheibe entfernt. Mein Deputy sieht nicht mehr wie ein strebsamer Schüler aus, der auf gute Noten hofft. Mit hängenden Schultern dreht er sich zu mir um. Er muss bereits von den schlechten Nachrichten über seinen Cousin gehört haben.

»Ich hab Jez gestern Abend noch gesehen, er war mit Sam Austell im Turk’s Head«, sagt er.

»Wann war das?«

»Gegen acht. Michelle und ich sind nach St. Agnes rübergeschippert. Jez war schon da, als wir kamen. Außer bei Einsätzen hab ich ihn in letzter Zeit kaum mal gesehen.«

»Ihr wirkt immer so, als würdet ihr euch gut verstehen.«

»Abends hält mich Lottie meistens auf Trab, aber Jez ist für mich wie ein Bruder.« Sein Blick wandert wieder aufs Wasser hinaus. »Wir waren in derselben Klasse. Ich hab vorhin eben die GPS-Koordinaten von seinem Handy überprüft, doch es sendet kein Signal.«

»Vielleicht ist es ausgeschaltet. Hast du gestern Abend auch mit Sam gesprochen?«

Er schüttelt den Kopf. »Der war in seiner eigenen Welt. Ich glaube, er ist früh wieder gegangen.«

»Versuch mal, ihn zu erreichen. Wenn dein Akku noch nicht leer ist.«

»Ich hab vorhin mit Callum Moyle gesprochen. Er sagt, Sam wäre früh nach Hause gekommen, aber Jez hätte er nicht gesehen.«

»Hast du dem Bootsführer erzählt, dass Sam an Land ist?«

»Noch nicht.«

»Dann gebe ich ihm und Stuart Bescheid. Hast du Jez denn gestern Abend vom Pub wegfahren sehen?«

Er schüttelt den Kopf. »Wir waren drinnen, zum Bezahlen. Ich ruf noch andere an, ob sie mehr wissen.«

Eddie greift wieder nach seinem Handy – er läuft immer zu Hochform auf, wenn er eine Aufgabe hat –, aber oben an Deck ruft jemand, und wir rennen beide die Stufen hoch. Stuart Cardew ist nach wie vor sehr angespannt. Und als er und der Bootsführer hören, dass Sam Austell sicher nach Hause gekommen ist, Jez aber von niemandem gesehen wurde, steigert das seine Sorge noch. Der Hubschrauberpilot gibt über Funk neue Koordinaten durch. Sie haben ein kleines Boot gesichtet, das eine Meile weiter westlich auf dem Wasser treibt.

»Aber doch nicht auf der Schifffahrtsroute, oder?«, fragt Eddie.

Cardew schüttelt den Kopf. »Für meinen Geschmack allerdings zu nah dran. Weiß der Himmel, warum er keinen Notruf abgesetzt hat. Vielleicht ist sein Funkgerät kaputt.«

»Leiht Jez sich oft dein Boot aus?«

»Zwei-, dreimal die Woche. Das Turk’s Head auf St. Agnes ist momentan sein Lieblingspub. Warum, zum Teufel, ist Sam allein nach Hause gefahren, wenn sie doch zusammen dort waren?«

»Das finden wir noch raus. Sie wohnen beide bei Callum Moyle, oder?«

»Die beiden sind kein guter Einfluss für Jez. Callum interessiert sich nur für sein Geld, und Sam ist ein Unruhestifter. Ich lieg Jez schon ewig in den Ohren, dass er da ausziehen soll.«

»Versuch, dir keine Sorgen zu machen. Wir haben ihn sicher bald gefunden.«

Das Rettungsboot nimmt Fahrt auf, und das Kielwasser zieht sich eine halbe Meile lang hinter uns her wie ein Kometenschweif. Es wird nur wenige Minuten dauern, bis wir den Kabinenkreuzer erreichen, und meine Anspannung löst sich bereits. Die Chancen stehen gut, dass Jez mit einem verlegenen Grinsen an Deck wartet, und sollte er verletzt sein, können wir Hilfe leisten. Der Hubschrauber hält mit uns mit. Der Abwind weht mir Gischt in die Augen. Ein Sanitäter sitzt einsatzbereit in einem knallroten Overall der Luftrettung in der offenen Tür. Ich würde um keinen Preis in der Welt mit ihm tauschen wollen. Es erfordert weitaus mehr Mut, sich aus zwanzig Metern Höhe auf ein Boot abzuseilen, als bei ruhiger See zu fahren.

Als ich den Kabinenkreuzer endlich erblicke, überkommt mich Erleichterung. Er sieht vollkommen intakt aus. Der Wind hat in den letzten Minuten aufgefrischt, aber nicht genug, um Probleme zu verursachen. Der Kreuzer nimmt jede Welle mit Leichtigkeit. Ich bin optimistisch, als Stuart Cardew neben mir auftaucht.

»Kannst du ihn sehen, Ben?«

»Vielleicht ist er unter Deck.«

Cardew späht durch sein Fernglas. »Was, zum Teufel, treibt er? Er muss uns doch längst bemerkt haben.«

Ich halte den Atem an, als wir näher kommen und schließlich den Motor drosseln. Das Rettungsboot schaukelt sanft hin und her, was es dem Skipper schwermacht, unser Gefährt neben Cardews Boot zu bringen. Mal berühren die beiden Boote sich fast, dann verbreitert die Strömung den Abstand wieder. Das ist der Moment, in dem die meisten Unfälle passieren, während des Umsteigens auf ein anderes Boot, darum hat die RNLI für solche Fälle strikte Sicherheitsvorschriften erlassen. Denn wenn jemand zwischen beide Boote fällt, kann er leicht Gliedmaßen verlieren oder gar zu Tode gequetscht werden.

Ich will mich gerade freiwillig melden, als Cardew über die Absperrung steigt und ohne jede Sicherung hinüberspringt. Eine saubere Landung ist das auch nicht gerade. Er fällt fast herunter, als er sich über die Reling zieht, aber ich kann ihm seine Ungeduld nicht verübeln. Wenn Noah auf einem Boot wäre, das auf die Schifffahrtsroute zutreibt, würde ich dasselbe tun.

Mein Blick bleibt auf dem etwas verblassten Namen des Kabinenkreuzers hängen, der mit schwarzer Farbe auf den Bug gepinselt ist: Happy Daze. In meiner Kindheit hatte mein Onkel Ray auch mal so ein Boot. An Sommertagen wie diesen haben mein Bruder und ich gern Saltos rückwärts vom Bug gemacht, um Mädchen zu beeindrucken. Auf Stuart Cardews Gesicht ist allerdings kein Anzeichen von Freude zu erkennen, als er wieder aus der Kabine hochkommt. Er streckt die Hände aus, die Handflächen nach oben gerichtet, so als wollte er prüfen, ob es regnet. Das Boot ist leer, und der Grund dafür kann nicht gut sein. Den Ermittler in mir drängt es sofort, mehr darüber zu erfahren.

Diesmal befolge ich alle Sicherheitsvorschriften, werfe Cardew ein Seil zu und bringe die beiden Boote parallel nebeneinander. Als ich zu ihm an Deck springe, steht er sichtlich unter Schock. Er ist so weiß im Gesicht, dass ich ihn zwinge, sich auf die Bank neben dem Steuerhaus zu setzen, während ich das Boot noch einmal vollständig absuche. Die Festmachleine liegt sorgfältig aufgerollt an Deck, der Anker ist am Bug befestigt. Meine Sorge um Jez Cardew wächst. Ich bitte Stuart, nachzusehen, ob eine Rettungsweste fehlt. Alle vier Westen sind noch da, was bedeutet, dass er ungeschützt ist, sollte er ins Wasser gefallen sein. Was immer gestern Nacht passiert ist, muss ihn überrascht haben. Als ich den Schlüssel im Zündschloss drehe, springt der Außenbordmotor sofort an; weder ist der Tank leer, noch gibt es irgendein Problem mit dem Funkgerät. Das Boot ist einwandfrei funktionstüchtig, doch als ich in die Kabine unter Deck komme, ist von Jez keine Spur zu sehen. Nur der Geruch von Diesel liegt in der Luft.

Der Hubschrauber dreht bereits ab, um in einer anderen Richtung weiterzusuchen, und wühlt die Wellen um uns herum auf. Unsere Rettungsmission hat von jetzt auf gleich eine ganz neue Dringlichkeit bekommen. Wir halten nicht länger nach dem Boot eines jungen Seenotretters Ausschau, das auf dem offenen Meer treibt. Wir suchen jetzt nach einem einsamen Schwimmer, der mit letzter Kraft darum kämpft, den Kopf über Wasser zu halten.

5

Da Sam vor der Arbeit noch was zu erledigen hat, verlässt er rasch das Haus. Er will rechtzeitig vor seinem morgigen Besuch die Medikamente für seine Mutter besorgen. Es ist eine Erleichterung, aus dem Haus zu kommen, denn so muss er dem Vermieter nicht mehr bei seinen endlosen Telefonaten zuhören, die er stets so laut führt, dass jedes Wort durchs Treppenhaus nach oben dringt. Die laute Stimme hat er von seiner Arbeit auf Baustellen, wo er sich über den Lärm von Bohrern und Betonmischern hinweg Gehör verschaffen muss. Seine Äußerungen klingen oft höhnisch, was Sam kaum ertragen kann. Seit er Drogen und Alkohol entsagt hat, bevorzugt er Ruhe und Frieden. Nach jahrelangen übertriebenen Hochgefühlen und Tiefpunkten ist er seelisch inzwischen wieder einigermaßen im Gleichgewicht, aber bis er wirklich in sich ruht, ist es noch ein weiter Weg. Der Besuch im Pub gestern Abend war der erste seit seiner Entlassung aus der Haft. Wenn eine Tür zuschlägt, zuckt er immer noch zusammen, als hätte jemand einen Schuss abgegeben.

Auf dem Kai bleibt er stehen; er wünschte, er hätte Zeit, nach seinem Handy zu suchen. Andere sitzen hier entspannt auf Bänken und warten auf die Fähren, die sie auf die anderen Inseln bringen, wo sie Verwandte besuchen oder Picknicks machen wollen. Als Sam über den Hafen nach Norden blickt, steht die Tür zum Rettungsbootschuppen offen. Er würde zu gern wissen, was gerade passiert, aber bis die Crew zurück ist, werden keine Nachrichten rausgegeben. Nach ihrer Rückkehr werden sich die Berichte über ihre neueste Rettungsaktion wie ein Lauffeuer auf der Insel verbreiten, wobei ihr Heldenmut von Haus zu Haus immer größere Ausmaße annehmen wird. Jez wurde monatelang wie ein Held gefeiert, nachdem er an der gefährlichsten Mission des Jahres teilgenommen hatte. Es scheint unfassbar, dass er jetzt der in Not Geratene ist.

Sam erhöht sein Tempo, als er hügelan zum Krankenhaus läuft. Die diensthabende Ärztin spricht mit ihm wie mit einem begriffsstutzigen Kind, als sie erklärt, wie seine Mutter die Tabletten einnehmen soll. In der Vergangenheit hätte er barsch auf diese Bevormundung reagiert, aber heute hat er sein Temperament besser im Griff. In einer Antiaggressionstherapie während seiner Haft hat er besser mit Provokationen umzugehen gelernt. Er braucht nur insgeheim bis zehn zu zählen, um dumme Fehler zu vermeiden.

Als er wieder vor die Tür tritt, wird er mit einer tollen Aussicht belohnt. In der Ferne liegt English Island, die anderen Inseln verblassen von schwarz langsam zu grau. Es erscheint ihm verrückt, dass er früher davon geträumt hat, von hier wegzugehen, obwohl er diese Landschaft in seiner DNA trägt. Jetzt muss er es nur schaffen, auf dem rechten Weg zu bleiben, damit er sein Leben wieder auf die Reihe bekommt.

Als Nächstes will er zur Bücherei am Porthcressa Beach. Das ist einer der wenigen Orte, wo er sich nicht von abschätzigen Blicken verfolgt fühlt. Schon seit seiner Kindheit, als seine Mutter ihm dort Bilderbücher ausgeliehen hat, geht er gern dorthin. Seitdem hat sich wenig verändert. Sie liegt noch immer in einer der hübschesten Buchten von St. Mary’s, ein unscheinbares Gebäude voller Schätze. Die Bücherei wirkt leer, als er hereinkommt, bis er ganz hinten die schlanke, weißhaarige Linda Thomas, die Chef-Bibliothekarin, sieht. Sie sortiert gerade Bücher in Regale ein und winkt ihm fröhlich zu. Wenn sie ihn wegen seiner Vergangenheit verurteilt, zeigt sie es nicht.

Er will gerade zu ihr hingehen, um ein Schwätzchen zu halten, als eine weitere Frau den Eingangsbereich der Bibliothek betritt und ihren Platz hinter dem Tresen einnimmt. Ihm stockt der Atem. Es ist Danielle Quick, die Tochter des Rettungsbootsführers. Sie trägt ihr gewelltes dunkles Haar in einem Bob, und ihr hübsches herzförmiges Gesicht ist ihm schon vor Jahren aufgefallen, als sie noch zur Schule gegangen sind. Da Danielle ebenfalls zur Crew der Seenotrettung gehört, sieht er sie in letzter Zeit häufiger, aber niemand hat ihm gesagt, dass sie in der Bücherei arbeitet.

»Hallo, Sam«, sagt sie lächelnd. »Hast du den Einsatz verpasst?«

»Ja, ich kam ganz knapp zu spät.«

»Ich auch, aber das ist ganz gut so. Linda will mir heute Nachmittag eine Einführung in das Katalogsystem geben.«

»Hast du gehört, dass Jez vermisst wird?«

Sie schaut ihn schockiert an. »O nein, wie schrecklich!«

»Mach dir keine Sorgen. Dein Dad wird ihn gesund nach Hause bringen.« Ihr Lächeln kehrt langsam zurück. »Ich wusste gar nicht, dass du Bibliothekarin werden wolltest.«

»Das ist meine erste Woche. Ich find’s total toll. Vor allem die Kinder sind klasse. Sie stellen einem die lustigsten Fragen.« Sie wird verlegen. »Sorry, ich quassele zu viel, aber das ist einfach alles noch so neu für mich.«

»Du wirst das super machen.«

»Ich war die Arbeit in der Hotelküche so leid. Suchst du was Bestimmtes?«

»Ich wollte ein paar bestellte Bücher abholen.«

Sie schaut unter dem Tresen nach und zieht dann einen einzigen Titel hervor. »Es ist nur das hier gekommen: Rechnungswesen, Band drei. Das klingt nach Spaß.«

Ihm wird unbehaglich zumute. »Ist für die Abendschule. Ich möchte meine eigene Buchführung machen können. Mathe war das Einzige, was ich in der Schule gut konnte. Ist natürlich aber ganz schön trocken.«

»Toll, dass du was lernst. Ich bewundere Leute mit Ehrgeiz.«

»Lob mich nicht zu früh. Vielleicht schaffe ich am Ende die Prüfung gar nicht.«

»Du solltest mehr Selbstvertrauen haben, Sam. Ich wette, du schaffst das.«

Mit hochrotem Kopf geht Sam zu einem Tisch, um vor der Arbeit noch ein bisschen zu lernen. Es ist lange her, dass ihn außer seiner Mutter oder Father Mike jemand ermutigt hat, aber er weiß nicht genau, wie er darauf reagieren soll. Sich auf Additionen und andere Rechenaufgaben zu konzentrieren ist leichter, außerdem lenkt es ihn davon ab, dass Jez vermisst wird.

Als er eine Viertelstunde später wieder aufblickt, hilft Danielle einer alten Dame gerade dabei, sich einen Roman auszusuchen. Ihr Mienenspiel ist lebhaft. Er hofft, dass sie nie darauf gekommen ist, dass er ihr vor fünfzehn Jahren eine Valentinskarte geschickt hat. Er würde vor Peinlichkeit sterben, wenn sie es wüsste. Aber er kann nicht aufhören, sie zu beobachten, während sie liebenswürdig lächelnd – und als hätte sie alle Zeit der Welt – mit der alten Dame plaudert.

6

Wir sind seit sechs Stunden auf See und mit zehn Knoten unterwegs, um unsere Umgebung genauestens absuchen zu können. Eddie hat den ganzen Morgen versucht, Sam Austell zu erreichen, um weitere Details über Jez zu erfragen, doch er geht nicht ans Telefon. Liam Quick hat das Steuer an Paul Keast übergeben und sitzt jetzt mit seinem Fernglas am Bug. Mir tun inzwischen die Augen weh von dem grellen Licht, das von der Wasseroberfläche reflektiert wird; es ist so intensiv, dass es mir die Netzhaut versengt. Abgesehen vom Dröhnen des Motors und dem Möwengeschrei über uns herrscht Stille an Deck. An einem gewöhnlichen Tag wäre diese Fahrt ein Vergnügen. Auf dem Gunner Rock sonnen sich graue Seehunde, und der Leuchtturm auf dem Bishop Rock sieht toll aus mit seiner im Sonnenlicht schimmernden weißen Außenwand. Mein Blick verweilt nur kurz auf ihm, dann richte ich ihn wieder aufs Wasser, in der Hoffnung, einen hilfesuchend erhobenen Arm zu erspähen.

Ich halte mein Fernglas weiter fest vor die Augen, als Isla mir auf die Schulter tippt. Wir wechseln uns im Halbstundentakt ab, um dem Ermüdungseffekt entgegenzuwirken. Niemand von uns könnte es sich verzeihen, wenn er ein Anzeichen dafür übersähe, dass Jez nach einem außergewöhnlichen Missgeschick, bei dem er über Bord gegangen ist, in diese Richtung geschwommen ist. Isla scheint begierig zu sein, die Arbeit wieder aufzunehmen. Sie hat ein ruhiges, ernstes Naturell und trägt ihr schwarzes Haar in einem nüchternen Kurzhaarschnitt. Als sie vor zwei Jahren zu unserem Team bei der Inselpolizei stieß, war ich vom ersten Moment an von ihrer Professionalität beeindruckt. Und der Arbeit als freiwillige Seenotretterin scheint sie mit dem gleichen Engagement nachzugehen. Die junge Constable nimmt wortlos meine Position ein und hebt das Fernglas vor die Augen, um den Horizont abzusuchen.

Stuart Cardew hat sein Handy am Ohr, als ich runter in den Schiffsraum komme. Father Mike steht neben ihm, aber Cardew wirkt noch immer so, als wäre er ganz weit weg. Die Sorgenfalten haben sich, wie ein Tattoo, tief in seine Haut eingegraben.

»Nie geht die Frau an ihr verdammtes Telefon«, murmelt er. »Am Wochenende schaltet die dumme Pute es gern mal aus.«

»Haben Sie Jez’ Freunde angerufen?«

»Außer Callum Moyle kann niemand helfen. Er sagt, Sam wäre gestern Abend gegen zehn nach Hause gekommen. Ich hab Jez noch davor gewarnt, mit diesem Psychopathen zusammenzuziehen.«

»Ist Jez noch mit Anna Dawlish zusammen? Vielleicht ist er ja bei ihr?« Es fühlt sich seltsam an, diese Frage zu stellen, denn im zarten Alter von fünfzehn Jahren hatte ich mit Anna meine erste ernsthafte Beziehung – bis sie mir nach einem Jahr den Laufpass gegeben hat. Damals hat mich ihr Verhalten verletzt, doch schon bald danach war es Schnee von gestern. Heute pflegen wir einen freundschaftlichen Umgang, aber wir haben uns seit Monaten nicht gesprochen.

»Die Sache hat er, Gott sei Dank, vor einer Weile beendet. Er ist nicht bereit, sich ernsthaft auf jemanden einzulassen, der zehn Jahre älter ist und ein Kind hat. Seitdem hat er nie ein anderes Mädchen erwähnt.« Stuart reibt sich mit der Hand über die Stirn, als versuche er, seine Gedanken zu entwirren. »Eddie sagt, Sam hätte gereizt gewirkt und das Turk’s Head früh wieder verlassen. Jez hat nur ein oder zwei Pints getrunken. Also muss er einigermaßen nüchtern gewesen sein, als er gegen elf aufgebrochen ist; und eigentlich hätte er lange vor Mitternacht wieder in Hugh Town sein müssen.«

Stuart könnte sicherlich stundenlang darüber diskutieren, was alles theoretisch passiert sein könnte, aber wir brauchen verlässliche Informationen, darum setze ich mich über Funk mit dem Polizeirevier in Verbindung. Sergeant Lawrie Deane klingt, als hätte ich ihn bei einem Nickerchen gestört. Er redet langsamer als üblich, als ich ihn bitte, nachzuprüfen, ob Cardews Boot letzte Nacht im Hafen von Hugh Town gesehen wurde. Vielleicht klammere ich mich an einen Strohhalm, aber es kommt schon mal vor, dass Boote sich irgendwie von selbst losmachen und aufs offene Meer hinaustreiben oder dass jemand anders sie aus Jux in einen anderen Hafen bringt.

Stuart sieht noch immer wie benommen aus, als ich mich wieder neben ihn stelle.

»Glaubst du, einer von Jez’ Freunden könnte hinter der Sache stecken?«, frage ich. »Könnte sich jemand einen dummen Streich an einem Sommerabend erlaubt haben?«

»Auf keinen Fall. Die sind inzwischen alle erwachsen und haben zu tun.« Er zögert. »Der Einzige, der meschugge genug wäre, ist Sam Austell. Vielleicht steckt er dahinter.«

»Das bezweifle ich. Er hat sich sehr gebessert in der letzten Zeit.«

»Mein Sohn ist zu weich. Alle anderen Freunde haben Sam fallenlassen, nachdem er auf die schiefe Bahn geraten war.«

»Der Junge hat sich der Crew angeschlossen, weil er auf eine zweite Chance hofft.«

»Wer sollte mein Boot denn sonst losmachen?«

Ich könnte ihn darauf hinweisen, dass es einfach ein tragischer Unfall gewesen sein könnte, aber das ist ein schlechter Zeitpunkt. Ein einziger Fehler genügt, und die Dinge können eskalieren; Jez könnte sich den Kopf gestoßen haben und über Bord gefallen sein. In meiner Erinnerung ist es bislang nur ein einziges Mal vorkommen, dass ein unbemanntes Boot auf dem offenen Meer gefunden wurde. Und das war 2008, nach dem Finanzcrash. Damals ist ein pleitegegangener örtlicher Geschäftsmann mit seiner Jacht aufs Meer rausgefahren, hat die Ankerkette um seinen Hals gewunden und ist über Bord gesprungen. Die Seenotrettung hat seine Leiche am nächsten Morgen an die Oberfläche gezogen. Wir können nicht ausschließen, dass Jez etwas Vergleichbares getan hat, auch wenn es keine Anzeichen dafür gab, dass er verzweifelt war.