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Die wichtigsten Werke: Romane, Novellen, Märchen, Kurzgeschichten Über 4000 Seiten (in der gedruckten Fassung) Der Name E.T.A. Hoffmann steht wie kaum ein anderer für die deutsche Romantik. In der Person des Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (eigentlich Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann) kommt die Vielschichtigkeit der Übergangsperiode um 1800 in Deutschland zum Ausdruck, die der hauptberufliche Jurist als Dichter, Komponist, Kritiker und Karikaturist in all ihren Facetten beschrieben hat. Sein Leben ist wie ein Spiegel der epochalen Umwälzung von der Klassik in das bürgerliche 19. Jahrhundert hinein. E.T.A. Hoffmann hat ca. 60 Werke hinterlassen, von denen nur der geringere Teil unter der Rubrik "Roman" einzuordnen ist. Das tut der Genialität seiner Werke keinen Abbruch. Sie sind treffsichere Pfeile auf das Verborgene in der Gesellschaft und damit im besten Sinne modern. In dieser Sammlung finden sich alle wichtigen Werke von Hoffmann auf insgesamt mehr als 4000 Seiten, u.a.: - Don Juan - Die Elixiere des Teufels - Der Sandmann - Das steinerne Herz - Lebensansichten des Katers Murr - Nußknacker und Mausekönig - Der Kampf der Sänger - Das fremde Kind - Der unheimliche Gast - Das Fräulein von Scuderi - Vampirismus - Die Königsbraut 1. Auflage (Überarbeitete Fassung) Umfang: 4386 Buchseiten bzw. 4466 Normseiten Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 5858
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E. T. A. Hoffmann
Gesammelte Werke
E. T. A. Hoffmann
Gesammelte Werke
Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag
2. Auflage, ISBN 978-3-95418-360-9Umfang: 4466 Normseiten bzw. 4386 Buchseiten
www.null-papier.de/hoffmann
Inhalt
AUTOR
DIE MARQUISE DE LA PIVARDIERE
DIE IRRUNGEN
Verloren und Gefunden
Die Reise nach Griechenland
Traum und Wahrheit
Der Zauber der Musik
Der griechische Heerführer – Das Rätsel
DIE GEHEIMNISSE
Einleitung
Erstes Blättlein
Zweites Blättlein
Drittes Blättlein
Viertes Blättlein
Fünftes Blättlein
Sechstes Blättlein
DER ELEMENTARGEIST
DIE RÄUBER
DIE DOPPELTGÄNGER
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
DATURA FASTUOSA
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Letztes Kapitel
MEISTER JOHANNES WACHT
DES VETTERS ECKFENSTER
DIE GENESUNG
NEUESTE SCHICKSALE EINES ABENTEUERLICHEN MANNES
Vorwort
Fortsetzung von Abraham Tonellis merkwürdiger Lebensgeschichte
DER FEIND
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
HAIMATOCHARE
IGNAZ DENNER
DIE GESCHICHTE VOM VERLORNEN SPIEGELBILDE
DAS SANCTUS
KLEIN ZACHES, GENANNT ZINNOBER
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Letztes Kapitel
DAS GELÜBDE
DER SANDMANN
Nathanael an Lothar
Clara an Nathanael
Nathanael an Lothar
LEBENSANSICHTEN DES KATERS MURR
Vorwort des Herausgebers E. T. A. Hoffmann
Vorrede des Autors Kater Murr
Unterdrücktes Vorwort des Autors
Erster Abschnitt
Zweiter Abschnitt
Dritter Abschnitt
Vierter Abschnitt
Nachschrift des Herausgebers E. T. A. Hoffmann
DAS STEINERNE HERZ
DIE JESUITERKIRCHE IN G.
DAS ÖDE HAUS
PRINZESSIN BRAMBILLA
Vorwort
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
DIE SERAPIONS-BRÜDER
Vorwort
Erster Band
Erster Abschnitt
Zweiter Abschnitt
Zweiter Band
Dritter Abschnitt
Vierter Abschnitt
Dritter Band
Fünfter Abschnitt
Sechster Abschnitt
Vierter Band
Siebenter Abschnitt
Achter Abschnitt
SELTSAME LEIDEN EINES THEATERDIREKTORS
Vorwort
Seltsame Leiden eines Theaterdirektors
DAS MAJORAT
DIE ELIXIERE DES TEUFELS
Vorwort des Herausgebers
Erster Teil
Erster Abschnitt – Die Jahre der Kindheit und das Klosterleben
Zweiter Abschnitt – Der Eintritt in die Welt
Dritter Abschnitt – Die Abenteuer der Reise
Vierter Abschnitt – Das Leben am fürstlichen Hofe
Zweiter Teil
Erster Abschnitt – Der Wendepunkt
Zweiter Abschnitt – Die Buße
Dritter Abschnitt – Die Rückkehr in das Kloster
MEISTER FLOH
Erstes Abenteuer
Zweites Abenteuer
Drittes Abenteuer
Viertes Abenteuer
Fünftes Abenteuer
Sechstes Abenteuer
Siebentes Abenteuer
FANTASIESTÜCKE IN CALLOTS MANIER
Erster Teil
Vorrede von Jean Paul
I. Jaques Callot
II. Ritter Gluck
III. Kreisleriana
IV. Don Juan
V. Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza
Zweiter Teil
I. Der Magnetiseur
II. Der goldne Topf
III. Die Abenteuer der Silvester-Nacht
IV. Kreisleriana
INDEX
DAS WEITERE VERLAGSPROGRAMM
Der Name E.T.A. Hoffmann steht wie kaum ein anderer für die deutsche Romantik. In der Person des Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (eigentlich Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann) kommt die Vielschichtigkeit der Übergangsperiode um 1800 in Deutschland zum Ausdruck, die der hauptberufliche Jurist als Dichter, Komponist, Kritiker und Karikaturist in all ihren Facetten beschrieben hat. Geboren am 24. Januar 1776 in Königsberg (Preußen) und gestorben am 25. Juni 1822 in Berlin, ist sein Leben wie ein Spiegel der epochalen Umwälzung von der Klassik in das bürgerliche 19. Jahrhundert hinein. Das ihm eigene Gespür für die psycho-sozialen Komponenten der gesellschaftlichen Entwicklung machen sein Lebenswerk zeitlos wertvoll.
Der Tradition der Familie folgend nahm E.T.A. Hoffmann 1792 in Königsberg das Studium der Rechte auf, das er 1798 in Glogau abschloss. Dem Referendariat in Berlin folgte 1800 die Tätigkeit als Gerichtsassessor in Posen (Preußen) und 1804 der Arbeitsort Warschau (damals ebenfalls zu Preußen gehörig), ehe sein Staatsdient 1807 durch den Einmarsch der Napoleonischen Truppen vorerst endete.
Schon als Student waren die künstlerischen Interessen E.T.A. Hoffmanns vielgestaltig; sie reichten von der Literatur über die Musik bis zur Karikatur. Seine große Leidenschaft aber war das Komponieren. Bereits in der ersten Berliner Zeit schrieb er Klaviersonaten und eine Sinfonie. 1804 nahm er aus Bewunderung für Wolfgang Amadeus Mozart dessen zweiten Vornamen an. Wie seine gesamte Generation war der junge E.T.A. Hoffmann geprägt von Goethes "Werther" und dessen elegischen Geist. Seine frühen Liebesbeziehungen waren voller aufbrausender Empathie. Andererseits verehrte er auch den künstlerischen Humor und die Feinsinngkeit eines Jean Paul. Seine Karikaturen auf die Honoratioren der Stadt Posen brachten ihm 1802 die Strafversetzung in die ostpreußische Provinz ein. Noch in Posen heiratete Hoffmann die Polin Maria Thekla Michalina Rorer-Trzcinska. Ein gemeinsames Kind starb jedoch früh.
Der Entscheidung E.T.A. Hoffmanns, keinen Staatsdienst für die Napoleonische Herrschaft zu leisten, lag nicht nur die nationale Gesinnung zugrunde. Seinen eigentlichen Ambitionen folgend, stürzte er sich kopfüber in eine künstlerische Existenz. Allerdings währte seine Anstellung als Theaterkapellmeister in Bamberg 1808 nur wenige Monate. Über Jahre musste Hoffmann sein Einkommen durch eine Vielzahl kleinerer Arbeiten sicherstellen, wie beispielsweise als Direktionsgehilfe, Dramaturg und Dekorationsmaler im Theater oder durch privaten Musikunterricht. Er begann aber auch, Erzählungen und Musikkritiken zu schreiben. Hilfe erhielt Hoffmann in schwierigen Situationen von seinem Jugendfreund Theodor Gottlieb von Hippel. Trotz der ungünstigen Umstände schuf der Komponist E.T.A. Hoffmann in Bamberg die Krönung seines musikalischen Lebenswerkes: die erste romantische deutsche Oper "Undine". Sie wurde 1814 in Berlin - noch vor dem "Freischütz" von Carl Maria von Weber - aufgeführt.
Mit der Wiedereinsetzung des Preußischen Staates nahm E.T.A. Hoffmann im gleichen Jahr wieder die juristische Tätigkeit auf, als Kammergerichtsrat in Berlin. Das gesamte literarische Werk, mit dem der mittlerweile fast Vierzigjährige in den folgende Jahren berühmt wurde, entsprang faktisch seiner literarischen Freizeitgestaltung. Hoffmann hatte allerdings die Begabung, kleine Erzählungen in einigen Tagen und große Arbeiten in wenigen Wochen in einem Zug "herunterzuschreiben". Die "Fantasiestücke in Callots Manier (1814/1815)", vor allem aber sein Roman "Die Elixiere des Teufels" (1815/1816) begründeten seinen Nimbus als Meister der "Schwarzen Romantik". Jede seiner literarischen Arbeiten ist durch geheimnisvolle Hintergründe geprägt, selbst wenn es sich um ein satirisches Werk wie die "Lebensansichten des Katers Murr" (1819/1821) handelt. Trotz einer fortschreitenden Lähmung, die als Folge einer Syphilis-Infektion den Dichter im letzten Lebensjahr an den Lehnstuhl fesselte, schrieb E.T.A. Hoffmann unermüdlich weiter bis zu seinem Tod.
Eigentlich hatte E.T.A. Hoffmann lange darauf hingearbeitet, als Komponist anerkannt und berühmt zu werden. Acht Vokalwerke (vom Canzonette bis zur Messe), zehn Instrumentalmusiken (vom Klavierrondo bis zur Sinfonie), zwölf Bühnenwerke (von der Ballettmusik bis zur Oper) sind für einen "Freizeitmusiker" ein beachtliches Volumen - insbesondere, wenn daraus eine historisch zu nennende Oper hervorgeht. Letztendlich ist E.T.A. Hoffmann selbst zur Opernfigur geworden: in "Hoffmanns Erzählungen" von Jaques Offenbach (Uraufführung 1881 in Paris). Aber auch diese späte Würdigung gilt dem Dichter, weniger dem Komponisten. Es scheint fast so, als hätte die musikalische Begeisterung Hoffmann den Blick auf seine eigentliche Stärke verstellt - die Entzündung der Phantasie durch seine Wortkunst. So deutlich abgegrenzt ist das Talent des großen Romantikers jedoch nicht zu sehen. Es spricht für die genreübergreifende Imaginationskraft Hoffmanns, dass sich auch viele andere Komponisten durch seine literarischen Vorlagen inspiriert fühlten - Peter Tschaikowski durch das Märchen vom Nussknacker ("Nussknacker-Suite"), Léo Delibes durch die Erzählung "Der Sandmann" (Ballett "Coppélia"), Ferruccio Busoni durch die Erzählung "Die Brautwahl" (gleichnamige Oper) oder Paul Hindemith durch die Erzählung "Das Fräulein von Scuderi" (Oper "Cardillac"). Das Wesen der "Hoffmannschen Erzählungen" besteht in der suggestiven Durchdringung des Phantastischen im Leben der Menschen, der sich bis heute kein Leser entziehen kann, und die den kreativen Geist der Künstler durch alle Zeiten hindurch anregt. Das subtile Grauen seiner Darstellungen wurde nirgendwo besser illustriert als in den Filmen von Alfred Hitchcock, und die beschriebenen Abgründe hinter den menschlichen Fassaden waren einer der Impulse für die Philosophie Friedrich Nietzsches.
Was E.T.A. Hoffmann vor zweihundert Jahren schon so exzellent beschrieben hat, ist das Forschen nach den Hintergründen der menschlichen Existenz und nach den Gefahren ihrer scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Das Gefühl, alles Bestehende vergehen und unbekannte dämonische Kräfte aufkommen zu sehen, war zu keiner Zeit stärker als in der Epoche der Romantik. Die jahrhundertealte, "gottgegebene" Ordnung wich dem Chaos des Kapitalismus, dessen Folgen für die Menschen damals in keiner Weise abzusehen waren und die Vision der Fremdbestimmung beschworen. Das ist heute - auf neuer Ebene - genau so aktuell wie seinerzeit. E.T.A. Hoffmann hat diese Ängste individuell thematisiert und mit den Mustern der Vergangenheit in mystische Geschehen verwandelt. Bezeichnenderweise erreichte die Hoffmann-Rezeption schon zu seinen Lebzeiten in Ländern wie England oder den USA eine noch höhere Dimension als in Deutschland. Sein Name wird heute in Amerika in gleicher Ehrfurcht genannt wie der des literarischen Nationalheroen Edgar Allan Poe. Die frühe Internationalisierung seiner Wirkung entspringt aber auch der damaligen Dominanz der Novelle als neue literarische Form und den Unterhaltungsbedürfnissen der aufkommenden Print-Industrie. E.T.A. Hoffmann hat ca. 60 Werke hinterlassen, von denen nur der geringere Teil unter der Rubrik "Roman" einzuordnen ist. Das tut der Genialität seiner Werke keinen Abbruch. Sie sind treffsichere Pfeile auf das Verborgene in der Gesellschaft und damit im besten Sinne modern.
(Nach Richers Causes célèbres.)
Ein Mensch gemeinen Standes, namens Barré, hatte seine Braut zu später Abendzeit in das Boulogner Holz gelockt und sie dort, da er, ihrer überdrüssig, um eine andere buhlte, mit vielen Messerstichen ermordet.
Das Mädchen, die Gartenfrüchte feilhielt, war ihrer ausnehmenden Schönheit, ihres sittlichen Betragens halber allgemein bekannt unter dem Namen der schönen Antoinette. So kam es, daß ganz Paris erfüllt war von Barrés Untat, und daß auch in der Abendgesellschaft, die sich bei der Duchesse d’Aiguillon zu versammeln pflegte, von nichts anderm gesprochen wurde als von der entsetzlichen Ermordung der armen Antoinette.
Die Duchesse verlor sich gern in moralische Betrachtungen, und so entwickelte sie auch jetzt mit vieler Beredsamkeit, daß nur heillose Vernachlässigung des Unterrichts und der Religiosität bei dem gemeinen Volk Verbrechen erzeuge, die den höhern, in Geist und Gemüt gebildeten Ständen fremd bleiben müßten.
Der Graf von St. Hermine, sonst das rege Leben jeder Gesellschaft, war an dem Abend tief in sich gekehrt, und die Blässe seines Gesichts verriet, daß irgendein feindliches Ereignis ihn verstört haben mußte. Er hatte noch kein Wort gesprochen; jetzt, da die Duchesse ihre moralische Abhandlung geschlossen, begann er: »Verzeiht, gnädigste Frau! Barré liest vortrefflich, schreibt eine schöne Hand, kann sogar rechnen, spielt überdies nicht übel die Geige; und was seine Religion betrifft, so hat er freitags in seinem Leben niemals auch nur eine Unze Fleisch genossen, regelmäßig seine Messe gehört und noch an dem Morgen, als er abends darauf den Mord beging, gebeichtet. Was könnt Ihr gegen seine Bildung, gegen seine Religiosität einwenden?«
Die Duchesse meinte, daß der Graf durch seine bittre Bemerkung ihr und der Gesellschaft den unausstehlichen Unmut entgelten lassen wolle, der ihm heute seine ganze Liebenswürdigkeit raube. Man setzte das vorige Gespräch fort, und ein junger Mann stand im Begriff, noch einmal alle Umstände der Tat Barrés auf das genaueste zu beschreiben, als der Graf von Saint Hermine sich ungeduldig von seinem Sitze erhob und auf das heftigste erklärte, man würde ihn augenblicklich verjagen, wenn man nicht ein Gespräch ende, das mit scharfen Krallen in seine Brust greife und eine Wunde aufreiße, deren Schmerz er wenigstens auf Augenblicke in der Gesellschaft zu verwinden gehofft.
Alle drangen in ihn, nun nicht länger mit der Ursache seines Unmuts zurückzuhalten. Da sprach er: »Man wird es nicht mehr Unmut nennen, was mich heute langweilig, unausstehlich erscheinen läßt; man wird es mir, meinem gerechten Schmerz verzeihen, daß ich das Gespräch über Barrés Untat nicht zu ertragen vermag, wenn ich offenbare, was mein ganzes Inneres tief erschüttert. Ein Mann, den ich hochschätzte, der sich in meinem Regiment stets brav, tapfer, mir innig ergeben bewies, der Marquis de la Pivardiere, ist vor drei Nächten auf die grausamste Weise in seinem Bette ermordet worden.«
»Himmel«, rief die Duchesse, »welch’ neue entsetzliche Untat! Wie konnte das geschehen! Die arme unglückliche Marquise!«
Auf dies Wort der Duchesse vergaß man den ermordeten Marquis, bedauerte nur die Marquise und erschöpfte sich in Lobeserhebungen der anmutigen geistreichen Frau, deren strenge Tugend, deren edler Sinn als Muster gegolten und die schon als Demoiselle du Chauvelin die Zierde der ersten Zirkel in Paris gewesen sei.
»Und«, sprach der Graf mit dem ins Innere dringenden Ton der tiefsten Erbitterung, »und diese geistreiche tugendhafte Frau, die Zierde der ersten Zirkel in Paris, diese war es, die ihren Gemahl erschlug mit Hilfe ihres Beichtvaters, des verruchten Charost!«
Stumm, von Entsetzen erfaßt, starrte alles den Grafen an, der sich vor der Duchesse, die der Ohnmacht nahe, tief verbeugte und dann den Saal verließ. –
Franziska Margarete Chauvelin hatte in früher Kindheit ihre Mutter verloren, und so war ihre Erziehung ganz das Werk ihres Vaters geblieben, eines geistreichen, aber strengen, ernsten Mannes. Der Ritter Chauvelin glaubte daran, daß es möglich sei, das weibliche Gemüt zur Erkenntnis seiner eignen Schwächen zu bringen, und daß diese eben dadurch weggetilgt werden könnten. Sein starrer Sinn verschmähte jene hohe Liebenswürdigkeit der Weiber, die sich aus der subjektiven Ansicht des Lebens von dem Standpunkt aus, auf den sie die Natur gestellt hat, erzeugt; und eben in dieser Ansicht liegt ja der Ursprung aller der Äußerungen einer innern Gemütsstimmung, die in demselben Augenblick, da sie uns launisch, beschränkt, kleinartig bedünken will, uns unwiderstehlich hinreißt. Der Ritter meinte ferner, daß, um zu jenem Zweck zu gelangen, es vorzüglich nötig sei, jeden weiblichen Einfluß auf das junge Gemüt zu verhindern; auf das sorglichste entfernte er daher von seiner Tochter alles, was nur Gouvernante heißen mag, und wußte es auch geschickt anzufangen, daß keine Gespielin es dahin brachte, sich mit Franziska in gleiche Farbe zu kleiden und ihr die kleinen Geheimnisse eines durchtanzten Balls o. s. zu vertrauen. Nebenher sorgte er dafür, daß Franziskas notwendigste weibliche Bedienung aus geckenhaften Dingern bestand, die er dann als Scheubilder des verkehrten weiblichen Sinns aufstellte. Vorzüglich richtete er auch, als Franziska in die Jahre gekommen, daß davon die Rede sein konnte, die vernichtenden Pfeile seiner Ironie gegen die süße Schwärmerei der Liebe, die den weiblichen Sinn erst recht nach seiner innersten Bedeutung gestaltet und die wohl nur bei einem Jünglinge oft ins Fratzenhafte abarten mag.
Glück für Franziska, daß des Ritters Glaube ein arger Irrtum war. So sehr er sich mühte, dem tief weiblichen Gemüt Franziskas die Rauhigkeit eines männlichen Geistes, der das Spiel des Lebens verachtet, weil er es zu verstehen, es durchzuschauen vermeint, anzuerziehen; es gelang ihm nicht, die hohe Anmut und Liebenswürdigkeit, der Mutter Erbteil, zu zerstören, die immer mehr herausstrahlte aus Franziskas Innerm und die er in seltsamer Selbsttäuschung für die Frucht seiner weisen Erziehung hielt, ohne daran zu denken, daß er ja eben dagegen seine gefährlichsten Waffen gerichtet.
Franziska konnte nicht schön genannt werden, dazu waren die Züge ihres Antlitzes nicht regelmäßig genug; der geistreiche Feuerblick der schönsten Augen, das holde Lächeln, das um Mund und Wangen spielte, eine edle Gestalt im reinsten Ebenmaß der Glieder, die hohe Anmut jeder Bewegung, alles dieses gab indessen Franziskas äußerer Erscheinung einen unnennbaren Reiz. Kam nun noch hinzu, daß die viel zu gelehrte Bildung, die ihr der Vater gegeben und die sonst nur zu leicht das innerste, eigentliche Wesen des Weibes zerstört, ohne daß ein Ersatz möglich, ihr nur diente, richtig zu verstehen, aber nicht abzusprechen, daß die Ironie, die ihr vielleicht von des Vaters Geist zugekommen, sich in ihrem Sinn und Wesen zum gemütlichen lebensvollen Scherz umgestaltete: so könnt’ es nicht fehlen, daß sie, als der Vater, den Ansprüchen des Lebens nachgebend, sie einführte in die sogenannte große Welt, bald der Abgott aller Zirkel wurde.
Man kann denken, mit welchem Eifer sich Jünglinge und Männer um die holde, geistreiche Franziska bemühten. Diesen Bemühungen stellten sich nun aber die Grundsätze entgegen, die der Ritter du Chauvelin seiner Tochter eingeflößt. Hatte sich auch irgendein Mann, dem die Natur alles verliehen, um den Weibern zu gefallen, Franziska mehr und mehr genähert, wollte ihr Herz sich ihm hinneigen, dann trat ihr plötzlich der fratzenhafte Popanz eines verliebten Weibes vor Augen, den der Vater herbeigezaubert, und der Schreck, die Furcht vor dem Scheubilde tötete jedes Gefühl der Liebe im ersten Aufkeimen. Da es unmöglich war, Franziska stolz, spröde, kalt zu nennen, so geriet man auf den Gedanken eines geheimen Liebesverständnisses, auf dessen Entwicklung man begierig wartete, wiewohl vergebens. Franziska blieb unverheiratet bis in ihr fünfundzwanzigstes Jahr. Da starb der Ritter, und Franziska, seine einzige Erbin, kam in den Besitz des Ritterguts Nerbonne.
Die Duchesse d’Aiguillon (wir haben sie in dem Eingange der Geschichte kennen gelernt) fand es nun nötig, sich um Franziskas Wohl und Weh, um ihre Verhältnisse zu kümmern, da sie es nicht für möglich hielt, daß ein Mädchen, sei sie auch fünfundzwanzig Jahre alt geworden, sich selbst beraten könne. Gewohnt, alles auf gewisse feierliche Weise zu betreiben, versammelte sie eine Anzahl Frauen, die über Franziskas Tun und Lassen Rat hielten und endlich darin übereinkamen, daß ihre jetzige Lage es durchaus erfordere, sich zu vermählen.
Die Duchesse übernahm selbst die schwierige Aufgabe, das ehescheue Mädchen zur Befolgung dieses Beschlusses zu bewegen, und freute sich im voraus über den Triumph ihrer Überredungskunst. Sie begab sich zu der Chauvelin und bewies ihr in einer wohlgesetzten Rede, die ihr nicht wenig Kopfbrechens gekostet, daß sie endlich den Bedingnissen des Lebens nachgeben, ihren Starrsinn, ihre Sprödigkeit ablegen, rücksichtslos dem Gefühl der Liebe Raum lassen und einen Mann, der ihrer wert, mit ihrer Hand beglücken müsse.
Franziska hatte die Duchesse mit ruhigem Lächeln angehört, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Nicht wenig erstaunte die Duchesse aber jetzt, als Franziska erklärte, daß sie ganz ihrer Meinung sei, daß ihre Lage, der Besitz der weitläufligen Güter, die Verwaltung des Vermögens durchaus erfordere, sich durch die Vermählung mit einem ehrenwerten Manne ihres Standes im Leben fest zu stellen. Sie sprach dann von dieser Vermählung wie von einem Geschäft, das, von ihrem Verhältnis herbeigeführt, notwendig abgeschlossen werden müsse, und meinte, daß sie vielleicht bald imstande sein werde, unter ihren Bewerbern den zu wählen, der sich als der vernünftigste, ruhigste bewährt.
»Fräulein«, rief die Duchesse, »Fräulein, sollte Euer reiches Gemüt, Euer empfänglicher Sinn denn ganz verschlossen sein dem schönsten Gefühl, das die Sterblichen beglückt? – Habt Ihr denn niemals, niemals geliebt?«
Franziska versicherte, daß dies niemals der Fall gewesen sei, und entwickelte dann die Theorie ihres Vaters über ein Gefühl, das ein böses Prinzip in der Natur mit heilloser Ironie in die menschliche Brust gelegt, da es die Urkraft des menschlichen Geistes breche und nichts herbeiführe als ein durch Demütigungen, durch lächerliche Narrheiten aller Art verstörtes Leben.
Die Duchesse geriet ganz außer sich über die abscheulichen Grundsätze und begann Franziska tüchtig auszuschelten, daß sie einer Lehre gefolgt, die sie geradezu ruchlos und teuflisch nannte, da sie der innersten Natur des Weibes zuwider sei und eben das bewirken müsse, was sie dem höchsten Gefühle schuld gebe, nämlich ein armseliges verstörtes Leben. Zuletzt faßte sie des Fräuleins Hand und sprach, indem ihr die Tränen in die Augen traten: »Nein, mein gutes teures Kind, nein, es ist nicht möglich; du täuschest dich selbst, du gibst dich uns schlechter als du wirklich bist; fremd sind dir jene Grundsätze eines strengen, starren Mannes, der dem Leben feindlich entgegentrat! – Du hast geliebt und widerstrebtest nur im ungekünstelten Eigensinn deiner innern Regung! – Sei aufrichtig, erwäge jeden Augenblick deines Lebens! – Es ist nicht möglich, daß es keinen geben sollte, in dem nicht das Gefühl der Liebe plötzlich eindrang in dein eisumpanzertes Herz!«
Franziska stand im Begriff, der Duchesse zu antworten, als plötzlich ein Gedanke wie ein Blitz sie zu durchzucken schien. Über und über errötend, dann zum Tode erbleichend, starrte sie zur Erde nieder; ein tiefer Seufzer stieg aus der Brust empor, dann begann sie: »Ja, ich will aufrichtig sein – ja, es gab in meinem Leben einen Moment, in dem mich mit zerstörender Gewalt ein Gefühl überraschte, das ich verabscheuen lernte und noch verabscheue!«
»Weh dir!« rief die Duchesse, »weh dir, aber sprich!«
»Ich hatte«, erzählte Franziska, »eben mein sechzehntes Jahr zurückgelegt, als mein Vater mich in Eure Zirkel, gnädigste Frau, einführte. Ihr verstandet meine Befangenheit zu besiegen, mich dahin zu bringen, meiner Laune mich ganz hinzugeben. Man fand das, was ich jetzt als ausgelassen verwerfen würde, damals über die Maßen liebenswürdig, und ich hätte eitel genug sein können, mich für die gefeierte Königin der Gesellschaft zu halten.«
»Das wart Ihr, das wart Ihr!« unterbrach die Duchesse das Fräulein.
»Ich weiß nicht mehr«, fuhr das Fräulein fort, »was ich eben sprach, aber es erregte die Teilnahme der ganzen Gesellschaft so sehr, daß in dem tiefsten Stillschweigen aller Blicke starr auf mich gerichtet waren und ich beschämt die Augen niederschlug.
Es war mir, als vernähme ich ganz in meiner Nähe den Namen Franziska! wie einen leisen Seufzer. – Unwillkürlich schaue ich auf – mein Blick fällt auf einen Jüngling, den ich so lange noch gar nicht bemerkt; – aber ein unbekanntes Feuer strahlt aus seinen dunklen Augen und durchdringt mein Innerstes wie ein glühender Dolch –, mich erfaßt ein namenloser Schmerz –, es ist mir, als müsse ich sterbend niedersinken, aber der Tod sei das höchste seligste Entzücken des Himmels. – Keines Wortes mächtig, vermag ich nur, von süßer Qual gepeinigt, tief aufzuseufzen – Tränen strömen mir aus den Augen. – Man hält mich für plötzlich erkrankt, man bringt mich in ein Nebenzimmer, man schnürt mich auf, man braucht alle Mittel, die zur Hand sind, mich aus dem entsetzlichen Zustande zu reißen. – In tötender Angst, ja in Verzweiflung versichere ich endlich, daß alles vorüber, daß mir wieder wohl sei. – Ich verlange zurück in die Gesellschaft. – Meine Augen suchen, finden ihn – ich sehe nichts als ihn – ihn! – Ich erbebe vor dem Gedanken, daß er sich mir nähern könne, und doch ist es eben dieser Gedanke, der mich mit dem süßesten, nie gefühlten, nie geahneten Entzücken durchströmt! – Mein Vater mußte meinen überreizten Zustand bemerken, konnte er auch vielleicht dessen Ursache nicht erforschen; er führte mich schnell fort aus der Gesellschaft. –
So jung ich war, mußte ich doch wohl erkennen, daß das böse verstörende Prinzip auf mich eingedrungen, vor dem mich der Vater so sehr gewarnt, und eben die Gewalt, der ich beinahe erlegen, ließ mich die Wahrheit alles dessen, was er darüber gesagt, vollkommen einsehen. Ich kämpfte einen schweren Kampf; aber ich siegte; das Bild des Jünglings verschwand, ich fühlte mich froh und frei, ich wagte mich wieder in Eure Gesellschaft, gnädigste Frau; aber ich fand den Gefürchteten nicht wieder. Dem Schicksal oder vielmehr jenem bösen Prinzip des Lebens genügte aber nicht mein Sieg; ein schwererer Kampf stand mir bevor. – Mehrere Wochen waren vergangen, als ich, da eben die Abenddämmerung einzubrechen beginnt, im Fenster liege und hinaussehe auf die Straße. Da erblicke ich jenen Jüngling, der zu mir hinaufschaut, mich grüßt und dann geradezu losschreitet auf die Tür des Hauses. – Weh mir! – mit verdoppelter Kraft ergreift mich jene entsetzliche Macht! – Er kommt, er sucht dich auf! – Dieser Gedanke, – Entzücken, – Verzweiflung – raubt mir die Sinne! – Als ich aus tiefer Ohnmacht erwachte, lag ich ausgekleidet auf dem Sofa; mein Vater stand bei mir, ein Naphthafläschchen in der Hand. Er fragte, ob mir etwas Besonderes begegnet. Er habe die Tür meines Zimmers öffnen, wieder verschließen und dann Tritte die Treppe herab gehört, die ihm männliche hätten bedünken wollen, mich aber zu seinem nicht geringen Schreck ohnmächtig auf der Erde liegend gefunden. Ich konnte, ich durfte ihm nichts sagen; doch schien er das Geheimnis zu ahnen, denn des Nervenfiebers, das mich an den Rand des Grabes brachte, unerachtet, traf mich seine bittre Ironie, die er gegen verfängliche Ohnmachten eines verdrießlichen Liebesfiebers richtete. Ich danke ihm das; denn er verhalf mir zum zweiten Siege, der mir glorreicher schien als der erste.«
Die Duchesse umarmte, küßte und herzte voller Freude das Fräulein. Sie versicherte, daß nun alles sich gar herrlich fügen werde; auf den erfochtenen Sieg gebe sie ganz und gar nichts; vielmehr werde sie, da sie ein Tagebuch führe, in dem jede Person, die ihre Abendgesellschaft besucht, und was dabei vorgefallen, genau aufgezeichnet stehe, sehr leicht den Jüngling ausfindig machen, der Franziskas Liebe errungen, und so ein Liebespaar vereinen, das abscheuliche Grundsätze eines starrsinnigen Vaters getrennt.
Franziska versicherte dagegen, daß, wenn der Jüngling, der nun nach beinahe zehn Jahren wohl ein Mann worden, wirklich noch unverheiratet sei und sich um ihre Hand bewerben wolle, sie sich doch nimmermehr mit ihm vermählen werde, da die Erinnerung an jene verhängnisvollen Augenblicke ihr Leben durchaus verstören müsse.
Die Duchesse schalt sie ein eigensinniges Ding und meinte sogar, daß die Stunde der Erkenntnis vielleicht zu spät und dann unwiederbringliches Verderben über Franziska kommen könne.
Das Fräulein meinte, daß, da sie sich zehn Jahre hindurch bewährt, wohl eine Änderung ihres Sinns unmöglich gedacht werden könne. Auch übereilte sie sich eben nicht mit der ihr selbst so notwendig dünkenden Wahl eines Gatten, denn beinahe drei Jahre vergingen, und noch war sie unverheiratet. »Seltsam wie sie ist, wird sie das Seltsame unerwartet tun«, sprach die Duchesse d’Aiguillon und hatte recht; denn niemand hatte geahnet, daß Franziska dem Marquis de la Pivardiere ihre Hand reichen würde, wie es wirklich geschah.
Der Marquis de la Pivardiere war unter Franziskas Bewerbern derjenige, dessen Ansprüche auf ihre Hand gerade die geringsten schienen. Von mittelmäßiger Gestalt, trocknem Wesen, etwas unbehilflichem Geiste, stellte er sich in der Gesellschaft eben nicht glänzend dar. Er war gleichgültig gegen das Leben, weil er es in früherer Zeit vergeudet, und diese Gleichgültigkeit, die bisweilen überging in Verachtung, ließ sich oft aus in beißenden Spott. Dabei gehörte er zu den unentschiedenen Charakteren, die niemals Böses tun ohne dringenden Anlaß, und Gutes, wenn es sich gerade so fügen will und sie nicht besonders daran denken dürfen.
Franziska glaubte in der Art, wie sich der Marquis gab, in seinen Meinungen und Grundsätzen viel Ähnliches mit ihrem Vater zu finden, und dies veranlaßte sie, sich ihm mehr anzunähern. Der Marquis, schlau genug, einzusehen, worauf es ankomme, um sie für sich zu gewinnen, hatte nichts Angelegentlicheres zu tun, als auf das sorglichste alles zu studieren und sich einzuprägen, was Franziska aus dem Innersten heraus vorzüglich über das Verhältnis der Ehe äußerte, und es dann als seine eigne Überzeugung vorzutragen.
Diese scheinbare Einigkeit der Gesinnung, der Gedanke, daß der Marquis unter allen denen, die um sie warben, der einzige sei, der das Leben aus dem richtigen Standpunkt betrachte und niemals Ansprüche machen werde, die sie nicht erfüllen könne, ja selbst der Umstand, daß es ihm nie eingekommen, den feurigen Liebhaber zu machen, daß er stets kalt und trocken geblieben, bestimmte Franziskas Wahl und machte den von Gläubigern verfolgten Marquis zum Herrn des Ritterguts Nerbonne.
So sehr man Ursache hatte, zu glauben, daß ein böses Mißverhältnis sich gleich in dieser Ehe offenbaren werde, so mußte man sich doch vom Gegenteil überzeugen.
Der Marquis, umstrahlt von dem Glanze der Liebenswürdigkeit seiner Gattin, schien ganz ein anderer. Das Eis, zu dem sein Inneres erstarrt, schien aufgetaut, und trotz alles Sträubens mußte man zuletzt gestehen, der Marquis de la Pivardiere sei ein ganz angenehmer Mann, mit dem die Marquise, bleibe sie ihren Grundsätzen treu, wohl glücklich sein könne.
Der Marquis begab sich mit seiner Gattin, nachdem er einige Monate in Paris gelebt, nach dem Rittergute Nerbonne, und beide führten in der Tat ein ruhiges, glückliches Leben, will man eine völlige Gleichgültigkeit gegeneinander, die gar keine Ansprüche zuläßt, dafür annehmen. Diese Stimmung änderte sich auch nicht im mindesten, als die Marquise dem Gatten eine Tochter gebar.
Mehrere Jahre waren vergangen, als der ausbrechende Krieg (1688) den Aufruf des sogenannten Arrièrebans veranlaßte, so daß der Marquis im Dienste dieses Arrièrebans von Zeit zu Zeit vom Schlosse Nerbonne sich zu entfernen genötigt ward.
Mag es sein, daß dieser Dienst ihm zu lästig war, mag es sein, daß er sich hinwegsehnte aus dem einförmigen Leben und daß selbst das Verhältnis mit der Marquise ihm langweilig, verdrießlich geworden; genug, er suchte Dienste in der Armee, es gelang ihm, eine Eskadron in dem Dragonerregiment des Grafen Saint Hermine zu erhalten, und er blieb so vom Hause ganz entfernt.
Eine Viertelstunde von dem Schlosse Nerbonne war die Abtei zu Miseray gelegen, welche regulierte Augustiner im Besitz hatten. Einer dieser Geistlichen verwaltete zugleich die Kapelle im Schlosse Nerbonne, welcher Dienst ihn verpflichtete, jeden Sonnabend in der Kapelle Messe zu lesen. Dieser Geistliche war denn auch altem Herkommen nach der Beichtvater der Herrschaft zu Nerbonne. So geschah es denn, daß die Marquise, statt in der Kirche zu Jeu, der eigentlichen Parochialkirche von Nerbonne, in der Kirche der Abtei Messe zu hören und zu beichten pflegte.
Da die Abtei nur eine Viertelstunde von dem Schlosse entfernt lag, so machte die Marquise den Weg dahin gewöhnlich zu Fuß.
Eines Morgens an einem Heiligentage, als die Marquise sich gerade in dem Garten des Schlosses befand, tönten die Glocken der Abtei dumpf und feierlich herüber. Die Marquise fühlte sich von einer Wehmut durchdrungen, die ihr lange fremd geblieben. Es war, als stiege die Vergangenheit vor ihr auf wie ein Traumbild, und manche liebe Gestalt, mancher schnell entflohene Moment mahnte sie daran, daß sie das Leben nicht zu erfassen vermocht, als es noch grün und blühend sie umgab. Ein seltsamer Schmerz, den sie selbst nicht verstand, beengte ihre Brust, und unwillkürlich rannen ihre Tränen. In der Andacht glaubte sie Erleichterung der Qual zu finden, die ihr Inneres zerriß. Sie begab sich nach der Abtei, und während des Hochamts, das soeben begann, näherte sie sich, von unbekannter, unwiderstehlicher Gewalt getrieben, dem Beichtstuhl, den der Kapellan des Schlosses Nerbonne einzunehmen pflegte. Als nun aber der Priester die Absolution sprach, bebte sie zusammen vor seiner Stimme, und der Ohnmacht nahe, wankte sie fort, als sie durch das Gitter das totenbleiche Antlitz des Geistlichen erblickte, aus dessen düstern Augen ein Feuerstrahl sie durchfuhr.
»Nein, es war kein Mensch, es war ein Geist, aus grauenvoller Tiefe heraufgebannt, mich, mein Leben zu zerstören!« – So sprach die Marquise, als sie ganz erschöpft auf ihr Schloß zurückgekommen. Aber von tiefem Entsetzen wurde sie erfaßt, als sie sich deutlich erinnerte, dem gespenstischen Priester gebeichtet zu haben, daß sie einst in früher Jugend, wiewohl schuldlos, einen Jüngling ermordet, dann aber Untreue an ihrem Gemahl verübt; Verbrechen, von denen auch nie die Ahnung in ihre Seele gekommen. Ebenso erinnerte sie sich, daß, als sie den Mord gebeichtet, der Geistliche einen seltsamen, herzzerschneidenden Laut des Jammers von sich gegeben, bei der Absolution aber gesagt habe, daß der Himmel ihr den Mord längst verziehen, daß aber, was die an ihrem Gemahl verübte Untreue betreffe, aufrichtige Reue und strenge Buße zwar die Tat sühnen könne, daß sie aber dafür die weltliche Rache des Gesetzes treffen werde. – Das ganze geheimnisvolle Ereignis erschien ihr wie der fürchterliche angstvolle Traum einer Wahnsinnigen; sie schickte nach der Abtei, sie wollte wissen, wer an jenem Morgen statt des Kapellans Beichte gehört.
Man benachrichtigte sie, daß der Kapellan nach einem Krankenlager von zwei Tagen soeben verschieden sei; daß aber derselbe Geistliche, der am Morgen Beichte gehört, indessen den Dienst der Kapelle im Schloß Nerbonne verwalten und den nächsten Sonnabend Messe lesen werde. »Ist es möglich«, sprach die Marquise zu sich selbst, »daß eine aufgeregte Stimmung, ich möchte sagen, der Anfall eines die Nerven erschütternden Krampfs solche Torheiten erzeugen kann? Mein Gespenst verkörpert sich; ich werde es schauen und – mich meiner Albernheit schämen.« – Als am Sonnabend in der Frühe der Geistliche, der den Dienst des Kapellans verwalten sollte, in das Zimmer der Marquise trat, als er sie, sich sanft neigend, mit einem »Gelobt sei Jesus Christus!« begrüßte, da starrte sie ihn an, sank dann nieder zu seinen Füßen und schrie ganz außer sich: »Weh mir! ja, du bist es, du bist der Jüngling, den ich in früher Jugend ermordet.«
»Faßt Euch, Frau Marquise«, sprach der Geistliche ruhig, indem er die Marquise aufhob und zum Lehnstuhl führte, »ich bitte Euch, überwindet den Schmerz, der – ach, vielleicht nur zu tötend Eure Brust zerreißt, da keine Reue das ersetzt, was unwiederbringlich verloren!« –
»Haltet«, begann die Marquise mit bebender Stimme, »haltet mich nicht für wahnsinnig, ehrwürdiger Herr! – Euer bleiches Antlitz, Euer ergrautes Haar – und doch seid Ihr es, ja, Ihr seid der Jüngling, den ich einst bei der Duchesse d’Aiguillon erblickte, der in meiner Brust alles tötende Entzücken, alle brünstige Qual eines Gefühls erweckte, das mir ewig fremd bleiben sollte! – Weh mir! – was ist es, das noch jetzt, da ich Euch wiedersehe, mein Inneres zerreißt? – Doch nein! – alles ist Einbildung – Torheit – Ihr könnt nicht jener Jüngling sein – es ist nicht möglich!« –
»Wohl«, unterbrach der Geistliche die Marquise, »wohl bin ich jener Jüngling, jener unglückliche Charost, den Ihr in Verzweiflung stürztet! – Ich erkannte Euch, als Ihr an den Beichtstuhl tratet; ich verstand das, wozu Ihr Euch in seltsamer Verstörtheit bekanntet, und die Seufzer, die unwillkürlich meiner Brust entflohen, die heißen Tränen, die meinen Augen entströmten, waren der letzte Tribut, den ich dem Andenken an irdisches Weh zollen mußte. Bis dahin hatte ich den Brief aufbewahrt, den Ihr mir schriebt, der mein Herz durchschnitt, mich in trostloses Elend stürzte; ich vernichtete ihn, als ich Euch wiedergesehen, als ich die Überzeugung gewonnen hatte, daß nun die letzte Prüfung vorüber sei.«
»Wie«, begann die Marquise, »wie? Ihr sprecht von einem Briefe, den Ihr empfingt? – Nie habe ich Euch geschrieben. Ich hatte Euch bei der Duchesse d’Aiguillon gesehen, und es unterblieb ja jede weitere Annäherung – was für Geheimnisse!« –
»Vielleicht«, erwiderte der Geistliche mit ruhigem Lächeln, »vielleicht verlöschte ein Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren mit dem Andenken an die tiefe Kränkung, die mich zur Verzweiflung brachte, auch die Erinnerung der Art, wie sie mir widerfuhr. – Ich hatte noch nicht geliebt; erst als ich das Fräulein von Chauvelin sah, erfaßte mich dies Gefühl mit aller, das ganze Gemüt erschütternden Stärke, die es über einen reizbaren Jüngling zu üben vermag. – Von Wonne und Lust durchbebt, bemerkte ich die Unruhe des Fräuleins, sah, wie ihre Blicke mich in scheuer Liebe suchten und mieden. Ja! – es war kein Zweifel ich konnte glauben an das höchste Glück meines Lebens! – Die Abreise meines Vaters, des Präsidenten Charost, nach seinem Wohnsitz Chatillon sur Indre, entfernte mich von Paris. Aber wie konnte ich fernbleiben von meiner Liebe? – Mit Mühe erhielt ich von meinem Vater die Erlaubnis, zurückzukehren nach der Hauptstadt. Ich hatte die Wohnung des Fräuleins erforscht; mein erster Gang, da ich angekommen, war dahin, ich hoffte die Geliebte wenigstens am Fenster zu schauen. Welch Entzücken, welche Himmelswonne, als ich sie erblickte, als sie wie im jähen Schreck zurückfuhr. – Hinauf – hinauf zu ihr – zu ihren Füßen mein ganzes Selbst aushauchen in der höchsten Inbrunst der Liebe! – der Gedanke ließ keine Rücksicht aufkommen. Niemand auf der Hausflur; ich fand mich zurecht, ich trat in des Fräuleins Zimmer. Da rief die, von der ich geliebt zu sein glaubte, mit einer Stimme, die tötend mein Innerstes durchfuhr: ›Fort – fort – Unseliger!‹ – streckte mir die Hände abwehrend entgegen mit allen Zeichen des tiefsten Abscheus! – Ich hörte Tritte sich nahen; aber erst in meiner Wohnung, in die ich mechanisch zurückgekehrt, fand ich mich wieder. Zur Stunde weiß ich nicht, wie ich aus dem Hause des Ritters du Chauvelin gekommen, ob ich jemandem begegnet, ob jemand mit mir gesprochen, oder was sich sonst begeben. – Ruhiger geworden, konnte ich nicht anders glauben, als daß irgendein unseliges Mißverständnis über mich walten müsse. Ich schrieb an Franziska, schilderte ihr mit aller Glut der heftigsten Leidenschaft meine Liebe, meinen trostlosen Zustand, beschwor sie in den rührendsten Ausdrücken, mir zu sagen, welches böse Verhängnis den Haß, ja den tiefen Abscheu verursacht, den sie mir bewiesen. Gleich andern Tages erhielt ich die Antwort, jenen Brief, der mir alle Hoffnung des Lebens raubte. Franziska verwarf mich mit dem bittersten Hohn. Sie versicherte, daß sie weit entfernt sei, irgendeinen Haß oder gar Abscheu gegen mich, den zu kennen sie kaum das Vergnügen habe, in sich zu tragen; vor Wahnsinnigen habe sie aber große Furcht, weshalb sie mich bitte, ihr meinen Anblick zu ersparen. An einem seltsamen Wahnsinn müsse ich nämlich wohl leiden, und der Ausbruch jener Furcht sei es vielleicht gewesen, was ich für Haß oder Abscheu gehalten. Jedes Wort des unseligen Briefes spaltete mein Herz. – Ich verließ Paris und schweifte umher, ohne nach Chatillon zurückzukehren. Wo ich Ruhe suchte und fand, zeigt Euch das Kleid, das ich trage!«
Die Marquise beteuerte bei allem, was ihr heilig, daß sie niemals einen Brief von Charost erhalten, also auch keinen habe beantworten können. Nur zu gewiß war es, daß jener Brief dem Ritter in die Hände gefallen, der ihn statt seiner Tochter beantwortet.
Die Marquise wurde von einem Gedanken ergriffen, dessen Ahnung sonst nicht in ihrer Seele gelegen. Es ging ihr auf, daß der Vater, dessen ganzes Sein und Wesen ihr stets die tiefste Ehrfurcht eingeflößt, dessen Lebensweisheit ihr die einzige Norm ihres Denkens, ihres Handelns gegeben, daß eben dieser Vater das böse Prinzip gewesen sei, das sie um ihr schönstes Glück betrogen. Ihr ganzes mißverstandnes Leben schien ihr eine finstre, freudenleere Gruft, in die sie rettungslos begraben; ein vernichtender Schmerz durchbohrte ihre Brust.
Charost begriff die Marquise ganz und gar und mühte sich, sie aufzurichten durch den Trost der Kirche, den er aussprach in salbungsvollen Worten. Er versicherte, daß er nun erst den ewigen Ratschluß des Himmels erkenne und preise, nachdem sein irdisches Glück zertrümmert worden, um seinen Sinn ganz zu reinigen, zu heiligen, empfänglich zu machen für ein Verhältnis, das auf Erden schon die Seligkeit des Himmels erschließe. Ihn habe die ewige Macht ausersehen, sie, die er einst mit der höchsten Inbrunst geliebt, auf den wahren, einzigen Himmelsweg zu leiten. –
»Wie«, unterbrach ihn die Marquise heftig, »wie, Ihr wolltet« – »Euer«, sprach Charost mit ruhiger Würde, »Euer Beichtvater sein, und ich glaube, Frau Marquise – oder laßt mich Euch Franziska nennen – daß es mir gelingen wird, allen irdischen Schmerz zu besiegen, der Euer Leben hienieden stört. Euer Gemahl wird mir gern die Kapellanstelle in Eurem Schlosse anvertrauen; er wird sich des Silvain Francois Charost wohl erinnern, dessen Jugendfreund er war.« –
Charost hatte recht; sein trostreicher Zuspruch erleichterte das Gemüt der Marquise, und es kam bald eine Heiterkeit in ihr Leben, die sie sonst nicht gekannt, öfter als es gerade der Kapellansdienst erforderte, kam Charost nach dem Schlosse Nerbonne und war, da sein lebhafter Geist sich gern einer Fröhlichkeit überließ, die die engsten Schranken der Würde nicht überschreitet, die Seele des kleinen Zirkels, der sich auf dem Schlosse zu versammeln pflegte. Diesen Zirkel bildeten vorzüglich der Ritter Preville mit seiner Gemahlin, ein Herr de Cangé, die Dame Dumée mit ihrem Sohn und ein Herr Dupin, alle Nachbarn der Marquise. –
Die Marquise unterließ nicht, ihrem Gemahl zu schreiben, daß der Kapellan des Schlosses gestorben, daß der Augustiner Charost indessen den Dienst verwalte und daß er nun bestimmen möge, ob Charost, der, wie er behaupte, sein Jugendfreund sei, den Dienst behalten sollte. Der Marquise ging es indessen mit diesem Briefe wie mit allen übrigen, die sie dem Marquis schrieb. Regelmäßig erhielt sie nämlich von dem Marquis Briefe, aus dem Ort datiert, wo das Regiment des Grafen de Saint Hermine stand; keiner dieser Briefe enthielt aber jemals eine Antwort auf das, was sie ihm geschrieben, und so mußte sie glauben, daß sich der Marquis, der ihre Briefe offenbar erhalten mußte, da er nie über ihr Stillschweigen klagte, jedes Gedankens an häusliche Angelegenheiten, an die Heimat entschlagen wolle. Der Marquis schrieb auch nun wieder kein einziges Wort von Charost und der Kapellanstelle. –
Anders sollte sich die Sache aufklären, als die Marquise es geglaubt, ja nur geahnet. – Vignan, Parlamentsprokurator zu Paris, schrieb ihr, daß sich ein Polizeileutnant aus Auxerre an ihn gewandt, um zu erfahren, wo der Marquis de la Pivardiere, der sich lange dort aufgehalten, und an den ein dortiges Frauenzimmer aus gewissen Verhältnissen entstandene Ansprüche habe, sich jetzt befinde.
Die Marquise hatte bis jetzt nicht das mindeste von ihres Gemahls Aufenthalt zu Auxerre gewußt; kein einziger seiner Briefe war von diesem Ort datiert gewesen. Dieser Umstand sowie das gewisse Verhältnis, in dem er dort mit einem Frauenzimmer gestanden haben sollte, beunruhigte die Marquise. Sie forschte weiter nach und erfuhr bald, daß der Marquis schon seit langer Zeit den Kriegsdienst verlassen und sich in Auxerre aufgehalten.
Dort hatte er sich mit einer Gastwirtstochter, namens Pillard, in einen Liebeshandel eingelassen, der ihm so wohl gefallen, daß er sich entschlossen, eine doppelte Rolle zu spielen, die des Marquis de la Pivardiere und die des Huissier Bouchet. Diesen Namen und Posten hatte er wirklich angenommen, sich einlogiert in den Gasthof des Vaters seiner Geliebten, dieser die Ehe versprochen und sie dann verführt. Erst später war es der Pillard gelungen, den richtigen Namen ihres Verführers zu erforschen. –
Das Gefühl des tiefsten Schmerzes, der kränkendsten Verbitterung, das die Marquise übermannte, als der verschmähte Charost ihr vor Augen trat, und das erst den Vater anklagte, hatte sich immer mehr und mehr gegen den Marquis gerichtet. Ihn sah sie für den an, der bestimmt gewesen, das zu vollenden, was der Vater begonnen, nämlich ihr Lebensglück zu zerstören. Sie vergaß, daß es nur ihr eigner verkehrter Sinn gewesen, der sie dem Marquis in die Arme führte. – Jene Verbitterung ging aber in den entschiedensten Haß über, als die Marquise sich überzeugte, daß sie ihr Lebensglück einem Elenden geopfert. Weniger lebhaft hätte die Marquise vielleicht das ihr geschehene Unrecht gefühlt, wäre Charost nicht aus der Verborgenheit hervorgetreten. – Kann ein Weib ihre erste einzige Liebe wegbannen aus dem Herzen? – Kann der Geliebte sich jemals umgestalten, ein anderer sein, als eben der Geliebte? – So kam es denn wohl auch, daß durch das Verhältnis mit Charost, war bei seiner anerkannten Frömmigkeit an die mindeste Überschreitung des strengsten Anstandes, viel weniger an ein Verbrechen nicht einmal zu denken, wenigstens in der Marquise ganz andere Ansprüche an das Leben im Bunde mit einem geliebten Manne erweckt wurden, als die sie sonst im Innern getragen. Aber diese Ansprüche an ein nicht geahntes Lebensglück sah sie in dem Augenblicke der Erkenntnis vereitelt, und die Trostlosigkeit über diesen unwiederbringlichen Verlust mußte den Haß gegen den Marquis vermehren. Diesen Haß sprach sie bei jeder Gelegenheit auf das lebhafteste aus; sie versicherte, daß sie weit entfernt sei, ihre Rechte gegen den entarteten Gemahl auf irgendeine Weise geltend zu machen, daß ihr kein größeres Unheil geschehen könne, als wenn es dem Marquis einfallen sollte, zurückzukehren, daß sie dann jedes Mittel ergreifen würde, ihn aus dem Schlosse Nerbonne zu entfernen. Charost bemühte sich vergebens, das durch Liebe und Haß aufgeregte Gemüt der Marquise zu beruhigen oder es wenigstens dahin zu bringen, daß sie sich in den Ausbrüchen des heftigsten leidenschaftlichsten Zorns mäßige. –
Der Marquis de la Pivardiere hatte sich heimlich aus Auxerre entfernt, teils weil er des Verhältnisses mit der Pillard überdrüssig, teils weil es ihm an Mitteln fehlte, das Leben dort auf die Weise fortzusetzen, wie er es gewohnt war. Er sah sich von seinen Gläubigern hart verfolgt; deshalb hielt er es für nötig, zurückzukehren nach dem Schlosse Nerbonne und sich Geld zu verschaffen.
Auf dieser Reise, die er zu Pferde zurücklegte, kam er nach Bourdieux, einem von dem Schlosse Nerbonne sieben Stunden entfernten Dorfe. Dort traf ihn, als er eben im Gasthofe frühstückte, ein Mensch aus dem Dorfe Jeu, namens Marsau, der den Marquis kannte und sich wunderte, ihn hier zu finden, da doch die Heimat so nahe. Der Marquis meinte, daß er in der Abenddämmerung seine Gemahlin zu überraschen gedenke. Marsau verzog bei dieser Äußerung des Marquis das Gesicht auf eine so seltsame Weise, daß es dem Marquis auffiel und er Böses ahnte. Marsau, ein hämischer boshafter Mensch, erzählte dann auf weiteres Befragen ohne Rückhalt, daß ein neuer Kapellan, der Augustiner Franziskus Charost, sich indessen auf dem Schlosse Nerbonne eingefunden, dem die Marquise täglich, stündlich zu beichten habe, und daß daher die Marquise wirklich von dem Marquis gerade in der Andacht überrascht werden könne. Den Marquis traf es wie ein Blitz, als er den Namen des Beichtvaters hörte. Charost hatte gewiß niemals geahnet, daß de la Pivardiere, der ihm Freundschaft heuchelte, mit seinem Geheimnis bekannt, daß er es war, dem der Ritter du Chauvelin vertraute, wie er den vernichtet, der sich zum Liebhaber seiner Tochter aufdringen wollen; daß de la Pivardiere, der schon damals im Sinn trug, solle es auch noch so lange währen, die Hand der Marquise zu erkämpfen, das Seinige dazu beitrug, die Verzweiflung des armen verschmähten Jünglings bis zu dem Grade zu steigern, daß er, jedem Hoffen entsagend, in ein Kloster flüchtete.
Der Marquis, selbst im verbrecherischen Bündnis lebend, glaubte an das Verbrechen der Marquise um so leichter, als er wußte, welchen Eindruck damals der junge Charost auf sie gemacht. Er fühlte sich beschimpft durch denselben, der ihn in Gefahr gesetzt, seine Zwecke zu verfehlen. Im höchsten Unmut rief er aus: »Ha! – ich werde diesen heuchlerischen Pfaffen zu finden wissen; und dann mein Leben gegen das seine!«
Der Zufall wollt’ es, daß gerade, als der Marquis diese Worte ausstieß, eine Magd von dem Schlosse Nerbonne in die Wirtsstube trat. Diese Magd, die schon als Kind den Marquis gekannt und die Marquise oft äußern gehört hatte, daß die Rückkunft ihres Gemahls ihr größtes Unglück sein würde, erschrak heftig, rannte nach dem Schloß und erzählte der Marquise, wen sie gesehen, was sie gehört.
Es war gerade Mariä-Himmelfahrtstag, das Weihfest der Kapelle zu Nerbonne; Charost hatte am Morgen ein feierliches Hochamt, nachmittags die Vesper gehalten, und da jener kleine Zirkel der Nachbarn, deren schon vorhin namentlich gedacht wurde, bei der Marquise versammelt war, bat sie den Kapellan, den Abend bei ihr zu bleiben.
So sehr die Marquise durch jene Nachricht erschüttert wurde, behielt sie doch Fassung genug, keinem von der Gesellschaft, am wenigsten aber dem Geistlichen, etwas davon merken zu lassen, ungeachtet sie sein Leben bedroht glaubte und daher in aller Stille zwei Männer herbeirufen ließ, auf deren Mut und Treue sie sich verlassen konnte. Sie erschienen, der eine mit einer Flinte, der andere mit einem Säbel bewaffnet, und wurden von der Marquise in ein Kabinett gebracht, welches an den Speisesaal stieß.
Man hatte beinahe abgegessen, und die Marquise glaubte schon, daß der Marquis seine Drohung unerfüllt lassen würde, als er plötzlich eintrat in den Saal.
Alle standen auf und bezeigten ihre Freude über die unverhoffte Rückkehr des Marquis. Vorzüglich war es Charost, der dem Marquis nicht genug versichern konnte, wie sehr er das Geschick preise, das den alten, niemals vergessenen Freund ihm endlich zurückführe. Nur die Marquise blieb ruhig auf ihrem Platze sitzen und würdigte den Marquis keines Blicks.
»Aber«, sprach endlich die Frau von Preville zu ihr, »aber mein Gott, Frau Marquise, ist das eine Art, den Gatten zu bewillkommen, den man seit so langer Zeit nicht gesehen?«
»Ich«, nahm der Marquis das Wort, indem er einen stechenden Blick auf den Geistlichen warf, »ich bin ihr Gatte, das ist wahr; aber wie es mir bedünken will, nicht mehr ihr Freund!« –
Darauf setzte sich der Marquis stillschweigend an die Tafel.
Man kann denken, daß die Gesellschaft nach diesem Auftritt sich vergebens mühte, die heitere Unterhaltung fortzusetzen, die vorher stattgefunden. Vorzüglich schien Charost in großer Bewegung, da eine ungewöhnliche Röte ihm ins Gesicht stieg. Er betrachtete den Marquis mit seltsamen Blicken; der Marquis schien das nicht zu bemerken, er aß und trank sehr eifrig. Die Verstimmung stieg von Minute zu Minute, und man trennte sich, als es eben zehn Uhr geschlagen. Der Herr von Preville bat den Marquis, drei Tage darauf bei ihm zu speisen, welches er zusagte.–
Die Marquise beharrte, als sie mit dem Marquis allein geblieben, im düstern, feindlichen Stillschweigen. Der Marquis fragte sie, indem er einen stolzen, gebieterischen Ton annahm, wodurch er ein so kaltes, verächtliches Betragen verdient habe.
»Geh«, erwiderte die Marquise, »geh nach Auxerre und frage die buhlerische Dirne, mit der du lebst seit langer Zeit, alle Ehre und Treue schändend, nach der Ursache meines Unwillens!«
Der Marquis war im Innern zerschmettert, als er, was er nicht geahnt, die Marquise von seinem verbotenen Verhältnis unterrichtet fand, da er befürchten mußte, ließ die Marquise ihren Zorn nicht fahren, kam es zur Trennung, den Besitz des Schlosses Nerbonne, seine einzige Hilfsquelle, zu verlieren. Er bemühte sich, der Marquise darzutun, daß er nie in Auxerre gewesen, daß alles, was man ihr hinterbracht haben könne, boshafte, hämische Verleumdung sei; da erhob sie sich aber von ihrem Sitz und sprach, indem sie ihn mit einem entsetzlichen Blicke durchbohrte: »Elender Heuchler, bald wirst du erfahren, was eine Frau meiner Art bei solcher Schmach zu beginnen vermag!« –
Diese drohenden Worte gesprochen, entfernte sie sich in das Zimmer, wo ihre neunjährige Tochter schlief, und schloß sich ein. Der Marquis begab sich nach dem Zimmer, in dem er sonst mit seiner Gemahlin schlief, ließ sich von einem Bedienten des Hauses, namens Hybert, auskleiden und legte sich ins Bette. Am andern Morgen war er spurlos verschwunden. –
Alle Nachbarn waren in das tiefste Erstaunen versetzt über dies ganz unbegreifliche Verschwinden des Marquis. Die Marquise zeigte durchaus keine Veränderung in ihrem Betragen und versicherte, daß es sie sehr wenig kümmere, auf welche Weise der Marquis sich entfernt, den sie hoffe in ihrem ganzen Leben nicht wiederzusehen. Man erfuhr, daß der Marquis sein Pferd, seinen Mantel, seine Reitstiefel zurückgelassen; unmöglich konnte er sich daher weit entfernt haben. Das Kammermädchen der Marquise, Margarete Mercier, hatte sich über das Verschwinden des Marquis in jener Nacht geäußert auf zweideutige Weise; das dumpfe Gerücht einer geschehenen Untat wurde lauter und lauter und klagte zuletzt die Marquise geradezu des Mordes ihres Gatten an, als jener Hybert, der, vor der Saaltür lauschend, das letzte Gespräch des Marquis mit seiner Gemahlin gehört hatte, die drohenden Worte der Marquise diesem und jenem ins Ohr sagte und hinzufügte, daß der Marquis wahrscheinlich tot sei.
Jedem, der an jenem verhängnisvollen Abend bei der Marquise gewesen, war ihr Betragen nur zu sehr aufgefallen, und was man sonst für boshafte, hämische Verleumdung gehalten, nämlich daß die Marquise mit dem Augustiner Charost in verbrecherischen Verhältnissen lebe, fand nun Glauben. Diesem Verhältnis schrieb man die Untat zu.
Nur der Herr von Preville und seine Gattin konnten sich von der Möglichkeit, daß die Marquise zu solch einer entsetzlichen Tat fähig sein solle, nicht überzeugen. Sie benutzten den Augenblick, als die kleine neunjährige Pivardiere in ihr Haus gekommen, wie es öfters zu geschehen pflegte, da die Tochter des Herrn von Preville mit jenem Kinde in gleichem Alter und dessen Gespielin war, um womöglich in das Dunkel zu schauen, in welches die Ereignisse jener Nacht gehüllt waren.
Sie nahmen das Kind beiseite und fragten es behutsam, ob ihm in der Nacht, als der Vater verschwunden, nicht etwas Besonderes begegnet sei.
Die Kleine erzählte ohne allen Rückhalt, daß die Mutter sie an dem Abend in ein ganz entlegenes Zimmer geführt und ihr geheißen, dort zu schlafen, welches sonst niemals geschehen. In der Nacht sei sie durch ein starkes Geräusch aufgeweckt worden und habe eine klägliche Stimme rufen gehört: »Gerechter Gott! – habt Mitleid – erbarmt euch meiner!« – Sie habe in großer Angst aus dem Zimmer laufen wollen, indessen die Tür verschlossen gefunden. Dann sei alles still geworden. Des andern Tages habe sie in dem Zimmer, wo der Vater geschlafen, Blutspuren am Boden bemerkt und die Mutter selbst blutige Tücher waschen gesehen.
War es denkbar, daß ein unschuldiges, unbefangenes Kind nicht die Wahrheit sagen, Umstände der Art erdichten sollte? Der Herr von Preville ließ das Kind seine Aussage vor mehreren glaubwürdigen, unverdächtigen Personen wiederholen, und beide, er und seine Gattin, waren, je mehr sie sonst sich geneigt gefühlt, die Unschuld der Marquise zu behaupten, jetzt desto erbitterter auf ein Wesen, von dem sie sich auf die empörendste Weise getäuscht glauben mußten.
Der königliche Generalprokurator zu Chatillon sur Indre, von allem diesen unterrichtet, klagte die Marquise des Mordes an. Eine Gerichtsperson, namens Bonnet, erhielt den Auftrag der Untersuchung und begab sich zu dem Ende mit einem Gerichtsschreiber, namens Breton, nach dem Dorfe Jeu.
Der Marquise konnte nicht verschwiegen bleiben, was ihr drohte; sie nahm mit ihrer Zofe, Margarete Mercier geheißen, die Flucht und bestätigte so den entsetzlichen Verdacht, den man gegen sie hegte. Eine andere Magd der Marquise, namens Katharine Lemoine, sollte geradezu geäußert haben, daß sie bei dem Morde ihres Herrn zugegen gewesen. Sie wurde verhaftet und bald darauf auch Margarete Mercier, die man zu Romorantin traf, wo sie von der Marquise zurückgelassen worden war.
Beide erzählten auf beinahe völlig gleiche Weise die gräßliche Tat mit allen Umständen, so daß an der Wahrheit ihrer Aussage nicht zu zweifeln war.
Als die Marquise (so lautete jene Aussage) sich überzeugt hatte, daß der Marquis eingeschlafen, entfernte sie soviel möglich alles Hausgesinde und brachte ihre neunjährige Tochter auf ein Zimmer des obern Stocks, wo sie dieselbe einschloß. Mit dem Glockenschlag zwölf wurde an das Schloßtor gepocht. Die Marquise befahl der Mercier, Licht anzuzünden und zu öffnen. Sie tat es, und der Augustiner Charost trat ein, begleitet von zwei Männern, von denen der eine mit einem Gewehr, der andere aber mit einem Säbel bewaffnet war. »Es ist nun Zeit«, rief die Marquise dem Charost entgegen, und alle begaben sich leisen Trittes nach dem Zimmer des Marquis. Einer von den Männern zog den Vorhang des Bettes auf. Der Marquis hatte sich bis an das Kinn in die Bettdecke eingehüllt und schlief fest. Als ihm aber der Mann die Decke wegziehen wollte, fuhr er erwachend in die Höhe; in demselben Augenblick drückte der andere sein Gewehr auf den Marquis ab und traf ihn, jedoch nicht zum Tode.
Blutbesudelt warf er sich hinaus in die Mitte des Zimmers und flehte um sein Leben, jedoch vergebens. »Vollendet!« rief die Marquise den Männern zu. Da schrie der Marquis in voller Verzweiflung: »Grausames Weib, kann dich denn nichts rühren? Kann deinen Haß denn nichts versöhnen, als mein Blut? – Nie sollst du mich wiedersehen, alle Ansprüche gebe ich auf, nur schenke mir mein Leben!« – »Vollendet!« rief die Marquise noch einmal, indem die Wut der Hölle aus ihren Augen blitzte. Nun warfen sich alle drei, Charost und die beiden Männer, über den Marquis her und versetzten ihm mehrere Stiche. Als sie endlich von ihm abließen, röchelte er noch; da riß die Marquise dem einen der Mörder den Säbel aus der Hand, stieß ihn dem Marquis in die Brust und endete seinen Todeskampf. – Eben in diesem Augenblick trat Katharine Lemoine, die von der Marquise nach der nahegelegenen Meierei geschickt worden, hinein, so daß sie die Tat der Marquise mit ansah. Sie wollte aufschreien vor Entsetzen; die Marquise rief den Männern zu, sie sollten dem Mädchen ein Tuch in den Mund stecken; diese erwiderten indessen, das sei gar nicht nötig, da sie das Mädchen beim ersten Laut niederstoßen würden. Darauf trugen die beiden Männer den Leichnam fort. Während ihrer Abwesenheit ließ die Marquise das Zimmer sorglich reinigen, indem sie selbst Asche herbeibrachte, und die blutbefleckten Betten und Bettücher nach dem Keller tragen. Zwei Stunden darauf kehrten die Männer zurück. Die Marquise bewirtete sie, aß und trank selbst mit ihnen, und dann entfernten sie sich mit Charost.
Eben jener Hybert, von dem auch das Gerücht der Ermordung des Marquis ausgegangen, sollte ebenfalls in das Zimmer eingedrungen sein. Er gestand, daß er durch einen Schuß geweckt worden und geglaubt, daß der Marquis von Räubern überfallen worden sei. Deshalb sei er nach des Marquis Zimmer gelaufen. Kaum habe er indessen die Tür geöffnet, als die Marquise ihm entgegengesprungen und gedroht, ihn auf der Stelle niedermachen zu lassen, wenn er sich nicht entferne. Später habe er dem Charost einen schweren Eid ablegen müssen, über alles, was er in jener Nacht gesehen oder sonst bemerkt habe, zu schweigen. Auch Hybert sollte verhaftet werden; er entfloh indessen und war nicht wieder aufzufinden.
Charost, hiernach der Teilnahme an der gräßlichen Ermordung des Marquis de la Pivardiere angeklagt, wurde mit Zustimmung des bischöflichen Vikars zu Bourges verhaftet. Kaum war indessen diese Verhaftung erfolgt, als die Marquise de la Pivardiere aus ihrem Schlupfwinkel hervortrat und sich freiwillig zur Haft stellte.
Nur eine augenblickliche Schwäche, erklärte sie, nur die Furcht vor Mißhandlungen habe sie vermocht, nicht zu fliehen, sondern sich bei ihrer Freundin, der Marquise d’Auneuil, zu verbergen. Sie glaube ihre Unschuld gar nicht einmal beteuern zu dürfen, denn betrachte man ihr ganzes Leben, ihre Sinnesart, so sei es Wahnsinn, sie solch einer gräßlichen Tat für fähig zu achten. Von der strengsten Untersuchung habe sie daher nichts zu fürchten, sondern nur zu hoffen gehabt, daß das Gewebe der verächtlichsten Bosheit oder unbegreiflicher Irrungen zerrissen werden und sie frei dastehen müsse, von der Schuld gereinigt, ohne daß ihre Gegenwart bei dem Verfahren nötig. Anders stehe nun aber die Sache, da ihr Beichtvater, der Augustiner Charost, der Mitschuld angeklagt worden. Jetzt müsse sie gleiches Schicksal mit dem teilen, dessen Tugend und Frömmigkeit die beste Schutzwehr sei gegen jeden verruchten Frevel. In der Glorie seiner Schuldlosigkeit werde sie erst die Wonne wiedererlangter Freiheit fühlen, und darum scheue sie nicht mehr den Kerker.
Charost erhob mild lächelnd den Blick gen Himmel, als man ihn mit der wider ihn gerichteten Anklage bekannt machte. Ohne sich auf viele Beteuerungen seiner Unschuld einzulassen, begnügte er sich zu sagen, daß er die Anklage, die der Lügengeist der Hölle selbst erfunden, für eine neue Prüfung halte, die ihm der Himmel auferlegt, und der er sich in Demut unterwerfen müsse.
Unerachtet durch jene Aussagen der Mägde, die mit allen ausgemittelten Nebenumständen in vollem Zusammenhange standen, das Verbrechen so gut als erwiesen schien, blieben beide, die Marquise und Charost, bei der Versicherung ihrer Unschuld stehen. Diese Festigkeit, das ruhige, gleichmütige Betragen bei allen unzähligen Verhören, das sonst für die Schuldlosigkeit der Angeklagten spricht, diente den Richtern nur dazu, die Marquise und Charost der tiefsten, abscheulichsten Heuchelei zu zeihen.
Diese Stimmung der Richter teilte sich allen, die sonst die Marquise hoch verehrt hatten, ja selbst dem Volke mit. Als die Gerichtsdiener sich im Schloß Nerbonne befanden, um alles dort in Beschlag zu nehmen, drangen eine Menge Menschen, die herbeigelaufen, ein, zerschlugen Fenster, Türen, Gerätschaften, verwüsteten das ganze Schloß, das einer Ruine glich. –
Vergebens blieb alles Mühen, den Leichnam des Marquis de la Pivardiere aufzufinden, und auf diesen Umstand beriefen sich die Verteidiger der Angeklagten, um darzutun, daß, der Zeugenaussagen ungeachtet, der Beweis der Tat gegen die Marquise und Charost nicht vollständig geführt sei. Dies gab nun den Gerichtspersonen, die mit ungewöhnlichem Eifer die Spur des Verbrechens verfolgten, Anlaß, noch einmal in der Nähe des Schlosses überall, wo es nur denkbar schien, daß der Leichnam verscharrt sein könnte, die Erde durchwühlen zu lassen. Bonnet hatte sich nämlich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß die Mörder den Leichnam des Marquis ganz nahe dem Schlosse vergraben haben müßten.
Ein seltsames Gerücht verbreitete sich. Man sagte nämlich, daß, als Bonnet eben im Begriff gewesen, irgendwo nachgraben zu lassen, um den Leichnam aufzufinden, ihm der Marquis leibhaftig erschienen sei und mit fürchterlicher Stimme zugerufen habe, er solle sich nicht unterfangen, den unter der Erde zu suchen, dem der Himmel die Gunst solcher Ruhe nicht verliehen. Dann (so fügte man hinzu) habe der Geist des Marquis mit schrecklichen Worten, die Marquise und Charost des Mordes angeklagt. Voll Entsetzen sei Bonnet entflohen. –
Mochte es nun mit der Erscheinung des Marquis eine Bewandtnis haben, welche es wollte, so viel war gewiß, daß Bonnet in eine schwere Krankheit verfiel und in kurzer Zeit starb.
Das Gericht zu Chatillon hielt die Zusammenstellung der Marquise mit Charost für nötig. Die Marquise erschien vor den Schranken mit der Ruhe und Fassung, die sie stets behauptet; als aber Charost hineingeführt wurde, da stürzte sie ganz jammer- und verzweiflungsvoll ihm zu Füßen und schrie mit einer Stimme, die das Herz zerschnitt: »Mein Vater – mein Vater! – warum straft mich der Himmel so schrecklich? – Gibt es droben eine Seligkeit, die diese Qualen wegtilgt? – Ihr meinethalben des scheußlichsten Verbrechens angeklagt? – Ihr meinethalben zum schmachvollen Tode geführt? – Aber nein, nein! – Es wird, es muß ein Wunder geschehen! – Auf der Richtsttäte öffnet sich über Euch die Glorie des Himmels – verklärt steigt Ihr empor, alles Volk sinkt anbetend nieder.« – »Beruhigt Euch«, sprach Charost, indem er sich bemühte, die Marquise aufzurichten, »beruhigt Euch, Frau Marquise! Es ist eine harte Prüfung, die der Himmel über uns verhängt. Sagt nicht, daß ich Eurethalben sterbe, nein! Nur ein gleiches Geschick bringt uns vielleicht beiden den Tod. Seid Ihr denn nicht ebenso frei von Schuld als ich?«
»Nein nein«, rief die Marquise heftig, »nein, nein, ich sterbe schuldig. O mein Vater! Ihr hattet recht, weltliche Rache ergreift die Verbrecherin!«