Tiefrot tanzen die Schatten - Kate Penrose - E-Book
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Tiefrot tanzen die Schatten E-Book

Kate Penrose

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Beschreibung

Ein Jahrhundert-Sommer auf den Scilly-Inseln, doch die Idylle wird jäh gestört – der vierte Fall für den charismatischen Ermittler Ben Kitto In einem der heißesten Sommer, den die Scilly-Inseln vor Cornwall je gesehen haben, trainiert Detective Inspector Ben Kitto für den jährlichen Insel-Schwimmwettkampf. Dabei macht er eines Morgens einen grauenhaften Fund: Am Pulpit Rock vor der Westküste der Insel St. Mary's hängt eine Tote in einem Brautkleid und Blumen im Haar. Zu seinem Entsetzen stellt Ben fest, dass es sich um eine junge Frau aus seiner Trainingsgruppe handelt. Was zunächst nach Selbstmord aussieht, entpuppt sich schnell als kaltblütiger Mord. Und der Täter hat bereits ein zweites Opfer in seiner Gewalt, das er wieder an einem der beliebtesten Orte für Hochzeitsfotos auf der Insel drapieren will. Ben Kito läuft die Zeit davon, und noch ahnt er nicht, wie persönlich dieser Fall für ihn werden wird.

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Seitenzahl: 458

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Kate Penrose

Tiefrot tanzen die Schatten

Ein Krimi auf den Scilly-Inseln

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

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Inhalt

[Widmung]Teil 1Prolog123456789101112131415161718Teil 219202122232425262728293031323334353637Teil 3383940414243444546474849505152535455565758596061626364656667Anmerkung der AutorinDankHinweis auf das nächste Buch

Für Teresa Chris

Teil 1

»Muss ich sterben,

Grüß’ ich die Finsternis als meine Braut,

Und drücke sie ans Herz!«

William Shakespeare, Maß für Maß (3. Akt, 1. Szene)

Samstag, 3. August

Sabine beendet ihre Schicht um Mitternacht. Sie ist froh, als sie den letzten Drink ausschenken und die Hotelgäste vor ihren Likörgläsern zurücklassen kann. Der Nachtportier ersetzt sie hinter dem Tresen. Die junge Frau schlüpft in den ummauerten Garten hinaus; dort konkurriert der süße Duft der Rosen mit dem Salzgeruch, der vom Meer heraufzieht. Als sie noch mal zum Hotel zurückschaut, kann sie sich leicht vorstellen, wie es vor fünfhundert Jahren ausgesehen haben muss. Die alte Festung liegt hoch über dem Strand und schützte St. Mary’s mit ihren dicken Mauern vor Invasionen. Sabine durchquert die Anlage rasch bis zu dem Gebäude, in dem die Mitarbeiter untergebracht sind, aber als sie dort ankommt, ist sie enttäuscht. Niemand erwartet sie, nur der leere Korridor, in dem ihre Schritte widerhallen.

Doch ihre Laune hebt sich wieder, als sie einen Zettel findet, den jemand unter ihrer Tür durchgeschoben hat. Darauf steht in leuchtend roten Großbuchstaben:

KOMM ZUM LEUCHTTURM

Sabine streift schnell ihr Lieblingssommerkleid über. Die Nachtluft ist noch warm, als sie eines der Hotelfahrräder aus dem Ständer am Eingang zieht. Sie radelt durch die engen Sträßchen von Hugh Town und fühlt sich glücklich, während der Wind dunkle Haarsträhnen aus ihrem Pferdeschwanz zupft. Sie stellt sich vor, wie ihre Studienfreundinnen zu Hause in Riga reagieren werden, wenn sie ihnen von der Schönheit der Insel und ihren Sommeraffären erzählt. Das Licht der Straßenlaternen schwindet, und als sie fester in die Pedale tritt, um im Leerlauf zu Peninnis Head hinunterzurollen, weisen ihr nur noch die Sterne den Weg. Dieser Teil der Insel ist von einer ganz eigenen, kargen Schönheit. Felsblöcke liegen wie hingestreut in einer verlassenen Heidelandschaft, und der Leuchtturm blinkt in der Dunkelheit.

Sie stellt das Fahrrad auf dem Rasen ab und verharrt, um die Stille zu genießen. Das ist der erste Moment, den sie für sich hat, seit sie mit ihrer Freundin Lily und den anderen Hotelmitarbeitern zusammen gefrühstückt hat. Die Landzunge wird hier unten von den Gezeiten des Atlantiks umspült und ist der romantischste Ort auf St. Mary’s. Große Felsformationen ragen wie Silhouetten von Riesen über der Küstenlinie auf, aber wenn ihr neuer Freund kommt, wird die Landschaft vergessen sein. Sie werden Wein trinken oder nackt im Meer baden, und dann werden sie sich am Strand lieben wie beim letzten Mal. Sie weiß, dass er keine gute Wahl ist, aber die Anziehung ist zu groß, als dass sie sie ignorieren könnte. Sabine schließt die Augen und stellt sich vor, wie er sie im Arm hält, während der Leuchtturm seinen Lichtschein über den Ozean wirft.

Sabine träumt noch vor sich hin, als jemand ihren Namen flüstert, die Stimme ist ihr nicht vertraut. Sie schlägt die Augen auf und wird von gleißendem Licht geblendet.

»Hey, aufhören!«, sagt sie lachend. »Das blendet doch.«

Aber sie erhält keine Antwort, und dann knallt etwas mit voller Wucht gegen ihren Kopf. Das Licht schwindet, und ihre Gedanken zersplittern, bis Stille herrscht. Sie bekommt kaum noch etwas mit, als ihr Körper durch die Heidelandschaft geschleift wird.

Als Sabine wieder aufwacht, kann sie nicht sagen, wie lange sie ohne Bewusstsein war. Sie verspürt einen dumpfen Schmerz in der Schläfe, aber keine Panik. Sie weiß, dass auf einer so kleinen Insel nichts Schlimmes passieren kann, doch als sie die Augen aufzuschlagen versucht, bleibt es dunkel. Um ihre Taille ist enger Stoff gewickelt worden, der ihr das Atmen schwer macht. In ihren Lungen ist so wenig Luft, dass sie das Gefühl hat zu ersticken. Sie mobilisiert all ihre Kraft, und trotzdem hängen ihre Arme weiter einfach nutzlos herab, und eine gedämpfte Stimme zischt ihr ins Ohr.

»Halt still! Du ruinierst mein Werk.«

»Lassen Sie mich gehen. Bitte. Sie tun mir weh.«

»Sei tapfer, Schätzchen. Deine Haare müssen doch schön aussehen an deinem großen Tag.«

Ein Kamm fährt ihr durch die Locken so wie früher, als ihre Mutter ihr jeden Morgen vor der Schule die Haare gebürstet hat. Doch diese Gesten jetzt sind grob, und es werden ihr so viele Haare ausgerissen, dass ihr der Schädel brennt. Sabine ruft mit vor Schmerz und Angst schriller Stimme um Hilfe, aber die einzige Antwort, die sie bekommt, ist ein hässliches Lachen.

1

Sonntag, 4. August

Es ist neun Uhr, als ich die kleine Werft meines Onkels an der Ostküste von Bryher erreiche. Auf der anderen Seite des New-Grimsby-Sundes liegt die Insel Tresco grün schimmernd in der frühen Morgensonne. Stolz betrachte ich mein frisch lackiertes Boot, das am Pier festgemacht ist. Ray hat es letztes Frühjahr für mich entworfen, aber die Schreinerarbeiten und die ganze Plackerei habe ich selbst übernommen. Der Bowrider ist aus hochwertigem Zedernholz gemacht und fast sieben Meter lang. All meine Ersparnisse, meine gesamte Freizeit und der komplette Jahresurlaub von meinem Job als Deputy Commander der Inselpolizei sind dafür draufgegangen, aber das Ergebnis ist jede Minute dieser Fron wert. Ich habe mein neues Gefährt letzten Monat täglich benutzt, um zwischen St. Mary’s und Bryher zu pendeln, was bei der sengenden Sommerhitze eine helle Freude war. Das kleine, wendige Boot hüpft auf der einlaufenden Flut und zerrt an den Tauen, als könnte es gar nicht erwarten, in sein nächstes Abenteuer zu starten.

Kaum betrete ich den Pier, da taucht plötzlich auch mein Hund auf. Er war seit dem Morgengrauen verschwunden, und die Neigung, einfach wegzulaufen, ist nur eine seiner vielen schlechten Angewohnheiten. Shadow ist ein dreijähriger tschechoslowakischer Wolfshund voller unbändiger Energie, der sich schnell langweilt. Als er Ray mit einem Pappkarton in den Händen an Deck steigen sieht, rennt er voraus. Mein Onkel ist jahrelang zur See gefahren, bevor er wieder nach Hause auf die Scilly-Inseln kam, um Bootsbauer zu werden. Er ist inzwischen in seinen Sechzigern, fast so groß wie ich und hat die athletische Statur eines Profiseglers; sein dichtes graues Haar wird von der Brise zerzaust.

»Was packst du denn da in den Laderaum?«, rufe ich.

»Sandwichs und Energydrinks; die wirst du später brauchen. Drei Stunden im offenen Meer zu schwimmen ist schon eine merkwürdige Art, seinen freien Tag zu verbringen.«

»Ich bin der geborene Masochist.«

»Muss wohl.« Er richtet sich auf, um mich anzuschauen. »Hast du denn inzwischen einen Namen für dein Boot?«

»Ich denk noch drüber nach.«

»Warte nicht zu lange, Ben. Es bedeutet Unglück, wenn man ein Schiff nicht tauft.«

»Ich wusste gar nicht, dass du abergläubisch bist.«

»Du bist der, der sich Sorgen machen sollte.« Er grinst träge. »Schließlich ist es dein Boot, nicht meines.«

»Fährst du heute? Dann kann ich schon mal in meinen Neoprenanzug steigen.«

Ray bückt sich, um den Motor anzulassen. Shadow steht bereits an Deck und schnüffelt in die Seeluft. Der Hund starrt mich lange mit seinen eisblauen Augen an; er macht mir Vorwürfe, dass ich erst so spät aufbreche.

»Es gibt heute Morgen starke Strömungen; das wird kein Spaß, um die Landzunge herumzuschwimmen.« Mein Onkel schreit über den Lärm des Motors hinweg, während er das Boot in den St.-Mary’s-Sund lenkt. »Wie viele seid ihr denn heute beim Training?«

»Sechs, es sei denn, du machst mit?«

»Nicht mal im Traum! Ihr seid ja nicht zu retten.«

»Wenigstens werden wir fit.«

Wir verbringen die kurze Fahrt in einvernehmlichem Schweigen. Das Wasser glitzert im Sonnenlicht, während wir an Trescos Westküste entlangflitzen. Im Hafen von New Grimsby liegen Dinghis, danach kommt der bleiche Sand der Saffron Cove in Sicht. Wir werden schneller, denn die Strömung zieht uns an der unbewohnten Insel Samson vorbei. Dort gibt es verlassene Häuser, denen Winterstürme schon vor hundert Jahren die Dächer geraubt haben. Shadow scheint das hohe Tempo zu genießen. Er steht, die Pfoten auf der Reling, mit heraushängender Zunge am Bug und lässt sich das graue Fell vom Wind zerzausen.

Die Silhouette von St. Mary’s füllt den Horizont aus, als wir nach Süden fahren. Mit ihren fast fünf Meilen Länge ist sie die größte der Scilly-Inseln und verglichen mit Bryher, wo ich geboren wurde, eine Metropole. Früher haben die Leute dort ihren Lebensunterhalt mit Blumenanbau und Fischerei verdient, aber heute sind die meisten vom Tourismus abhängig. Im Sommer kommen jeden Tag Tausende Tagesgäste, um die archäologischen Stätten der Insel zu bestaunen und in den kleinen, von Granitkliffs überschatteten Buchten ein Sonnenbad zu nehmen. Die zerklüftete Küstenlinie kommt bereits näher, und mir wird klar, dass mein Onkel recht hat: Ich muss verrückt sein, um zum ersten Mal am Insel-Schwimmwettbewerb teilzunehmen. Der brutale Marathon, bei dem die gesamte Küste von St. Mary’s einmal umrundet wird, findet jedes Jahr im August statt und beginnt mit einem ausgelassenen Fest im Hafen von Hugh Town. Mein kleines Team trainiert schon den ganzen Sommer, und wir hoffen, die Runde in weniger als fünf Stunden zu schaffen. Im Augenblick dominiert noch der Kameradschaftsgeist, aber sobald der Startschuss fällt, herrscht gnadenlose Konkurrenz.

Die Gischt liegt kühl auf meinem Gesicht, als wir Garrison Point passieren, wo das Star Castle Hotel auf seinem Felsvorsprung thront, und ich kann es kaum erwarten, ins Wasser zu kommen. Seit meiner Kindheit liebe ich das Schwimmen im offenen Meer. Ich kenne die Gefahren, und doch freue ich mich schon darauf, ins kühle Nass springen zu können, sobald wir die Porthcressa Bay erreicht haben. Der Strand dort ist einer der schönsten von St. Mary’s. Bald wird das breite Hufeisen aus Sand mit Touristen übersät sein, die sich sonnen, bis sie tiefbraun sind, oder in dem Café mit Blick über den Strand Cappuccino trinken. Im Augenblick liegt der Strand noch verlassen da, wenn man von den vier anderen Schwimmern absieht, die sich die Taucherbrillen aufsetzen und ihr Aufwärmtraining absolvieren.

»Na, dann los!«, ruft Ray. »Das Wasser ist zu flach zum Anlegen.«

»Pass gut auf mein Handy auf, ja? Da ist mein ganzes Leben drin.«

Ich überreiche ihm mein Telefon und springe dann von Bord. Obwohl dieser Sommer sich zum heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnung entwickelt, ist der Atlantik eiskalt. Der salzige Geschmack des Ozeans füllt meinen Mund, und sein Tosen lässt jedes andere Geräusch verstummen. Sobald ich wieder aufgetaucht bin, gereicht es mir zum Vorteil, dass ich wie ein Preisboxer gebaut bin. An Land bin ich schwerfällig, aber beim Schwimmen erweist sich meine Kraft als nützlich, und ich genieße die Power, die hinter jedem meiner Züge steckt. Unter den Schwimmern, die am Strand auf mich warten, sind auch zwei Polizistenkollegen: mein Deputy, Sergeant Eddie Nickell, und unser Neuzugang, Constable Isla Tremayne. Die anderen beiden Männer sind Steve und Paul Keast, die beide als Bauern auf der Insel leben. Die Brüder sind meine ältesten Freunde und, wie ich, Mitte dreißig. Früher haben wir zusammen Rugby gespielt, und seit ich zurück auf den Inseln bin, treffen wir uns regelmäßig auf ein Pint. Die beiden könnten fast Zwillinge sein. Sie haben die gleiche schlanke Statur, wuscheliges braunes Haar und dunkle Augen. Doch von ihren Persönlichkeiten her sind sie wie Tag und Nacht. Steve ist zwei Jahre älter und sehr extrovertiert, während Paul eher im Windschatten seines Bruders segelt. Beide Männer arbeiten ehrenamtlich bei der Seenotrettung, aber Paul ist der schwächere Schwimmer. Er wird zusätzliche Trainingseinheiten brauchen, um ins Ziel zu kommen.

»Wo ist Sabine?«, rufe ich. »Ist sie heute nicht dabei?«

»Ich wette, sie kriegt heute nicht frei«, antwortet Steve. »Die Hotels sind brechend voll.«

Sie wird enttäuscht sein, dass sie das Training verpasst. Sabine verbringt nur diesen einen Sommer hier, aber sie hat sich voll in die Vorbereitungen für den Wettkampf gestürzt und schwimmt in jeder freien Minute. Eddie sieht aus wie ein blonder Sechstklässler, als er mich begrüßt; er strahlt vor Aufregung über die vor ihm liegende Herausforderung. Isla Tremayne wirkt weniger enthusiastisch. Sie ist einundzwanzig Jahre alt, ebenfalls von hier und ein burschikoser Typ mit athletischem Körperbau und einer ernsten Ausstrahlung. Sie trägt ihr schwarzes Haar kürzer als ich meines. Obwohl sie vom ersten Tag an hart an sich gearbeitet hat, ist ihre Leistung noch steigerungsfähig. Isla beobachtet alles akribisch und macht sich Notizen, als würde sie für eine Prüfung lernen. Ich war überrascht, als ich ihren Namen auf der Liste der Freiwilligen für den Schwimmwettbewerb entdeckte, aber sie hat eine Top-Ausdauer und lässt sich auch von hohem Wellengang nicht entmutigen.

»Ich hab später noch Dienst. Vielleicht schwänze ich das Training und lege mich stattdessen in die Sonne«, sagt sie, als meinte sie es ernst.

»Pustekuchen«, antwortet Eddie.

Der junge Sergeant packt sie an den Handgelenken und zieht sie mit sich, und wir anderen stürzen uns hinter den beiden ebenfalls ins Wasser. Wenigstens sind die Gezeiten uns gewogen, denn die Strömung treibt uns nach Norden, sobald wir den Schutz des Hafens verlassen. Als ich einen Blick zurück an Land werfe, sieht der Küstenpfad aus wie ein sich schlängelnder, blassbrauner Wollfaden, der die Bäume und Wildblumen vom Strand trennt. Ray fährt sicherheitshalber fünfzig Meter hinter uns, für den Fall, dass einer von uns auf dem zweistündigen Weg zur Pelistry Bay Probleme bekommt. Das Rettungsboot erlaubt es mir, mich nur auf meine eigene Leistung zu konzentrieren, ohne mich um die anderen kümmern zu müssen. Ich achte lediglich darauf, meinen Rhythmus zu finden. Und nachdem meine Arme zehn Minuten lang das kalte Wasser durchpflügt haben, setzt ein Hochgefühl ein. Der Ozean singt in meinen Ohren, und Endorphine fluten meinen Körper, als wir die schwarze Silhouette von Nicholl’s Rock passieren, einer Kathedrale aus Stein, die aus dem Meer aufragt. Ich habe diese Küstenstrecke schon so häufig zurückgelegt, dass sich jede Felsspalte und jede Einbuchtung in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Ray kennt die hiesigen Gewässer gut genug, um auf Abstand zu bleiben. Der Meeresgrund weist hier versteckte Basaltnadeln auf, die spitz genug sind, um einen Schiffsrumpf durchbohren zu können. Die Küste ist schön auf diesem Abschnitt, aber auch tückisch, denn sie wird von zahlreichen, autogroßen Granitblöcken gesäumt.

Ich konzentriere mich darauf, mein Tempo zu steigern, und kraule stetig durch die Wellen, bis meine Oberschenkelmuskeln schmerzen. Jetzt schwimmen wir auf Dutchman’s Carn zu, eine Felsnase, die in Sicht kommt, als die Kliffs zu meiner Linken steil ansteigen. Der Rest des Teams hängt hinterher, bis auf Eddie. Als ich sehe, wie er sich durchs Wasser vorankämpft, muss ich lächeln. Mein Deputy brennt darauf, mich zu schlagen, und er hat den Vorteil, zehn Jahre jünger zu sein, aber ich werde mit allen Mitteln versuchen, vorn zu bleiben. Während ich Peninnis Head umrunde, kommt der Leuchtturm in Sicht. Auf den Felsen darunter streiten sich Möwen um Nahrung, deren Schreie sich mit dem Lärm des Meeres vermischen.

Als ich hochkomme, um Luft zu holen, ruft jemand meinen Namen. Ray winkt mir vom Boot aus zu und schwenkt die Arme, als würde er ein Winkeralphabet aufführen. Einer der anderen Schwimmer muss in Schwierigkeiten sein. Doch als ich mich umschaue, halten alle gut mit. Eddie ist zehn Meter von mir entfernt, dicht gefolgt von Isla und Steve, und Paul arbeitet sich von hinten an die beiden heran. Das Boot hebt und senkt sich mit jeder Welle, doch mein Onkel will unbedingt meine Aufmerksamkeit erregen. Als er zum Strand zeigt, erblicke ich vor dem schwarzen Hintergrund der Kliffwand etwas Helles. Es könnte ein Drachen sein, der sich dort verfangen hat, aber als ich näher heranschwimme, erkenne ich es deutlicher. Der Gegenstand schwingt hin und her, langsam und schwer wie ein Pendel. Er sieht aus wie eine weiß gekleidete Puppe, die an einem Seil hängt; ein daran befestigter Stoffstreifen flattert im Wind.

»Verflucht, ein Selbstmord.«

Ich zische diese Worte und rufe dann, so laut ich kann, nach Eddie und Isla. Anschließend schwimme ich schnellstmöglich an Land, obwohl dort nichts als die einsamste Art, aus dem Leben zu scheiden, auf uns wartet.

2

Lily sucht gegen zehn Uhr im Mitarbeitertrakt nach ihrer Freundin. Sie hat bereits drei Stunden harte Arbeit hinter sich, hat Bettwäsche gewechselt und Toiletten für die heute anreisenden Gäste geputzt. Im Hotel ist es so warm, dass ihr der Schweiß den Rücken hinunterrinnt, aber sie beklagt sich nicht. Ihr Job im Star Castle hat es ihr ermöglicht, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen, außerdem versorgt er sie mit dem nötigen Geld für ihren Lebensunterhalt und auch mit neuen Freunden. Die junge Frau lächelt, als sie den Flur entlanggeht. Sabine müsste inzwischen vom Schwimmen zurück sein; sie werden Zeit haben, einen Kaffee zu trinken und ein bisschen zu plaudern, bevor ihre Pause endet.

Sie klopft vorsichtig an die Tür der Freundin. Es fällt ihr immer noch schwer, zu glauben, dass Sabine ausgerechnet sie auserwählt hat. Sabine ist etwas älter als sie, hübsch und beliebt, trotzdem hat sie Lily zu ihrer engsten Vertrauten gemacht. Vielleicht, weil sie beide Außenseiter sind. Lily ist vor fünf Jahren von Plymouth nach St. Mary’s gezogen, und Sabine eine lettische Studentin, die nur den Sommer hier verbringt. Als Lily noch einmal anklopft, schwingt die Tür auf, was sie überrascht. Die Freundin schließt eigentlich immer ab, obwohl hier niemand etwas stehlen würde. Sie sagt, das geschehe aus Gewohnheit – in ihrem Teil von Riga werde häufig eingebrochen.

Lily ist verdutzt über den Anblick, der sie empfängt. Es sieht nicht so aus, als hätte ihre Freundin die letzte Nacht hier verbracht; ihr Bett ist ordentlich gemacht. Ihre Uniform ist über die Rückenlehne des Stuhls geworfen, die Schuhe wurden achtlos in die Ecke gekickt. Sabine hat versprochen, sie hier zu treffen, und sie hat Lily noch nie enttäuscht. Vielleicht ist ihr mysteriöser neuer Freund schuld daran. Lily will schon wieder gehen, als ihr Blick auf einen Zettel auf dem Fußboden fällt; die knallrote Schrift sticht ihr ins Auge. Irgendjemand muss Sabine eine Nachricht hinterlassen haben, aber wer sollte sie auffordern, um Mitternacht zum Leuchtturm zu kommen?

Als sie die kryptische Botschaft noch einmal liest, bekommt sie einen Riesenschreck – sie kennt diese Schrift. Für den Fall, dass noch jemand ins Zimmer kommt, bevor Sabine zurück ist, lässt sie den Zettel in ihrer Tasche verschwinden. Das Management legt allergrößten Wert darauf, den exzellenten Ruf des Hotels zu wahren, und sieht es nicht gern, wenn Angestellte lange aufbleiben, vor allem, wenn ihre Arbeit darunter leidet. Im Hinausgehen fällt Lilys Blick auf das pinkfarbene Telefon ihrer Freundin; ein Blinken zeigt an, dass neue Nachrichten eingegangen sind. Eine der Nummern auf dem Display gehört Lilys Bruder. Wie es aussieht, hat Harry das Blaue vom Himmel heruntergelogen. Er hat den Zettel unter Sabines Tür durchgeschoben und ihr gestern drei Textnachrichten geschickt. Wahrscheinlich ist ihre Freundin auch jetzt mit ihm zusammen und hat vor, die Arbeit zu schwänzen. Lily ist so wütend, dass sie das Telefon einsteckt, um es Sabine nach ihrer Schicht am Nachmittag in die Hand zu drücken. Von ihrer Freundin ist immer noch keine Spur zu sehen, der Flur ist leer. Lilys Herz schlägt zu schnell, als sie die Tür zuzieht und zurück zu ihrem Zimmer eilt.

3

Während ich über den schmalen Pfad in dem Kliff nach oben klettere, halte ich den Blick auf die vom Pulpit Rock baumelnde Frauenleiche gerichtet; ihr Gesicht wird von einem weißen Schleier verdeckt. Meine nackten Fußsohlen leiden beim Klettern über das Basaltgestein, doch ich nehme den Schmerz kaum wahr. Dazu bin ich zu sehr mit der Frage beschäftigt, warum das Leben dieser Frau so dramatisch enden musste. Welche Verzweiflung hat sie dazu gebracht, sich von da oben herunterzustürzen? Noch kann ich unmöglich erkennen, wer es ist. Meine erste Aufgabe wird darin bestehen, den Leichnam auf festen Untergrund zu ziehen. Oben angekommen bleibe ich kurz stehen und halte nach möglichen Zeugen Ausschau. Peninnis Head ist ein mit Gras und Heidekraut bewachsener Streifen Land, auf dem einiges Felsgeröll herumliegt, Spaziergänger kann ich jedoch keine erspähen. Auf dem höchsten Punkt, fünfzig Meter von mir entfernt, steht der automatisierte Leuchtturm der Insel. Er ist das einzige menschengemachte Objekt in Sichtweite und recht simpel konstruiert: In einem Gehäuse, das erhöht auf einem schwarzen Metallgestell steht, rotiert eine Signallaterne. Als ich über den Rand des Kliffs schaue, kann ich der Frau auf den Scheitel gucken und sehe ihren Spitzenschleier in der Brise flattern. Der unnatürliche Winkel, in dem sie dort hängt, lässt darauf schließen, dass sie sich das Genick gebrochen haben muss.

Mein Boot treibt unten auf der Flut. Ray hat in sicherer Entfernung zu einigen Felsen Anker geworfen. Glücklicherweise ist die Wasserstraße zum Festland gerade unbefahren, und auch sonst segelt niemand so dicht in der Nähe, dass er das Opfer von seinem Boot aus sehen könnte. Eddie macht sich ebenfalls daran, die Kliffwand hochzuklettern, und auch die anderen schwimmen an Land. Aber die Verantwortung, herauszufinden, was mit dieser Frau passiert ist, liegt bei mir. Auch mein Jahrzehnt bei der Londoner Mordkommission hat mich nicht abgehärtet: Als ich den Schauplatz erneut in Augenschein nehme, steigt Übelkeit in mir auf. Wir werden rasch eine Absperrung einrichten müssen, damit keine Hundehalter hier entlanggehen und ihn verunreinigen können.

Eddie ringt nach Luft, als er neben mir ankommt. »Wissen Sie, wer sie ist?«

»Wir werden erst Fotos machen müssen, bevor wir das herausfinden können; ich sollte auch von hier oben eines schießen. Ich sage Lawrie Bescheid, dass er mir die Kamera vom Revier mitbringt.«

»Nicht nötig, ich hab mein Handy dabei.«

Verdutzt sehe ich, wie er einen wasserfesten Beutel mit seinem Handy darin aus dem Ärmel seines Neoprenanzugs zieht. »Sie waren bestimmt ein toller Pfadfinder, Eddie.«

Er schaut mich verlegen an. »Ich trage es immer bei mir, für den Fall, dass Michelle wegen der Kleinen anruft.«

Seit der Geburt seiner Tochter Lottie im letzten Jahr ist Eddie der engagierteste Papa der Welt; er ist ein ebenso begeisterter Vater wie Polizist und hat mich sogar dazu überredet, Lotties Taufpate zu werden. Aber heute bin ich einfach nur dankbar für seine Umsicht. Er stellt sich dicht an den Rand des Kliffs und macht Fotos für den Bericht des Coroners, während ich zu den anderen Schwimmern gehe. Isla hat sich vornübergebeugt, stemmt die Hände auf die Knie und versucht, Atem zu schöpfen. Steve steht ein paar Meter hinter ihr, aber Paul kämpft sich noch nach oben, so dass ich gezwungen bin, auf ihn zu warten. Ich habe meine Freunde beide dazu gedrängt, Hilfspolizisten zu werden, damit sie während der Inselfestivals Aufsicht führen und aushelfen können, wenn Not am Mann ist.

»Ich brauche euch beide in Hugh Town«, erkläre ich den Brüdern, sobald auch Paul oben ist.

»Ray kann uns nach Porthcressa zurückbringen«, erwidert Steve.

»Ruht euch zuerst ein bisschen aus und schwimmt dann raus zum Boot. Ich möchte, dass ihr den Küstenpfad bewacht. Lasst niemanden hier herauf.«

»Soll Ray dir deine Kleider aufs Revier bringen?«

»Danke, Steve, das wäre toll.«

Er bleibt ruhig, während ich weitere Instruktionen erteile, aber die Augen seines jüngeren Bruders werden glasig, als er die von der Felswand baumelnde Frauengestalt betrachtet. Paul war schon in unserer Kindheit ein Sensibelchen und hat mit jedem mitgelitten, der in Schwierigkeiten war. Daher bin ich nicht überrascht, als er sich abrupt umdreht, ein paar Schritte wegläuft und sein Frühstück ins Heidekraut erbricht; die Reaktionen der Brüder sind so gegensätzlich, wie es nur geht. Es kommt häufig, vor, dass Zeugen eines Todesfalls einen Schock erleiden, aber ich darf mir hier und heute nur Gedanken um das Opfer machen. Steve wird sich selbst um seinen Bruder kümmern müssen. Die Zeit rast; der Vormittag ist bereits zur Hälfte verstrichen, und alles muss in der richtigen Reihenfolge passieren. Als ich den Gerichtsmediziner Dr. Keillor anrufe, klingt er, als hätte er keine Lust, sein Golfspiel für eine derart trostlose Angelegenheit zu unterbrechen. Zu meinem Glück ist mein Vorgesetzter, DCI Madron, noch zehn Tage in Frankreich im Urlaub. Der Mann verspricht zwar dauernd, in Pension zu gehen, überlegt es sich dann aber in letzter Minute immer wieder anders; er scheint von der Idee besessen zu sein, ein makelloses Erbe zu hinterlassen. Sein Beharren darauf, über jeden unserer Schritte detailliert Buch zu führen, würde uns nur verlangsamen – für den Papierkram bleibt noch genug Zeit, wenn wir wissen, warum diese Frau gestorben ist.

Während ich über Granit klettere, um die Leiche zu bergen, wird mir klar, wie Pulpit Rock – der Kanzelfelsen – zu seinem Namen kommt. Ein riesiger Felsblock balanciert über einem anderen wie ein Prediger, der sich auf seine Kanzel stützt und seiner unwilligen Gemeinde von Tod und Teufel erzählt. Der Priester scheint zur unermesslichen Weite des Atlantiks zu sprechen, denn die Felsformation ragt aufs offene Meer hinaus. Ich benutze Eddies Handy, um die Schlinge zu fotografieren, die das Leben der Frau beendet hat, doch allmählich kommen mir Zweifel. Wie viele Selbstmörder sind gefasst genug, um ein Seil dreimal um einen Granitblock zu wickeln und es dann mit einem doppelten Kreuzknoten zu sichern, bevor sie sich in den sicheren Tod stürzen? Ich versuche, die Felsen unter mir zu ignorieren, die wie abgebrochene Zähne zu mir hochstarren. Der nächste Windstoß weht das Seil so dicht an mich heran, dass ich es zu fassen bekomme, aber Eddie und ich brauchen drei Anläufe, um die Leiche auf den Rand des Kliffs hochzuwuchten. Die Gestalt ist kalt und leblos, als ich sie zur nächsten ebenerdigen Stelle trage.

Aber auch nachdem ich sie ins Gras gelegt habe, ist das Rätsel um die Identität der Frau weiter ungelöst, denn ihr Gesicht wird von mehreren Schichten dichter weißer Spitze verdeckt. Nur die Füße und Hände sind unbedeckt, ihre Fingernägel sind in einem zarten rosa Farbton lackiert.

»Soll ich den Schleier anheben?«, fragt Eddie.

»Erst muss ich noch ein Bild machen.«

Als ich einen Schritt zurücktrete, um das Foto aufzunehmen, sehe ich eine archetypische Braut vor mir. Ihre schlanke Gestalt ist in ein knöchellanges Kleid gehüllt. Unter dem undurchsichtigen Schleier quellen dunkle Locken hervor; die hineingeflochtenen Mohn- und Kornblumen sind jedoch schon fast verwelkt.

Eddie und Isla stehen dicht neben mir, als ich den Spitzenschleier lüpfe. Die Frau kommt mir bekannt vor, aber das Bild, das ich sehe, ergibt keinen Sinn. Ihr Gesicht wurde sorgfältig geschminkt, die Augenlider sind mit blassgrauem Lidschatten betupft, die Wimpern getuscht, ihr verzogener Mund glänzt von Lippenstift. Wegen ihres gequälten Ausdrucks lasse ich den Schleier schnell wieder sinken. Ich hoffe, unsere neue Kollegin hat nicht genug gesehen, um das Opfer identifizieren zu können.

»Wir sollten auf den Gerichtsmediziner warten«, sage ich. »Haltet Abstand, alle beide.«

Eddie befolgt meine Anweisung, aber Isla kommt näher und flüstert mit merkwürdig unbewegter Miene: »Ich erkenne das Tattoo an ihrem Fuß; das Symbol der Sonne soll Glück bringen. Es ist Sabine, oder, Boss?«

»Ich fürchte, Sie haben recht.«

Das hellorange gehaltene Design auf der Fußhaut der jungen Frau hat seinen Zweck offensichtlich verfehlt. Als ich über ihren Tod nachdenke, bekomme ich Schuldgefühle. Ich habe ein Dutzend Mal mit ihr zusammen trainiert und nie Anzeichen für eine Depression an ihr entdeckt, aber Selbstmorde sind immer schwer vorherzusagen. Meine ehemalige Arbeitskollegin in London hat sich das Leben genommen, nachdem sie bis zum Ende so getan hatte, als ginge es ihr gut.

Ich schiebe meine Gefühle über den Tod der jungen Frau beiseite, rufe mit Eddies Handy auf dem Revier in Hugh Town an und weise Lawrie Deane an, mich sofort abzuholen. Als ich mich aufrichte, erblicke ich ein unverwechselbares gelbes Fahrrad auf der Rasenfläche neben dem Leuchtturm. Auf dem Rahmen steht der Name des Star Castle Hotels. Warum sollte Sabine sich wie eine Braut zurechtmachen und dann mitten in der Nacht hierherradeln, anstatt in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers eine Handvoll Tabletten zu nehmen? Die Sonne versengt mir den Nacken, als ich mich wieder ihrer Leiche zuwende. Dann bläst plötzlich eine Brise vom Meer her und fährt unter den Schleier. Er zeigt mir erneut das Gesicht der jungen Frau und macht es mir unmöglich, ihrem gequälten Blick auszuweichen.

4

Lily hat die Uniform gegen eine schwarze Hose und eine frische weiße Bluse eingetauscht und sich so in wenigen Minuten vom Zimmermädchen in eine Kellnerin verwandelt. Andere aus dem Team klagen darüber, dass das Hotel sie für viele verschiedene Aufgaben einsetzt, aber Lily mag die Abwechslung. Bis zum Ende ihrer Schicht wird sie den Gästen ihren spätvormittäglichen Kaffee servieren, dann hat sie Zeit, um Harry zu suchen. Lily versucht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, anstatt sich Gedanken über die bevorstehende Auseinandersetzung mit ihrem Bruder zu machen.

Das Restaurant gefällt ihr von allen Räumen des Hotels am besten, denn das offene Mauerwerk gewährt mit seinen alten Steinen einen Blick auf die Ursprünge des Star Castles. Einer der Portiers hat ihr erzählt, die Festung sei unter Elisabeth I. erbaut worden; also versteckt sie sich schon seit fünf Jahrhunderten hinter ihren sternförmig angeordneten Umfassungsmauern. Wenn die letzten Gäste sich schlafen gelegt haben, kommt Lily häufig noch mal hierher, um mit den Fingern über das Mauerwerk zu fahren und seine Beständigkeit zu bestaunen. Aber heute ist sie zu verstimmt, um sich an der langen Geschichte des Hotels erfreuen zu können. Außer ihr sind noch zwei andere Kellner eingeteilt, Sabine ist jedoch immer noch nicht aufgetaucht.

Die junge Frau schlüpft mit einer Kaffeekanne in der Hand flink zwischen den Tischen hindurch. Sie schenkt einer Frau nach und quittiert deren gemurmelten Dank mit einem Lächeln, bevor ein männlicher Gast sie zu sich heranwinkt. Lily würde ihm lieber aus dem Weg gehen, aber dazu ist es jetzt zu spät. Der Mann heißt Liam Trewin; er ist Anfang vierzig, und Lily weiß nicht genau, warum es ihr unangenehm ist, in seiner Nähe zu sein. Vielleicht wegen der Direktheit und Intensität, mit der er sie anstarrt; sie fühlt sich dann wie ein Präparat in einem Labor. Alles an ihm stinkt geradezu nach Geld. Sogar sein blondes Haar wirkt teuer; es fällt ordentlich über seine Stirn und rahmt sein Gesicht. Er sieht nicht so gut aus, dass es für Hollywood reichen würde. Seine Augen stehen ein winziges bisschen zu eng zusammen, und die schmalen Lippen verleihen seinem Lächeln einen Zug ins Grausame.

»Wie geht es Ihnen heute, junge Dame?«, fragt er mit seinem breiten amerikanischen Akzent.

»Gut, danke, Sir.«

»Wie heißen Sie noch gleich?«

»Lily.«

»Ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen.« Sein Hochglanzlächeln wirkt unnatürlich fröhlich. »Wo ist denn Ihre Freundin Sabine heute Morgen?«

»Das weiß ich nicht, Sir.«

»Ich dachte, sie hätte heute Dienst.« Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Ich würde später, wenn sie frei hat, gern eine Tour über die Insel mit ihr machen.«

»Tut mir leid, ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Wären Sie so gut, Ihren Chef für mich zu fragen?«

»Ja, Sir.«

Als Lily davoneilt, spürt sie, dass Trewins Blick ihr folgt. Sie weiß, dass Sabine niemals einwilligen würde, ihn allein zu begleiten. Erst gestern hat sie noch über seine armseligen Versuche gespottet, sie mit Geschenken und Wein auf sein Zimmer zu locken. Die junge Frau bekommt eine trockene Kehle, als sie sich einem der Hotelmanager nähert. Lily schwärmt heimlich für Tom Polkerris, obwohl er verheiratet und fast zwanzig Jahre älter ist als sie. Er behandelt sie stets freundlich, aber sie möchte ihre Freundin nicht in Schwierigkeiten bringen, auch wenn sie sie gewarnt hat, dass Harrys Liebschaften nie von langer Dauer sind. Es ist leichter, ihrem Chef etwas vorzulügen, als zuzugeben, dass Sabine sich wahrscheinlich mit ihrem Bruder herumtreibt.

»Sabine ist nicht gekommen, Sir. Mr. Trewin fragt, wo sie ist.«

»Ist sie in ihrem Zimmer?«

»Ich glaube nicht.«

»Belästigt dieser Typ Sie?« Polkerris lässt seinen Blick durch den Raum wandern, als hätte er gerade erst registriert, dass eine Mitarbeiterin fehlt.

»Eigentlich nicht, er wollte es nur wissen.«

»Dann sagen Sie ihm bitte, dass sie heute frei hat, Lily. Ich gehe sie mal suchen.«

Trewin wirkt gereizt, als sie zurückkommt, in seinem Kiefer zuckt ein Muskel. »Dann habe ich den Mietwagen völlig umsonst gebucht.« Sein Blick gleitet wieder über ihren Körper. »Es sei denn, Sie hätten stattdessen Lust auf einen Ausflug?«

»Tut mir leid, ich habe heute schon was vor.«

Sie zieht sich zurück, und der Mann schaut ihr wütend nach.

5

Ich würde gern bei Sabines Leiche warten, bis der Gerichtsmediziner eintrifft, aber den Luxus einer Totenwache kann ich mir heute nicht leisten. Bis zur Rückkehr des DCI leite ich die Ermittlungen als Commander, und als solcher kann ich mich unmöglich in einem Neoprenanzug und mit einer Taucherbrille in der Hand an einem Tatort sehen lassen. Eddie und Isla bleiben am Pulpit Rock, um Dr. Keillor in Empfang zu nehmen, als Lawrie Deane mich am Mittag im einzigen Wagen der Inselpolizei abholt. Der Sergeant mit dem kurz geschorenen roten Haar ist in seinen Fünfzigern und ein Miesepeter, der permanent finster dreinschaut. Während der Wagen über unebenes Gelände zur King Edward’s Road rollt, hält er den Blick starr geradeaus gerichtet. Ich versuche, mich auf die kurze Fahrt in die Stadt zu konzentrieren, um mir nicht vorzustellen, wie Sabine gelitten haben muss, bevor sie starb.

Die an uns vorbeiziehenden Felder auf der Peninnis-Halbinsel sind unbestreitbar schön: Im Vordergrund gelber reifer Weizen und im Hintergrund der endlos weite Atlantik. Je näher man Hugh Town kommt, desto schmaler wird die von Bruchsteinmauern gesäumte Straße. Um den Buzza Tower hat sich eine Gruppe von Touristen geschart und fotografiert die alte Windmühle aus sämtlichen Perspektiven. Alle Unterkünfte auf St. Mary’s sind momentan ausgebucht; dadurch schwillt die Bevölkerung auf mehr als tausend Personen an, was die Untersuchungen nicht gerade erleichtern wird. Als wir Hugh Town erreichen, führt unser Weg zwischen Häusern hindurch, deren Fassaden mit Gestein von der Insel verkleidet sind. Die Gegend am Kai ist überfüllt. Leute in Shorts und Flipflops spazieren durch die Gassen, stöbern im Mumford’s nach Lektüre oder kaufen sich Picknickzutaten im Co-op. Mit der sorglosen Stimmung auf der Insel wird es vorbei sein, sobald sich die Nachricht von Sabines Tod verbreitet.

»Alles okay mit Ihnen, Boss? Eddie hat erzählt, das Mädchen trägt ein Brautkleid.«

»Niemand von uns hat das kommen sehen. Sie muss still gelitten haben.«

»Sind Sie denn sicher, dass es Selbstmord war?«

»Ich glaube, Sabine ist auf einem Fahrrad vom Star Castle Hotel zum Kliff gefahren. Wenn noch jemand involviert war, erfahren wir es erst morgen.«

»Keiner von den Insulanern würde einem jungen Mädchen so etwas antun.«

»Brutale Verbrechen hat es hier auch vorher schon gegeben, Lawrie. Bis der Gerichtsmediziner uns das Ergebnis der Obduktion mitteilt, können wir uns über gar nichts sicher sein. Es sieht aus wie Selbstmord, aber sie kann auch Opfer eines Tötungsdelikts sein.«

»Ein Psychokiller auf unserer Insel«, grummelt Deane. »Das hat uns noch gefehlt.«

»Reden Sie mit niemandem über die Details. Nicht mal mit Ihrer Familie. Wenn das bekannt wird, ist es innerhalb von fünf Minuten auf der ganzen Insel rum.«

Der Sergeant bedenkt mich mit einem missbilligenden Blick, weil ich seine Loyalität in Frage gestellt habe. Dean kennt St. Mary’s besser als wir alle, denn er lebt schon seit Jahrzehnten auf der Insel. Die Leute von hier unterscheiden sich von denen auf den anderen Inseln, wo es nur wenige Fahrzeuge und noch weniger öffentliche Einrichtungen gibt. Die meisten Bewohner von St. Mary’s freuen sich, von Nachbarn umgeben zu wohnen und ein Krankenhaus, ein Sportzentrum und Vereine zu haben, denen man beitreten kann. Sie sind weniger reserviert als meine Nachbarn auf Bryher, die ihren Küstenabschnitt manchmal wochenlang nicht verlassen. Ich habe keine Ahnung, wie der bizarre Tod einer jungen Frau sich auf den unbeschwerten Charakter der Insel auswirken wird.

Wir sind bereits in der Garrison Lane angekommen, in der das Polizeirevier mit seinen Kieselrauputzwänden liegt. Es ist eine der kleinsten Polizeistationen im gesamten Vereinigten Königreich und verfügt über einen Empfangsbereich, ein paar Büros und zwei Zellen. An Tagen wie diesen sehne ich mich nach dem hochmodernen Gebäude der Londoner Polizei in Hammersmith zurück, wo ich zehn Jahre lang als Undercover-Ermittler der Mordkommission tätig war. Dort waren alle Arten von Spezialausrüstung unter einem Dach versammelt, aber dahin führt kein Weg mehr zurück. Auf den Scilly-Inseln geschehen so selten schwere Verbrechen, dass alles andere als das absolute Minimum an Ausrüstung eine Verschwendung von Ressourcen wäre. Auf St. Mary’s scheint die Zeit stehengeblieben zu sein; hier gibt es keine Videoüberwachung und, abgesehen von gelegentlichen Schlägereien unter Betrunkenen, normalerweise auch keine brutalen Gewalttaten.

»Könnten Sie einen unserer Hilfspolizisten mit Absperrband und einem Zelt zu Eddie und Isla am Pulpit Rock schicken? Und die beiden möchten sich bestimmt auch was überziehen. Wir können sie nicht vor Hitze umkommen lassen da draußen.«

»Ich kümmere mich darum.« Er setzt eine leidgeprüfte Miene auf.

»Danach rufen Sie bitte das kriminaltechnische Labor in Penzance an und bitten Liz Gannick, in den nächsten Flieger zu steigen.« Es ist nicht ohne Risiko, Hilfe von der Chefkriminaltechnikerin zu erbitten. Mit ihr ist nicht gut Kirschen essen, doch ich möchte unbedingt vermeiden, dass uns irgendwelche Details entgehen, die mit Sabines Tod im Zusammenhang stehen.

Ray muss vor uns am Revier gewesen sein; als wir einparken, sehe ich, dass Shadow draußen angebunden ist. Die Kleider, die ich auf dem Boot gelassen hatte, sind ordentlich gefaltet unter dem Vordach abgelegt worden, das Handy steckt in der Hosentasche meiner Jeans. Es ist eine Wohltat, den feuchten Neoprenanzug ausziehen zu können, sobald wir drinnen sind, aber ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die ersten Leute wissen wollen, warum der Küstenpfad gesperrt ist.

»Nehmen Sie die eingehenden Anrufe entgegen, während ich unterwegs bin, ja, Lawrie? Ich gehe zum Star Castle Hotel und lasse den Hund bei Ihnen.«

Der Sergeant setzt sich mit säuerlicher Miene hinter den Empfangstresen und nickt widerstrebend.

Sabines Arbeitsplatz liegt auf dem Garrison, und von der Polizeistation sind es nur fünf Gehminuten bis dorthin. Das felsige Stück Land hat seinen Namen von den wiederholten Versuchen der britischen Armee, die Insel als Militärstandort und Schutzwall gegen fremde Invasoren zu nutzen. Die Festung Star Castle wurde zu einem Luxushotel umgebaut und zieht Touristen an, die seine Architektur bewundern. Auf Luftaufnahmen erinnert es an Weihnachtsdekoration, denn seine sternförmigen Umgrenzungsmauern sind noch perfekt erhalten. Ich gehe durch die engen Straßen des Städtchens und erklimme dann den steilen Weg zu dem Torbogen, durch den früher Soldaten zu Pferd auf das Gelände ritten. Auf den Aussichtsposten werden vor Jahrhunderten Wachleute gesessen und den weiten Blick über Land und Meer genossen haben. Damals galt St. Mary’s als wichtiges Territorium, doch wenn ich jetzt nach Osten blicke, gibt es dort außer einer unberührten, durch jahrhundertelange Landwirtschaft geprägten Natur wenig zu verteidigen. Die pittoreske Ansammlung von Fischerhäuschen in Hugh Town würde auf dem Festland als Dorf bezeichnet werden.

Mir fällt es immer noch schwer zu glauben, dass Sabine tot ist, als ich das Hotelfoyer betrete, in dem absolute Stille herrscht. Die meterdicken Mauern der Festung blocken jeden Lärm von außen ab. In der Luft hängt der Duft der üppigen Blumendekoration, und ich höre nur das leise Gemurmel von Gesprächen aus dem Restaurant, wo sich die Hotelgäste zu einem frühen Mittagessen versammelt haben. Die Dame an der Rezeption lächelt mich gleichmütig an, so als ob sie durch nichts aus der Ruhe zu bringen wäre, dann ruft sie telefonisch den Manager herbei. Schon kurz nachdem sie aufgelegt hat, steht Tom Polkerris vor mir, und als er mir die Hand schüttelt, muss ich mich zusammennehmen, um meinen Widerwillen zu verbergen. In meinem Jahrgang auf der Five Island School war er der Klassentyrann, der nichts lieber tat, als anderen Kindern das Leben schwer zu machen. Ich erinnere mich noch gut, dass ich einmal nachsitzen musste, weil ich ihn gegen eine Wand gestoßen hatte, nachdem er einen meiner Freunde gepiesackt hatte. Als Jugendlicher hatte er eine krause Mähne und eine fiese Akne, außerdem war er übergewichtig und nutzte seine Statur dazu, um andere einzuschüchtern. Heute hingegen sieht er exakt so aus, wie man es vom Geschäftsführer eines erstklassigen Hotels erwartet. Meine Ankunft scheint ihn nicht weiter zu beunruhigen, aber auf einer so kleinen Insel entkommt niemand seiner Vergangenheit.

Polkerris ist einen halben Kopf kleiner als ich, muss aber fleißig Sport treiben, denn er wirkt schlank in seinem schicken Anzug. Die Haare sind sorgfältig gestylt, sein Kinn von einem Dreitagebart bedeckt. Als er mich schließlich begrüßt, liegt doch ein besorgter Unterton in seiner Stimme.

»Welch unerwarteter Besuch. Wie kann ich helfen, Ben?«

»Ich müsste dich und Rhianna bitte mal unter vier Augen sprechen.«

»Komm hier entlang. Sie ist in unserem Büro und erledigt Papierkram.«

Ich folge ihm durch einen fensterlosen Flur, der quer durch das Gebäude führt, bis wir in einen lichtdurchfluteten Raum mit Blick auf den Garten eintreten. Auf einem hochflorigen grauen Teppich stehen sich zwei Schreibtische gegenüber. Polkerris’ Frau starrt auf ihren Laptop. Rhianna ist ebenfalls auf den Scilly-Inseln geboren, aber wir hatten als Kinder keinerlei Kontakt zueinander. Ihre Eltern haben sie auf ein exklusives Internat auf dem Festland geschickt, und auch in den örtlichen Pubs bin ich ihr nie begegnet. Rhianna ist eine noch elegantere Erscheinung als ihr Mann. Glattes blondes Haar fließt ihr wellenförmig über den Rücken, als sie sich erhebt, das enge graue Kleid betont ihre gute Figur. Ihre Gesichtszüge erinnern an eine Porzellanpuppe; die grünen Augen sind einen Tick zu weit aufgerissen. In ihr hat Tom Polkerris seine Meisterin gefunden: Dieser Eisklotz lässt sich unter Garantie von niemandem einschüchtern. Sie kann sich kaum ein Lächeln abringen, bevor sie auf einen Platz am Fenster deutet, als würde sie mich in die Büßerecke schicken.

»Ich habe eine Nachricht bezüglich Sabine Bertans zu überbringen«, sage ich zu den beiden.

»Sie hat doch nichts angestellt, oder?« Rhianna wirkt überrascht. »Sie hat alle notwendigen Papiere beigebracht. Wir hatten schon viele Mädchen aus Lettland hier; sie arbeiten hart und wissen sich zu benehmen.«

»Wann war sie zuletzt im Hotel?«

»Sabine hatte gestern Abend Dienst an der Bar«, antwortet Tom. »Sie hatte sich freiwillig für eine zusätzliche Schicht heute Morgen gemeldet, ist aber nicht aufgetaucht.«

»Und warum weiß ich davon nichts?«, giftet seine Frau ihn an. »Ich bin für das Personal zuständig.«

Die Eheleute starren einander derart feindselig an, dass es kurz so aussieht, als würden sie sich in meiner Gegenwart in die Wolle kriegen, aber private Zwistigkeiten gehören jetzt nicht hierher.

»Wir wissen, dass Sabine das Hotel nach dem Ende ihrer Schicht noch einmal verlassen hat«, sage ich.

»Das ist schwer zu glauben«, erwidert Rhianna. »Sie war nicht vor Mitternacht mit der Arbeit fertig. Bitte sagen Sie uns, was los ist.«

»Sabine wurde tot am Pulpit Rock aufgefunden. Ich kann keine Details nennen, aber wir sind sicher, dass sie es ist. Der Ordnung halber werde ich sie später noch formell identifizieren lassen.«

»Soll das etwa heißen, sie wurde umgebracht?«, fragt Tom Polkerris sichtlich schockiert.

»Tut mir leid, ich kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weiteren Angaben machen.«

Ihm weicht alle Farbe aus dem Gesicht, dann sinkt er kraftlos auf einen Stuhl. Von dem Kind, das Spaß daran hatte, seine Klassenkameraden aufzustacheln, ist keine Spur mehr zu sehen. Polkerris steht vor Schreck der Mund offen, aber seine Frau bleibt die Ruhe selbst.

»Wann ist das passiert?« Sie klingt gereizt, so als passte der Tod der jungen Frau ihr nicht in den Kram.

»Wir haben noch kein klares Bild; ich muss ihr Zimmer durchsuchen, bevor ich wieder gehe. Wirkte sie in den letzten Tagen irgendwie niedergeschlagen?«

»Überhaupt nicht. Sie hat ihre Zeit hier genossen«, antwortet Tom Polkerris.

Plötzlich ist es mit der Gelassenheit seiner Frau vorbei. »Unsere Gäste dürfen nichts davon erfahren! Sie kommen schließlich hierher, weil sie Ruhe und Frieden suchen.«

»Halt den Mund, Rhianna«, murmelt Polkerris. »Hast du nicht gehört, was Ben gesagt hat? Eine Mitarbeiterin von uns ist gestorben; alles andere ist im Moment zweitrangig.«

»Sag das mal unseren Aktionären, wenn wir schlechte Bewertungen auf Trip Advisor bekommen.« Sie presst die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, und ich frage mich, welche Gefühle sich wohl in dieser glänzenden Hülle verbergen.

»Wäre es in Ordnung, wenn ich hier später eine öffentliche Versammlung abhalten würde? Ich möchte Sabines Tod bekannt geben, bevor Gerüchte die Runde machen. Ihr Restaurant wäre der ideale Ort dafür.«

»Nicht im laufenden Betrieb«, antwortet Rhianna schnippisch. »Es wäre besser, Sie nutzen den Pfarrsaal dafür.«

Tom sieht aus, als wollte er Einspruch einlegen, hält jedoch den Mund. Unser Gespräch hat Probleme des Paares sichtbar gemacht: Die beiden scheinen im Angesicht einer Krise eher aufeinander loszugehen als zusammenzustehen. Polkerris’ Gang ist unsicher, als er mich durch den begrünten Innenhof des Hotels zum Wohntrakt der Angestellten führt. Wie es aussieht, hat er sich heute Morgen schon ein Gläschen gegönnt, aber die frische Luft scheint zu helfen. Als wir das einstöckige Gebäude erreichen, hat er sich wieder stabilisiert.

»Sabine wohnte in Zimmer elf«, sagt er leise. »Die Tür war nicht abgeschlossen, als ich vorhin nach ihr gesucht habe.«

Ich ziehe sterile Handschuhe an, bevor ich die Klinke anfasse. Sollte sich herausstellen, dass Sabine nicht aus freien Stücken aus dem Leben geschieden ist, könnte ich andernfalls wichtige Beweise zerstören; es zahlt sich immer aus, Vorsicht walten zu lassen. Als ich eintrete, liegt der künstliche Duft eines billigen Parfüms in der Luft. Ansonsten könnte es das Zimmer jeder x-beliebigen jungen Frau sein. An der Wand steht ein schmales Bett, auf der Frisierkommode liegen Haarclips, eine Sonnenbrille und loses Kleingeld herum. Sie muss in Eile gewesen sein, als sie ging: Ihre Uniform wurde achtlos über den Stuhl geworfen, so als hätte sie es nicht erwarten können, loszukommen. Wenn sie einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, ist davon keine Spur zu sehen. Mein Blick fällt auf ein rotes Kleid in ihrem Schrank. Sabine ist ein langes Leben mit vielen Anlässen zum Feiern versagt geblieben, und das aus Gründen, die ich nicht kenne. Ich versuche, die Wut zu unterdrücken, die in mir aufsteigt, denn die hat in einer Ermittlung keinen Platz. Seinen Gefühlen kann man sich hingeben, wenn man nicht im Dienst ist, bei der Arbeit verleiten sie nur zu Fehlern.

Ich brauche nicht lange, um unter die Matratze und hinter die Möbel zu schauen und die Taschen ihrer Kleidungsstücke zu durchsuchen. Jedoch ohne jeden Erfolg. Ich benötige dringend Sabines Handy, um rekonstruieren zu können, was in der Zeit vor ihrem Tod geschah, finde aber nur eine große Geldbörse aus Plastik mit einigen Briefen, ihrem Pass und ihren Reiseunterlagen darin. Ich stecke sie in einen Asservatenbeutel. Polkerris lehnt noch immer draußen an der Wand und lässt den Kopf hängen, als wäre er eine schwere Last.

»Alles in Ordnung, Tom?«

Er schließt die Augen. »Glaubst du, sie hat leiden müssen?«

»Es ist noch zu früh, um das sagen zu können.«

»Sie war erst neunzehn.« Auf seiner blassen Haut liegt ein Schweißfilm.

»Konzentrieren wir uns auf die Aufgaben, die vor uns liegen. Ich brauche Sabines Handy. Ich habe sie kürzlich noch damit gesehen. Die Hülle ist knallpink und hat ein Blumenmuster. Kannst du deine Mitarbeiter bitten, im Hotel danach zu suchen?«

»Natürlich.«

»Hatte Sabine einen Freund?«

»Tut mir leid, das weiß ich nicht.«

»Was ist mit Freundinnen? Mit wem hat sie an freien Tagen ihre Zeit verbracht?«

»Das weiß ich auch nicht.« Er zögert, bevor er weiterspricht. »Das Privatleben unserer Angestellten ist für uns tabu.«

»Wie wirkte sie denn gestern Abend auf dich?«

»Entspannt wie immer; sie hat mit den Kellnern herumgealbert. Ich habe von sechs Uhr bis nach Mitternacht gearbeitet und war die ganze Zeit zwischen Restaurant, Bar und Rezeption unterwegs. Wir haben uns noch eine gute Nacht gewünscht, als ihre Schicht zu Ende war.«

»Weißt du irgendwas Privates über sie?«

»Nur, dass sie katholisch war; sie hat mich gefragt, ob es hier eine Kirche gibt.«

»Okay, ich werde dem nachgehen. Mein Team muss noch mal wiederkommen, heute oder morgen.«

»Jederzeit. Einer von uns ist immer da.«

Ich ziehe die Tür zu Sabines Zimmer zu und bitte Polkerris, abzuschließen und mir den Schlüssel zu geben, damit niemand an ihre Sachen herankommt. Als wir gerade gehen wollen, fällt mir eine Gestalt am Ende des Flurs auf; es ist nicht mehr als ein Schatten, und sie huscht davon, bevor ich ihr Gesicht erkennen kann. Das erinnert mich daran, dass Gerüchte die Runde machen werden, wenn wir nicht bald sachliche Informationen zur Verfügung stellen. Polkerris ist zu sehr in Gedanken, um den Lauscher zu bemerken. Als wir durch den Garten zurückgehen, lasse ich meinen Blick über die Blumenbeete gleiten. Die Rosen bieten ein ideales Ambiente für noble Hochzeitsfeiern, die Haupteinnahmequelle des Hotelgewerbes. Hochzeitspaare zahlen viel Geld, um sich ihr Ja-Wort in so einem historischen Gemäuer geben zu können. Als wir am Ausgang ankommen, hat mein ehemaliger Klassenkamerad sich wieder gefasst, und ich frage mich, wo er die Aggressionen gelassen hat, die ihn als Kind angetrieben haben. Er wirkt ruhig und nüchtern, als ich ihn anweise, seine Mitarbeiter nicht über Sabines Tod zu informieren, bevor die öffentliche Versammlung gegen fünfzehn Uhr vorbei ist.

Als ich aufs Revier zurückkehre, klemmt Lawrie Deane noch immer hinter dem Empfangstresen, aber Shadow springt sofort auf, in der Hoffnung, jetzt über den Strand jagen zu dürfen. Lawrie telefoniert gerade mit dem Flugplatz, und das ist die erste gute Nachricht des Tages: Liz Gannicks Flieger von Penzance befindet sich im Landeanflug. Wenn uns das der Wahrheit näherbringt, nehme ich alle Hilfe an, die ich kriegen kann. Als ich mich auf den Weg machen will, um die Kriminaltechnikerin abzuholen, fällt mir plötzlich ein brauner Umschlag auf, der unter der Türmatte hervorlugt. Er wurde offenbar unter der Tür durchgeschoben und ist bis jetzt niemandem aufgefallen. Vorn drauf stehen in unregelmäßigen schwarzen Lettern mein Titel und mein Name: DI Ben Kitto. Ich überlege, ihn auf meinen Schreibtisch zu werfen und erst später hineinzuschauen, doch mein Bauchgefühl rät mir, es gleich zu tun. Der Umschlag enthält ein einzelnes Polaroidfoto, bei dessen Anblick sich mein Magen sofort wieder zusammenzieht. Sabine ist darauf zu sehen, und ihr Gesicht wird von demselben Schleier eingerahmt, den sie auch heute Morgen trug. Hier ist sie allerdings noch sehr lebendig; sie blickt mir als die ungeschminkte, natürliche Schönheit entgegen, als die ich sie in Erinnerung habe, doch aus ihrer Miene spricht der blanke Horror. Wenn sie das Foto selbst aufgenommen hat, bevor sie sich umgebracht hat, ist es eine makabre Art von Selfie. Möglicherweise hat sie den Umschlag ja gestern Nacht unter der Tür durchgeschoben, bevor sie nach Peninnis Head hinausgeradelt ist.

Erst jetzt kommt es so richtig bei mir an, dass die junge Frau, mit der ich geschwommen bin, aus dem Leben gerissen wurde; ganz gleich, auf welche Weise es geschehen ist. Als ich das Foto erneut betrachte, sehe ich, dass es weder Hinweise auf die Zeit noch auf den Ort der Aufnahme enthält. Ich kann nicht wissen, ob es nur Minuten oder Stunden vor ihrem Tod gemacht wurde. Aber als ich es umdrehe, steht mit weißem Marker auf der Rückseite: Die Braut trägt heute ihr Geschmeide, auf ewig schön im weißen Kleide. Ich weiß nicht, woher dieser Satz stammt, aber ich muss es herausfinden. Sabine könnte ihn selbst geschrieben haben, in der Gewissheit, dass ein früher Tod ihre Schönheit für immer konservieren wird, aber ich hatte nie den Eindruck, dass sie eitel war. Wenn sie ermordet wurde, haben diese Worte eine andere Bedeutung. Der Killer hat sich nicht damit zufrieden gegeben, eine lebensprühende junge Frau zu töten: Er verhöhnt uns auch noch. Und vielleicht ist der Mistkerl jetzt weniger als eine Meile entfernt und plant bereits die nächste Tat.

6

Um ein Uhr fahre ich, Shadow auf dem Rücksitz, zum Flugplatz im Osten der Insel; das Foto liegt bleischwer in meiner Tasche. Je nachdem, was der Gerichtsmediziner sagt, werde ich die Handschrift identifizieren lassen müssen. Ich fahre auf der Küstenstraße nach Norden und komme an Town Beach vorbei, wo die Fischerboote jetzt bei Ebbe im Schlick liegen. In Porth Mellon bummeln Touristen, Kameras über der Schulter und Eistüten in der Hand, über den Gehsteig. Sie sehen aus, als gehörten sie zu einem Paralleluniversum und wären blind für alle Arten von Gefahr. In den Lower Moors passiere ich Weiden, auf denen Schafe unter hohen Ulmen Schutz vor der heißen Sonne suchen. Die Zufahrtstraße zum Flugplatz säumen eigentlich Blumenfelder, doch die liegen im Moment brach; weit und breit ist nur hellbraune Erde zu sehen. Kaum etwas erinnert daran, dass die gesamte Landschaft hier noch vor wenigen Monaten voller leuchtend gelber Narzissen stand.

Ich komme genau rechtzeitig auf dem Parkplatz an, um zu sehen, wie das Zehnsitzer-Lufttaxi nach einer perfekten Landung über den Asphalt rollt. Sobald es seine Position erreicht hat, lässt der Betriebsleiter mich zu dem Flieger gehen. Die Pilotin, Jade Finbury, springt heraus, ihr Fluggast bleibt drinnen sitzen. Die brünette Frau ist Anfang dreißig und hat ein rundes, freundliches Gesicht, das zum Lächeln bestimmt zu sein scheint. Sie ist vor sechs Jahren gleich nach ihrer Ausbildung zur Pilotin aus London hierhergezogen. Jade hat sich problemlos an das Inselleben angepasst und einen Partner und Freunde in der Gemeinde gefunden. Ich kenne sie nicht näher, aber sie ist gut in ihrem Job; ich bin schon häufig mit ihr geflogen, wenn ich zu Schulungen aufs Festland musste.

»Ihr Gast hat viel Gepäck dabei, Ben. Soll ich einen der Träger holen?«

»Das wäre toll, danke.«

»Ist in meiner Abwesenheit irgendwas passiert?«

»Eine junge Frau ist zu Tode gekommen. Sie haben gerade die Chefkriminaltechnikerin von Cornwall hergeflogen, die uns unterstützen wird.«

Ihr Lächeln verschwindet. »Ist es jemand von St. Mary’s?«

»Heute Nachmittag um drei halten wir eine öffentliche Versammlung im Pfarrsaal ab, auf der wir die Einzelheiten bekannt geben.«

Sie schüttelt den Kopf. »Hier passiert nie was Schlimmes.«

»Kommen Sie zur Versammlung, Jade. Bis dahin wissen wir mehr.«

»Okay, ich werde da sein.«

Die Pilotin schaltet wieder in den Profimodus, greift nach ihrem Flughandbuch und überlässt es mir, Gannick in Empfang zu nehmen, während sie eiligen Schrittes zum Flughafengebäude marschiert. Ein kleiner Berg von Kisten und Boxen auf den vorderen Sitzen des Fliegers verdeckt den Blick auf die Chefkriminaltechnikerin. Noch bevor wir uns begrüßt haben, fängt sie an, mir mit ihrem nordenglischen Akzent lauthals Befehle zu erteilen.

»Ich hab unser mobiles Labor mitgebracht. Stehen Sie nicht untätig herum, die Sachen sind tonnenschwer.«

»Schön, Sie zu sehen, Liz. Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Warum brauchen Sie Hilfe bei einem Selbstmord, in Gottes Namen?«

»Das Mädchen war neunzehn Jahre alt. Ihre Eltern werden detailliert informiert werden wollen. Ich muss wissen, ob sonst noch jemand involviert war.«