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E-Book 1221-1230 E-Book

Diverse

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1: Du sollst leben, Ilka! E-Book 2: Ein schlimmer Streit E-Book 3: Deine Stimme in meinem Herzen E-Book 4: Allein im dunklen Wald E-Book 5: Die Lebensretter E-Book 6: Irinas Weg ins Glück E-Book 7: Wem gehört dein Herz, Lilly? E-Book 8: Du liebst mich nicht mehr! E-Book 9: Die Liebe macht stark! E-Book 10: Liebe unter Palmen

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Seitenzahl: 1114

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Inhalt

Du sollst leben, Ilka!

Ein schlimmer Streit

Deine Stimme in meinem Herzen

Allein im dunklen Wald

Die Lebensretter

Irinas Weg ins Glück

Wem gehört dein Herz, Lilly?

Du liebst mich nicht mehr!

Die Liebe macht stark!

Liebe unter Palmen

Chefarzt Dr. Norden – Staffel 12 –

E-Book 1221-1230

Diverse -

Du sollst leben, Ilka!

Wer hat die junge Frau so schwer verletzt?

Roman von Pergelt, Jenny

Seit einigen Wochen lebte Ilka in der gemütlichen Einliegerwohnung im Souterrain ihres Elternhauses. Mit den beiden geräumigen Zimmern, dem modernen Bad und der kleinen Einbauküche bot die Wohnung allen Komfort, um sich darin wohlzufühlen. Und das tat Ilka auch. Sie fühlte sich hier ausgesprochen wohl. Sie mochte die Wohnung, und sie verstand sich blendend mit ihren Eltern, Sigrun und Lothar Jentsch.

Trotzdem sehnte sie den Tag herbei, an dem sie endlich wieder eine eigene Wohnung beziehen konnte.

Als Sechsundzwanzigjährige, die gleich nach dem Schulabschluss das Nest verlassen hatte, war sie es gewohnt, auf eigenen Beinen zu stehen und ihren Haushalt zu führen. Sie vermisste ihre Eigenständigkeit und fand es nicht richtig, nun wieder hier zu leben.

Ilka sah fast liebevoll zu der blauen Mappe, die auf ihrem Wohnzimmertisch lag und in der sich der Mietvertrag für eine entzückende kleine Dachgeschosswohnung in der Münchner Innenstadt befand. In sechs Wochen wurde sie frei, und Ilka konnte sie dann endlich beziehen. Und bis dahin würde sie es noch ein wenig genießen, Zeit mit ihren Eltern zu verbringen und ihrer Mutter unter die Arme zu greifen, der vermehrt gesundheitliche Probleme zu schaffen machten.

Ilka nahm ihren Rucksack, packte ihr Handy ein und griff nach ihrer dünnen Strickjacke, obwohl die kräftig scheinende Sonne schon jetzt einen heißen Sommertag versprach.

Ihre Eltern saßen auf der großen Terrasse hinter dem Haus beim Frühstück.

Sigrun freute sich, dass Ilka vorbeischaute, bevor sie zur Arbeit aufbrach. »Wenn du ein bisschen früher aufgestanden wärst, hätten wir zusammen frühstücken können.«

»Ach, für einen Kaffee reicht meine Zeit schon noch aus.« Ilka nahm ihrem Vater dankbar die volle Kaffeetasse ab. »Fahrt ihr nachher in die Praxis?«

»Ja«, beantwortete Sigrun die Frage und sah dabei nicht glücklich aus. »Dr. Müller möchte mit mir die Befunde der Blutentnahme durchsprechen. Seine Schwester wollte mir ja gestern am Telefon nichts dazu sagen.« Sigruns Mundwinkel sackten noch weiter nach unten. »Ich hoffe nur, dass das kein schlechtes Zeichen ist.«

»Natürlich nicht!«, sagte Ilka schnell. Sie sah zu ihrem Vater hinüber in der Hoffnung auf Unterstützung. Doch Lothar Jentsch sah aus, als bräuchte er selbst etwas Aufmunterung, weil er die Ängste seiner Frau teilte.

»Die Schwester darf doch generell keine Auskunft zu den Befunden geben«, sprach Ilka deshalb weiter. »Ihr macht euch sicherlich ganz umsonst Sorgen.«

»Na, ich weiß ja nicht.« Sigrun blieb skeptisch. »Dr. Müller nimmt uns ja regelmäßig Blut ab. Bisher hat es immer gereicht, wenn wir am nächsten Tag anriefen, um die Befunde bei der Schwester zu erfragen. Ich wurde früher nie dafür in die Praxis bestellt. Außerdem …« Sigrun seufzte traurig. »Außerdem geht es mir ja schon seit längerer Zeit nicht gut. Ich bin immer so schlapp und ständig müde. Und dann noch diese schreckliche Übelkeit, und richtigen Appetit habe ich auch nicht mehr. Irgendetwas wird da schon sein, Ilka. Mir geht es nicht grundlos so schlecht.«

Ilka sprang von ihrem Stuhl auf, um ihre Mutter zu umarmen. »Bitte, mach dich nicht verrückt«, sagte sie leise. »Es kann doch etwas ganz Harmloses sein. Zu viel Magensäure, eine empfindliche Galle …« Ilka zuckte ratlos die Achseln, weil sie nicht wusste, was sie machen sollte, um ihre Mutter zu beruhigen. Oder sich selbst. Auch Ilka fürchtete sich vor dem, was Dr. Müller heute zu sagen hatte. Dass es ihrer Mutter nicht gut ging, war längst kein Geheimnis mehr. Sie war kaum noch belastbar, hatte auffällig abgenommen und machte insgesamt einen kränklichen Eindruck. Das und die anderen Beschwerden, mit denen sich die fast Sechzigjährige herumschlug, ließen vermuten, dass sie ernsthaft krank war.

»Warte einfach ab«, versuchte Ilka weiter ihr Glück bei ihrer Mutter. »Sich vorher schon das Schlimmste auszumalen, bringt doch nichts.«

»Das weiß ich ja, aber …« Sigrun brach mitten im Satz ab, weil das Telefon ihrer Tochter klingelte. »Geh schon ran, Kleines. Vielleicht ist es etwas Wichtiges.«

»Wichtiger als die beste Mutter der Welt?«, scherzte Ilka, kramte aber schon in ihrem Rucksack, um das Handy zu finden. Als sie es endlich hatte, warf sie nur einen kurzen Blick aufs Display und legte es weg, ohne den Anruf anzunehmen.

»War das etwa schon wieder Roman?«, fragte Lothar. Es war nicht zu überhören, wie sehr es ihn störte, dass der Ex-Freund seiner Tochter ständig anrief.

»Ja, wer sonst?«, stöhnte Ilka. »Wir sind seit drei Monaten getrennt, und er kann es immer noch nicht akzeptieren, dass es vorbei ist.«

»Ich könnte ihn mir mal vorknöpfen. Das, was er hier abzieht, grenzt doch schon an Belästigung.«

»Stalking!«, warf seine Frau ein. »Roman benimmt sich wie ein Stalker. Du musstest seinetwegen sogar Köln verlassen, weil er dir dort auf Schritt und Tritt gefolgt ist, dir vor deiner Wohnung auflauerte und deine Nachbarn über dich ausgefragt hat. Droh ihm doch mal mit einer Anzeige, wenn er dich nicht endlich in Ruhe lässt.«

»Du kannst ihm auch gern mit deinem Vater drohen«, sagte Lothar und machte dabei ein finsteres Gesicht, als wollte er den beiden Frauen am Tisch zeigen, wie ernst es ihm mit seinen Worten war.

»Ach, Papa! Mama!« Ilka schlug einen versöhnlichen Ton an und sah von einem zum anderen. »So schlimm ist er doch gar nicht. Ich gebe zu, dass es ziemlich lästig ist, wenn er ständig anruft oder mich mit Nachrichten bombardiert. Aber deswegen kann ich ihn doch nicht gleich anzeigen. Irgendwann wird er bestimmt von ganz allein damit aufhören, wenn ich nicht darauf eingehe und seine Anrufe weiter ignoriere.«

»Na, ich weiß ja nicht.« Sigrun zweifelte. »Normal ist das jedenfalls nicht mehr, wie er sich verhält. Und dass du das auf die leichte Schulter nimmst, finde ich auch nicht so gut. Wenn dieser Stalker nun …«

»Mama!«, stoppte Ilka sie schnell und ein wenig ungeduldig. Sie hatte eigentlich nur vorgehabt, mit ihren Eltern eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor sie zur Dienststelle musste. Dass sich daraus nun eine langwierige Diskussion über Roman entwickelte, gefiel ihr gar nicht. »Roman ist kein Stalker! Bitte nennt ihn nicht so! Er macht doch gar nichts Schlimmes. Er verfolgt mich nicht, und ich werde nicht von ihm bedroht. Und mit seinen Anrufen und Nachrichten ist es ab heute auch vorbei. Ich werde seine Nummer nachher blockieren.«

Lothar räusperte sich vernehmlich. »Darf ich dich daran erinnern, dass du das bereits ein paar Mal gemacht hast? Du blockierst seine Nummer, und nach einigen Tagen ruft er dich unter einer neuen Telefonnummer doch wieder an. Oder er unterdrückt seine Rufnummer und die Anrufe landen wieder bei dir. Findest du sein Verhalten wirklich noch normal? Also ich jedenfalls nicht!«

Nein, auch Ilka fand das nicht normal, und manchmal beunruhigte es sie sogar. Doch das wollte sie ihren Eltern nicht sagen. Sie sollten sich nicht um sie sorgen, wenn ihnen der bevorstehende Arztbesuch schon genug Kummer bereitete.

»Wo bist du denn heute eingeteilt?«, fragte ihr Vater, und sie war ihm für diesen Themenwechsel sehr dankbar.

»In der Isarvorstadt, in der Nähe des Gärtnerplatzes.« Ilka trank ihren Kaffee aus und stand auf. »Solltet ihr da heute unterwegs sein und euer Auto ins Parkverbot stellen, werde ich euch sofort ein Knöllchen verpassen.«

»Du würdest noch nicht mal bei deinen Eltern ein Auge zudrücken?«, rief Sigrun in gespielter Empörung aus.

»Natürlich nicht!«, gab Ilka im gleichen Tonfall zurück. »Ich bin eine sehr vorbildliche und gewissenhafte Politesse!«

Sigrun lachte, doch Lothar sah seine Tochter betrübt an. »Ich weiß, dass dir die Arbeit keine Freude macht, Kleines. Warum tust du dir das überhaupt an? Bleib doch zu Hause, bis deine Stelle in der Stadtverwaltung frei wird. Falls du Geld brauchst, können wir dir …«

»Nein, Paps!«, fiel Ilka ihrem Vater schnell ins Wort. »Ich wohne doch schon kostenfrei bei euch, und dafür bin ich euch wirklich sehr dankbar. Und ich bin auch dankbar, dass mir die Stadt für den Übergang den Job als Politesse angeboten hat. Dass er nicht mein Traumjob ist, stört mich nicht. Er verschafft mir ein Einkommen, und die Arbeit, die ich da leiste, ist wichtig. Die restlichen drei Wochen, bis meine Stelle in der Verwaltung frei wird, werden schnell vergehen.« Ilka sah auf ihre Uhr. »Und nun muss ich wirklich los. Mama, ich drücke dir für deinen Termin bei Dr. Müller ganz fest die Daumen.« Ilka nahm ihren Rucksack auf, winkte ihren Eltern noch einmal zu und lief dann zum Carport, wo ihr Fahrrad stand.

Das Haus ihrer Eltern lag im ruhigen Münchner Umland. Oft fuhr Ilka mit dem Bus nach München rein, weil es so am bequemsten war. Und wenn sie einen Sitzplatz am Fenster erwischte, konnte sie dabei sogar die schöne Aussicht genießen. Doch wenn das Wetter so gut war wie heute, gefiel es ihr, das Rad zu nehmen. Die wenig befahrene Landstraße führte an kleinen Baumgruppen und weitläufigen Wiesen vorbei; und das Panorama alter Tannenwälder und Bergkuppen im Hintergrund bot einen atemberaubenden Anblick und war zu dieser Jahreszeit wunderschön anzusehen. Da nahm Ilka den längeren Anfahrtsweg bis zu ihrer Dienststelle in der Innenstadt gern in Kauf.

Sie erreichte sie noch rechtzeitig vor Arbeitsbeginn. Nach einem kurzen Begrüßungsplausch mit ihren Kollegen zog sie ihre Politessenuniform an, packte ihre Sachen zusammen und startete dann ihren Dienst in der Isarvorstadt.

*

Lothars Anspannung, die er schon seit Tagen spürte, hatte in den letzten Minuten spürbar zugenommen. Seit er mit seiner Frau die Praxis ihres Hausarztes betreten hatte, schlug sein Herz so kräftig, dass er es fast hören konnte. Seine Stirn war nass vom Schweiß und seine Kehle so trocken, dass das Sprechen wehtat.

Die Gedanken kreisten nur noch um das, was der Doktor mit ihnen besprechen wollte. Eigentlich ja nur mit seiner Frau, aber Lothar hatte sich fest vorgenommen, bei Sigrun zu bleiben, damit sie diese Unterredung nicht allein durchstehen musste.

»Lothar, hör auf, dich verrückt zu machen«, raunte sie ihm im Wartezimmer leise zu. Nach dreißig Ehejahren kannte sie ihn so gut, dass sie genau wusste, wie es in ihm aussah. »Es wird schon nichts sein. Ilka meinte das doch auch.«

»Ilka ist Verwaltungsangestellte und keine Ärztin«, erwiderte Lothar nervös. »Was weiß sie denn schon? Außerdem hast du doch selbst die größte Angst. Du müsstest mich deshalb gut verstehen können.«

»Tu ich ja auch, mein Lieber«, sagte Sigrun seufzend. »Aber mir geht es nun mal besser, wenn ich mir immer wieder einrede, dass alles in Ordnung sei.«

Lothar sah die Frau, mit der ihn so viele gemeinsame Jahre verbanden, voller Liebe an. Er ergriff ihre Hand und streichelte sie. »Du hast Recht, mein Liebling. Und Ilka hat auch Recht. Es gibt keinen Grund für Sorgen. Bestimmt hast du nur eine leichte Unpässlichkeit, die sich mit ein paar Vitaminen beheben lässt. Oder du bekommst ein Antibiotikum. Falls du denn überhaupt krank bist.«

Lothar hörte selbst, dass es ihm nicht gelungen war, seine tief sitzenden Zweifel aus dem letzten Satz herauszuhalten. Und noch während er hastig überlegte, wie er Sigrun auf eine bessere Weise Mut machen könnte, wurde sie auch schon aufgerufen. Wie selbstverständlich stand Lothar mit auf. Diesen Gang ins Behandlungszimmer sollte Sigrun nicht allein machen. Zum Glück hatte niemand etwas dagegen einzuwenden. Weder Dr. Müller und schon gar nicht Sigrun, die sichtbar erleichtert war, dass Lothar nicht von ihrer Seite wich.

Dr. Müller bot ihnen die beiden Plätze vor seinem Schreibtisch an und startete mit etwas Smalltalk übers Wetter, bevor er zum eigentlichen Grund für den Besuch seiner Patientin zu sprechen kam.

»Die Werte Ihrer letzten Blutuntersuchung liegen mir jetzt vor. Fast alle sind im Normbereich. Beim Cholesterin müssen wir ein wenig aufpassen, aber damit erzähle ich Ihnen ja nichts Neues. Sorgen mache ich mir wegen Ihrer Leberwerte. Die Transaminasen sind außergewöhnlich hoch und deuten auf eine Erkrankung der Leber hin. Dazu würden auch die Beschwerden, die Sie haben, gut passen.«

»Eine Lebererkrankung?«, fragte Sigrun alarmiert nach. »Meinen Sie eine Hepatitis?«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Es wäre möglich, aber für eine genaue Diagnose sind weitere Untersuchungen nötig.« Dr. Müllers Miene sah bei diesen Worten so ernst aus, dass Lothars Sorgen sofort zunahmen. Und als Sigrun unter dem Tisch nach seiner Hand tastete, wusste er, dass es ihr nicht anders erging.

Er drückte sie sanft und fragte dann den Doktor: »Was passiert denn jetzt? Wie schlimm ist es?«

»Die zweite Frage kann ich Ihnen noch nicht beantworten. Zu Ihrer ersten Frage: Wir werden nun weitere Untersuchungen machen. Dazu ist es auch erforderlich, noch einmal Blut abzunehmen …«

»Kein Problem«, sagte Sigrun. »Ich habe ja genug davon. Und vor einer Nadel fürchte ich mich nicht. Von mir aus können Sie sofort loslegen.«

»Heute wird das leider nichts. Sie müssten morgen noch mal wiederkommen, wenn Sie noch nichts gegessen haben. Aber ich würde jetzt gern eine Ultraschalluntersuchung machen und mir Ihre Leber ansehen. Vielleicht hilft das schon weiter, um herauszufinden, was mit Ihnen los ist.«

Während Dr. Müller mit dem Ultraschallkopf über Sigruns rechten Oberbauch fuhr, saß Lothar auf der anderen Seite der Untersuchungsliege und hielt dabei weiter Sigruns Hand. Er war sich nicht sicher, ob er es zu ihrer oder seiner Beruhigung tat. Sigrun starrte die ganze Zeit auf den Monitor, als könnte sie dadurch dem Geheimnis ihrer Krankheit auf die Spur kommen. Diese Mühe machte sich Lothar nicht. Außer diffuse, seltsam anmutende Gebilde in unterschiedlichen Grautönen war dort nichts zu sehen. Es war ihm seit jeher ein großes Rätsel, wie die Ärzte daraus etwas erkennen wollten. Er wäre dazu ganz sicher nicht in der Lage. Deshalb konzentrierte er sich lieber auf die Miene des Arztes und versuchte, diese zu deuten. Und das machte ihm schon genug Angst. Denn wenn er sich nicht sehr irrte, verhieß Dr. Müllers Gesichtsausdruck nichts Gutes.

Und dessen nächste Worte bestätigten Lothars Vermutung.

»Ihre Leber ist größer, als sie eigentlich sein dürfte. Und sie weist weitere Auffälligkeiten auf, die mir etwas Sorge bereiten.«

»Was ist es denn?«, wisperte Sigrun angstvoll. »Krebs?«

»Aber Frau Jentsch! Wir wollen mal nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen!« Dr. Müller versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, aber Lothar wunderte sich nicht, dass er damit keinen Erfolg hatte. »Die Aufnahmen zeigen einige vergrößerte Lymphknoten im Bereich der Leberpforte«, fuhr Dr. Müller fort. »Die Leberpforte befindet sich an der Unterseite der Leber, dort, wo verschiedene Gefäße ein- und austreten. Außerdem zeigen auch die Struktur und die Oberflächenbeschaffenheit der Leber ein paar Unregelmäßigkeiten, die dort eigentlich nicht sein sollten. Sie verstehen sicher, dass wir nun abklären müssen, warum das so ist.«

Mehr als ein stummes Nicken brachte Sigrun nicht zustande, deshalb übernahm es Lothar, die Fragen an Dr. Müller zu stellen. »Was passiert denn jetzt? Wie wollen Sie das abklären? Sie sprachen vorhin von Blutuntersuchungen …«

»Das war, bevor ich den Ultraschall gemacht habe. Jetzt möchte ich Ihnen etwas anderes vorschlagen.« Dr. Müller reichte seiner Patientin eine Lage Zellstoff, damit sie das Ultraschall-Gel von ihrem Bauch abwischen konnte. »Ich denke, dass die weitere Diagnostik stationär durchgeführt werden sollte.«

»Ich muss in die Klinik?« Sigrun sah ihren Hausarzt verschreckt an. »Dann ist es also doch so schlimm, wie ich dachte?«

»Das wollte ich nicht damit sagen, Frau Jentsch. Ich bin einfach nur der Meinung, dass die Ärzte in der Klinik ganz andere Möglichkeiten haben als ich in meiner kleinen Praxis. Viele Untersuchungen kann ich hier gar nicht durchführen. Das bedeutet, dass ich Sie zu Fachärzten überweisen müsste. Wahrscheinlich würden dann Wochen vergehen, bis ich alle Befunde zusammen habe und eine Diagnose stellen kann. Wochen, in denen keine Therapie stattfindet und in denen es Ihnen vielleicht immer schlechter geht.« Dr. Müller sah sie eindringlich an. »Ich kann Ihnen die Klinikeinweisung nur dringend raten; die Entscheidung liegt dann natürlich bei Ihnen.«

Sigrun warf ihrem Mann einen ängstlichen Blick zu, obwohl sie auch ohne Lothars Nicken wusste, was zu tun war. »Können Sie mir denn eine gute Klinik empfehlen?«

Dr. Müller brauchte nicht lange zu überlegen. »Die Behnisch-Klinik hat einen ausgezeichneten Ruf. Ihren Chefarzt kennen Sie übrigens sehr gut. Sie waren doch früher Dr. Nordens Patientin, als er noch als Hausarzt praktizierte.«

»Ja, und das über viele Jahre. Wir hatten sogar privat häufig Kontakt gehabt, weil seine Kinder und unsere Tochter am selben Gymnasium waren. Mit seiner Frau habe ich oft geplaudert, wenn wir uns an der Schule über den Weg liefen. Also, wenn ich zu Dr. Norden könnte, wäre das wirklich gut.«

»Das klingt doch bestens.« Dr. Müller war sichtlich erleichtert, dass sich seine Patientin nicht gegen die Klinikaufnahme wehrte. »Ich setze mich nachher mit Dr. Norden in Verbindung, berichte ihm von Ihrem Fall und bitte ihn, die weitere Diagnostik zu übernehmen. Sobald feststeht, wann er Sie aufnehmen kann, melde ich mich bei Ihnen. Und bis dahin bewahren Sie bitte Ruhe. Vielleicht ist die Angelegenheit wirklich ganz harmlos, und wir haben uns völlig umsonst Gedanken gemacht.«

Daran konnten weder Sigrun noch Lothar glauben. Während der Heimfahrt sprach niemand von ihnen ein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie groß die Ängste tatsächlich waren.

Als sie zu Hause ankamen, wollte sich Sigrun sofort nach oben begeben. »Ich lege mich ein paar Minuten hin, Lothar. Das Ganze hat mich doch ziemlich angestrengt.«

»Natürlich, aber … aber sollten wir nicht erst mal darüber reden.«

»Ach, Lothar«, seufzte Sigrun. »Was soll das bringen, solange wir nichts Genaues wissen? Du hast doch Dr. Müller gehört. Es gibt ein paar Auffälligkeiten, die in der Klinik abgeklärt werden müssen. Erst dann steht fest, was los ist. Alles andere wäre jetzt nur Spekulation und führt zu nichts. Wir sind medizinische Laien und wissen ohnehin nicht, was diese Blutwerte oder mein Ultraschall zu bedeuten haben.«

»Ich wollte mit dir nicht über die Laborbefunde sprechen, sondern über uns und unsere Ängste. Die haben wir nämlich beide. Vielleicht tut es uns gut, wenn wir darüber reden und uns gegenseitig Mut machen.«

»Mut …«, sagte Sigrun, und es schwang so viel Verzagtheit und Trostlosigkeit mit, dass ziemlich klar war, über wie wenig Mut sie noch verfügte. Traurig sah sie ihren Mann an. »Du hast Recht, mein Lieber. Ich darf nicht vergessen, dass du genauso viel Angst hast wie ich. Wir sollten darüber sprechen. Unbedingt sogar, aber im Moment …« Sie wandte sich um und ging mit schleppenden und mühevollen Schritten in Richtung Treppe. »Im Moment möchte ich mich nur noch hinlegen. Ich bin … ich bin am … am Ende und deshalb brauche … brauche …« Weiter kam sie nicht. Am Fuße der Treppe kam sie ins Schwanken und brach zusammen.

»Siggi!«, brüllte Lothar und stürzte zu ihr, um sie aufzufangen.

*

Ilka war froh, dass sie sich diese Straßenseite für die heiße Mittagszeit aufgehoben hatte. Der Rotdorn und die Häuserfront spendeten jetzt Schatten, und Ilka kam trotz der hochsommerlichen Temperaturen kaum ins Schwitzen.

Sie machte ein paar Fotos von dem Ford, den sein Besitzer ohne Parkschein abgestellt hatte und gab die Daten in ihr Smartphone ein. Danach druckte sie den Strafzettel über den kleinen mobilen Drucker in ihrer Schultertasche aus und klemmte ihn hinter den Scheibenwischer des Parksünders. Er war der vorerst Letzte in dieser Reihe, und Ilka beschloss, dass die Zeit für ihre Mittagspause gekommen war.

»Na, Bella, warst du wieder fleißig und hast viele Knöllchen verteilt?« Mit einem fröhlichen Augenzwinkern wurde sie von Pietro begrüßt, als sie sein kleines italienisches Café betrat.

»Ich war sehr fleißig«, erwiderte Ilka leise lachend. »Du kannst gern mal meine Füße danach fragen. Die werden dir das sicher bestätigen. Knöllchen habe ich aber kaum verteilt. Die meisten Autofahrer benehmen sich hier vorbildlich und halten sich an Recht und Ordnung.«

»Nette Gegend, nette Leute«, sagte Pietro achselzuckend, als würde das allein erklären, warum die Ordnungshüter in diesem Straßenzug ein ruhiges Arbeitsleben genossen. Er brachte Ilka unaufgefordert ein Glas mit klarem, eiskaltem Wasser zum Tisch, das sie ihm dankbar abnahm, bevor sie sich in die kleine Speisekarte vertiefte.

Ilka kannte Pietro schon seit vielen Jahren. Früher hatten sie zusammen die Schulbank gedrückt, sich dann aber später aus den Augen verloren. Doch seit Ilka als Politesse regelmäßig in diesem Viertel unterwegs war, sahen sie sich wieder häufiger.

Obwohl Pietro im gleichen Alter war wie Ilka, hatte er bereits das Café seiner Eltern übernommen, war verheiratet und Vater von zwei entzückenden, kleinen Zwillingsmädchen.

»Wie immer?«, fragte Pietro, als er an ihren Tisch zurückkam und die Speisekarte von Ilka entgegennahm. »Nur einen kleinen Salat für ein kleines Vögelchen?« Bevor Ilka darauf antworten konnte, sagte er kopfschüttelnd: »Wie willst du denn davon nur satt werden?«

»Mein Hunger und mein Appetit halten sich bei der Hitze in Grenzen. Außerdem habe ich vor, heute mal so richtig zu sündigen. Wenn ich Feierabend mache, komme ich noch einmal vorbei und kaufe mindestens ein Dutzend deiner Mandorlinis. Am besten legst du sie mir gleich zurück, damit ich nachher noch welche abbekomme. Meine Eltern lieben sie, und ich kann auch nicht genug davon bekommen.«

»Das sind ja auch die besten Mandorlinis in ganz München.« Pietro winkte ab. »Ach, was sag ich! Du findest außerhalb Italiens keine, die besser sind!«

Ilka lachte. Sie war sich zwar sicher, dass Pietro gerade etwas übertrieb, aber dass sein süßes Mandelgebäck verführerisch und unwiderstehlich schmeckte, wusste sie nur zu gut aus eigener Erfahrung.

Pietro gab ihre Bestellung in der Küche ab und flitzte dann zum nächsten Tisch, an dem gerade ein älteres Ehepaar Platz genommen hatte. Währenddessen vertrieb sich Ilka die Wartezeit damit, aus dem Fenster zu schauen und dem regen Treiben in dieser belebten und äußerst beliebten Einkaufsstraße zuzuschauen. Gerade fuhr der dunkelblaue Kombi von Bastian Wolters zum dritten Mal innerhalb der letzten fünf Minuten am Café vorbei, und Ilka wusste schon jetzt, was das für sie bedeuten würde.

Der freiberufliche Fotograf hatte sein Fotostudio auf der anderen Straßenseite neben dem kleinen Buchladen. Dort herrschte striktes Parkverbot, während es auf dieser Seite möglich war, auf den dünn gesäten, ausgewiesenen Parkflächen das Auto abzustellen. Allerdings war dazu eine große Portion Glück nötig, und oft ging man bei der Parkplatzsuche leer aus. Dann blieb den Fahrern nichts anderes übrig, als ihren Wagen ein paar Straßen weiter zu parken und einen längeren Fußweg in Kauf zu nehmen.

Natürlich gefiel das weder den Kunden noch den Ladenbesitzern. Besonders Bastian Wolters störte sich daran. Er schien der festen Überzeugung zu sein, dass das die reine Schikane der Stadt war, um ehrlichen Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen, wenn sie in ihrer Not das Auto ins Parkverbot stellten und dafür ein Knöllchen bekamen.

Bastian Wolters fuhr schon wieder am Café vorbei. Was jetzt folgte, hatte Ilka bereits kommen sehen. Leise stöhnte sie auf, als er nun den Blinker setzte und das Auto direkt vor seinem Laden abstellte – im Parkverbot. Ilka sah zu, wie er ausstieg und die Heckklappe öffnete. Dann lud er mehrere Kisten, Lampen, Stative und Leinwände aus und trug alles nach und nach in seinen Laden. Bei der Menge an Equipment kam er wahrscheinlich gerade von einem größeren Fototermin zurück.

Bastian Wolters war ein gutaussehender Mann Anfang dreißig, großgewachsen und sportlich. Er war genau der Typ Mann, auf den die meisten Frauen standen. Manchmal sah sie ihn in Begleitung wunderschöner, superschlanker und langbeiniger Models. Keine Durchschnittsfrauen so, wie sie eine war: durchschnittlich groß, mit durchschnittlicher Figur und nur durchschnittlich hübsch. Sie hielt sich selbst für ganz ansehnlich, aber sie war halt nur – Durchschnitt. Dem Vergleich mit Wolters tollen Begleiterinnen konnte sie nicht standhalten.

Als sich deswegen kummervolle Gedanken in ihr breitmachen wollten, rief sie sich schnell zur Ordnung. Bastian Wolters interessierte sie überhaupt nicht! Jedenfalls nicht als Mann! Und überhaupt wäre ihr Arbeitsalltag viel, viel leichter, wenn es ihn gar nicht geben würde.

Pietro brachte den Salat an ihren Tisch und folgte ihrem Blick nach draußen. »Oh! Oh! Dein Lieblingskunde ist wieder da.«

»Ich wünschte, er würde sich endlich mal an die Parkordnung halten«, maulte Ilka. »Niemand macht mir hier das Leben so schwer wie er.«

»Ach, Bella, sieh es ihm nach. Als ihm die Stadt vor zwei Jahren das Studio vermietete, hatten sie ihm versprochen, dass er drei Parkplätze vor dem Laden bekommen würde. Doch kaum war die Tinte unter dem Mietvertrag trocken, wusste niemand mehr davon.«

»Stand die Zusage denn nicht im Vertrag?«

»Nein, Bastian war wohl ziemlich gutgläubig gewesen. Er hatte sich auf die mündliche Absprache verlassen und kann nun nichts machen. Er hat jetzt eine Ausnahmegenehmigung beantragt, aber so richtig geht es da wohl nicht voran.«

»Das ist wirklich ärgerlich für ihn, und dass er deswegen sauer und frustriert ist, kann ich gut verstehen. Aber ich muss trotzdem meine Arbeit machen und kann ihm das Falschparken nicht durchgehen lassen.«

»Mach es doch so wie immer: Lass dir viel Zeit beim Essen. Kau lange und sehr langsam. Und mit ein bisschen Glück ist er wieder fort, bevor du mit deiner Pause fertig bist.« Pietro zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Ilka riss erstaunt die Augen auf. »Ist dir das etwa aufgefallen?«

»Mir entgeht hier nichts, Bella«, gab Pietro lachend zurück, bevor er sich hinter den Tresen zurückzog, damit Ilka in Ruhe essen konnte.

Leider war es mit Ilkas Ruhe vorbei, seit Bastian Wolters vor seinem Fotostudio eingeparkt hatte. Wenn er nicht rechtzeitig von dort verschwand, würde sie ihm wieder einen Strafzettel geben müssen. Sie hatte durchaus Verständnis für seine Situation. Und dass er seinen Wagen erst nach erfolgloser und recht langer Parkplatzsuche dort abgestellt hatte, war ihr auch nicht entgangen. Ihm war ja gar nichts anderes übriggeblieben, wenn er seine ganze Ausrüstung nicht durch die Gegend schleppen wollte. Deshalb war sie auch bereit, ein Auge zuzudrücken und nicht sofort nach draußen zu stürmen, um ihn aufzuschreiben. Doch dass er nach dem Entladen den Wagen abschloss, um dann seelenruhig in seinem Laden zu verschwinden, fand sie ganz schön dreist von ihm.

Eigentlich durfte sie ihm das nicht durchgehen lassen. Andererseits war sie auch nicht verpflichtet, auf ihre Mittagspause zu verzichten, um jedem Parksünder nachzujagen. Also aß Ilka langsam ihren Salat weiter. Möglicherweise ließ sie sich heute sogar extra viel Zeit damit, in der Hoffnung, dass Wolters diese zusätzlichen Minuten nutzte, um endlich seinen Wagen fortzufahren.

Doch diesen Gefallen tat er ihr leider nicht.

Schließlich wurde es Zeit für Ilka aufzubrechen. Sie bezahlte und plauderte dann ein bisschen mit Pietro, bevor sie sein Café endlich verließ. Der Kombi stand dort, wo Wolters ihn vor zwanzig Minuten abgestellt hatte.

Ilka blieb stehen, sah demonstrativ auf ihre Uhr und dann mit vorwurfsvoller Miene zum Auto hinüber. Sie hoffte, dass Bastian Wolters gerade aus dem Fenster sah und sie dabei beobachtete. Vielleicht verstand er das als letzte Warnung und stürmte gleich aus dem Laden, um sein Auto endlich wegzufahren. Doch auch jetzt tauchte er nicht auf.

Ilka wusste, die meisten ihrer Kollegen waren nicht so nachsichtig wie sie. Wahrscheinlich wären sie sofort über die Straße gelaufen, um ihres Amtes zu walten. Sie hätten wohl nicht absichtlich beim Essen getrödelt. Und ganz bestimmt hätten sie sich jetzt nicht abgewandt, um ihren Rundgang am anderen Ende der Straße zu beginnen und dem Delinquenten so noch eine letzte Gnadenfrist einzuräumen.

Genau das tat Ilka jetzt. Sie blieb auf ihrer Seite der Straße, schlenderte zu deren Ende, bevor sie hinüberging und mit ihrer Arbeit begann.

*

Da alle anderen Fahrer heute vorschriftsmäßig parkten, war Ilka schnell wieder beim Fotostudio Wolters angelangt. Dass der Wagen dort noch immer parkte, ärgerte sie inzwischen maßlos. Machte der Mann das etwa mit Absicht? Wollte er, dass sie ihm ein Knöllchen verpasste, damit er wieder stundenlang darüber diskutieren konnte? Er musste sie doch gesehen haben, als sie aus dem Café kam! Sie hatte ja wohl lange genug davor herumgestanden!

Zähneknirschend startete sie auf ihrem Smartphone die App für die Verwarngelder und machte sich an die Arbeit. Sie hatte gerade das Nummernschild eingegeben, als Bastian Wolters wie erwartet aus seinem Laden stürzte.

»Na, toll!«, rief er verärgert aus. »Werde ich etwa schon wieder zur Kasse gebeten? Herrscht im Stadtsäckel so große Ebbe?«

»Nicht mehr als sonst«, murmelte Ilka und machte einfach weiter. Sie wusste schon, was jetzt kam. Diese Situation war nicht neu für sie. Bastian Wolters bekam fast immer, wenn sie hier ihren Dienst tat, einen Strafzettel von ihr. Und genauso oft kam er dazu, um mit ihr zu streiten und zu diskutieren.

»Ich habe meinen Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung vor sieben Wochen bei der Stadtverwaltung abgegeben«, schimpfte er. »Vor sieben Wochen! Und nichts passiert! Steckt da ein System dahinter? Wird das hier absichtlich hinausgezögert, damit Sie mir einen Strafzettel nach dem anderen verpassen können und sich dabei eine goldene Nase verdienen?«

Unwillkürlich wollte sich Ilka an ihre Nase fassen, doch zum Glück fiel ihr noch rechtzeitig ein, dass das nur eine Redensart war, mit der er ihr unterstellte, dass sie an jedem Knöllchen ordentlich mitverdiente.

»Ich bekomme keine Provision!«, verteidigte sie sich und versuchte dabei gleichzeitig, ein dummes Vorurteil aus dem Weg zu räumen. »Ich mache hier nur meine Arbeit …«

»Dann scheinen Sie Ihre Arbeit ja wirklich sehr zu lieben, wenn Sie ihr so gewissenhaft nachgehen. Eine akkurate, pflichtbewusste Bürokratin«, spöttelte er und schaffte es so, Ilka kurz aus dem Konzept zu bringen.

Verärgert sah sie ihn an. Bastian Wolters, der anscheinend nicht verstand, dass er allein die Schuld an der Misere trug, hatte sich lässig an seinen Wagen gelehnt, die Arme vor seiner Brust verschränkt und sah sie provozierend an. Sie wusste, er legte es darauf an, sich mit ihr zu streiten und sie aus der Reserve zu locken.

»Sie wissen hoffentlich, dass ich Sie anzeigen kann, wenn Sie mich im Dienst beleidigen.«

»Beleidigen? Ich?« Er sah sie mit gespieltem Entsetzen an. »Das würde ich doch nie wagen! Wenn ich Sie pflichtbewusst und gewissenhaft nenne, ist das ein Lob und keine Beleidigung. Das sind doch alles ehrenwerte Eigenschaften, und ich verstehe gar nicht, dass Sie sich …«

»Ach, hören Sie doch auf!«, unterbrach sie ihn resigniert. »Wir wissen beide, wie Sie Ihre Worte gemeint haben. Und nein, ich hatte nicht vor, Sie deswegen zu belangen. Ich wollte Sie nur verwarnen, falls Ihnen weniger schmeichelhafte Wörter einfallen sollten.« Sie riss das Ticket aus dem Drucker und hielt es ihm hin. Als er keine Anstalten machte, es ihr abzunehmen, sondern sie nur seelenruhig ansah, klemmte sie es achselzuckend hinter seinen Scheibenwischer. Weil sie wusste, dass er sich darüber ärgern würde, machte sie anschließend ganz bewusst ein Foto davon.

»Nun, endlich zufrieden?«, knurrte er jetzt.

»Nein, überhaupt nicht. Mir wäre es lieber, Sie würden ab sofort vorschriftsmäßig parken. Das erspart mir viel Arbeit und unliebsame Diskussionen.«

»Wo soll ich denn parken? Schauen Sie sich doch mal um! Auf dieser Straßenseite gibt es genügend Platz, und trotzdem will die Stadt dieses idiotische Parkverbot durchsetzen! Es schadet meinem Geschäft, wenn die Kunden nicht direkt vor der Tür parken können. Und mir macht es auch keinen Spaß, meine ganzen Sachen immer meilenweit durch die Gegend zu schleppen, obwohl ich vor meinem Studio halten könnte.«

»Zu Ihrer Info, Herr Wolters: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Halte- und Parkverbot. Niemand hat etwas dagegen, wenn Sie hier zum Ausladen anhalten und danach das Auto wegfahren. Aber Sie übertreiben es ja ständig und bleiben einfach stehen. Was erwarten Sie denn, was ich tun soll? Jedes Mal großzügig darüber hinwegsehen?«

»Warum eigentlich nicht? Was spricht gegen Großzügigkeit?«

Ilka stöhnte genervt auf. »Wenn ich bei Ihnen eine Ausnahme mache, werden alle anderen das gleiche Recht für sich einfordern. Im Handumdrehen würde hier das größte Chaos herrschen!«

»Nein, würde es nicht! Wie ich vorhin schon sagte, die Straße ist breit genug und der Platz reicht aus, um auf beiden Straßenseiten zu parken.«

Ilka setzte schon zu einer Erwiderung an, als ihr privates Handy klingelte. Normalerweise hätte sie es nicht beachtet; schließlich war sie jetzt im Dienst. Aber im Moment kam ihr dieser Anruf sehr gelegen, lieferte er ihr doch einen guten Vorwand, um diese unsinnige Diskussion zu beenden. Doch als sie nun die Nummer ihres Vaters auf dem Display sah, war sie zutiefst beunruhigt. Er hatte sie noch nie angerufen. Dass er es nun tat, konnte nichts Gutes bedeuten.

Sie drehte sich weg, als sie den Anruf entgegennahm. »Paps? Ist alles in Ordnung? Ist etwas mit Mama? Hatte der Arzt schlechte Nachrichten?«

»Ja … ja, die Blutwerte … und … und der Ultraschall …« Lothar Jentsch brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fangen. »Als wir vom Arzt nach Hause kamen, ist deine Mutter zusammengebrochen. Einfach so. Wie aus heiterem Himmel. Eben sprach sie noch … und plötzlich trat sie weg …«

»O mein Gott!«, rief Ilka völlig erschüttert dazwischen. »Was ist mit ihr?«

»Ich weiß es nicht, Kleines. Ich habe sofort den Notarzt gerufen. Bis er eintraf, war deine Mutter zum Glück wieder bei Bewusstsein, aber keiner weiß, was sie hat. Es ging ihr nicht gut, Ilka. Deiner Mutter ging es richtig, richtig übel. Ich dachte schon, ich würde sie … ich würde …«

Als seine Stimme brach, sagte Ilka schnell: »Bitte, Paps, beruhige dich. Bitte! Es wird alles wieder gut. Ganz bestimmt! Wo ist Mama jetzt? Haben sie sie in die Klinik gebracht?«

»Ja, in die Behnisch-Klinik. Ich bin auch hier und warte, dass endlich jemand kommt und mir sagt, was los ist.«

»Ihr seid in der Behnisch-Klinik? Gut, ich komme sofort hin. Ich rufe meine Chefin an und mache Schluss für heute. Mit dem Bus bin ich dann schnell in der Klinik.«

»Danke, Ilka. Die Ärzte werden nachher bestimmt mit mir sprechen wollen, und es wäre schön, wenn du dann dabei wärst, weil ich … ich …«

»Schon gut, Paps, ich weiß doch, was du meinst. Ich komme sofort hin. Ich beeile mich und bin gleich bei dir.«

Ilka legte fassungslos auf. Was war nur mit ihrer Mutter geschehen? Es ging ihr doch heute früh noch gut. Sie hatten zusammen Kaffee getrunken, sich unterhalten … Es war wie immer gewesen. Und doch hatte sich jetzt alles verändert.

Dass Bastian Wolters Zeuge des Telefonats geworden war, wurde ihr erst bewusst, als er sie ansprach. »Es tut mir sehr leid für Ihre Mutter«, sagte er Anteil nehmend. »Ich hoffe, es geht ihr bald wieder besser.«

Ilka nickte verwirrt. »Danke«, murmelte sie dann und wandte sich ab. Sie wollte so schnell wie möglich in die Klinik fahren, um ihrem Vater beizustehen und zu erfahren, wie schlimm es tatsächlich um ihre Mutter stand.

»Wenn Sie möchten, fahre ich Sie schnell in die Klinik.«

Ilka blieb stehen und sah sich zu ihm um. Sein Angebot überraschte sie. Und es war zudem so verlockend, dass sie versucht war, es anzunehmen. Sie würde viel Zeit sparen und wäre schneller in der Klinik bei ihren Eltern. Doch sich ausgerechnet von Bastian Wolters hinfahren zu lassen, wäre grundverkehrt. Sie durfte auf gar keinen Fall Privates und Dienstliches vermischen. Schon gar nicht bei einem Mann, dem sie ständig Strafzettel ausstellte. Am Ende erwartete er noch eine Sonderbehandlung von ihr, wenn sie sich jetzt von ihm fahren ließ.

»Vielen Dank, Herr Wolters«, sagte sie deshalb freundlich. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Aber ich nehme doch lieber den Bus.« Sie nickte ihm zu und beeilte sich dann, in die Klinik zu kommen. Dass ihr Bastian Wolters noch lange nachschaute, bemerkte sie nicht.

*

Bastian war Ilkas Mienenspiel nicht entgangen. Er ahnte, was sie so ungefähr gedacht hatte, als er ihr die Fahrt zur Klinik angeboten hatte. Doch er hatte seinen Vorschlag völlig ohne Hintergedanken gemacht. Er hätte niemals eine Gegenleistung von ihr erwartet. Schade, dass sie anderer Meinung war und nun den Bus nahm.

Über so viel Starrsinn konnte Bastian nur den Kopf schütteln. Andererseits mochte er Menschen mit Prinzipien. Und er mochte die Politesse, die ihm seit einigen Wochen die Knöllchen ausstellte.

Er zog den Strafzettel hinter dem Scheibenwischer hervor und steckte ihn in seine Hosentasche. Darum würde er sich heute Abend kümmern – und um die anderen, die sich in der letzten Zeit angesammelt hatten. Doch nun musste er erst mal seinen nächsten Termin vorbereiten.

Mit langen Schritten lief Bastian über die Straße zum kleinen italienischen Café seines guten Freundes Pietro.

»Na, hast du wieder ein Knöllchen kassiert?«, wurde er dort lachend von Pietro begrüßt.

»Klar. Das Dutzend ist mal wieder voll.«

»Wenn ich’s nicht besser wüsste, könnte ich fast glauben, dass du deinen Wagen absichtlich vor deinem Laden abstellst, damit du ein bisschen mit der hübschen Ilka flirten kannst.«

»Blödsinn. Wenn ich mit ihr flirten wollte, würde ich die Sache anders angehen. So locker sitzt mein Geld nun auch wieder nicht, dass ich es freiwillig für Strafzettel aus dem Fenster werfe.«

»Bist du dir da sicher?«, gluckste Pietro.

»Ganz sicher.« Bastian besah sich die Kuchenauslage. »Hast du keine Mandorlinis mehr?«

»Nein, leider schon alle ausverkauft. Morgen gibt es wieder welche.«

»Ich brauche sie aber nachher für mein nächstes Fotoshooting.«

Pietro lachte laut. »Für deine Models? Die trinken doch eh nur ein Glas Wasser.«

»Meine Models, die ich in einer Stunde erwarte, sind vier reizende alte Damen einer Canasta-Gruppe. Sie wollen ein paar Erinnerungsfotos machen. Ich soll sie fotografieren, während sie Karten spielen.«

»In deinem Studio?«, fragte Pietro erstaunt.

»Ja, ich bin davon auch nicht besonders begeistert. Schließlich muss ich nun in meinem Studio ein gemütliches Wohnzimmer nachstellen. Ich würde das Shooting viel lieber bei einer der Ladys machen. Leider wurden sie sich nicht einig, wessen gute Stube auf die Bilder darf. Zum Schluss lagen sie sich richtig in den Haaren und haben miteinander geschimpft wie die Rohrspatzen. Um den Streit zu beenden, habe ich dann mein Studio als neutrale Zone vorgeschlagen. Womöglich wäre sonst die Canasta-Runde für immer auseinandergebrochen.«

»Hauptsache, es herrscht jetzt Frieden und sie haben sich alle wieder lieb. Für die Bilder wäre es sicher nicht so toll, wenn sich vier grimmige, ältere Damen gegenübersitzen, die sich am liebsten an die Kehle springen würden.«

»Deswegen hatte ich ja die brillante Idee, die Stimmung mit Kaffee und Mandorlinis aufzulockern.«

»Nimm doch etwas anderes. Pignoli oder Cannoli?«

»Okay, dann nehme ich eben …« Bastian stutzte, als die Tür zur Küche aufschwang und er einen kurzen Blick hineinwerfen konnte. »Hast du etwa noch Mandorlinis in der Küche?«, fragte er seinen Freund streng. »Leugne es bloß nicht! Ich habe sie eben ganz genau gesehen!«

»Tut mir leid, aber die sind bereits bestellt. Ilka will sie sich zum Feierabend abholen.«

»Ilka? Die Politessen-Ilka?«, fragte Bastian neugierig nach. Als Pietro nickte, sagte er: »Verkauf mir die Mandorlinis. Ansonsten wirst du nämlich auf ihnen sitzenbleiben. Ich denke nicht, dass sie heute noch abgeholt werden.« Er erzählte Pietro, was er von dem Telefonat zwischen Ilka und ihrem Vater mitbekommen hatte.

»Das ist ja schrecklich!«, rief Pietro fassungslos aus. »Ich kenne Ilkas Eltern. Es sind sehr nette Leute, und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schlimm das für die Familie ist.« Pietro ging kopfschüttelnd in die Küche und kam kurz darauf mit den Mandorlinis zurück. »Du kannst sie haben«, sagte er zu Bastian. »Ilka hat jetzt ganz andere Sorgen. Ich werde sie nachher mal anrufen und mich nach ihrer Mutter erkundigen.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass du ihre Familie so gut kennst.«

»Ilka und ich sind alte Schulfreunde. Es gab mal eine Zeit, da war ich total in sie verknallt gewesen.«

»Hört, hört …«

Pietro tat das mit einer lässigen Handbewegung ab. »Ich war damals in der dritten oder vierten Klasse. Es ist also eine Ewigkeit her. Außerdem habe ich dann ja mit meiner Claudia das ganz große Los gezogen. Es gibt deshalb keinen Grund für mich, einer verflossenen Liebe nachzutrauern.«

Bastian rollte mit den Augen. »Als verflossene Liebe kannst du das, was zwischen dir und Ilka war, wohl kaum bezeichnen. Eher nach der kindlichen Schwärmerei eines grünen Jungen, die noch nicht mal erwidert wurde.«

»Na und?« Pietro zuckte die Schultern und packte das süße Mandelgebäck ein. »So etwas haben wir ja wohl alle hinter uns.«

Als Bastian seine Brieftasche zückte, fragte er betont beiläufig: »Hat denn jemand anders mehr Glück bei ihr gehabt?«

»Sicher. Schließlich ist sie nett und sehr hübsch.«

Bastian wartete einen Moment. Als Pietro nichts mehr sagte, hakte er nach: »Und weißt du denn, wie’s aktuell bei ihr aussieht?«

»Ha!«, rief Pietro triumphierend aus. »Hab’ ich’s doch gewusst! Du interessierst dich für Ilka! Nur deswegen parkst du deinen Wagen vor deinem Laden und fängst dir immer wieder ein Knöllchen und eine Standpauke von ihr ein!«

»Blödsinn! Wenn ich Interesse an ihr hätte, würde ich es ihr einfach sagen und sie auf einen Kaffee einladen und mich nicht mit ihr herumstreiten.«

Bastian schnappte sich das Paket mit dem Gepäck, bevor sein Freund noch mehr darauf herumreiten konnte. Es gefiel ihm nämlich gar nicht, dass Pietro etwas ansprach, über das er sich selbst seit Wochen den Kopf zerbrach. Er beeilte sich, aus dem Café zu kommen, und lief über die Straße zum Fotostudio hinüber. Doch bevor er hineingehen konnte, blieb er seufzend stehen und kehrte um.

Pietro sah auf, als Bastian wieder in der Tür erschien.

»Was denn nun? Ja oder nein?«, fragte Bastian genervt.

»Nein, sie hat zurzeit keinen Freund. Sie ist Single«, griente Pietro.

Mit einem zufriedenen Lächeln schloss Bastian die Tür, um sich endlich den Damen der Canasta-Runde zu widmen.

*

Die Fahrstuhltüren schlossen sich bereits, als sich eine Hand dazwischen schob und sie wieder aufgehen ließ. Eine Hand, die Felicitas Norden sehr vertraut vorkam.

»Daniel!«, rief sie überrascht aus.

Ihr Ehemann und Chefarzt der Behnisch-Klinik, Dr. Daniel Norden, gesellte sich mit einem jungenhaften Grinsen zu ihr.

»Du scheinst es ja sehr eilig zu haben, wenn du nicht warten kannst und sogar die Unversehrtheit deiner Finger riskierst«, sagte sie leise zu ihm.

»So eilig hatte ich es gar nicht. Aber als ich dich im Fahrstuhl sah, wollte ich unbedingt noch mitfahren. Und was meine Finger anbelangt …« Er hielt eine Hand hoch und wackelte mit den Fingern. »Um die brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die Fahrstuhltüren stoppen automatisch und so rechtzeitig, dass ihnen nichts geschehen kann.«

»Ich bewundere dein Vertrauen in die Technik, aber mir wäre es trotzdem lieber, wenn du dich das nächste Mal nicht so todesmutig in den Fahrstuhl stürzt.«

Daniel lachte. Er wartete, bis der Mann, der mit ihnen gefahren war, ausgestiegen war und nahm dann seine Frau in den Arm. »Irgendwie gefällt es mir, wenn du so besorgt um mich bist, mein Feelein«, sagte er und küsste ihre Nasenspitze.

»Ich fände es schöner, wenn das nicht nötig wäre«, erwiderte Fee und revanchierte sich nun ihrerseits mit einem flüchtigen Kuss auf seinen Mund.

Der Fahrstuhl hielt auf der Kinderstation, und Daniel stieg zusammen mit seiner Frau aus.

»Hast du ein paar Minuten für mich?«, fragte er Fee.

Fee blieb vor ihrer Bürotür stehen und sah bedauernd auf ihre Uhr. »Ja, wenn es wirklich nur um ein paar Minuten geht. In einer halben Stunde beginnt meine Telefonkonferenz mit dem Kinderspital in Zürich. Bis dahin muss ich noch allerhand vorbereiten.«

»Ich mache es ganz kurz.« Er folgte Fee in ihr Büro, blieb aber an der Tür stehen. Als Fee auf die Besucherecke am Fenster zeigte, lehnte er ab. »Ich möchte dich nicht in Zeitnot bringen, Fee. Ich wollte dir nur schnell von Sigrun Jentsch berichten.«

»Sigrun Jentsch? Das ist doch die Mutter von der kleinen Ilka. Was ist denn mit ihr?« Fee war sofort beunruhigt, weil Daniel plötzlich so ernst wirkte. Sigrun und Lothar Jentsch waren ihr in guter Erinnerung geblieben, obwohl sie sich seit Jahren nicht gesehen hatten. Fee hatte das sympathische Ehepaar und deren Tochter Ilka immer sehr gemocht.

»Frau Jentsch liegt auf der Inneren. Der Rettungsdienst hat sie vor zwei Stunden hergebracht. Sie war zu Hause bewusstlos zusammengebrochen, nachdem es ihr schon seit Wochen nicht gut gegangen war. Dr. Müller, ihr Hausarzt, hatte mich zuvor angerufen und mir von ihren Beschwerden erzählt. Er bat mich um eine baldige Aufnahme, damit wir hier eine umfassende Diagnostik durchführen können. Stell dir vor, ich hatte kaum aufgelegt, als Sigrun auch schon unten in der Notaufnahme mit dem Rettungswagen eintraf.«

»Na, dann war es ja gut, dass du bereits über ihren Fall informiert warst und sofort wusstest, um was es bei ihr geht.«

»Tja, meine Liebe, das weiß ich leider noch lange nicht. Wir sind bei ihr erst am Anfang, und momentan zeichnet sich keine eindeutige Diagnose ab. Ihre Beschwerden sind sehr diffus, aber die hohen Transaminasen und der Ultraschallbefund deuten auf die Leber hin. Möglich wäre aber auch eine Herzerkrankung. Dafür würde die Synkope, also diese plötzliche Ohnmacht, sprechen.«

»Wie lange hielt die Ohnmacht an?«

»Nicht lange. Als der Rettungswagen eintraf, war sie wieder bei Bewusstsein. Die Vitalwerte waren unauffällig, genau wie das EKG. Ihr Mann ist jetzt bei ihr, und ich wollte gerade zu ihnen gehen, um die weitere Diagnostik durchzusprechen.«

»Ich würde dich sehr gern begleiten, wenn ich nicht diese Telefonkonferenz hätte. Richte ihnen bitte meine herzlichsten Grüße aus. Und sag Sigrun, dass ich sie später besuchen werde.«

»Das mache ich, Feelein.« Daniel gab ihr einen Kuss und ging dann auf die Innere.

Im Dienstzimmer traf er auf Dr. Schulz, den leitenden Oberarzt. Zusammen besprachen sie die wenigen Befunde, die zu diesem Zeitpunkt vorlagen. Doch wie Daniel bereits geahnt hatte, lieferten sie ihnen noch keine eindeutige Erklärung für Sigrun Jentschs Beschwerden.

Als er in ihr Zimmer kam, wurde er dort schon sehnsüchtig von ihr erwartet. Inzwischen war auch Ilka eingetroffen, die mit ihrem Vater am Bett der Mutter saß und dem Chefarzt der Behnisch-Klinik sehr besorgt entgegensah.

Daniel nahm sich die Zeit, zuerst Ilka zu begrüßen.

»Es ist schön, Sie endlich einmal wiederzusehen, Ilka. Bei unserer letzten Begegnung gingen Sie noch zur Schule.«

»Ja, das liegt schon ein paar Jahre zurück, Dr. Norden«, erwiderte Ilka lächelnd. »Es wäre mir übrigens sehr lieb, wenn Sie mich weiterhin duzen würden. Ich komme mir sonst so schrecklich alt vor.«

Daniel lachte. »Mit Mitte zwanzig? Dafür besteht wahrlich kein Grund. Aber das Angebot, dich zu duzen, nehme ich sehr gern an. Manchmal fällt es mir wirklich schwer, zu begreifen, wie schnell die Zeit vergeht und dass die Kinder längst erwachsen sind.«

»Das geht uns mit unserer Tochter nicht anders«, gab Sigrun ihm mit einem wehmütigen Seufzer Recht. »Aber das ist nun mal der Lauf der Zeit; ob es uns gefällt oder nicht.«

Daniel nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu Sigrun ans Bett. »Ich soll Sie übrigens alle herzlich von meiner Frau grüßen. Sie hat jetzt einen wichtigen Termin und kommt später vorher, um nach Ihnen zu sehen.«

»Das ist lieb von ihr. Wissen Sie …« Sigrun musste schlucken, um die aufsteigende Angst loszuwerden. »Wissen Sie denn schon, was mit mir los ist? Wie schlimm ist es?«

»Das können wir leider noch nicht sagen. Es scheint ziemlich sicher zu sein, dass Ihre Beschwerden mit der Leber zusammenhängen. Aber auch das wissen wir erst zu hundert Prozent, wenn alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Und von denen erwarten Sie übrigens in den nächsten Tagen eine ganze Menge.«

»Das stört mich nicht, Dr. Norden. Ich bin doch froh, wenn ich endlich weiß, was mit mir los ist. Ich male mir ständig das Schlimmste aus.« Sigruns Augen füllten sich mit Tränen. »Sie wissen bestimmt, was ich meine«, schniefte sie leise. »Vielleicht … vielleicht habe ich ja Krebs … Leberkrebs.«

»Im Moment gibt es dafür keinen Beweis«, sagte Daniel einfühlsam. »Aber ich will ehrlich zu Ihnen sein, Frau Jentsch: Leider können wir noch nichts sicher ausschließen. Beim Ultraschall sind bisher nur die recht große Leber und die vergrößerten Lymphknoten aufgefallen. Es gib auch leichte Veränderungen an der Oberfläche der Leber, die wir natürlich sehr ernst nehmen. Ich möchte deshalb eine kleine Gewebeprobe entnehmen und sie im Labor untersuchen lassen.«

»Eine Biopsie?«, fragte Lothar dazwischen. Er hatte längst schon wieder die Hand seiner Frau ergriffen und hielt sie ganz fest in seiner.

»Ja, eine Biopsie. Sie findet in örtlicher Betäubung statt und geht recht schnell vonstatten.«

»Und danach wissen Sie, ob ich Krebs habe?«

»Danach wissen wir hoffentlich, was Ihnen fehlt. Ich kann verstehen, dass die Diagnose Krebs Ihnen im Moment die größten Sorgen bereitet. Aber es kommen noch viele andere Ursachen in Betracht: eine Leberentzündung oder ein Leberstau durch eine Herzschwäche. Eine Beteiligung der Galle kann auch nicht ausgeschlossen werden oder irgendeine Form von Leberfunktionsstörung. Das waren jetzt nur einige von vielen möglichen Erkrankungen. Sie sehen also, es wäre falsch, gleich an Leberkrebs zu denken, wenn die Auswahl so groß ist.« Daniel versuchte das Ganze als Scherz zu verpacken. Er wusste, dass Humor eine sehr verlässliche Methode war, um Patienten die Angst zu nehmen.

»Wie lange wird meine Frau denn hierbleiben müssen?«

»Für die reine Diagnostik werden wir wohl eine gute Woche benötigen. Morgen starten wir mit Blutuntersuchungen und einem MRT. Für den Tag darauf planen wir die Biopsie ein. Nach diesem Eingriff verordne ich Ihnen für den Rest des Tages Bettruhe. Sie können sich ein wenig erholen und von den Schwestern verwöhnen lassen. Dann geht es weiter mit einer umfassenden Herzdiagnostik. Bis dahin liegen uns sicher schon ein paar Laborbefunde vor. Vielleicht wissen wir dann, warum Sie Ihren kleinen Ausflug in die Behnisch-Klinik gemacht haben.«

In der nächsten halben Stunde beantwortete Daniel Norden die vielen Fragen, die Sigrun und ihre Familie noch hatten. Als er sich schließlich von ihnen verabschiedete, hatte er das sichere Gefühl, dass seine Patientin nun etwas weniger ängstlich in die Zukunft schaute.

Tatsächlich hatte er es geschafft, die Sorgen für Sigrun erträglicher zu machen.

»Ich bin so froh, dass der Rettungswagen mich hierhergebracht hat«, sagte sie zu Ilka und Lothar, als sie mit ihnen wieder allein war.

»Noch besser wär’s, wenn du gar nicht hier sein müsstest.« Lothar sah seine Frau kummervoll an. »Ich hatte furchtbare Angst um dich, als du einfach so umgefallen bist. Ich dachte, du wärst …« Lothar rieb sich mit einer Hand über die Augen. Als er weiter sprach, klang seine Stimme brüchig. »Es war schrecklich. Bitte tu mir das nie wieder an! Bitte, Siggi, werde ganz schnell wieder gesund. Ohne dich … das schaffe ich nicht. Ich brauche dich doch.«

»Wir brauchen uns beide.« Sigrun streichelte über die Hand ihres Mannes. »Bitte lass den Kopf nicht hängen. Wir bekommen das schon wieder hin. Das haben wir doch immer.«

Lothar nickte. »Ja, das stimmt. Du bist hier gut aufgehoben. Dr. Norden ist der beste Arzt, den du bekommen konntest. Sicher kannst du bald nach Hause gehen.«

»Eine Weile wird es wohl dauern, Paps«, mischte sich Ilka vorsichtig in das Gespräch ihrer Eltern ein. »Die Ärzte müssen ja erst mal herausfinden, was eigentlich los ist.«

»Ja, das weiß ich doch, Kleines«, sagte Lothar niedergeschlagen. »Es ist nur so …« Er sah jetzt seine Frau mit verdächtig glänzenden Augen an. »Du fehlst mir so sehr. Wie soll ich es nur ohne dich aushalten?«

*

Lothar Jentsch war ein kräftiger, ein starker Mann. Ein Fels in der Brandung, den nichts so leicht erschüttern kann, wie Ilkas Mutter oft sagte. Ilka hatte das nie angezweifelt. Für sie war ihr Vater immer derjenige gewesen, der alles mit unerschütterlicher Ruhe anging, selbst wenn die ganze Welt zusammenbrach. Ihn jetzt so hilflos und ohnmächtig zu erleben, setzte ihr arg zu.

Als sie am frühen Abend aus der Klinik heimkamen, ging Ilka in die elterliche Küche, um für sich und ihren Vater zu kochen. Doch er hatte keinen Appetit und zog sich früh ins Schlafzimmer zurück. Also saß Ilka allein vor ihrem Teller, stocherte lustlos im Essen herum und räumte schließlich den Tisch wieder ab. Die Reste des Abendessens stellte sie für ihren Vater in den Kühlschrank. Sollte er nachts Hunger bekommen, bräuchte er sie sich nur noch aufzuwärmen.

Ilka wollte in ihre Wohnung gehen, doch dann überlegte sie es sich anders. Ihr Vater hatte vorhin so verloren und einsam gewirkt, dass es ihr fast das Herz zerrissen hätte. Deshalb führte sie ihr Weg zum Elternschlafzimmer, um nach ihm zu sehen. Vor der Tür zögerte sie. Vielleicht schlief er ja schon. Dann würde sie ihn aufwecken, wenn sie jetzt anklopfte. Sie hielt ihr Ohr an die Tür und lauschte. Ganz deutlich hörte sie ein leises Wimmern und Schluchzen. Ilka war so geschockt, dass sie ein paar Sekunden brauchte, bis sie verstand, dass diese Geräusche von ihrem Vater kamen. Lothar Jentsch, der Fels in der Brandung, lag in seinem Bett und weinte.

Aus einem ersten Impuls heraus, wollte Ilka zu ihm eilen. Sie wollte ihn in den Arm nehmen, ihn trösten und ihm sagen, dass alles wieder in Ordnung käme. Doch sie brachte es nicht fertig. Solange sie lebte, hatte sich ihr Vater nie gestattet, Schwäche zu zeigen. Wenn sie jetzt zu ihm ginge, würde es ihn nicht trösten, sondern beschämen. Es wäre ihm unangenehm, sogar peinlich, dass ihn seine Tochter in seinem verletzlichsten Moment erlebt hatte. Für ihn wäre das wahrscheinlich schlimmer, als diese Minuten, die er jetzt mit sich allein ausmachte und in denen er sich ungestört seinem Kummer hingeben konnte.

Und so zog Ilka ihre Hand, die schon auf dem Türdrücker gelegen hatte, wieder zurück. Sie ging zur Treppe, um hinunterzugehen, doch auch das schaffte sie nicht. Also setzte sie sich auf die oberste Stufe, nur zwei Meter von der Schlafzimmertür entfernt. Sie lauschte in die Stille des Hauses, die nur durch die leisen Schluchzer ihres Vaters unterbrochen wurde. Es dauerte nicht lange, bis sich ein zweites Schluchzen dazugesellte. Ilka konnte ihre Tränen nicht länger zurückzuhalten, wenn die des Vaters schon so reichlich flossen. So leise, dass nichts davon zu ihrem Vater dringen konnte, weinte Ilka aus Sorge um ihre kranke Mutter und um ihren Vater, der seinen Kummer ganz alleine austragen musste. Genau wie sie.

Als sie am nächsten Tag die Einkaufsstraße in der Isarvorstadt ablief und nach Parksündern Ausschau hielt, drehten sich ihre Gedanken ständig um ihre Eltern. Sie spürte wieder dieses Gefühl von Einsamkeit, das sie gestern Abend empfunden hatte. Sie hätte sich gewünscht, dass jemand bei ihr gewesen wäre, um sie in seinen Armen zu halten. Jetzt, im Nachhinein, fühlte es sich grundverkehrt an, dass sie nicht zu ihrem Vater gegangen war. Sie hätten sich gegenseitig Halt und Trost spenden können. Doch so war jeder mit seinem Kummer allein geblieben.

Ilka wechselte auf die andere Straßenseite. Am Anfang der Straße gab es ein paar Parkplätze, die alle besetzt waren. Die Tickets waren in Ordnung, so dass sie nichts zu tun bekam. Nun erreichte sie den Bereich, für den die Stadt ein Parkverbot verhängt hatte und in dem sich auch das Fotostudio von Bastian Wolters befand. Sein Wagen war nicht da, wie Ilka erleichtert feststellte. Entweder hatte er hier irgendwo in der Nähe einen Parkplatz gefunden, oder er war gerade bei einem auswärtigen Termin. Vielleicht war er wieder mit diesem blonden Model zusammen, das in der letzten Zeit häufiger in sein Studio kam. Ob es mehr als nur geschäftliche Interessen waren, die die beiden verbanden? Womöglich waren sie ja auch privat ein Paar?

Ilka registrierte befremdet, wie oft sie an Bastian Wolters denken musste und dass er sie sogar kurzzeitig von der Sorge um ihre Eltern ablenkte. Und dabei konnte sie ihn noch nicht mal leiden. Er war unhöflich und anmaßend und hielt sich nicht an die Parkordnung. Allerdings hatte er gestern auch sein Mitgefühl gezeigt, nachdem er den Anruf ihres Vaters mitbekommen hatte. Er hatte sie sogar zur Klinik fahren wollen.

An seinem Laden ging sie etwas langsamer als üblich vorbei, damit sie einen Blick hineinwerfen konnte. Seine Mitarbeiterin, eine sympathisch wirkende Frau in den Vierzigern, bediente gerade eine junge Mutter mit einem süßen Baby, von dem bestimmt Porträtbilder gemacht werden sollten.

Ilka konnte gar nicht anders, als stehenzubleiben und das Baby verzückt anzulächeln. Sie war sich sicher, sollte sie irgendwann ein eigenes Kind haben, würde sie es wohl ständig mit ihrer Handykamera verfolgen und sein gesamtes Leben in Fotos und Videos festhalten. Und wahrscheinlich würde sie auch hin und wieder Geld ausgeben, um es von einem professionellen Fotografen in Szene setzen zu lassen. Natürlich nicht von Bastian Wolters. Er mochte zwar ein brillanter Fotograf sein – zumindest ließen dies die Bilder in seinem Schaufenster vermuten –, aber zu ihm würde sie ganz bestimmt nicht gehen. Schließlich konnte sie ihn nicht leiden und überhaupt …

»Na, gönnen Sie sich einen kleinen Schaufensterbummel während der Arbeitszeit?«

Ilka schrak zusammen, als sie die spöttelnde Stimme hinter sich hörte. Als sie herumfuhr, stand ihr ausgerechnet Bastian Wolters gegenüber.

»Haben Sie nichts zu tun? Alle Knöllchen schon geschrieben für heute?«, stänkerte er weiter.

»Dank Ihnen habe ich heute tatsächlich nicht so viel zu tun wie sonst«, gab sie spitz zurück. »Schön, dass Sie endlich gelernt haben, was dieses Schild bedeutet.« Ilka zeigte auf das Parkverbotsschild am Straßenrand und wandte sich dann ab, um ihren Weg fortzusetzen. Sie würde sich auf gar keinen Fall auf einen Streit mit ihm einlassen. Nicht heute, wo ihre Nerven ohnehin schon blanklagen. Ihre bissige Bemerkung bereute sie bereits.

»Ach, übrigens …«, rief er ihr hinterher, und Ilka blieb stehen. Mit einem Seufzer drehte sie sich zu ihm um. Was wollte er denn nun noch? War er wieder auf einen Streit mit ihr aus? Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe?

»Ich hoffe, Ihrer Mutter geht es besser«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.

»Meiner Mutter?« Ilka blinzelte irritiert.

»Ja. Musste sie in der Klinik bleiben?« Als Ilka nicht antwortete, sondern ihn weiterhin nur konsterniert ansah, fügte er schnell hinzu: »Ich hatte doch gestern den Anruf Ihres Vaters mitbekommen. Erinnern Sie sich? Ich weiß selbst, dass es mich nichts angeht, aber es interessiert mich ehrlich, wie es Ihrer Mutter geht.«

»Ja … äh, nein. Ich meine, es geht ihr ganz gut, aber sie muss noch in der Klinik bleiben, und die Ärzte wissen nicht so recht, was sie hat. Aber ich …« Ilka brach verlegen ab. Bastian Wolters hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht. Sie war auf eine der üblichen Diskussionen gefasst gewesen. Mit seiner Anteilnahme am Geschick ihrer Mutter hatte sie nicht gerechnet.

»Es tut mir leid für sie«, sprach er weiter. »Ich hoffe, dass man ihr in der Klinik schnell helfen kann und wünsche ihr alles Gute.«

»Danke, das ist sehr nett von Ihnen.«

»Bei Ihnen klingt das fast wie eine Frage«, erwiderte er mit einem leisen Lachen. »Sie dürfen mir ruhig mal was Nettes zutrauen.«

»Mach ich doch …«, behauptete sie, obwohl es offensichtlich eine Lüge war. Sie traute ihm keine Freundlichkeiten oder nette Bemerkungen zu, weil es so etwas zwischen ihnen nicht gab. Wenn sie sich über den Weg liefen und miteinander sprachen, ging es immer nur um Strafzettel und Parkverbote. Bisher hatte sie in ihm nur einen renitenten Falschparker gesehen, der scheinbar alles tat, um ihr das Leben schwer zu machen. Dass es auch einen netten, mitfühlenden Bastian Wolters gab, war ihr nie in den Sinn gekommen. Obwohl ihr gestern, als er ihr die Fahrt zur Klinik angeboten hatte, schon die ersten Zweifel an ihrem Urteilsvermögen gekommen waren.

»Es ist etwas seltsam, mit Ihnen ein Gespräch zu führen, bei dem es nicht um Strafzettel oder Ihre Parkgewohnheiten geht«, gab sie jetzt offen zu. »Aber ich finde es wirklich sehr nett von Ihnen, dass Sie sich nach meiner Mutter erkundigt haben. Und das meine ich ganz ehrlich. Vielen Dank, Herr Wolters.« Bevor sie nun ihren Gang fortsetze, schenkte sie ihm ihr schönstes Lächeln und genoss es, ihn zur Abwechslung mal sprachlos zu erleben.

Ilka mochte es sich nicht eingestehen, aber dieses kurze Gespräch mit Bastian Wolters hatte es geschafft, ihre Stimmung anzuheben. Für ein paar wertvolle Augenblicke hatte sie nicht an ihre kranke Mutter oder den unglücklichen Vater denken müssen. Bastian Wolters hatte ihr tatsächlich den Tag ein wenig versüßt.

Ilka beschloss spontan, dass sie – und ihre Eltern – noch mehr Süßes vertragen konnten. Als ihr Dienst zu Ende war, ging sie ins Café zu Pietro. Sie berichtete ihm von ihrer Mutter und wunderte sich, dass er über die Klinikeinweisung schon Bescheid wusste.

»Bastian hat es mir erzählt. Er hat mir übrigens auch die Mandorlinis abgenommen, die ich für dich reserviert hatte.«

»Oje! Die hatte ich ja ganz vergessen! Tut mir leid, Pietro, ich war gestern so durcheinander …«

»Mach dir deswegen bloß keine Gedanken, Ilka. Ich bin sie ja losgeworden und selbst wenn nicht …« Pietro zuckte die Achseln. »Es gibt Schlimmeres im Leben als liegengebliebene Mandorlinis. Die Hauptsache ist doch, dass deine Mutter bald wieder gesund wird.«