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Beschreibung

»Wohlstand innerhalb der Grenzen unseres Planeten ist möglich!« Jørgen Randers 1972 erschütterte ein Buch die Fortschrittsgläubigkeit der Welt: »Die Grenzen des Wachstums«. Der erste Bericht an den Club of Rome gilt seither als die einflussreichste Publikation zur drohenden Überlastung unseres Planeten. Zum 50-jährigen Jubiläum blicken renommierte Wissenschaftler*innen wie Jørgen Randers, Sandrine Dixson-Declève und Johan Rockström abermals in die Zukunft – und legen ein Genesungsprogramm für unsere krisengeschüttelte Welt vor. Um den trägen »Tanker Erde« von seinem zerstörerischen Kurs abzubringen, verbinden sie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse mit innovativen Ideen für eine andere Wirtschaft. Der aktuelle Bericht an den Club of Rome liefert eine politische Gebrauchsanweisung für fünf wesentliche Handlungsfelder, in denen mit vergleichbar kleinen Weichenstellungen große Veränderungen erreicht werden können - gegen die Armut im globalen Süden, - gegen grassierende Ungleichheit, - für eine regenerative und naturverträgliche Landwirtschaft, - für eine umfassende Energiewende - und für die Gleichstellung der Frauen. Wer wissen will, wie sich eine gute Zukunft realisieren lässt, kommt an »Earth for All« nicht vorbei.

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Sandrine Dixson-Declève, Owen Gaffney,Jayati Ghosh, Jørgen Randers,Johan Rockström, Per Espen Stoknes
Earthfor All
Ein Survivalguide für unseren Planeten
Der neue Bericht an den Club of Rome,50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«
Aus dem Englischenvon Rita Seuß und Barbara Steckhan
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2022 oekom verlag, Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Umschlaggestaltung und Motiv: © HildenDesign, Stefan HildenLektorat: Christoph Hirsch, oekom verlagKorrektorat: Silvia Stammen
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-946-8
Wir danken der Stiftung »Forum für Verantwortung« für die großzügige Förderung der Publikation.

Inhalt

Kapitel 1Earth for All: Fünf außerordentliche Kehrtwenden für globale Gerechtigkeit auf einem gesunden Planeten
Zusammenbruch oder Durchbruch?
Eine kurze Geschichte der Zukunftsszenarien
Von den Grenzen des Wachstums zu planetaren Grenzen
Die Earth4All-Initiative
Die Menschen unterstützen den Wandel des Wirtschaftssystems
Kapitel 2Zwei Szenarien: Too Little Too Late und Giant Leap
Ein kurzer Rückblick auf die Jahre 1980 bis 2020
Szenario 1: Too Little Too Late
Szenario 2: Giant Leap
Welches Szenario wollen wir verwirklichen?
Kapitel 3Die Armutskehrtwende: die Wirtschaft der Ärmsten darf wachsen
Was ist unser derzeitiges Problem?
Die Herausforderungen bewältigen
Lösung 1: Erweiterung des politischen Handlungsspielraums und Eindämmung der Verschuldung
Lösung 2: Transformation der Finanzarchitektur
Lösung 3: Transformation des Welthandels
Lösung 4: Verbesserung des Zugangs zu Technologien – Entwicklungsstufen überspringen
Hürden und Hindernisse
Schlussfolgerungen
Kapitel 4Die Ungleichheitskehrtwende: Dividenden teilen
Die Probleme der wirtschaftlichen Ungleichheit
Ein Riesensprung zu mehr Gleichheit
Hürden und Hindernisse
Schlussfolgerungen
Kapitel 5Die Ermächtigungskehrtwende: Geschlechtergerechtigkeit herstellen
Bevölkerung
Kehrtwende total – bei Bildung, Einkommen, Rente
Transformation der Bildung
Finanzielle Unabhängigkeit und Führung
Sichere Renten und ein Altern in Würde
Schlussfolgerungen
Kapitel 6Die Ernährungskehrtwende: Ein gesundes Ernährungssystem für Mensch und Planet
Die Auszehrung unserer Biosphäre
Lösung 1: Revolutionierung der Landwirtschaft
Lösung 2: Die Umstellung der Ernährung
Lösung 3: Nahrungsmittelverluste und -verschwendung verhindern
Hürden und Hindernisse
Schlussfolgerungen
Kapitel 7Die Energiekehrtwende: Vollständige Elektrifizierung
Herausforderungen
Nur nicht nach oben schauen
Lösung 1: Einführung systemischer Effizienz
Lösung 2: Elektrifizierung von (fast) allem
Lösung 3: Exponentielles Wachstum neuer erneuerbarer Energien
Energiekehrtwende in der Earth4All-Analyse
Hürden und Hindernisse
Schlussfolgerungen
Kapitel 8Vom »Winner take all«-Kapitalismus zu Earth4All-Ökonomien
Ein neues wirtschaftliches Betriebssystem
Der Aufstieg des Rentierkapitalismus
Eine neue Sicht der Gemeingüter im Anthropozän
Das herkömmliche wirtschaftliche Spielbrett
Ein neues Spielbrett
Kurzfristiges Denken: Der Weg in ein parasitäres Finanzsystem
Die Umsetzung des Systemwandels
Wie lässt sich das Problem des Systemversagens lösen?
Schlussfolgerungen
Kapitel 9Ein Aufruf zum Handeln
Unsere Zukunft ist näher, als wir denken
A call to action: ein Chor von Stimmen
AnhangDas Earth4All-Modell
Liste der Mitwirkenden
Abbildungsrechte
Anmerkungen
Kapitel 1
Earth for All: Fünf außerordentliche Kehrtwenden für globale Gerechtigkeit auf einem gesunden Planeten
Dies ist ein Buch über unsere Zukunft – die kollektive Zukunft der Menschheit in diesem Jahrhundert, um genau zu sein. Die Zivilisation steht an einem Scheideweg. Während wir dieses Buch schreiben, ist die Welt immer noch im Griff einer Pandemie, verheerende Brände wüten und Kriege werden geführt – sichere Zeichen dafür, dass Gesellschaften trotz beispielloser Fortschritte extrem schockanfällig bleiben. Abgesehen von den unmittelbaren Bedrohungen befinden wir uns inmitten eines planetaren Notstands, den wir selbst verursacht haben. Dieses Buch will darlegen, dass die Zukunft der Menschheit langfristig davon abhängt, ob unsere Zivilisation – eine bewundernswerte, unbekümmerte, vielgestaltige, inspirierende und verwirrende Zivilisation – in den kommenden Jahrzehnten fünf außerordentliche Kehrtwenden vollzieht.
Wir kennen die kritischen Punkte. Wir alle wissen, dass wir der extremen Armut von Milliarden Menschen ein Ende setzen müssen. Wir wissen, dass wir die grassierende Ungleichheit lösen müssen. Wir wissen, dass wir eine Energierevolution brauchen. Wir wissen, dass unsere industrielle Ernährung uns schadet und dass die Art und Weise unserer Produktion von Nahrungsmitteln die Natur zerstört und ein sechstes Massensterben von Tier- und Pflanzenarten auslöst. Wir wissen, dass die Bevölkerung auf der Erde nicht grenzenlos wachsen kann. Und wir wissen, dass unser materieller Fußabdruck auf unserem endlichen, blauen wie grünen Planeten nicht unendlich wachsen kann.
Können »wir« – das heißt alle Einzelnen und alle Völker und Gesellschaften – uns zusammentun, um dieses Jahrhundert gemeinsam zu bewältigen? Können wir mit Mut und Überzeugung einen kollektiven Sprung in der menschlichen Entwicklung schaffen? Können wir Spaltungen, neokoloniale und finanzielle Ausbeutung, historische Ungerechtigkeiten und ein tiefes Misstrauen zwischen den Nationen überwinden, um den Notstand langfristig zu lösen? Können wir die systemische Transformation in Jahrzehnten, nicht erst in Jahrhunderten schaffen?
Mit Earth for All möchten wir zeigen, dass dies tatsächlich möglich ist. Und dass es nicht die Welt kosten wird, sondern eine Investition in unsere Zukunft darstellt. Aufbauend auf systemdynamischen Modellen und der Einschätzung von Expert*innen erkunden die folgenden Seiten die vielversprechendsten Wege aus diesen Notsituationen – diejenigen Pfade, auf denen wir den größten humanitären, sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Nutzen für alle erreichen.
Earth for All geht es um die Wertschätzung unserer Zukunft. Den meisten Menschen liegt ihre persönliche Zukunft sehr am Herzen. Aber wie steht es mit unserer kollektiven Zukunft? Unserer Zukunft als Zivilisation, als einer Gruppe von 8 Milliarden Menschen, als ein eng geknüpftes Netz von Gesellschaften? Es gibt sehr wenig, was darauf hindeutet, dass uns die Zukunft unserer Zivilisation am Herzen liegt. Die Covid-19-Pandemie ist ein gutes Beispiel für diese mangelnde Wertschätzung. Trotz des enormen Reichtums einiger Länder haben wir schlicht keine grundlegenden Vorkehrungen getroffen, um die Zivilisation vor einer Bedrohung zu schützen, von der wir Kenntnis hatten und die sehr wahrscheinlich und voll und ganz vermeidbar war. Verglichen mit dem bisher entstandenen globalen Leid wären die Kosten für adäquate Vorsichtsmaßnahmen Peanuts gewesen.
Ein weiteres Zeichen für unser chronisches Versagen ist es, dass Millionen Kinder weltweit aus der Schule heraus auf die Straße gehen mussten, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken. Die Botschaft der Schulstreikenden lautet schlicht und einfach: »Unser Haus brennt!« Die Mächtigen, so sagen sie, setzen die Zukunft der jungen Leute aufs Spiel und verurteilen sie dazu, auf einer Erde zu leben, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. Auf ihren Plakaten steht »Systemwandel statt Klimawandel« und »Hört auf die Wissenschaft!« Zu Recht fordern sie einen fairen und gerechten gesellschaftlichen Wandel. Und zwar jetzt!
Ihr Appell wirft ein paar unbequeme Fragen auf. Warum sind die Maßnahmen zur Verhinderung von Pandemien und einer drohenden Klimakatastrophe so erschreckend unzulänglich? Werden die Industriegesellschaften von einer mächtigen Wirtschaft in eine Richtung gedrängt, die nicht mehr zu ändern ist? Können die 8 oder bald 10 Milliarden Menschen auf der Erde innerhalb der planetaren Grenzen überhaupt alle gedeihlich leben? Ist der gesellschaftliche Kollaps unausweichlich? Oder finden wir einen Weg, unsere kollektive Zukunft hier auf der Erde wertzuschätzen und in diese Zukunft zu investieren?
Das vorliegende Buch beschäftigt sich ganz konkret mit diesen Fragen. Es präsentiert die Ergebnisse der Earth4All-Initiative, die 2020 gegründet wurde. Während sich die Pandemie immer weiter ausbreitete, schloss sich ein internationales Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Ökonomen und Expertinnen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen, um zu analysieren, wie ein gerechteres, resilienteres Wirtschaftssystem aufgebaut werden kann, das den gegenwärtigen, eng miteinander verbundenen Krisen und künftigen Stürmen standhält. Wir haben darüber diskutiert. Oft waren wir unterschiedlicher Meinung, und gelegentlich kam es zu hitzigen Debatten. Obwohl sich Wissenschaftler*innen und Autor*innen aus Europa und Nordamerika auf der einen und aus Asien und Afrika auf der anderen Seite aufrichtig für die Beendigung von Armut und Neokolonialismus und für die Beseitigung der Ungleichheit in allen Gesellschaften engagieren, sind ihre Sichtweisen doch recht unterschiedlich. Und obwohl wir uns alle einig waren, dass eine Transformation des Nahrungsmittelsystems unumgänglich ist, war es nicht einfach, zwischen den vielen möglichen Ansätzen zu gewichten, sprich festzulegen, wie zentral die notwendige Umstellung auf ökologischen Landbau ist und welche Rolle Fleischalternativen aus dem Labor oder Agrochemikalien spielen.
Unsere Analyse konzentriert sich auf zwei eng ineinandergreifende Systeme: Mensch und Planet oder, genauer gesagt, die globale Wirtschaft und die lebenserhaltenden Systeme der Erde. Sie basiert auf Systemdenken, einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich in den letzten fünfzig Jahren rasant entwickelt hat und deren Instrumente es uns ermöglichen, Komplexität, Rückkopplungen, exponentielle Auswirkungen und andere Systemdynamiken zu verstehen. Wer in Systemen denkt, ist immer auf der Suche nach Hebelpunkten, an denen eine kleine Veränderung an einer Stelle einen großen Unterschied für das gesamte System bewirken kann.
Im Mittelpunkt der Analyse stehen zwei intellektuelle Motoren, die es uns ermöglichten, die ambitioniertesten Vorschläge für eine andere Wirtschaft zu untersuchen: die Transformational Economics Commission – eine internationale Gruppe führender Wirtschaftsexpert*innen – und das systemdynamische Modell Earth4All. Durch eine Reihe von Rückkopplungsschleifen konnten die Ideen der Kommission durch das Earth4All-Modell getestet werden, um festzustellen, ob die Vorschläge im Laufe der Zeit eine ausreichend große Wirkung auf die Menschen und den Planeten haben würden. Umgekehrt war es der Kommission möglich, die Ergebnisse des Earth4All-Modells kritisch zu hinterfragen.
All dies gab uns ein solides Verfahren zur Untersuchung möglicher alternativer Zukunftswelten an die Hand. Wir konnten erforschen, was in diesem Jahrhundert passieren könnte, wenn wir eine Vielzahl von Annahmen über das menschliche Verhalten, die künftige technologische Entwicklung, das Wirtschaftswachstum und die Nahrungsmittelproduktion treffen – und wie sich all dies auf die Biosphäre und das Klima auswirkt. Wir bekamen einen Eindruck davon, was passieren könnte, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert oder verkleinert; wenn die Treibhausgasemissionen steigen oder sinken; wenn die Bevölkerungszahl explodiert oder sinkt; wenn der Materialverbrauch in die Höhe schießt oder eingedämmt wird – oder wenn Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und in technologische Innovationen helfen, eine Katastrophe zu verhindern. Bei der Analyse der verschiedenen Zukunftsszenarien diente das Modell in erster Linie dazu, unser Denken zu ordnen. Es trug dazu bei, dass unsere Szenarien in sich konsistent waren und sich tatsächlich aus den von uns getroffenen Annahmen ergaben.
Zwei Neuerungen des Modells sind der Index der sozialen Spannungen und der Index des Wohlergehens. Mit ihnen lässt sich abschätzen, ob politische Maßnahmen – zum Beispiel zur Vermögensumverteilung – die sozialen Spannungen in einer Gesellschaft eher erhöhen oder verringern. Wenn die sozialen Spannungen zu stark wachsen, können Gesellschaften in einen Teufelskreis geraten, in dem schwindendes Vertrauen zu politischer Destabilisierung führt, die Wirtschaft stagniert und das Wohlergehen sinkt. Dann haben Regierungen Schwierigkeiten, mit Erschütterungen umzugehen, ganz zu schweigen von langfristigen, existenziellen Herausforderungen wie der Gefahr von Pandemien, dem Klimawandel oder dem ökologischen Kollaps.
Das Earth4All-Modell operiert auf globaler Ebene, was für die Erforschung langfristiger Trends im kleinen Maßstab nützlich ist. Auf diese Weise können jedoch bedeutende regionale Unterschiede überdeckt werden. Globale Trends, die ein starkes Wirtschaftswachstum zeigen, können beispielsweise die wirtschaftliche Stagnation einiger Regionen ausblenden. Aus diesem Grund haben wir das Modell weiterentwickelt, um zehn Regionen der Erde zu erfassen.1 Dadurch können wir sehen, wie sich unsere Szenarien in den einkommensschwachen Ländern Afrikas südlich der Sahara und Südasiens im Vergleich zu den einkommensstarken Ländern Europas und den Vereinigten Staaten entwickeln. Freilich führt jede zusätzliche Komplexität in einem Modell zu zusätzlichen Unwägbarkeiten. Wir müssen also die Ergebnisse mit Vorsicht interpretieren.

Zusammenbruch oder Durchbruch?

Von den vielen Szenarien, die wir detaillierter beschreiben könnten, haben wir in diesem Buch zwei ausgewählt, die wir Too Little Too Late (TLTL, Zu wenig zu spät) und Giant Leap (GL, Riesensprung) nennen. Too Little Too Late untersucht, was passieren könnte, wenn das Wirtschaftssystem, das die Welt (und jetzt auch die Biosphäre) beherrscht, mehr oder weniger so weiterläuft wie in den letzten fünfzig Jahren. Werden die derzeitigen Trends bei der Armutsbekämpfung, der rapiden technologischen Innovation und der Energiewende ausreichen, um gesellschaftliche Zusammenbrüche oder Erschütterungen des Erdsystems zu verhindern? Demgegenüber fragt Giant Leap, was passierte, wenn das Wirtschaftssystem durch mutige, außerordentliche Bemühungen zum Aufbau einer resilienteren Zivilisation umgestaltet würde. Dieses Szenario untersucht, was nach einer weitgehenden Erholung von der Pandemie nötig ist, damit Armut beseitigt, Vertrauen geschaffen und ein stabiles globales Wirtschaftssystem zum Wohl der Mehrheit aufgebaut werden kann. Unsere Szenarien stützen sich auf die Einschätzung von Expert*innen, die fachwissenschaftliche Literatur und die Ergebnisse des Earth4All-Modells. Wenn wir all dies miteinander kombinieren, kommen wir zu folgenden Schlussfolgerungen:
Erstens: Wenn wir unseren derzeitigen politischen und ökonomischen Kurs beibehalten, steuern wir auf eine weiter wachsende Ungleichheit zu. Infolge der Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern werden wahrscheinlich um die Mitte des 21. Jahrhunderts die sozialen Spannungen zunehmen.
Zweitens: Diese Faktoren tragen mutmaßlich zu inadäquaten Antworten auf den klimatischen und ökologischen Notstand bei. Die globale Durchschnittstemperatur wird um weit über 2 Grad Celsius steigen, die im Pariser Klimaabkommen ausgehandelte und von der Wissenschaft als rote Linie gesetzte Grenze, die keinesfalls überschritten werden darf.2 Große Bevölkerungsgruppen werden immer mehr extreme Hitzewellen erleben, verheerende Dürren, die zu häufigen Ernteausfällen führen, Starkregen und steigende Meeresspiegel. Infolge der wachsenden sozialen Spannungen mit globalen Auswirkungen wird in diesem Jahrhundert die Gefahr regionaler gesellschaftlicher Instabilität zunehmen. Weite Teile des Erdsystems werden mit größerer Wahrscheinlichkeit als heute irreversible oder abrupte Kipppunkte überschreiten. Dadurch werden sich die sozialen Spannungen und Konflikte weiter verschärfen. Wenn klimatische und ökologische Kipppunkte überschritten werden, werden die Auswirkungen über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende zu spüren sein.
Drittens: Fünf außerordentliche Kehrtwenden sind notwendig, um die Risiken substanziell zu reduzieren:
Beendigung der Armut;
Beseitigung der eklatanten Ungleichheit;
Ermächtigung (Empowerment) der Frauen;
Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems;
Übergang zum Einsatz sauberer Energie.
Diese außerordentlichen Kehrtwenden sind als politische Fahrpläne konzipiert, die absolut mehrheitsfähig wären. Sie sind kein Versuch, eine unmöglich realisierbare Utopie zu schaffen. Sie bilden die unverzichtbare Grundlage für eine resilientere Zivilisation, die aktuell unter außerordentlichem Druck steht. Mehr noch: Es sind genügend Wissen, Geld und Technologien vorhanden, um diese Kehrtwenden zu realisieren. Dabei sind diese fünf Kehrtwenden nichts absolut Neues. Die Maßnahmen, die sie vorantreiben, wurden bereits in vielen Publikationen beschrieben. Mit Earth for All haben wir jedoch versucht, sie in einem einzigen dynamischen System zu verbinden und zu bewerten, ob sie zusammengenommen eine ausreichende wirtschaftliche Dynamik erzeugen, um die Weltwirtschaft von ihrem derzeitigen zerstörerischen Kurs auf einen resilienten Pfad umzulenken.
Wir können nicht behaupten, dies sei die exakte Blaupause für eine sichere, gerechte Zukunft. Aber wir behaupten, dass nichts Geringeres notwendig ist, als gezielte und umfangreiche Investitionen in diese fünf Bereiche zu tätigen, und zwar sofort. Warum? Nun, allein um den Klimanotstand zu bekämpfen, muss das globale Energiesystem – die Grundlage jeder Volkswirtschaft – im Verlauf einer einzigen Generation umgestaltet werden. Viele der technischen Lösungen wie Sonnenkollektoren, Windkraftanlagen, Batterien und Elektroautos gibt es bereits, und ihre Zahl nimmt exponentiell zu. Aber die Lösungen müssen für die globale Mittelschicht akzeptabel, fair und erschwinglich sein, um nicht auf heftigen Widerstand zu stoßen. Wenn die bereits eingeleitete Energiewende historische Ungerechtigkeiten perpetuiert und die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert, wird sie auf die Gesellschaften einen destabilisierenden Effekt haben. Die von Earth for All vorgeschlagenen außerordentlichen Kehrtwenden zeigen, wie wir das schaffen können.
Viertens: Die für den Aufbau einer resilienteren Zivilisation erforderliche Investition ist relativ gering: etwa 2 bis 4 Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts pro Jahr müssen für eine nachhaltige Energie- und Ernährungssicherheit aufgewendet werden.3 Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass diese Investition allein durch die Kräfte des Marktes zustande kommt. Für diese außerordentlichen Kehrtwenden brauchen wir eine Umgestaltung der Märkte und langfristiges Denken. Dies können nur die Regierungen mit Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger leisten. Die klare Schlussfolgerung lautet also, dass die Regierungen sehr viel aktiver werden müssen. Die Investitionen werden in den ersten Jahrzehnten am größten sein und dann zurückgehen.
Fünftens: Die Umverteilung des Wohlstands ist nicht verhandelbar. Langfristige wirtschaftliche Ungleichheit in Verbindung mit kurzfristigen Wirtschaftskrisen (der derzeitige Modus Operandi der meisten großen Volkswirtschaften) trägt zu wirtschaftlicher Angst, Misstrauen und politischer Dysfunktion bei. Dies sind entscheidende Faktoren, die in demokratischen Gesellschaften das Risiko einer zerstörerischen Polarisierung und in deren Folge wachsende soziale Spannungen bergen. Da das derzeit herrschende Wirtschaftsmodell zu größerer Einkommensungleichheit führen wird, sind außerordentliche Maßnahmen erforderlich, um diese Ungleichheit zu beseitigen, damit wir auf globale existenzielle Bedrohungen reagieren können.
Wir schlagen eine Reihe von politischen Maßnahmen vor, um sicherzustellen, dass auf die reichsten 10 Prozent nicht mehr als 40 Prozent des Nationaleinkommens entfallen. Das ist zwar weit entfernt von der vollständigen Einkommensgleichheit (die ohnehin eine unmöglich zu realisierende Utopie ist), aber wir halten es für das (notwendige) Minimum, das funktionierende demokratische Gesellschaften in diesem Jahrhundert erreichen können. Eklatante Ungleichheit untergräbt Vertrauen und erschwert es demokratischen Gesellschaften, langfristige kollektive Entscheidungen zu treffen, die allen zugutekommen (und entsprechend von allen akzeptiert werden können). Das würde bedeuten, dass es uns eher nicht gelingen wird, die Emissionen zu reduzieren, die Wälder zu schützen, das Süßwasser zu bewahren und die globale Temperatur auf einem nach wissenschaftlichen Schätzungen relativ sicheren Niveau (plus 1,5 °C) zu stabilisieren. Ein solches Scheitern wird weltweit noch extremere Hitzewellen, Ernteausfälle und Preisschocks für Nahrungsmittel zur Folge haben. Ungleichheiten werden sich verschärfen, das Vertrauen wird weiter untergraben und die Regierbarkeit auf eine harte Probe gestellt werden.
Sechstens: Diese außerordentlichen Kehrtwenden können bis 2050, also innerhalb einer einzigen Generation, erreicht werden. Aber wir müssen jetzt sofort handeln. Unsere Zukunft wird weitaus friedlicher, gedeihlicher und sicherer sein, wenn wir alles in unserer Macht Stehende tun, um die Erde in diesem Jahrzehnt zu stabilisieren. Wenn wir keine dringlichen Maßnahmen ergreifen, müssen wir mit wachsenden sozialen Spannungen rechnen, die in Zukunft eine Lösung der zivilisatorischen Herausforderungen erschweren werden.
Siebtens: Die außerordentlichen Kehrtwenden werden disruptiv sein. Daran führt kein Weg vorbei. Sie werden mit anderen disruptiven Entwicklungen zusammenwirken, zum Beispiel mit der nächsten Phase exponentieller technologischer Durchbrüche. »Exponentielle Technologie« verspricht eine Revolution in den Bereichen künstliche Intelligenz, Robotik, Vernetzung und Biotechnologie, von denen Wirtschaft, Gesundheit und Wohlergehen profitieren, die aber auch massive Auswirkungen auf die Privatsphäre, die Sicherheit und die Zukunft der Arbeitsplätze haben. Während sich dieser Wandel vollzieht, müssen wir soziale Sicherheitsnetze schaffen, um alle Mitglieder der Gesellschaft zu schützen. Aus diesem Grund haben wir Bürgerfonds zur Verteilung einer allgemeinen Grunddividende (Universal Basic Dividend, UBD) vorgeschlagen – eine fundamentale politische Neuerung, um Ungleichheit zu beseitigen und die Bevölkerungen vor unvermeidlichen wirtschaftlichen Disruptionen zu schützen. Wie das herkömmliche Abgaben- und Dividenden-Modell besteht auch ein Bürgerfonds aus zwei Teilen: (1) Der Privatsektor muss für die Nutzung nationaler und globaler Gemeingüter bezahlen – für die Entnahme von Ressourcen, die unter dem gemeinsamen Schutz aller in der Gesellschaft stehen. Hierzu zählen fossile Brennstoffe, Land, Süßwasser, die Meere, die Mineralien, die Atmosphäre, aber auch Daten und Wissen. (2) Die Abgaben fließen in einen nationalen Bürgerfonds, dessen Einnahmen mittels einer allgemeinen Grunddividende gleichmäßig an alle Bürgerinnen und Bürger ausgeschüttet werden.
Achtens: Unsere letzte Schlussfolgerung lautet, dass es trotz dieser Warnungen möglich, wünschenswert und sogar unerlässlich ist, optimistisch in unsere kollektive Zukunft zu blicken. Unsere Analyse zeigt, dass wir es auf jeden Fall schaffen können. Das Fenster ist noch offen, um eine Erde für alle zu erreichen, und damit menschliches Wohlergehen innerhalb der planetaren Grenzen. Eine konzertierte Anstrengung zur Umverteilung des Wohlstands kann innerhalb und zwischen den Nationen Vertrauen schaffen und einen Spielraum für langfristige Entscheidungen öffnen, um existenzielle Herausforderungen wie Klimakatastrophen oder künftige Pandemien zu bewältigen. Eine rasche wirtschaftliche Entwicklung entsprechend der fünf außerordentlichen Kehrtwenden könnte die absolute Armut innerhalb einer einzigen Generation beseitigen. Eine schnelle Abkehr von den fossilen Brennstoffen und von auf Verschwendung basierenden Nahrungsmittelketten hat das Potenzial, allen Gesellschaften langfristig Energie- und Ernährungssicherheit zu bringen. Milliarden von Menschen, die derzeit in überfüllten Städten unter entsetzlicher Luftverschmutzung leiden, werden im Zuge der wirtschaftlichen Transformation wieder saubere Luft atmen können. Und eine saubere, durch exponentielle Technologien ermöglichte Energierevolution kann einkommensschwache Länder in die Lage versetzen, ihre materiellen Bedürfnisse zu erfüllen, ohne die historischen Fehler der reichen Nationen zu wiederholen. Diese außerordentlichen Kehrtwenden sind Ausdruck dafür, dass uns unsere Zukunft wirklich am Herzen liegt.
Unsere Analyse zeigt klar und deutlich, dass sich im kommenden Jahrzehnt die schnellste wirtschaftliche Transformation der Geschichte vollziehen muss. Das Ausmaß dieser Transformation mag entmutigend erscheinen.
Sie ist größer als der Marshallplan – die wirtschaftlichen Investitionen, mit denen Europa nach zwei Weltkriegen wiederaufgebaut wurde.
Sie ist größer als die Grüne Revolution der 1950er- und 1960er-Jahre, die in Asien und Afrika die Landwirtschaft industrialisierte und dazu beitrug, Hungersnöte zu beenden.
Sie ist größer als die antikolonialen Bewegungen, die Mitte des 20. Jahrhunderts zur Entstehung unabhängiger Staaten führten.
Sie ist größer als die Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre, die marginalisierten Gruppen in den Vereinigten Staaten, in Europa und anderswo mehr Gleichberechtigung brachten.
Sie ist größer als das Projekt Mondlandung, das in den 1960er-Jahren etwa zwei Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts kostete.
Sie ist größer als das chinesische Wirtschaftswunder der vergangenen dreißig Jahre, das 800 Millionen Menschen aus der Armut befreit hat.
Sie ist sehr viel größer als die Entwicklungshilfe, die Industrienationen ihren ehemaligen Kolonien zukommen ließen.
Sie ist all dies zusammengenommen, aber ein Vielfaches davon. Dieses Buch macht es sich zur Aufgabe, die Leserinnen und Leser davon zu überzeugen, dass wir es schaffen können.
Dazu müssen wir die breiteste Koalition aufbauen, die die Welt je gesehen hat. Das wird notwendig sein, wenn sich in den kommenden Jahrzehnten die wirtschaftliche Macht vom alten, dominanten Westen auf das Gros der Weltbevölkerung – Most-of-the-World, wie wir es nennen – verlagert. Dazu brauchen wir in allen Regionen engagierte Mehrheiten: die politische Linke ebenso wie die konservative Rechte, die politische Mitte ebenso wie die Grünen, die Nationalisten ebenso wie die Globalisten, die Manager*innen ebenso wie die Arbeiter*innen, die Unternehmen ebenso wie die Gesellschaft, die Wähler*innen ebenso wie die Politiker*innen, die Lehrer*innen ebenso wie die Schüler*innen, die Rebellen ebenso wie die Traditionalisten, die Großeltern ebenso wie die Teenager.
Das globale Wirtschaftssystem muss umgebaut werden. Insbesondere müssen wir das ökonomische Wachstum überdenken, damit Volkswirtschaften, die wachsen müssen, wachsen können, und Volkswirtschaften, die zu viel verbrauchen, neue Betriebssysteme entwickeln. Wir müssen den Materialverbrauch überdenken, der sich, Prognosen zufolge, ohne die außerordentlichen Kehrtwenden bis 2060 verdoppeln wird.
Dazu muss das globale Finanzsystem umgestaltet werden – von einem System, das die Katastrophe finanziert, zu einem System, das langfristigen Wohlstand schafft. Finanzinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank müssen so transformiert werden, dass der Geldfluss den in Armut lebenden Menschen zugutekommt und nicht nur den obersten 10 Prozent.
Für all dies brauchen wir effizientere, intelligentere und tatkräftigere Staaten, die über den engen Horizont hinausblicken und die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger an die erste Stelle setzen. Die Regierungen müssen aktiv Innovationen unterstützen, Märkte neu gestalten und den Reichtum umverteilen.4 Die Regierungen müssen also endlich aufwachen. Schließlich ist es die oberste Aufgabe eines Staates, seine Bürgerinnen und Bürger vor Schaden zu bewahren. In diesem instabilen Jahrhundert gilt es, in Systemen zu denken, global zu handeln und künftige Generationen zu schützen.

Eine kurze Geschichte der Zukunftsszenarien

Earth for All baut auf jahrzehntelanger Wirtschafts- und Erdsystemforschung auf. Drehen wir die Uhr einmal fünfzig Jahre zurück: Die Menschen waren zunehmend besorgt über das Bevölkerungswachstum, die Umweltverschmutzung und den Zustand unseres Planeten. Rachel Carsons 1962 erschienenes Buch Silent Spring(Der stumme Frühling) hatte die durchaus reale Befürchtung ausgelöst, dass der Mensch die Lebensbedingungen auf der Erde zerstören könnte. In Anerkennung dieser Situation beriefen die Vereinten Nationen den ersten Erdgipfel – die UN-Konferenz über die Umwelt des Menschen (UN Conference on the Human Environment) – in Stockholm ein. Im Vorfeld dieser Konferenz veröffentlichte eine Gruppe junger Forscherinnen und Forscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ein bemerkenswertes Buch, Die Grenzen des Wachstums.5
Die Autor*innen kamen zu dem Schluss, dass die Gefahr eines Zusammenbruchs von Gesellschaften sehr ernst genommen werden muss. Wenn die Menschheit ihr Wirtschaftswachstum ohne Rücksicht auf die endlichen natürlichen Ressourcen und die Kosten für die Umwelt fortsetze, so warnten sie, werde die globale Gesellschaft die physikalischen Grenzen der Erde überschreiten und einen starken Rückgang der verfügbaren Nahrungsmittel und des Lebensstandards erfahren, gefolgt von einem Rückgang der Geburtenrate in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts. Das Buch wurde, so unwahrscheinlich es war, zu einem Bestseller und verkaufte sich weltweit millionenfach.
Die Analyse von Die Grenzen des Wachstums stützte sich auf das damals neue Computermodell World3. Die Computerleistung war in den frühen 1970er-Jahren nach heutigen Maßstäben sehr begrenzt. Dennoch hatte das Wissenschaftsteam eines der ersten Computerprogramme geschaffen, das die komplexe Dynamik menschlicher Gesellschaften auf globaler Ebene zu erfassen versuchte.
Mithilfe von World3 konnte das Team Zukunftsszenarien bezüglich Bevölkerungswachstum, Geburten- und Sterberaten, Industrieproduktion, Nahrungsmitteln und Umweltverschmutzung in großem Maßstab untersuchen. Das Modell erfasste so komplexe Zusammenhänge wie die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, da deren Produktion nicht unendlich gesteigert werden kann. Seitdem sind viele systemdynamische Modelle entwickelt worden, um komplexe globale Herausforderungen zu erforschen. Die in diesem Buch vorgestellten Ergebnisse nutzen einige derselben Techniken wie World3, und unser zentrales Modell Earth4All wurde von Jørgen Randers entwickelt, einem der Autoren von Die Grenzen des Wachstums.
Das Team von Die Grenzen des Wachstums entwarf mithilfe von World3 eine ganze Reihe von Zukunftsszenarien. Zwar prognostizierten einige dieser Szenarien einen durch zunehmende Umweltverschmutzung, sinkende Nahrungsmittelproduktion und einen dramatischen Bevölkerungsrückgang verursachten Zusammenbruch, aber nicht alle Szenarien folgten diesem Verlauf. Das Team identifizierte auch eine Reihe von Bedingungen, die zu Szenarien einer »stabilisierten Welt« führten. In diesen Szenarien wuchs der Wohlstand und blieb auf hohem Niveau. Wichtige Maßnahmen konnten ergriffen werden, um einen Kollaps zu verhindern. Die Medien und andere Kommentatoren haben diese Szenarien weitgehend ignoriert und sich stattdessen auf den drohenden Kollaps bei weiter steigendem Wachstum konzentriert. Auch die Entscheidungsträger haben sie ignoriert und es vorgezogen, in ihrer Selbstzufriedenheit zu verharren und der neoliberalen Wirtschaftstheorie und damit der Direktive Wachstum um jeden Preis zu folgen – obwohl Die Grenzen des Wachstums vor den langfristigen Konsequenzen eines Business as usual (Weiter wie bisher) gewarnt haben.
Wie beurteilen wir heute, fünfzig Jahre später, die Szenarien von Die Grenzen des Wachstums? Stimmen sie in irgendeiner Weise mit unserer Realität überein?
Im Rückblick können wir sagen, dass World3 nicht nur eines der bekanntesten, sondern auch eines der exaktesten ersten globalen Bewertungsmodelle ist. 2012 verglich der australische Physiker Graham Turner Daten aus der realen Welt im Zeitraum zwischen 1970 und 2000 mit dem in Die Grenzen des Wachstums entwickelten Szenario des Business as usual. Er stellte fest, dass dieses Szenario der Realität sehr nahekam. 2014 kam eine aktualisierte Betrachtung zu dem gleichen Ergebnis.6
2021 beschloss die niederländische Forscherin Gaya Herrington, Mitglied der Transformational Economics Commission der Earth4All-Initiative, zu prüfen, ob sich die Daten auf die heutige Situation übertragen ließen. Sie verglich Daten aus den letzten vier Jahrzehnten mit vier Szenarien der neuesten Version von World3.7 Eines der damaligen Szenarien ging davon aus, dass die Welt wenig unternimmt, um ihren Kurs zu ändern, sondern weiter Business as usual (BAU in Abbildung 1.1) betreibt. Eine aktualisierte Version des ursprünglichen BAU-Szenarios ging von einer doppelt so hohen Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen wie fossilen Brennstoffen aus (BAU2). Ein drittes Szenario ging von massiven und weitreichenden technologischen Innovationen (Comprehensive technology, CT) aus, um Herausforderungen wie die unzureichende Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln zu meistern, die auf das Erreichen der globalen Grenzen zurückzuführen sind. Und das vierte Szenario untersuchte einen Weg zur Stabilisierung der Welt (SW), bei dem nicht mehr ein steigender Materialverbrauch, sondern Investitionen in Gesundheit und Bildung, in die Verringerung der Umweltverschmutzung und eine effizientere Ressourcennutzung Vorrang hatten.
Herringtons Studie verdeutlicht erneut, dass der Bericht Die Grenzen des Wachstums nicht dazu gedacht war, eine einzige Vorhersage zu treffen, sondern verschiedene Pfade in eine langfristige Zukunft zu untersuchen. Sie stellte fest, dass die ersten drei Szenarien die aktuellen Daten am genauesten widerspiegeln. Daraus ergibt sich zweierlei. Erstens: »Die weitgehende Übereinstimmung empirischer Daten mit den Szenarien ist ein Beweis für die Genauigkeit von World3«, wie Herrington es formulierte. Und zweitens: Diese weitgehende Übereinstimmung zwischen Modell und Realität sollte bei uns die Alarmglocken läuten lassen. Die ersten beiden Szenarien deuteten auf einen Kollaps im 21. Jahrhundert hin. BAU zeigte eine Welt, deren Materialverbrauch an die Belastungsgrenzen unseres Planeten gestoßen war. Bei einer Verdoppelung der Ressourcen in BAU2 hielt die ineffiziente Übernutzung über einen längeren Zeitraum an und führte schließlich zu dem durch übermäßige Verschmutzung verursachten größten Kollaps. Das Szenario, das sich auf technologische Innovationen stützte, führte zu einem besorgniserregenden Rückgang der Ressourcen und der industriellen Produktion, wenn auch nicht zum Kollaps. Lediglich das vierte Szenario – die groß angelegte Transformation der Gesellschaft – hatte einen umfassenden Anstieg des Wohlstands und die Stabilisierung der Bevölkerung zur Folge.
Abbildung 1.1: Vier Szenarien aus Die Grenzen des Wachstums: BAU, BAU2, CT und SW (Erklärungen im Text).
Abbildung 1.2: Szenarien der Grenzen des Wachstums vs. historische Daten des UN-Index der menschlichen Entwicklung (verlängert bis 2020 durch empirische Daten) verglichen mit Variablen zum menschlichen Wohlstand für alle vier Szenarien (Abkürzungen siehe Abb. 1.1).
Ob es einem gefällt oder nicht, der Bericht Die Grenzen des Wachstums setzte eine weltweite Debatte über Zivilisation, Kapitalismus, gerechte Ressourcennutzung und unsere kollektive Zukunft in Gang, die viele Jahre nach der Veröffentlichung weitergeführt wurde. Ronald Reagan tat den Bericht bekanntlich mit der Bemerkung ab: »Es gibt keine Grenzen des Wachstums, denn es gibt keine Grenzen der menschlichen Intelligenz, Phantasie und Leistungskraft.«
Reagan mag Recht haben, was die grenzenlose menschliche Phantasie angeht, doch das ändert nichts daran, dass wir auf einem physikalisch endlichen, überbevölkerten Planeten leben, auf dem sich tiefgreifende Veränderungen vollziehen. Es ist an der Zeit, diese Intelligenz, Phantasie und Leistungskraft zu nutzen, um uns gerechte Gesellschaften vorzustellen und aufzubauen, in denen die Bürgerinnen und Bürger gedeihlich leben können und die Freiheit haben, ihren Träumen innerhalb der planetaren Grenzen unserer wunderschönen Erde zu folgen – der einzigen, die wir haben.

Von den Grenzen des Wachstums zu planetaren Grenzen

Seit der Veröffentlichung von Die Grenzen des Wachstums im Jahr 1972 hat eine wissenschaftliche Feststellung alle anderen wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten fünfzig Jahre in den Schatten gestellt: Die Erde ist in eine neue geologische Epoche eingetreten, das Anthropozän oder Menschenzeitalter.8 Dieser Paradigmenwechsel in unserem Verständnis der Zivilisation und des Erdsystems ist so tiefgreifend wie Kopernikus’ Erkenntnis, dass die Erde um die Sonne kreist, oder wie Darwins Theorie der natürlichen Selektion.
Geologen unterteilen die Erdgeschichte (in neueren Publikationen oft als deep time, Tiefenzeit, bezeichnet) in unterschiedliche Einheiten, etwa Jura, Kreide, Karbon usw. Diese geologischen Perioden markieren die wichtigsten Veränderungen in der Entwicklung unseres Planeten. Im Jahr 2000 konstatierte Paul Crutzen, Nobelpreisträger und Mitglied des International Geosphere-Biosphere Programme (einem Forschungsprogramm zur Untersuchung des globalen Wandels), die Erde sei in eine neue geologische Epoche eingetreten, und schlug vor, dafür den Begriff »Anthropozän« zu verwenden.9 Der Begriff wird mittlerweile breit verwendet und erkennt an, dass die treibende Kraft des erdgeschichtlichen Wandels heute eine einzige Spezies ist: Homo sapiens. Wir. Was in den letzten Jahrzehnten mit unserem Planeten geschah, hat es in dessen 4,5 Milliarden Jahre langen Geschichte noch nie gegeben.
Die Epoche, die wir (mit dem Anthropozän) hinter uns gelassen haben, das Holozän, bot der menschlichen Zivilisation überwiegend sehr gute Bedingungen. Das Holozän begann vor 11.700 Jahren, mit dem Ende der letzten Eiszeit. Nach ein paar anfänglichen Holprigkeiten pendelte sich das Klima auf einen bemerkenswert stabilen Rhythmus ein. Es ist kein Zufall, dass sich fast unmittelbar erste Zivilisationen entwickelten. Das milde Klima und seine relative Stabilität machten Landwirtschaft möglich (und somit die Produktion von Überschüssen). Dieser Zustand hielt rund 10.000 Jahre an, und man hätte erwarten können, dass er weitere 50.000 Jahre andauern würde.10 Heute jedoch ist er in Gefahr. Das Wachstum der industrialisierten Gesellschaften, vor allem seit den 1950er-Jahren, hat die Erde über die vom Holozän gesetzten Grenzen hinauskatapultiert. Wir befinden uns auf unbekanntem Terrain. Das explosive Wachstum und seine unmittelbaren Auswirkungen auf das Lebenserhaltungssystem der Erde lassen sich am besten durch die Grafiken der Großen Beschleunigung veranschaulichen (Abbildung 1.3).11
Abbildung 1.3: Die industrielle Revolution begann 1750. Die destabilisierenden Auswirkungen dieser Revolution auf das Erdsystem (Feld rechts der gestrichelten Linie) zeigen sich jedoch erst nach 1950. Dieses Muster ist als die Große Beschleunigung bekannt geworden und wird häufig als Grenze des Holozän zum Anthropozän herangezogen.
Mit zunehmendem wissenschaftlichem Verständnis des Anthropozän wächst auch die Sorge der Forscherinnen und Forscher über das Erreichen potenzieller Kipppunkte: beträchtliche klimatische und ökologische Veränderungen, die entweder abrupt oder irreversibel sind oder beides. Dies hat einige Wissenschaftler*innen dazu veranlasst, die Bedingungen zu erforschen, unter denen die Erde in einem dem Holozän vergleichbaren Systemzustand gehalten werden kann. Dies ist nicht unerheblich. Soweit wir wissen, können nur die stabilen Verhältnisse, wie sie für das Holozän typisch waren, den Fortbestand einer großen Zivilisation sichern. Im Jahr 2009 veröffentlichte ein Forscher*innenteam ein neues Konzept mit neun planetaren Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, wenn die Erde in diesem stabilen Zustand bleiben soll. 2012 kamen Wissenschaftler*innen zu dem Schluss, dass der Mensch durch sein Handeln die Grenzen für den Erhalt des Klimas und der Biodiversität, für die Wälder und die biogeochemischen Kreisläufe bereits überschritten hat (insbesondere durch den Einsatz von stickstoff- und phosphathaltigen Düngemitteln). Im Jahr 2022 erklärten Wissenschaftler, dass eine fünfte Grenze überschritten ist: die der »neuen Wirkstoffe« (»chemische Verschmutzung«), einschließlich Plastik (siehe Abbildung 1.4).12 Und während wir diese Zeilen im Mai 2022 schreiben, untersuchen Expert*innen, ob eine sechste (neu diskutierte) Grenze überschritten wurde, weil die Vorräte an »grünem Wasser«, also der Feuchtigkeit, die im Boden gespeichert und pflanzenverfügbar ist, immer stärker zurückgehen.13
Die Gefahr, Kipppunkte zu erreichen, ist heute akut. 2019 gaben Forschende bekannt, dass eine alarmierende Zahl von »Kippelementen« – Regionen bzw. Ökosysteme, die nachweislich gravierende Risiken bergen – nunmehr »aktiv« werden. Der Amazonas-Regenwald gibt so viel CO2 in die Atmosphäre ab wie nie zuvor. Wichtige Teile des Westantarktischen Eisschilds haben begonnen, sich zu destabilisieren. Die Permafrostböden in Sibirien und Nordkanada tauen. Korallenriffe sterben. Und im Nordpolarmeer schmilzt im Sommer das Meereis immer stärker.14 Die Gefahr, an Kipppunkte zu gelangen, droht also nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Jahrhundert. Wir können nicht ausschließen, dass die Erde bereits mehrere Kipppunkte überschritten hat.
Aus diesen Gründen können wir unsere derzeitige Situation eindeutig als einen planetaren Notstand bezeichnen. Um einen Vergleich mit der Titanic zu ziehen: Wenn sechzig Sekunden bleiben, bevor man mit einem Eisberg kollidiert, und man mindestens sechzig Sekunden braucht, um einen Schwenk zu vollziehen, der groß genug ist, um eine Kollision zu vermeiden, kann man mit Fug und Recht von einer Notsituation sprechen.
Abbildung 1.4: Das Konzept der planetaren Grenzen mit neun Grenzen, bezogen auf Bedingungen wie im Holozän. Der Bereich innerhalb des Kreises zeigt den »sicheren Handlungsraum für die Menschheit«. Außerhalb dieses Bereichs ist zutiefst ungewiss, wie das Erdsystem sich entwickelt. Beispielsweise steigt das Risiko, abrupte oder irreversible Kipppunkte zu überschreiten, wenn sich die Erde weit über diese Grenzen hinausbewegt. 2015 schätzte das Forschungsteam zu den planetaren Grenzen, dass vier dieser Grenzen bereits überschritten waren. 2022 bewertete ein anderes Forscherteam erstmals die Grenze der sogenannten neuen Wirkstoffe, darunter Plastik und andere chemische Schadstoffe. Das Team konstatierte, dass auch diese Grenze überschritten ist.
Ob uns heute noch genügend Zeit zum Handeln bleibt, ist fraglich. Wir sollten die Alarmglocken läuten. Im besten Fall wird es eine Generation dauern, bis wir eine sichere Zone erreichen. Die außerordentliche Kehrtwende muss jetzt beginnen.
Abbildung 1.5: Der »Donut« der gesellschaftlichen und planetaren Grenzen. Wir haben vier Belastungsgrenzen unseres Planeten überschritten, und viele Menschen auf der Welt leben außerhalb der gesellschaftlichen Grenzen. Ziel ist es, die Menschheit in einen sicheren Handlungsraum zurückzubringen, der hier durch den hellgrauen Bereich zwischen der ökologischen Decke und dem gesellschaftlichen Fundament dargestellt ist.