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Schatten überall. Jan Jordi Kazanski ermittelt in Krakau. Der Auftakt zur neuen Trilogie von Jens Henrik Jensen für alle Fans von hochkarätiger internationaler Spannungsliteratur. VERZWEIFLUNG treibt ihn an. ZORN macht ihn kaputt. RACHE hält ihn aufrecht. Seit seine Frau und seine Tochter einen gewaltsamen Tod gestorben sind, hört CIA-Agent Jan Jordi Kazanski nicht mehr auf zu trinken. Gegen seinen Willen ist er kaltgestellt, wird aber überraschend in den Dienst zurückberufen und nach Krakau entsandt. Seine Mission ist kryptisch: Er soll jemanden ausfindig machen, der unter dem Decknamen »Die Witwe« agiert. Im Krakau von 1999 empfängt ihn eine undurchsichtige, korrupte Welt, in der Kräfte des Guten und des Bösen miteinander ringen. Erschreckend aktuell, gnadenlos spannend – Jens Henrik Jensens große Ost-West-Trilogie »EAST liegt mir ganz besonders am Herzen. Es ist eine Reise in eine nahe Vergangenheit und ein Eintauchen in die Gegensätze des Lebens: Geburt, Tod, Zerstörung und Wiederaufbau, Verzweiflung und Hoffnung.« Jens Henrik Jensen »Thrillerkunst auf höchstem Spannungslevel – für Jens Henrik Jensens Bücher braucht man Nerven, die noch weitaus stärker sind als Drahtseile.« LITERATURMARKT.INFO Alle Bände der EAST-Reihe: Band 1: Welt ohne Seele Band 2: Auf tiefem Grund Band 3: Jagd im Zwielicht Von Jens Henrik Jensen sind bei dtv außerdem die skandinavischen Thriller-Serien OXEN und SØG erschienen.
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Seitenzahl: 475
Nach einem gewaltsamen Verlust hört CIA-Agent Jan Jordi Kazanski nicht mehr auf zu trinken. Gegen seinen Willen ist er kaltgestellt, wird aber überraschend in den Dienst zurückberufen und gen Osten entsandt: Er soll »Die Witwe« aufspüren. Sie führt die größte Verbrecherorganisation Krakaus an, niemand kennt ihre wahre Identität. Kaum angekommen, entgeht Kazanski nur knapp einem Mordanschlag. Seine Suche führt ihn immer tiefer in eine trügerische und korrupte Welt.
Wer will seinen Tod?
Von Jens Henrik Jensen sind bei dtv außerdem erschienen:
OXEN – Das erste Opfer
OXEN – Der dunkle Mann
OXEN – Gefrorene Flammen
OXEN – Lupus
OXEN – Noctis
OXEN – Pilgrim
SØG – Dunkel liegt die See
SØG – Schwarzer Himmel
SØG – Land ohne Licht
EAST – Auf tiefem Grund
Jens Henrik Jensen
WELT OHNE SEELE
THRILLER
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Diese Geschichte spielt in Krakau, in Polen. Es ist Frühjahr, und die Welt wartet darauf, dass aus dem Jahr 1999 das Jahr 2000 wird.
Prinz Krak gründete seine beeindruckende Stadt vor unendlich vielen Jahren. Die Araber beschrieben Krakau bereits im Jahr 965, und im Jahr 1038 machte Kasimir der Erneuerer, der König der Piasten-Dynastie, die Stadt zur Hauptstadt Polens.
Die UNESCO war glücklicherweise so vorausschauend, Krakau zum Weltkulturerbe zu erklären. Diese Stadt ist so schön wie keine andere. Sie duftet nach Flieder und Geschichte, verschwundenen Worten und Taten.
Unsere Hauptpersonen treffen sich in Krakau. Ihre Spuren kreuzen sich ganz zufällig in der Stadt der Könige, in der Legenden leben.
Es ist eine Zeit, in der die Europäische Union erstarkt und Grenzen zieht. Denn Zäune und Mauern sind gefallen, und unterdrückte Kräfte wurden freigesetzt.
Eines Tages vor nicht allzu langer Zeit hatte sich Polen, müde und ausgebeutet, wie immer hinter dem schweren eisernen Vorhang schlafen gelegt. Doch am nächsten Morgen war der Vorhang verschwunden, zerfallen im Laufe der Nacht.
Es war Lech Wałęsa, der Elektriker der Lenin-Schiffswerft in Danzig, der sich mit seinem Land erhob und es aufs internationale Parkett führte. Wie ein neugieriger Gast in staatlichen Gemächern eilte Polen von Raum zu Raum, um an der größten Türöffnung stehenzubleiben. Hier empfing der Generalsekretär der NATO, Javier Solana, Polen mit einem Lächeln. Das Land, in dessen Hauptstadt der Warschauer Pakt geschlossen wurde, konnte den endgültigen Schritt auf neue Freunde zugehen.
Mitten in dieser Zeit des Umbruchs begegnen wir den Hauptfiguren dieser Geschichte. Mitten im neuen Polen der Marktwirtschaft, in der einige aufsteigen und andere vor die Hunde gehen.
Da ist ein Mann. Ein Suchender, der vielleicht etwas von Bedeutung findet. Nicht für die Nation oder den Weltfrieden – sondern für sich selbst. Vielleicht soll er auch einfach nur zugrunde gehen.
Und da ist eine Frau. Sie mag dafür sorgen, dass nicht alle Grenzen überschritten werden. Ehrgeiz ist ihre Antriebskraft.
Meine Geschichte ist auch eine Begegnung mit einer Gewalt, die wir alle fürchten – und der wir uns letztendlich beugen müssen.
In jedem Leben gibt es Linien, die sich überschneiden. Nichts ist vorbestimmt, alles geschieht einfach.
Auf Krakaus Pflaster hinterlassen meine Protagonisten ihren Fußabdruck. Und sie folgen Spuren, weil Spuren immer irgendwo hinführen.
Moskau, Russland
Hingabe sah er in diesen hübschen, traurigen Augen, die feucht und dunkelbraun schimmerten. Sie blickten ihn direkt an, und er spürte, wie sich sein Zwerchfell zusammenzog. Er strich mit der Hand über das weiche, lange Haar. Wie konnte jemand so grausam sein? Und wie konnte er es sein?
Er spürte die feuchte Zunge an seiner Wange und den warmen Atem auf seinem Gesicht. Das zärtliche Winseln schnitt sich unbarmherzig in sein Hirn. Er wollte es nicht hören. Er wollte nicht … Dann nahm er den wohlgeformten Kopf zwischen seine Hände, liebkoste mit den Fingern die Ohren und ließ sie dann den Hals hinuntergleiten.
Es gab keinen anderen Weg. Er musste es tun. Es war viel zu spät, jetzt aufzugeben.
Der goldfarbene Hund war der Schönste, den er je gesehen hatte. Wenn das Tier, wie jetzt, den Kopf ein wenig schief legte und ihn fragend ansah, während der Schwanz wie eine Fahne von einer Seite zur anderen wedelte, verfluchte er den Tag, an dem es geboren worden war, und alle Tage, die seitdem vergangen waren.
Es war ein Golden Retriever. Das wusste er, denn er hatte alles gelesen, was über Hunde zu lesen wert war, und er hatte einmal einen Golden Retriever im Fernsehen gesehen. Aber er hätte es nie für möglich gehalten, dass er selbst einmal ein solches Tier umarmen und sein sanftes, freundschaftliches Lecken spüren würde.
Er spielte zärtlich an den warmen Ohren und drückte den Hund ein letztes Mal an die Brust. Es war ein Abschied. Er musste seinen Teil der Aufgabe erfüllen. Immerhin hatte er bereits die Hälfte des Geldes erhalten. Der Job wurde fantastisch bezahlt. Aber schon als er Señora zum ersten Mal gesehen hatte, wollte er den Auftrag abbrechen. Wenn sie doch nur ihm gehören würde. Er hatte mehrere Hunde gehabt – aber keinen so herrlich anmutigen.
Als er gefragt hatte, warum es notwendig sei, einen so teuren und seltenen Hund zu benutzen, hatte man ihm erklärt, er solle das Maul halten. Er war nur ein kleiner Fisch und vollkommen bedeutungslos.
»Bist du bereit?« Es schnarrte im Walkie-Talkie.
»Ja«, antwortete er und legte eine Hand auf die feuchte Schnauze, während er ein letztes Mal überprüfte, dass das schwere Halsband festsaß und im langen Fell verschwand. Dann schaltete er den Kontakt ein und stellte widerwillig fest, dass die Diode am Halsband leuchtete – wie ein teuflisches Auge. Sein Adamsapfel bewegte sich nervös auf und ab.
»Entschuldige, Señora … entschuldige …«
»Natalia! Schaust du mal nach dem Wagen? Er muss bald hier sein. Major Vladlen Soloschenko stand vor dem Spiegel und band seine Krawatte. Zwei Dackel wuselten um ihn herum und schnüffelten eifrig an seinen blankgeputzten Schuhen.
»Pjàtnitsa! Subbóta! Hört endlich auf, meine Schuhe vollzusabbern, sonst bekommt ihr Ärger!«
Er bückte sich und klopfte liebevoll das schwanzwedelnde Paar. Sie waren ihrer beider Augenstern, ihr ein und alles. Es waren die Kinder, die sie nie bekommen hatten. Der eine hieß Freitag, wie Robinson Crusoes eingeborener Freund, der andere Samstag. Sie waren nach den Wochentagen benannt, an denen sie die Hunde bekommen hatten. Rassereine Dackel waren Luxus.
»Bleib ruhig. Sie sitzt gerade, mein Freund.«
Andrej stand an der Tür und betrachtete ihn mit einem schiefen Lächeln. Sein langjähriger Adjutant und enger persönlicher Freund wusste, dass ihm die Krawatte schon immer Probleme bereitet hatte. Andrej hatte das Angebot angenommen, bei ihnen zu übernachten, nachdem sie bis in den späten Abend hinein gearbeitet hatten.
Regen peitschte schwer und anhaltend gegen die Scheibe. Zwischendrin heftige Windstöße, die die Tropfen am Glas explodieren ließen und drohten, die frühlingsgrünen Blätter von den Bäumen auf der anderen Straßenseite zu reißen.
Der ganze Pasternak-Komplex lag da wie eine graumelierte Masse aus Melancholie und tropfnassem Beton. Vor dem Umbruch hatten die Wohnblöcke am Komsomolski Prospekt Dzierżyński Komplex geheißen, aber wie bei so vielen anderen Orten hatte man ihnen einen einwandfreien Namen gegeben.
Feliks Dzierżyński war der Mann, der die Tscheka aufgebaut hatte, die später zur NKVD und noch später zu den gefürchteten drei Buchstaben wurde: KGB. Der eiserne Feliks war Vergangenheit, und sein Name erinnerte die Menschen an etwas, woran sie nicht gern erinnert werden wollten.
Nein, der neue Name passte schon besser zu den neuen Zeiten, und nun wohnten sie also in dem Komplex, der nach dem Mann benannt worden war, der für ›Doktor Schiwago‹ den Literaturnobelpreis bekommen hatte.
Natalia hatte das Buch vor langer Zeit gelesen, aber ihr war es im Grunde egal. Sie konnten die Gegend nennen, wie sie wollten. Vladlen und sie hatten eine schöne Wohnung, ihnen fehlte es an nichts – dafür sorgte der Staat –, aber nicht einmal ein Boris Pasternak konnte die langweiligen Gebäude aufhübschen.
Die neuen Zeiten hatten zu einer Menge Paradoxa geführt. Alles war so verwirrend. Sie lächelte. Ein seltsamer Gedanke. Was wäre, wenn auch die Namen der Menschen nicht mehr benutzt werden könnten? Glücklicherweise war es nicht so. Niemand hatte ihren geliebten Mann aufgefordert, seinen Namen zu ändern. Wieder zeigte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Paradoxal, dass seine Eltern ihn Vladlen genannt hatten, nach Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin. Ausgerechnet ihn, der im Gegensatz zu Lenin von geradezu riesenhafter Gestalt war. Die Eltern waren unglaublich parteitreu gewesen, richtiggehend fanatisch. Nun waren sie tot – genau wie ihr Vorbild.
Seit Tagen herrschte nun dieses Mistwetter. Wenn nur die Sonne bald wieder herauskäme, sodass sie mit den Hunden in den Gorki Park gehen könnten. Es war ihr eigenes kleines Paradies auf der anderen Seite des Flusses, und die Hunde genossen es, sich im Gras zu tummeln.
Natalia Soloschenko war kurz davor, sich bei den flimmernden Wasserströmen an der Fensterscheibe in ihren Gedanken zu verlieren, als sie den schwarzen Wolga sah.
»Vladlen! Andrej! Der Wagen ist da.«
Obwohl sein Herz klopfte und das schlechte Gewissen ihn aufwühlte, hoffte er, dass der goldfarbene Hund tun würde, wozu er ihn trainiert hatte. Wenn er es nicht tat, wenn die Aufgabe fehlschlug, könnte es problematisch werden – für ihn wie für seinen Partner, der mit dem Fernglas Ausschau hielt. Und eines war ganz sicher. Sie würden den Rest des Geldes nicht erhalten.
Das Walkie-Talkie schnarrte erneut, er lauschte angespannt.
»Jetzt!«, lautete der kurze Bescheid. Er öffnete die Tür und ließ den Hund mit einem kleinen Klaps auf sein Hinterteil heraus. »Doswidanja, mein Freund …«
Die Frau stand in der Tür. Nun wurde sie umarmt und sagte irgendetwas zu dem Mann, der den Schirm über seinen Kopf hielt und den kurzen Plattenweg hinunterlief. Der Chauffeur stieg aus und öffnete die Tür.
»Guten Morgen, Major Soloschenko. Was für ein Wetter …«
»Guten Morgen, ich … Ach, sehen Sie mal!«
Der Mann mit dem Schirm hielt inne, als der Hund angelaufen kam. Er blieb genau an dem großen Busch auf dem kleinen viereckigen Rasenstück stehen, aber als der Mann in die Knie ging und ihn zu sich rief, kam er schwanzwedelnd und vertrauensvoll auf ihn zu.
»Mein Gott, du siehst prächtig aus, mein Freund. Was machst du denn hier ganz allein?«, fragte er und strich über das nasse Fell.
Es hatte den Anschein, als würde sich ein gigantischer Unterdruck in sämtlichen Gebäuden entladen. Fensterscheiben wurden eingesogen, überall splitterten hunderttausendfach Kristallfragmente. Der ohrenbetäubende Knall blieb im Regen hängen. Ein anhaltendes Donnern, als wäre die Flutwelle an Geräuschen zwischen den Wohnblöcken gefangen und suchte panisch nach einem Weg aus dem Betonlabyrinth.
Der Körper der Frau lag leblos im Hauseingang. Die graue Fassade war übersät mit roten Flecken, und auf den Bodenplatten hatte sich eine undefinierbare Masse ausgebreitet – Haare, Fleisch, Stofffetzen und Blut, das in dem strömenden Regen verdünnt wurde und in kleinen hellroten Bächen davonlief.
Vier Stunden später stieg ein Mann aus der Metro an der Smolenskaja-Station. Er ging ins Café Rioni im Arbat-Quartier, um seine Gedanken zu sortieren und sich zu konzentrieren.
Zehn Minuten später bahnte er sich den Weg zur Bar. Es war Mittagszeit, und das Lokal war voller Menschen, deren feuchte Mäntel dampften. Er entdeckte ihn in einer Ecke am Ende der Bar.
Diskret drängte er sich zu dem anderen durch. Er sah den breiten Rücken in der braunen Lederjacke. Er umschloss den Pistolengriff, ließ die Hand aber in der tiefen Tasche. Dann hob er den Mantelschoß bis zum Nacken des Mannes und drückte ein einziges Mal ab. Der Kopf nickte heftig, der Mann wurde gegen die Bar geschleudert, dann glitt er zu Boden.
Ein Schrei löste den anderen ab, wie ein Echo, das in wenigen Augenblicken eine Lawine des Chaos durch das Lokal rollen ließ. Die Menschen stürzten zum Ausgang, und ebenso unbemerkt, wie er gekommen war, wurde der Mann nun mit der Menschenmenge auf die Straße gezogen.
Barcelona, Spanien
Seine Augen brannten hinter der Sonnenbrille. Er wusste genau, wie sie aussehen würden, wenn er sie im Spiegel sehen könnte. Seine Augen würden den Murmeln ähneln, mit denen sie als Kinder gespielt hatten – Murmeln aus blankem, schimmerndem Glas. Zu Hause wäre es ihm egal gewesen, aber nicht hier. Es war peinlich, hier herumzulaufen und auszusehen, als wäre er seit zwei Tagen betrunken – allein auf dem Weg zu einem Familienausflugsziel.
Als er in die Katakomben unter der Plaza d’Espanya hinabgestiegen war, hatte ihm der trockene Gestank der U-Bahn beinahe den Magen umgedreht, aber eine Tasse Kaffee hatte seine rebellischen Eingeweide offensichtlich eine Spur beruhigt.
Die Sonne und die frische Luft taten gut nach der Zugfahrt aus Barcelona. Er stand lange still und sah hinauf zu den beeindruckenden, zerklüfteten Bergspitzen. Montserrat. Tatsächlich Montserrat. Noch eine Station auf seiner zermürbenden Odyssee. Selbstquälerei, ja – aber vielleicht auch die endgültige Entscheidung.
Die unvermeidliche Konfrontation. Dort oben auf dem Berg fand sich der Dorn in seinem Fleisch.
Vielleicht war es klug – vielleicht war es dumm –, aber er konnte es nicht lassen. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass es sich auch um Selbstmitleid handeln könnte, also verdrängte er ihn sofort. Er sah sich um und zog diskret den kleinen Flachmann aus der Tasche. Der Whisky brannte angenehm, Ruhe breitete sich in ihm aus. Dann ging er zu der Kabelbahn und stellte sich in die Reihe.
Er stank nach altem und neuem Schnaps. Das mussten die anderen in der kleinen Kabine riechen können. Er öffnete ein Fenster und verschaffte seinem stinkenden Gewissen frische Luft. Ihm gegenüber saß ein Liebespaar, junge Leute, die Händchen hielten.
Es war einer der Vorteile einer Sonnenbrille. Man konnte die Leute anstarren, wie man wollte. Er tat es. Sie musste Anfang zwanzig sein. Besonders hübsch war sie nicht, eher gewöhnlich. Sie trug eine schwarze Bluse, die sie aufgerollt und vor dem Bauch verknotet hatte, der einen weichen, braunen Bogen schlug, bevor er in den Jeans verschwand. Zwischen ihren vollen Brüsten hatte sich ein tiefer Spalt gebildet. Sie wurden von einem schwarzen Spitzen-BH angehoben, der so stramm saß und einschnitt, dass etwas von dem weichen Fleisch über den Rand quoll.
Er starrte sie weiterhin an und stellte sich vor, wie er sie auszog, den BH aufhakte und die Schwere ihrer Brüste spürte, als sie langsam in seine Hände fielen. Der Reißverschluss, der hinuntergezogen wurde, das Höschen und dahinter das Haar.
Die Reaktion blieb aus. Der Anblick und die Gedanken erregten ihn nicht. Er versuchte es noch einmal, schrittweise und ruhig, aber erneut vergebens. Offenbar war ihm das alles scheißegal geworden.
Die Sonne brannte, als er sich langsam den Pfad zum höchsten Punkt des Bergmassivs hinaufarbeitete. Er war in miserabler Form, und die gut eintausendzweihundert Meter Höhe verrieten es.
Er hatte die Basilika besucht, als er mit der Kabelbahn angekommen war. Im Prozessionsgang waren sie zu der kleinen Holzfigur gegangen, La Moreneta – die Schwarze Madonna –, die mit jahrhundertelanger jungfräulicher Geduld noch immer in ihrer von Glas geschützten Nische über dem Hochaltar saß. Nur Gott wusste, worauf sie wartete. Ein endloses Warten.
Es war nicht schwer, die frischverheirateten Paare auszumachen, die ehrerbietig innehielten und um ihren Segen baten. Einige knieten einen kurzen Moment, und alle küssten den Apfel, den das Kind auf dem Schoß der schwarzen Frau durch ein kleines Loch im Glas herausstreckte. Auch er – noch einmal. Ein leichter und respektvoller Kuss.
Danach hatte er in den Kerzenhaltern unter der Wölbung die beiden Wachskerzen angezündet, die er am Kiosk gekauft hatte. Trotz des Vormittags war es bereits ein wogendes Meer von blauen und roten Kerzen gewesen.
Unruhige Flammen, die für die ihm unbekannten Hoffnungen und unbekannten Gebete unbekannter Menschen brannten – oder aus einer Dankbarkeit mit unbekanntem Grund heraus.
Schließlich hatte er den Gipfel erreicht.
Er ließ sich auf einen Stein in der Nähe der Sant-Jeroni-Einsiedelei fallen, weit genug entfernt von der Touristenschlange, die sich durch die Landschaft zog. Vielleicht war es genau hier? Jedenfalls in der Nähe … Die Sicht war fantastisch, es war sehr klares Wetter. Weit entfernt konnte er die Konturen von Mallorca ahnen. Sein Kopf rollte schwer auf eine Seite, er schlief ein.
… Das Telefon klingelt und zerreißt die grabkammerartige Stille im Büro. Wie von einem fernen Planeten geschickt, drängt die einsilbige Nachricht sich unwirklich und zäh ins Ohr. Die Wirklichkeit sind die vier Wände und das metallische Echo, ein geräuschloser Schrei, erstarrte Zeit. Alles wird undeutlich. Er läuft und läuft. Die Lungen sorgen nicht für Luft, das Herz pumpt kein Blut. Es ist nicht mehr sein Körper, denn er läuft nebenher und starrt verwundert darauf. Der Frost beißt in die Hemdsärmel und in den Nacken. Aber es ist heiß, und Nebel hängt wie eine flatternde Gardine …
Unruhig warf er den Kopf herum und erwachte, als ein ferner Impuls in seinem Hirn seinen Körper zusammenzucken ließ.
Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, aber der Traum war wieder da gewesen. Manchmal blieb er lange aus. Dann wiederum war er so pünktlich und präzise, als säße Kelly am Steuer der Linie 7, die an der Marryborough Street vor der Buchhandlung hielt.
Es war ein ungleicher Kampf. So, wie die Situation sich momentan darstellte, würde er den Troll niemals besiegen können, der mit seinem Unterbewusstsein spielte, wie es ihm beliebte.
Dösig bemerkte er den rundlichen Mann mit dem weißen Hemd, der Sonnenbrille und dem kleinen Rucksack, den er über der Schulter trug. Jetzt stand er direkt vor ihm. Er sah fragend aus.
»Señor Kazanski?«
»Sí, was wollen Sie? Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Gestatten Sie? Darf ich mich setzen?«
»Warum nicht? Machen Sie, was Sie wollen …«
»Man hat eine schöne Aussicht von hier oben. Dort draußen liegt Mallorca. Sehen Sie es?« Der Mann deutete in die Ferne.
»Ja, na und?«
»Und dort unten Barcelona. Könnte es sein, dass ich die Sagrada Família sehe? Es ist ein ungewöhnlich klarer Tag.«
»Was wollen Sie von mir? Sich unterhalten?«
»Entschuldigen Sie. Ich habe beinahe das Gefühl, als würden wir uns kennen. Das ist natürlich nicht so. Ich habe Ihr Tun und Treiben in der vergangenen Woche verfolgt. Wie geht es Ihnen?«
»Was geht Sie das an?«
»Ich versuche nur, höflich zu sein.«
»Das müssen Sie nicht. Warum sind Sie mir gefolgt? Was ist das für ein Geschwafel? Wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Paco Herrera. Ich arbeite von Madrid aus für den Dienst. Meine Aufgabe bestand darin, Ihnen eine gewisse Zeit zu folgen, bevor ich Kontakt aufnehme.«
»Der Dienst? Was will er von mir? Mich zu einem neuen Seelenklempner oder zur Letzten Ölung schicken?«
»Sie haben einiges getrunken, oder? In Valencia schienen sie im Tres Gatos nahezu halb bewusstlos zu sein. In Alicante war es ebenso, und in Granada war es noch schlimmer, wenn das überhaupt möglich ist. Und gestern Abend ging es mit Ihrem Schwager auf Las Ramblas richtig zur Sache. Ich könnte nicht so viel trinken.«
»Wenn Sie der Meinung sind, ich habe viel getrunken, dann lautet die Antwort wohl, dass ich einen höllischen Durst hatte. Und im Übrigen trinke ich genau so viel, wie ich möchte. Da haben sich weder Sie noch die Schwachköpfe zu Hause einzumischen.«
»Trinken Sie sich von mir aus ins Grab. Ich habe keine Ahnung, worauf mein Auftrag hinausläuft. Ich soll lediglich einen Bericht abliefern. Aufschreiben, was Sie während Ihres Aufenthaltes hier getan haben. Und um in Ihrem Jargon zu bleiben, es interessiert mich einen Scheiß. Sie sind mir vollkommen egal. Ich halte Sie für einen jämmerlichen Trottel. Ich erledige lediglich meine Arbeit. Ist das jetzt klar?«
»Ja, von mir aus ist alles klar, Fettsack. Sind Sie bis hierher gelaufen, nur um mir das zu sagen? Dann wünsche ich Ihnen einen guten Heimweg …«
»Nein. Hier. Nehmen Sie.«
Der Mann hielt ihm den Rucksack hin, Kazanski nahm ihn. Es war eher eine Art Tasche mit Reißverschluss und kleinen Tragriemen.
»Was soll ich damit? Ist das ein Geschenk, weil es so amüsant war, meinem Arsch zu folgen?«
»Darin sind Papiere, die das Hauptquartier uns gefaxt hat. Es sind Berichte und Zeitungsartikel. Man fordert Sie auf, das Material gründlich zu lesen. In der Seitentasche steckt ein Flugticket. Sie sollen in zwei Tagen zurück sein. Und wie gesagt, ich liefere meinen Bericht über Sie morgen ab, bereiten Sie sich also auf ein paar Fragen vor … Das war wohl alles. Ein ausgesuchtes Vergnügen, Sie kennenzulernen, Kazanski.«
Der Mann grunzte höhnisch, spuckte, drehte sich um und begann den Abstieg.
»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite. Grüßen Sie Ihre Familie, imbeziles Arschloch!«, rief Kazanski, aber der Mann schien es nicht mehr zu hören.
Die Flugzeuge standen auf dem Barceloner Flughafen El Prat wie müde Störche nebeneinander, deren Gefieder gepflegt wird, bevor sie wieder in die Luft steigen.
Gestern war er noch einmal kurz in dem enormen Kessel des Stadions von FC Barcelona gewesen. Diesmal hatte er keine Gelegenheit gehabt, wie gewöhnlich ein Spiel im Camp Nou zu sehen. Er hatte mutterseelenallein auf der Tribüne gesessen und sich vom Brausen der großen Kämpfe tragen lassen.
Das verwegene bulgarische Energiebündel Christo Stoitschkow und der kleine brasilianische Zauberer Romario – aber vor allem der Däne Michael Laudrup, der Gentleman und Ästhet des Spiels.
Obwohl der Rasen leer war, konnte er Laudrup über das Mittelfeld verfolgen. Dieser charakteristische gleitende Lauf, der zärtliche Ballkontakt, die Voraussicht und der Überblick eines Schachgroßmeisters – und schließlich ein nonchalanter Klaps mit der Katzenpfote. Noch ein überrumpelndes Abspiel, das zum Tor führt.
Die Maschen des Netzes flatterten.
Und jetzt erhob sich das Stadion und wurde zu einem wogenden Menschenmeer in gelben, blauen und weinroten Farben. Der Jubel wogte über die Spieler am Boden des Kessels hinweg. Gestreifte Ekstase auf dem Rasen. Posen, Umarmungen, Schulterklopfen.
Doch der Däne war fort.
Nicht mal hier war es wie früher. Der Mann aus dem Norden verließ Barcelona und machte in seiner ersten Saison auf der kastilischen Hochebene Real Madrid zum spanischen Meister. Und nun wusste er nicht einmal, wo Laudrup war oder ob er überhaupt noch spielte. Ein so gottbegnadeter Magier verdiente es, auf dem Platz zu sterben. Unter Klatschsalven. Aber wo war Laudrup? Was tat er genau in diesem Augenblick? In dieser Sekunde? Auch der Fußball hatte ihn verloren.
Kazanski dachte nach. Er wusste auch nicht, wie die New York Yankees die Saison begonnen hatten. Es war lange her, dass er den Rausch eines Homerun gespürt hatte. Und The Knicks? Konnte Patrick Ewing noch immer unter der Kurve zaubern? Und was war mit Gretzky auf dem Eis? Er hatte keine Ahnung. Er war ein erbärmlicher Ignorant.
Obwohl die Familie seiner Frau alles getan hatte, um ihm einen gemütlichen Abend zu bereiten, war der Versuch gescheitert. Seine Melancholie und ihre deprimierten Blicke bewiesen, dass sie mit dem unmittelbar bevorstehenden Abschied nicht zurechtkamen. Sogar das sonst immer so dröhnende Gelächter seines Schwiegervaters wirkte resigniert.
Wie so oft hatten sie in Barri Xinès bei Antonio gegessen. Der korpulente Wirt hatte seinen gewaltigen Schnurrbart gezwirbelt, ihm freundschaftlich auf den Rücken geklopft und ihn Söhnchen genannt, während er seinen Angestellten befahl, eine absolut fantastische Romesco-Sauce zu zaubern. Es war schade gewesen. Ein Hohn gegenüber einem Mann wie Antonio, vermutlich hatten sie gewirkt wie eine Trauergemeinde.
Hinterher hatten sie in einem Straßencafé auf der Plaza Catalunya gesessen. Von dort konnte man sie alle sehen: Familien. Männer und Frauen. Junge Liebespaare, die zu einem Oberkörper mit vier Beinen verschmolzen, während sie die klassische Promenade über Las Ramblas absolvierten.
Niemand hatte wirklich etwas gesagt, und nach einem Bier und einer Tasse Kaffee waren sie nach Hause gegangen.
Es war nicht einmal eine Stunde her, seit sie alle mit diesem Abschied konfrontiert waren, der die Kehle zuschnürte und das Herz schneller schlagen ließ.
Seine Schwiegereltern Eduardo und Julia hatten ihn umarmt und geweint, und er selbst war wie gelähmt gewesen von ihren und seinen eigenen Gefühlen. Als ihm klar wurde, dass es nichts gab, was er ihren liebevollen Attacken entgegenhalten konnte, ließ er die Tränen einfach laufen. Die Herzenswärme der Familie hatte seine Abwehr durchdrungen und ein Unwetter ausgelöst, als sie auf die Kälte in ihm traf.
»Möchten Sie etwas trinken?«
Kazanski hatte den kräftigen Schub nicht einmal bemerkt, mit dem sie abgehoben waren. Nun blickte das hübsche Gesicht ihn fragend an, ein wenig verlegen, als würde es ihr leidtun, ihn in seinen Gedanken gestört zu haben.
Er bestellte einen doppelten Cognac und Kaffee. Hatte sie ihn nicht anders angesehen und anders gelächelt? Vermutlich nicht … Irgendwo hatte man ihnen allen einen Knopf implantiert, der bei einem schwachen Impuls ein magisches, perlweißes Lächeln auslöste. Oder war sie nicht wie die anderen?
Er sah ihr nach und betrachtete den wohlgeformten Hintern in dem anliegenden Rock. Gern hätte er gewusst, was sie über ihn dachte. Dachte sie überhaupt etwas? Versuchte sie zu erraten, wer er war? Nein, vermutlich war er nur ein weiterer Trottel in der unendlichen Reihe, die in dieser fliegenden Cafeteria bedient werden mussten. Kazanski hatte nie verstanden, was daran attraktiv war, in mehreren tausend Metern Höhe einen Haufen Idioten zu bedienen.
Jan Jordi Kazanski.
Sein Name stand auf dem Aktendeckel, den er aus der Tasche zog.
Er hatte die Akte bisher bewusst nicht aufgeschlagen – aber er war unglaublich neugierig. Darin lag auch ein kleiner Umschlag mit Zeitungausschnitten. Er sah am interessantesten aus. Es war eine Zusammenstellung aus verschiedenen Moskauer Zeitungen.
Was wollte der Dienst auf einmal von ihm? Sein Blick fiel auf die großen Buchstaben. »Bombenhund tötet Major, seine Ehefrau und den Fahrer«. Die Schlagzeile stammte aus ›Nesawissmaja Gaseta‹. Allein das Wort »Bombenhund« ließ ihn weiterlesen.
»Der 44-jährige Major Vladlen Soloschenko wurde gestern Morgen Opfer eines Bombenattentats, das auch seiner Frau Natalia und einem Fahrer, Dmitri Davidoff, das Leben kostete. Die vorläufigen Untersuchungen deuten darauf hin, dass sie durch einen sehr starken Sprengsatz, der vermutlich am Halsband eines Hundes befestigt war, getötet wurden. Noch gibt es von offizieller Seite keinen Kommentar zu der Tragödie, die sich direkt vor der Wohnung des Majors im Pasternak-Komplex im südlichen Teil der Stadt abgespielt hat. Alles weist jedoch darauf hin, dass es sich um ein genau geplantes Attentat handelt.«
Kazanski las die absurde Geschichte weiter. Offensichtlich hatte der Hundeliebhaber Major Soloschenko den Hund selbst zu sich gerufen, der eine Bombe trug. Es handelte sich bei dem Tier der Analyse nach um einen Golden Retriever.
Soloschenko … Der Name kam ihm bekannt vor, aber er wusste ihn nicht einzuordnen. Eine vierte Person, die wie durch ein Wunder mit dem Leben davonkam, war der Adjutant des Majors, der noch nicht auf der Straße gewesen war. Ihn hatte man mit einem schweren Schock ins Krankenhaus eingeliefert, hieß es.
Ein zweiter Artikel berichtete von einem anderen Attentat, begangen am selben Tag. In dem Artikel wurden keine Namen genannt, aber es handelte sich um einen Mann, der in einer gutbesuchten Bar im Zentrum am helllichten Tag mit einem Nackenschuss ermordet worden war. Der Name des Opfers wurde zurückgehalten, die Polizei hatte keine Spur des Mörders.
Von beiden Geschichten fanden sich mehrere Versionen in verschiedenen Zeitungen, außerdem enthielten die Unterlagen zwei kurze Reportagen von der Beerdigung des Majors.
Kazanski griff nach dem blauen Aktendeckel. Er enthielt als geheim gestempelte Auszüge aus CIA-Berichten. Nachdem er sich einen flüchtigen Überblick verschafft hatte, wusste er, dass alle Papiere dasselbe Thema behandelten: die Mafia und die organisierte Kriminalität in Russland.
Der größte Teil war eine Zusammenfassung der Schlussfolgerungen des Dienstes, die Kazanski längst bekannt waren. Er entdeckte sogar Teile eines Berichts, den er selbst verfasst hatte. Aber es gab auch Berichte jüngsten Datums, die er noch nie gesehen hatte, und einige Blätter mit internen Schreiben und Gutachten – ebenfalls klassifiziertes Material.
Kazanski blätterte auf gut Glück weiter, während er Cognac und Kaffee trank. Dann steckte er alles wieder in die Tasche und trommelte unwillkürlich mit den Fingern auf der Armlehne.
Jan Jordi Kazanski hatte nicht die leiseste Ahnung, warum er, der den Stempel »ausgemustert« auf der Stirn trug und mit der gebotenen Vorsicht, aber bestimmt aus dem Dienst gedrängt worden war, nun plötzlich in aller Eile zurückgerufen wurde. Dafür gab es nur eine einzige vernünftige Erklärung – und die war nicht sonderlich wahrscheinlich.
Die Stewardess mit dem kohlschwarzen Haar und dem einladenden Lächeln ging auf dem Mittelgang vorbei. Er winkte und bestellte noch einmal Cognac und Kaffee. Kazanski bemerkte, wie ihr weißer BH sich unter der leicht durchsichtigen Bluse abzeichnete. Er versuchte, den Gedanken weiterzuspinnen – aber es gelang ihm nicht. Er verschwand wie eine Schneeflocke auf einer warmen Handfläche.
Drei Monate waren jetzt vergangen.
Drei buchstäblich ineinanderfließende Monate, in denen er mehr getrunken hatte als vorher, als er noch gezwungen war, seiner Arbeit nachzugehen. Sie hatten sich entschieden, es zunächst einmal »Freistellung wegen Arbeitsunfähigkeit« zu nennen, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis er offiziell entlassen wurde.
Er hatte nicht an sich halten können, warum sollte er es auch plötzlich tun? Es war nur ehrlich, etwas auszuleben. Kazanski hatte immer darauf bestanden, der Preis dafür war ihm egal. Eine weniger rebellische und korrektere Person hätte die Situation möglicherweise eleganter gemeistert. Korrekt war Kazanski nie gewesen. Deshalb war er auch nicht nass geworden, als die Korrektheitswelle über das Land schwappte und die Reuevollen um einen Platz in den Rettungsbooten kämpften, in denen die Selbstgerechten bereits warm und trocken saßen und auf die anderen mit dem Finger zeigten. Political Correctness konnten sie in ihrem Küchengarten ziehen.
Kazanski hatte sich nur wenige Minuten mit dem Psychiater unterhalten, bevor er wusste, worauf es hinauslief. Hätte der Arzt nicht diesen Namen gehabt, hätte womöglich manches anders ausgesehen.
Der Psychiater hatte die Größe eines Vierzehnjährigen, der einem Wäschetrockner entsprungen zu sein schien. Und als der laufende Meter mit dem spärlichen Bartwuchs durch massive Brillengläser zu ihm hochstarrte und seinen Namen nannte – Dick T. Motherwell –, hatte es kein Halten mehr gegeben.
Kazanski hatte mit Müh und Not sein Lachen unterdrücken können, sodass nur ein leises Gurgeln aus dem Bauch zu hören war, aber es kam noch schlimmer.
Er hatte sich von Anfang an gegen den Gedanken gewehrt, einen Psychiater zu konsultieren, denn es war doch offensichtlich, was hier nicht in Ordnung war. Nur weil David gesagt hatte, wenn er den Job behalten wollte, sei das hier seine einzige Chance, hatte er zugestimmt. Und dann hatte sich der kleine Bursche mit der Hinkelsteinbrille hinter seinen großen Schreibtisch gesetzt und Kazanski so eingehend studiert wie ein Lehrer seinen Schüler.
»Sitzen Sie bequem, entspannen Sie sich. Unterhalten wir uns ein wenig. Über Sie und Ihre Situation. Natürlich habe ich vorab gewisse Informationen bekommen. Nur damit Sie informiert sind. Haben Sie das Gefühl zu funktionieren? Wie bewältigen Sie Ihren Alltag, Mister Kazanski? Geht es Ihnen gut?«
Diese Fragen hatte der Bengel mit interessierter Fistelstimme gestellt, während er selbst darüber grübelte, wie viele Komplexe der kleine Dick wohl zu bewältigen hatte, der Name, die Brille, die enormen Segelohren und das rote Haar. Nur ein Bruchteil dieser Merkmale reichte aus, um in Schulzeiten von der ganzen Klasse geärgert und gemobbt zu werden. Niemand überlebte ein derartiges Aussehen, ohne fürs Leben geprägt zu werden.
»Mir geht es gut, ich fühle mich prächtig, Mister Motherwell, ja ausgezeichnet. Genau deshalb sitze ich ja hier vor Ihnen. Darf ich so frei sein, Ihnen auch eine Frage zu stellen? Wofür steht das T in Ihrem Namen. Für Tracy?«
So hatte er das Gespräch mit einem Psychiater begonnen, der zu beurteilen hatte, ob Kazanski noch in der Lage war, seinen Job zu machen.
Eine stupide Frage nach der anderen wurde gestellt, und mit seinen Antworten hatte Kazanski zielsicher und ohne das geringste Zögern sein Schicksal besiegelt. Er erinnerte sich an die kleine Vorstellung und lachte laut auf. Sein rechter Sitznachbar sah ihn merkwürdig an
»Tja, wenn ich von einem einschneidenden Erlebnis aus meiner Pubertät berichten soll, dann fällt mir ein, wie Mary mich wegschubste und ich mir den Lümmel an der Klappe des Handschuhfachs meines Chevy geklemmt habe. Es tat höllisch weh. Ich glaube, es hat mich nachhaltig geprägt, meine Liebe zu Autos geschwächt und mir möglicherweise zu einer Loxarthose verholfen. Glauben Sie nicht? Haben Sie ihn je mal irgendwo eingeklemmt, Dick? Also Ihren Lümmel. Den Schwanz …«
Das war so ziemlich das Letzte, was er gesagt hatte, bevor er Tränen lachend die Praxis verlassen hatte.
»Ich hoffe, Ihrer Mutter geht’s gut … trotz allem«, hatte er noch herausgebracht. Dann hatte er die Tür hinter sich geschlossen und dem kleinen Mister Motherwell die Analyse überlassen, dessen Segelohren vor Zorn knallrot waren.
In Jerry’s Keller hatte er anschließend sich selbst und dem Barkeeper Tubby zugeprostet. Die dröhnende Niederlage war trotz allem ein durchschlagender Triumph. Er hatte sich nicht unterkriegen lassen.
Am Tag darauf hatte man ihn aufgefordert, seinen Schreibtisch auszuräumen und zu verschwinden.
Er erwog, die Papiere noch einmal herauszunehmen und weiterzulesen, aber stattdessen bestellte er einen weiteren Cognac und verfolgte eine Weile den miserablen Film, den die Fluggesellschaft ausgesucht hatte, um die Passagiere einzulullen. Es hatte den gewünschten Effekt. Eine halbe Stunde später schlief Kazanski.
Langley, Virginia, USA
Jan Jordi Kazanski hatte den größten Teil des Tages gebraucht, um sich von dem Flug zu erholen. Es war ein deprimierendes Wiedersehen mit der feuchten Kellerwohnung gewesen, wo ihn die braungeblümte und stockfleckige Tapete im Flur willkommen hieß. Dabei konnte er der Tapete keinen Vorwurf machen, nur sich selbst beziehungsweise der mitgenommenen Visage, die ihn im Spiegel bei den Kleiderhaken nachäffte. Immerhin hatte er selbst aus dem Haus ausziehen wollen.
Der Kühlschrank war ein großes Echo. Abgesehen davon, dass sich ein Eisberg, der aussah wie ein Gletscher in Alaska, über die gesamte Rückwand zog, enthielt er nur einen Rest Pizza und zwei Budweiser. Eines trank Kazanski mit wenigen Schlucken aus, bevor er sich aufs Sofa warf. Er hatte nicht länger als fünf Minuten dort gelegen, da klingelte das Telefon.
Es war der alte Kazanski, sein ruppiger Vater. Seine Eltern wussten, dass der Dienst nach ihm gesucht hatte. Sie hatten David erzählt, dass Kazanski nach Spanien gereist war.
Zum wer weiß wievielten Mal versuchte der alte Mann, ihn aufzurichten. Obwohl er ihn beschimpfte und verfluchte, wusste Kazanski genau, dass es eigentlich eine Bitte war. Der alte Kazanski wollte nur nicht rührselig klingen. Ein ordentlicher Pole drehte nicht durch oder spielte verrückt und gestikulierte wie die Italiener oder Südamerikaner.
»Nimm dich zusammen und sorg verdammt noch mal dafür, dass du ordentlich aussiehst, wenn du zu dieser Sitzung gehst! Vielleicht ist das deine letzte Chance. Eine Chance, die du überhaupt nicht verdient hast, du Rotzbengel!«
Seine Mutter konnte dagegen nicht verbergen, dass sie seinetwegen nervös war. Er hörte ihre vorsichtigen Ermahnungen und sagte nach jedem dritten Satz »ja, ja«.
Kazanski wollte und konnte nicht mehr sagen. Er hatte es so oft versucht. Vielleicht verstanden sie ihn gut, aber sie würden es niemals zugeben können. Das wäre so, als würden sie akzeptieren, dass er seinen Kurs fortsetzte, bis er eines Tages auf den Bürgersteig knallte und zersplitterte. Natürlich konnten sie es nicht zugeben. Polnische Sturheit– und spanischer Stolz. Eine Mischung, mit der sich Fundamente gießen ließen.
Kazanski hatte gerade aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte. Diesmal war es sein alter Freund David Oakland – der Einzige im Dienst, der ihn treu unterstützt hatte. Der Einzige, für den er einen Finger rühren würde. Vielleicht sogar sein Leben geben würde. Und nachdem David befördert worden war, hatte er seinen neuerworbenen Einfluss geltend gemacht und versucht, ihm zu helfen. Indirekt hatte er David im Stich gelassen, als er aus Verachtung und reinem Trotz den Psychologen auseinandergenommen hatte.
David saß nun im Hauptquartier des CIA in Langley, Virginia, als Chef mehrerer übergreifender Osteuropagruppen, die Informationen über besondere oder aktuelle Fälle sammelten und koordinierten. Im Grunde wollte Oakland ihm dieselbe Botschaft übermitteln wie seine Eltern: Kazanski sollte sich zusammennehmen.
Dies war unwiderruflich die letzte Chance überhaupt. Worum es ging, hatte David nicht gesagt – nur, dass Kazanski mit der obersten Führung zusammentreffen würde.
Und jetzt war es also so weit. Jan Jordi Kazanski korrigierte den Sitz seiner Krawatte, als er am Haupteingang ausstieg. In einer spiegelblanken Glastür notierte er mit einer gewissen Zufriedenheit, dass es ihm gelungen war, ein gänzlich ramponiertes Aussehen zu vermeiden.
Eine Rasur, ein Friseurbesuch und ein schwarzer Anzug bewirkten an der Oberfläche Wunder – aber innerlich fühlte er sich wie ein in Cellophan gewickeltes Stück Scheiße. Nur das Geschenkband hielt das Ganze eine Weile zusammen.
Nachdem Kazanski von den diskreten Security-Leuten des Hauptquartiers überprüft worden war, meldete er sich am Empfang. Kurz darauf holte ihn eine hübsche Frau im mittleren Alter ab und führte ihn durch das Labyrinth der Flure. Der Weg endete vor der Mahagonitür eines Vorzimmers. Die Frau klopfte, und er hörte Davis Oaklands Stimme: »Herein!«
Ein Leuchten ging über Davids Gesicht und sie umarmten sich. Bei einer Tasse Kaffee tauschten sie Belanglosigkeiten aus, bis David ein wenig angespannt auf seine Armbanduhr blickte.
»So, alter Junge. Es ist so weit. Bist du bereit?«
»Na klar … Wenn wir um die Wette saufen sollen, bin ich in jedem Fall bereit«, antwortete Kazanski mit einem schiefen Lächeln. David sah ihn vorwurfsvoll an.
»Jordi, verflucht! Es ist jetzt absolut nicht die Zeit für Ironie, Mann. Und hör auf mit dem Gefasel.«
»Bleib ruhig, David. Ich bin wirklich neugierig. Und ich stehe das durch.«
David Oakland öffnete ihm die Tür und ließ ihm den Vortritt in das angrenzende Büro. In einer Ecke saßen vier Männer und plauderten. David stellte sie ihm vor, aber Kazanski wusste genau, wer sie waren.
Der muskulöse Leuchtturm im schwarzen Anzug war der stellvertretende Direktor des CIA Christian Jannsen. Sein Händedruck glich einem Stahlwalzwerk.
Der zweite Mann war Paul Crowley, ein stiller grauhaariger Herr von annähernd sechzig Jahren. Crowley war der Chef der ganzen Osteuropa-Sektion und trotz seiner unscheinbaren Art ein sehr respekteinflößender Mensch. Ganz rechts saß Patrick McMullen auf dem Sofa. Der feiste Mann mit dem Bulldoggen-Gesicht und dem kurzgeschnittenen Haar streckte eine riesige Pranke aus und grunzte irgendetwas, das offensichtlich Guten Tag bedeuten sollte. McMullen war Crowleys Stellvertreter, ein angesehener Osteuropa-Experte.
Der letzte war John Hallbrooke. Kazanski bemerkte, dass der sonnengebräunte Mann ihn von oben bis unten musterte. Vielleicht war Hallbrooke von Natur aus skeptisch. Er war der Chef der Gegenspionage.
»Nehmen Sie doch Platz, Kazanski.«
Jannsen deutete auf einen Sessel, während Oakland sich aufs Sofa setzte.
»Sie werden jetzt ein kurzes Briefing bekommen. Sie wurden bisher überhaupt nicht unterrichtet, oder?«, erkundigte sich Jannsen.
»Nein. Ich bekam lediglich den Bescheid, zu diesem Treffen zu kommen. Das ist alles«, antwortete Kazanski kurz.
»Gut, gut. Fangen wir an. McMullen, Sie sind am besten mit den Ereignissen vertraut. Würden Sie Kazanski informieren?«
»Ja. Ich werde Ihnen die großen Linien aufzeigen, Kazanski. Hinterher können wir Detailfragen diskutieren, wenn wir denn so weit kommen. Natürlich wissen wir alles über Sie und Ihre traurige Geschichte – und über das, was danach folgte. Aufrichtig gesagt, bin ich der Meinung, dass Ihr Verhalten und Ihr Einsatz – beziehungsweise Ihr mangelnder Einsatz – Sie disqualifiziert. Andererseits sind wir gezwungen, bei genau diesem Fall sehr genau auf Qualifikationen zu achten, und professionell gesehen sind Sie zweifellos der Richtige. Für mich und Crowley wiegt auch schwer, wie sehr Oakland sich dafür eingesetzt hat, Ihnen die Chance zu geben, in den aktiven Dienst zurückzukehren. Hier ist der Bericht über Ihr Tun und Lassen in Spanien, Kazanski. Ihr Alkoholkonsum muss aufhören – und zwar vollständig, darüber sollten Sie sich im Klaren sein. Sonst kommen Sie für den Auftrag nicht in Frage.«
McMullen starrte Kazanski an, der den Blick konzentriert und ohne eine Miene zu verziehen erwiderte. Ein Kräftemessen der Augen. Wie immer gewann Kazanski, und McMullen wandte den Blick ab, scheinbar um sich auf seine Unterlagen zu konzentrieren.
»Okay. Ich werde Ihnen die Aufgabe kurz beschreiben. Kennen Sie Alex Trent?«
»War er nicht viele Jahre an der Botschaft in Warschau? Jetzt ist er pensioniert, richtig?«
»Ja, er ist schon vor drei Jahren ausgeschieden. Vor einiger Zeit wurde er von einem seiner alten Freunde aus dem Netzwerk kontaktiert. Ein älterer Herr aus Krakau, ein Jakub Jakubik. Die Nachricht war kurz. Sie lief in aller Einfachheit darauf hinaus, dass Jakubik überraschend eine Mitteilung von einer mysteriösen Frau bekommen hatte. Eine Frau, die überall nur die Witwe genannt wird.
Diese Unbekannte hat Jakubik nach dem Zweiten Weltkrieg hin und wieder mit Informationen versorgt. Informationen, die sich immer als hundert Prozent stichhaltig erwiesen haben; in einigen Fällen war es ein großer Gewinn für den Dienst. In den letzten Jahren nahm das Weib immer seltener Kontakt zu Jakubik auf, und nach dem Systemwechsel in Polen 1989 hörten wir nichts mehr von ihr. Aber plötzlich war sie wieder da. Über einen Mittelsmann versorgte sie unseren Freund Jakubik mit interessanten Details zu zwei Morden in Moskau.«
»Dem Mord an Major Soloschenko und dem Mord im Café?« Kazanski sah McMullen fragend an.
»Genau. Aber diese Witwe verlangte, dass wir persönlich Kontakt zu ihr aufnehmen. Sie bat eindringlich um die Hilfe des CIA bei einer großen Sache. Im Gegenzug versprach sie uns wichtige Informationen über die russische Mafia und die beiden Morde.«
»Dann sind wir vermutlich nach Krakau gereist und haben uns mit ihr getroffen. Und wie ging es weiter?«
»Nein, das haben wir nicht getan. Sie versprach Jakubik, sich bald wieder mit konkreten Vorschlägen zu einem Treffen zu melden. Es sollte mit äußersten Vorsichtsmaßnahmen vonstattengehen – aber seither hat Jakubik nichts mehr von ihr gehört. Und wir haben keine Zeit, länger zu warten …«
»Und deshalb sind wir auf Sie gekommen, Kazanski.« Der kühle Paul Crowley übernahm das Wort von seinem Stellvertreter.
»Sie haben nie in Polen operiert. Sie haben sogar das Haus an der Warschauer Ujazdowskie-Allee nie betreten. Sie sind halber Pole, sprechen die Sprache fließend und kennen die Leute und ihre Mentalität. Seit Ihrem letzten Job in Moskau sind Sie auch mit den Operationsmustern der Mafia vertraut, und, nicht zu vergessen, Sie sprechen perfekt Russisch. Das wird möglicherweise nötig sein. In Polen sind Sie unbekannt und können sich vollkommen frei bewegen – aber Sie wissen auch, welche Fehler Sie vermeiden müssen. Sie sind unsere erste Wahl für den Auftrag, Kazanski. Zunächst sollen Sie nur die Witwe in Krakau finden. Vorausgesetzt, Sie akzeptieren unsere Bedingungen?«
»Das tue ich. Gewiss. Die beiden Morde in Moskau. Warum haben wir ein so großes Interesse daran?«
»Im Augenblick müssen Sie sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Wenn es Ihrem Auftrag dienlich ist, werden wir Sie informieren.« Crowley warf Jannsen einen Blick zu, als wolle er sichergehen, dass das letzte Wort gesagt war.
»Eine letzte Sache noch, Kazanski.« Jannsen sah ihn prüfend an.
»Ja?«
»Dieser Job hat aus mehreren Gründen keinen offiziellen Status, ebenso wenig wie Sie. Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?«
Kazanski nickte. Jannsen fuhr fort:
»Ich erwarte bestimmt nicht, dass Sie Unterstützung brauchen. Sollte aber dennoch etwas Ungewöhnliches passieren, dann halten Sie Smith-May in Warschau da raus. Jedes Ersuchen läuft über uns …«
John Hallbrooke war der Einzige der vier Männer, der während der Sitzung überhaupt nichts gesagt hatte. Als Kazanski das Büro verließ, sah der Mann genauso aus wie bei seinem Eintreten. Skeptisch.
Krakau, Polen
Die Landschaft war in schmale braune und grüne Felder eingeteilt, unterbrochen von einem Wald, der von oben aussah wie eine Handvoll Brokkoli.
Die Felder kamen jetzt näher. Saftige, maigrüne Oasen zwischen Äckern mit dunkler Erde. So sah es zu Hause nicht aus. Die kleinen Parzellen gehörten der Vergangenheit an, aber genau das war eines der Probleme. Die polnische Landwirtschaft war völlig rückständig und würde vermutlich nie rentabel arbeiten.
Nun konnte sie undeutlich einen Mann erkennen, der wie ein kleiner Punkt einem größeren Punkt hinterhertrottete, einem Pferd. Er pflügte. Das Bild schien aus der Zeit ihres Urgroßvaters zu stammen.
Drei Pizlos lagen irgendwo dort draußen verstreut, als Asche auf den Feldern bei Oświęcim. Die Deutschen hatten die Stadt nach der Invasion in Auschwitz umbenannt. Am besten erinnerte sie sich an Adams Gesicht. An das freundliche Schielen des rundlichen Mannes auf der bräunlichen Fotografie. Er war der Bruder ihrer Großmutter. Alles drei hatte man im Hof des Blocks 11, des Todesblocks, erschossen. Adam war an der Planung des Warschauer Aufstands beteiligt, wurde aber gefangen genommen, lange bevor General Komorowski mit seiner Untergrundarmee vergeblich versuchte, die Hauptstadt aus dem Griff der Deutschen zu befreien.
Sie war im Alter von vier Jahren in Auschwitz gewesen. Sie erinnerte sich an nichts mehr. Kürzlich hatte ihre Mutter es am Telefon erwähnt und sie gebeten, den Ort noch einmal zu besuchen. »Es geht hier um Respekt, Xenia«, hatte sie gesagt. Natürlich musste sie Auschwitz besuchen. Das hatte sie längst entschieden, lange bevor ihre Mutter anrief, um ihr eine gute Reise zu wünschen. Respekt …
Der Flug nach Warschau hatte nur eine knappe Stunde gedauert. Die Propellermaschine verlangsamte jetzt ihre Geschwindigkeit, und die Kabine wurde von der Resonanz der beiden Motoren durchgeschüttelt, als ihre Umdrehungen geringer wurden. Xenia spürte eine nervöse Unruhe im Zwerchfell, ein Gefühl, das seit dem frühen Morgen immer größer geworden war. Sie wusste, dass es die Anspannung war.
Seit Warschau hatte diese Nervosität dermaßen zugenommen, dass der Mann auf dem Sitz neben ihr es rasch aufgegeben hatte, mir ihr plaudern zu wollen. Einsilbige Antworten waren keine Einladung zu einem Schwätzchen, aber sie konnte sich nun einmal auf nichts anderes als ihre unmittelbar bevorstehende Aufgabe konzentrieren. Im Übrigen war der Mann unappetitlich. Sein zerknitterter Anzug stank nach Rauch, und sein Zigarrenatem traf sie wie der Geruch von Chemikalien.
Sie hatte sich auf dem Flug die Nägel gefeilt. Der Nagel des Mittelfingers hatte einen Faden aus ihrem Rock gezogen. Es ärgerte sie, aber noch mehr ärgerte sie, dass der Mann neben ihr ganz offensichtlich fasziniert von ihrer Tätigkeit war. Er starrte sie auch neugierig an, als sie das kleine Etui mit dem Spiegel hob und ihren Lippenstift nachzog.
Xenia registrierte seinen verwunderten Blick, als sie die Tüte mit den beiden geschälten Grapefruits zur Hand nahm und eine der Früchte aß. Und als sie ihn provozierend aufmerksam fragte, ob er gern die zweite Grapefruit haben würde, lehnte er mit einem schlecht verhohlenen Ausdruck von Ekel höflich ab. Seither hatte er nichts mehr gesagt. Es war so vorhersehbar.
Der Beamte an der Passkontrolle lächelte sie freundlich an. Sie war ihm natürlich sofort aufgefallen, denn die Frau in der leichten Sommerjacke war so auffallend hübsch, dass der Rest der Schlange vor ihm verblasste und zu einer Reihe von Köpfen ohne Gesichtszüge wurde.
Er wusste genau, dass es nichts nützen würde, dennoch studierte er ihren Pass eingehender als nötig.
»Danmark / Denmark / Dänemark. Larsen, Xenia Pizlo.« Dreiunddreißig Jahre alt. Auf dem Foto hatte sie langes blondes Haar mit großen weichen Locken. Er hob den Kopf. Nun waren die Haare zurückgekämmt und mit einer schwarzen Spange im Nacken zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengenommen. Sie sah ihn ein wenig fragend an, und er senkte den Blick und blätterte weiter im Pass.
»Sie sind viel gereist, Frau Larsen, viele verschiedene Länder.« Es war eine Frage wie eine Feststellung, die er in seinem besten Englisch vorbrachte.
»Ja, es sind inzwischen eine ganze Menge Stempel«, erwiderte sie in perfektem Polnisch.
»Oh, Sie sprechen unsere Sprache. Aber Sie heißen ja auch Pizlo, wie ich sehe. Machen Sie Urlaub in Krakau?«
»Nein, ich bin auf Geschäftsreise …«
»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Unsere Stadt ist sehr schön. Das werden Sie schnell feststellen. Sind Sie zum ersten Mal hier?«
»Ja.«
»Dann freuen Sie sich sicher.«
»Ja.«
»Bleiben Sie lange?«
»Eine Woche.«
»Na, dann haben Sie genügend Zeit. Sie haben vermutlich Familie hier in der Gegend?«
»Nein, und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe es ein wenig eilig.«
»Selbstverständlich. Vergessen Sie nicht, den Wawel zu besuchen, das Schloss … Viel Spaß.« Erneut lächelte er, und ermuntert von dem kurzen Gespräch kontrollierte er den Rest der Schlange, die wieder Gesichter bekam.
Es war eine merkwürdige Fahrt zum Flughafen Balice, der nagelneu aussah. Sie wurden im Bus von der Landebahn abgeholt und fuhren an einer Militärgarnison vorbei zum eigentlichen Flughafengebäude, das in einem kleinen Waldstück lag. Es sah aus wie ein Militärgelände mit einer zivilen Enklave in der Mitte.
Die Sonne blendete sie, als Xenia mit ihrem Koffer das Terminal betrat. Es war so ruhig. Das einzige Geräusch kam von ein paar krächzenden Krähen, als würde es im Wald einen größeren Familienkrach geben. Vor dem Gebäude standen Taxifahrer, die schweigend an ihren Autos lehnten. Sie stieg in den ersten Wagen und bat den Fahrer, sie zum Hotel Europejski an der ulica Lubicz im Zentrum zu fahren.
Jan Jordi Kazanski taumelte die Treppe hinunter und fiel fast gegen die Rezeptionstheke im Foyer. Das ursprünglich geplante kurze Mittagsschläfchen war zu einem fünf Stunden langen festen Schlaf geworden. Allerdings hatte er nicht wegen eines Katers schlafen müssen. Einen Hangover hatte er so gut wie nie mehr. Kazanski kämpfte noch mit dem Jetlag.
Zunächst hatte er die Botschaft in Moskau besucht. Es war einigermaßen gutgegangen. Obwohl er eine Persona non grata war. Eric Crankshaw, mit dem er damals zusammengearbeitet hatte, war noch immer in dem Gebäude an der ulitsa Chaikovskogo, und er war noch genau dasselbe dumme und eingebildete Schwein, das er schon immer gewesen war.
Crankshaws Briefing über die Morde lieferte nichts Neues, denn so weit der Dienst hatte herausfinden können, war in beiden Fällen von den Behörden nichts unternommen worden.
Kazanski war durch die Flure geschlendert und hatte ein bisschen mit den Kollegen geplaudert, die er noch kannte, aber seine Nachfragen führten zu nichts. Es hatte den Anschein, als hätten sie Angst, mit ihm zu reden. Überall wurde er von einer unsichtbaren Mauer des Schweigens empfangen. Offensichtlich hatte er den Laden beim letzten Mal mit einem solchen Donnerschlag verlassen, dass niemand mit ihm unter vier Augen gesehen werden wollte – geschweige denn bereit war, ihm auch nur durch den kleinsten Hinweis zu helfen.
Von Moskau war er über Warschau nach Krakau gereist und am Vorabend angekommen.
»Was wissen die schon über das Leben? Und was wissen sie über das Leben, wenn es aufhört? Nichts. Alles Kleinbürger und Fassade. Autos, Hunde, weichliche Mistbälger und eine Saisonkarte fürs Baseball. Und unendlich korrekte Meinungen. Dabei gehen Jannsen, Crowley und McMullen genauso oft auf die Toilette wie alle anderen. Mindestens. Und Hallbrooke. Allerdings reagiert er vermutlich allein schon bei dem Gedanken skeptisch, dass er kacken soll. Und misstraut dem, was herauskommt. Leckt mich!«
Es dauerte nicht lange, bis er sein Selbstgespräch beendete. Kazanski war einer Meinung mit Kazanski.
Dann hatte er sich ans offene Fenster gesetzt, auf die Lichter der Straße geblickt und sich eine Zigarette nach der anderen angesteckt, während er sich durch den Inhalt seiner Minibar arbeitete. Seine Gedanken hatten ihn mitgerissen und davongetragen, ein Strom, der in einem fremden Meer mündete und weit draußen an Kraft verlor und sich auflöste. Am Ende war er, wie er hier am Fenster saß, vollkommen leer. Eine Statue, eingehüllt in Dunkelheit, umarmt von Leere.
»Larsen? Larsen? Mal sehen … Ja, hier. Xenia Pizlo Larsen, nicht wahr? Sie haben Zimmer 216. Wenn Sie die Treppe hinaufkommen, links den Flur hinunter.«
»Danke. Ab wann gibt es Frühstück?«, erkundigte sich die Frau vor der Rezeption.
»Von halb acht bis halb zehn. In der ersten Etage.«
»Ausgezeichnet.« Xenia Pizlo Larsen griff nach ihrem Koffer. Als sie die Rezeption verließ, ließ es sich nicht vermeiden, dass sie den großgewachsenen Mann mit dem nassen schwarzen Haar bemerkte. Er hatte beide Ellenbogen auf die Theke gestützt und hielt den Kopf in den Händen. Ganz kurz sah sie sein Gesicht. Der Mann sah aus wie jemand, der besser im Bett geblieben wäre. Vielleicht war er betrunken, vielleicht aber auch nur krank.
Kazanski nahm die blonde Frau erst wahr, als es zu spät war. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie auf die Fahrstuhltür blickte, dann aber mit ihrem winzigen Ferrari-roten Reisekoffer rasch die Treppe hinaufging. Sie hinterließ schwache Partikel eines kühlen Parfums, die einen Augenblick über der Rezeption hängen blieben.
»Würden Sie mir sagen, wo das alte jüdische Viertel liegt? Soweit ich weiß, heißt es Kazimierz, nicht wahr? Ich habe einen Stadtplan.«
Kazanski wühlte in seiner Jackentasche – vergeblich. Der Plan musste noch im Handschuhfach liegen. Er hatte ihn erhalten, als er am Flughafen bei Avis ein Auto gemietet hatte.
»Entschuldigung. Vergessen Sie’s. Ich finde es selbst heraus«, erklärte er der Dame an der Rezeption und ging. Kazanski hatte das Hotel Europejski in der Bahnhofsgegend absichtlich gewählt. Es war ein gutes Hotel – aber nicht übermäßig gut. Er ging zu dem zwei Häuserblöcke entfernten Parkplatz.
Ein junger Mann in einer Fantasieuniform las eine Illustrierte, aus dem Transistorradio dröhnte Popmusik. Zwei Plakate hingen in dem kleinen Schuppen. Eines zeigte eine wüst geschminkte Frau mit großen Brüsten. Das andere stammte aus einem Kalender. Miss Mai war eine Schwarze, die an einem ihrer Zeigefinger lutschte, während sie mit der anderen Hand ihre aus dem Büstenhalter quellenden Brüste zusammenquetschte.
Direkt über einem Schlüsselbrett hing ein großes Kruzifix mit dem leidenden Christus.
Kazanski klopfte leicht gereizt an das Fenster des Schuppens, der junge Mann zuckte zusammen.
»Entschuldigung, ich habe einen Moment nicht aufgepasst. Sie hätten gern Ihren Wagen?«
»Nein, ich habe hier meinen Packesel stehen«, knurrte Kazanski und gab ihm seinen Parkschein.
»Ist das Ihre Familie?«, fragte er in einem freundlicheren Ton, nachdem ihm durch den Kopf gegangen war, dass er für die Rolle als Moralist vollkommen ungeeignet war. Er zeigte auf ein Foto in einem Goldrahmen. Es hing neben der Frau mit den großen Brüsten.
»Ja, das sind meine Frau und die beiden kleinen Mädchen. Süß, nicht? Ich liebe sie …«
»Sie sind ein glücklicher Mann, mein Freund. Ist Ihre Familie glücklich?«
Kazanski wollte das Wort ausprobieren. In den USA war »glücklich« ein Wort, das man gern vermied. Entweder bestätigte man es sofort, weil jede Bedenkzeit peinlich war und Zweifel nährte, oder man vermied eine Antwort aus Scham. In Spanien hingegen war das Wort in der ganzen Tiefe seiner Bedeutung akzeptiert und brachte niemanden in Verlegenheit.
»Ja, wir sind sehr glücklich, alle zusammen. Danke.« Der stolze Familienvater lächelte breit. »Sind Sie selbst verheiratet, wenn ich fragen darf?«
»Der blaue Fiesta ist meiner, aber er ist zugeparkt.«
»Kein Problem. Einen Moment. Ich parke den anderen Wagen gerade um und fahre Ihren heraus.«
Der junge Mann ließ einen BMW an und fuhr ihn auf einen anderen Platz. Er lief zurück, schloss den Fiesta auf und stieg ein. Kazanski sah, wie er einen Moment an dem Schlüssel fummelte.
Im ersten Augenblick wurde er geblendet von dem gewaltigen Lichtblitz, dann folgte ein enormer Schlag, der sich in seinen Ohren festsetzte. Kazanski wurde von der Druckwelle zurückgeworfen und knallte mit dem Hinterkopf gegen den Schuppen. Er registrierte die grauenvolle Szene klinisch scharf, in Bruchstücken, während Glasscherben wie in Zeitlupe landeten und Wrackteile schwarze Streifen durch die Luft zogen.
Kazanski blinzelte ein paar Mal, dann kehrte der Film vor seinen Augen zur normalen Geschwindigkeit zurück. Nun stiegen nur Flammen und eine kohlschwarze Rauchsäule in den blauen Himmel. Ein warmer, dicker Strom floss über eines seiner Augen. Als er danach tastete, hatte er Blut an den Fingern.
Er war offensichtlich mit einer Schnittwunde an der Stirn davongekommen. Mit den Fingernägeln erwischte er eine Glasscherbe und zog sie heraus. Dann setzte er sich mit dem Rücken an den Schuppen, fischte eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und sog den Rauch tief ein. Von irgendwoher hörte er das Heulen einer Sirene. Oder war es der schrille Schrei einer Mutter und ihrer beiden Töchter? Ihm wurde schwarz vor Augen.
»Wachen Sie auf! Hallo!« Die Worte drangen zu ihm durch, als sich der Schleier vor seinen Augen hob. Ein Gesicht, ein Mund, ein Schnurrbart, eine Mütze. Ein Polizeibeamter hockte vor ihm, jetzt rief er die Besetzung eines Krankenwagens.
»Bitte lassen Sie mich einen Augenblick sitzen. Ich bin okay. Nur eine Schramm an der Stirn. Ich muss nicht ins Krankenhaus. Nicht nötig.« Kazanski kam langsam zu sich. Der Beamte half ihm auf und fuhr ihn das kurze Stück bis zum Hotel. Dort wusch sich Kazanski das Gesicht mit kaltem Wasser auf der Personaltoilette, dann wurde ein Arzt gerufen, der ihn wenige Minuten später untersuchte. Eine üble Beule am Hinterkopf und eine Schnittwunde an der Stirn, die der Arzt mit einem Pflaster versorgte. Kazanski fühlte sich nicht sonderlich mitgenommen.
»Ja, wir sind sehr glücklich.« Viel zu sagen hatte Kazanski nicht, als er an die Worte des jungen Mannes und an sein letztes Lächeln dachte. Er und zwei Polizeibeamte saßen im Büro des Hoteldirektors. Es war kein ausgesprochenes Verhör. Sie nahmen einen Bericht über den Vorfall auf, der ihnen Sorgen machte. Mit der Liberalisierung hätten Mafiamethoden Einzug gehalten, hieß es. Und Autobomben. Das sei eine Spezialität der Mafia, erklärten die Beamten. Kazanski konnte lediglich berichten, was vor seinen Augen geschehen war.
»Haben Sie seit Ihrer Ankunft irgendetwas Verdächtiges bemerkt?«
»Nein, absolut nicht.«
»Haben Sie früher einmal irgendetwas Kritisches über irgendjemanden hier in Krakau geschrieben? Könnten Sie Feinde haben, Herr Kazanski?«
»Nein. Ich bin zum ersten Mal hier.«
Sie fuhren fort, Fragen zu stellen, doch es war umsonst. Es brachte sie nicht weiter. Schließlich nickten sich die Beamten zu, erhoben sich und gaben ihm die Hand.
»Wenn wir Sie noch benötigen, werden wir Sie anrufen und aufs Revier bitten.«
»Natürlich. Ich stehe zu Ihrer Verfügung. Und ich melde mich, sollte mir noch etwas einfallen.« Kazanski verabschiedete sich, nahm den Fahrstuhl und warf sich in seinem Zimmer aufs Bett. Abgesehen von seiner falschen Identität als Journalist hatte er die Polizei nicht hinters Licht geführt, er wusste tatsächlich nichts. Niemand wusste, dass er in Krakau war. Niemand wusste, wer er war. Niemand wusste, was er wollte. Dennoch sollte die Explosion seinen Aufenthalt rasch beenden. Warum?
Die Mafia und Autobomben. Die Mafia und die beiden Morde in Moskau. Die Mafia und die Informationen der Witwe. Die Gedanken brachten ihn nicht weiter – aber zusammengekettet warnten sie ihn.
»Entschuldigung. Ich hörte, Sie seien dabei gewesen, als das Auto gestern explodierte. Schrecklich. Ist Ihnen etwas zugestoßen?«