Ebbe und Glut - Katharina Burkhardt - E-Book

Ebbe und Glut E-Book

Katharina Burkhardt

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Beschreibung

Mias Leben steckt fest. Erst ist ihr Mann weg, dann der Job. Und das alles kurz vor ihrem 40. Geburtstag. Doch dann stößt sie in einem Magazin auf eine Kontaktanzeige. Da sucht ein Mann gegen Geld eine Frau für sexuelle Dienste. Mia ist schockiert. Und dennoch ist diese Anzeige seit Langem das Einzige, wofür sie sich begeistern kann. Arthur ist ein Ekel. Arrogant, kalt und herablassend. Mia mag diesen widerlichen Anzugträger nicht. Gleichzeitig ist sie von seiner Ausstrahlung fasziniert. Als Mia sich auf Arthur einlässt, gerät ihr ganzes Leben in Bewegung. Leserstimmen: "Eine emotionale Achterbahnfahrt." "Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint, die Zerbrechlichkeit des Lebens und die Wunden, die das Leben schlägt, werden berührend beschrieben." "Die Geschichte hat mich beeindruckt, bewegt und nachdenklich gemacht." "Dieses Buch ist wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Ein seltenes Juwel." “Ich habe mitgelitten und das Herz wurde schwer, weil die Geschichte wirklich so lebensnah geschrieben ist, so voller Schmerz, Liebe, Erotik, Glück und ganz, ganz viel Herz – wie das Leben halt ist.” “Abseits vom zurzeit üblichen Mainstream beeindruckt die Geschichte mit einem völlig anderen Ansatz, mit gut gezeichneten Charakteren, vermeidet trotz zum Teil sehr dramatischer Situationen das Drücken auf die Tränendrüsen! Sehr gut gefallen haben mir auch die Dialoge.”

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Katharina Burkhardt

Ebbe und Glut

Roman

Liebe mich am meisten, wenn ich es am wenigsten verdiene,

Inhalt

Mias Leben steckt fest. Erst ist ihr Mann weg, dann der Job. Und das alles kurz vor ihrem 40. Geburtstag. Doch dann stößt sie in einem Magazin auf eine Kontaktanzeige. Da sucht ein Mann gegen Geld eine Frau für sexuelle Dienste. Mia ist schockiert. Und dennoch ist diese Anzeige seit Langem das Einzige, wofür sie sich begeistern kann.

Arthur ist ein Ekel. Arrogant, kalt und herablassend. Mia mag diesen widerlichen Anzugträger nicht. Gleichzeitig ist sie von seiner Ausstrahlung fasziniert. Als Mia sich auf Arthur einlässt, gerät ihr ganzes Leben in Bewegung.

© Katharina Burkhardt, Hamburg

3. überarbeitete Auflage 2016

Originalausgabe 2013

c/o Die Bücherfee

Karina Reiß

Heiligenhöfe 15 c

37345 Am Ohmberg

[email protected]

Lektorat:

Team Katharina Burkhardt – Coaching & Kreatives Texten

Covergestaltung: Casandra Krammer

www.casandrakrammer.de

Covermotive:

Geländer: mannagia, Bildquelle depositphotos

Frau: faestock, Bildquelle shutterstock

Hamburg: LianeM, Bildquelle shutterstock

E-Bookerstellung: ebokks

www.ebokks.de

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung der Autorin zulässig. Dies gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen über das Internet.

Inhaltsverzeichnis
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
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31
32
Nachwort
In meinem Herzen nur du
Über die Autorin

Prolog

Der Jogger legte ein schnelles Tempo vor. Er spürte die kühle Salzluft tief in seinen Lungen, während er den Strand entlang rannte. Die Flut setzte langsam ein, in kleinen Rinnsalen suchte sich das Wasser seinen Weg durch den Sand. Es spritze unter den Schuhen des Läufers auf und hinterließ sandige Flecken auf seinem Shirt. Er spürte die Energie seines Körpers, die Kraft seiner Beine, die ihn mühelos vorwärts trugen. Ein großes Glücksgefühl erfasste ihn. Er hätte ewig so weiterlaufen mögen.

Auf der Höhe des Badestrandes tauchte zwischen den Strandkörben eine Frau auf, die ebenfalls joggte. In bedächtigem Tempo kam sie direkt auf ihn zu. Ihre dunklen Haare hatte sie straff zu einem Zopf zusammengebunden, unter ihrer Sportkleidung zeichnete sich ein schlanker, hochgewachsener Körper ab.

Der Mann lächelte ihr zu. Als sie sein Lächeln erwiderte, sah er, wie schön sie war. Er drehte sich noch einmal nach ihr um. Zu seiner Freude schaute sie ihm ebenfalls hinterher. Da lachte er, breit und spitzbübisch.

Sie sah ihn bei den Pferden wieder. Der große Mann mit den dunklen Haaren fiel ihr sofort auf. Er war in Begleitung einer Frau, die mit starkem Akzent sprach. Als sie auf dem Weg durchs Dorf Richtung Strand davon ritten, blieb er am Hof zurück und machte Fotos.

Heiterkeit umgab sie. Und Zufriedenheit. Sie saßen zusammen und lachten, eine Gruppe von Menschen, die sich zufällig im Urlaub begegneten und die gemeinsame Zeit genossen, als gäbe es kein Davor und Danach. In wenigen Tagen würden sie alle wieder in ihr Alltagsleben zurückkehren, in dem sie nichts miteinander verband. Und doch würden sie ein wenig von diesem Urlaub für immer behalten, winzige Bilder und Bruchstücke von Empfindungen. Erinnerungen an Gesichter, an ein Lachen, an gemeinsame Ausritte und gemeinsames Essen. Manche der Erinnerungen würden erst Jahre später wieder auftauchen und an Bedeutung gewinnen.

Dann, wenn das eigene Leben sich weitergedreht hatte, wenn diese Reise in einem ganz neuen Licht erschien.

Als sie ihn verließ, nahm sie fast sein ganzes Leben mit: seine Hoffnungen und Träume, seine Sehnsüchte, sein Glück, seine Liebe. Seine Zukunft und seine Vergangenheit. Seinen Körper. Vor allem aber nahm sie sein Herz mit.

Was zurückblieb, war nicht Leben und nicht Tod. Es war ein seltsames, finsteres Nichts, das atmete ohne Herzschlag, weinte ohne Tränen, lebte, ohne zu empfinden.

1

Mia sah die Anzeige eher zufällig. Auf der Suche nach dem Kinoprogramm durchstöberte sie die Webseiten des Szene-Magazins und blieb aus Neugier bei den Kontaktanzeigen hängen. Da suchte ein Paar eine Gespielin für heiße Stunden zu dritt. Ein Mann wünschte sich eine Partnerin für eine fesselnde Beziehung. Ein Jüngelchen wollte von einer reifen Frau entjungfert werden.

Mia fragte sich, was für Menschen solche Anzeigen aufgaben. Waren das alles Verrückte? Oder moderne Abenteurer, auf der Suche nach einer Erfüllung, die sie sonst nirgends fanden?

»Blowjob zu vergeben«, stand irgendwo dazwischen. »Sie blasen. Ich genieße und zahle. Mehr nicht.«

Mehr nicht? Was sollte das heißen – mehr nicht? Gab es nicht mehr als Blasen? Durfte die Frau nicht genießen? Wie stellte dieser Kerl sich das vor? Ich genieße und zahle.

Lächerlich, was Männer sich einbildeten!

Diese ganzen seltsamen Wünsche irritierten Mia. Sie hatte noch nie das Verlangen verspürt, sich mit einem wildfremden Mann zum Sex zu verabreden. Aber sie hatte das auch nicht nötig. Sie war glücklich verheiratet.

Gewesen, korrigierte sie in Gedanken und bemühte sich, den feinen Stich in ihrer Brust zu ignorieren. Sie war glücklich verheiratet gewesen – bis sich ihre Ehe innerhalb einer einzigen Minute als Lüge entpuppte. Seitdem war nichts mehr in ihrem Leben so wie früher. Trotzdem war Mia längst nicht so verzweifelt, um sich auf eine dieser Anzeigen zu melden. Sie schüttelte den Kopf und klickte zurück zum Kinoprogramm. Aber es lief kein Film, der sie interessierte.

Blowjob zu vergeben – immer wieder kam ihr der Satz in den Sinn. Seltsam. Was war daran so faszinierend?

Sie zog ihren Mantel an und ging spazieren. Ein wintergrauer Himmel hing über Hamburg, der Ostwind war eisig. Das Wasser der Elbe schlug gegen die Steine an der Uferböschung. Nur wenige Spaziergänger waren unterwegs.

Mia steckte ihre Hände in die Manteltaschen und sah einem großen Hund hinterher, der über den Strand rannte. Das Wetter deprimierte sie. Ihr ganzes Leben deprimierte sie. Frank hatte sie sitzen lassen, ihren Job in einer Werbeagentur hatte sie verloren, der Roman, der ihr Ruhm und Geld bringen sollte, verstaubte in der Schublade, und in diesem Jahr drohte auch noch ihr vierzigster Geburtstag.

Was für ein Albtraum!

Blowjob, dachte sie und kostete die Worte auf ihrer Zunge, gab dem heimlichen Sehnen Raum, das sich in ihrem Bauch ausbreitete. Sie hätte auf einen Schlag einen Job und einen Mann. Mach dich nicht lächerlich, schalt eine verächtliche Stimme in ihr, das wäre doch kein Job. Du wärst eine Hure, weiter nichts. Es wäre ein Abenteuer, ein Experiment, ein wenig Ablenkung im öden Alltag einer arbeitslosen Singlefrau, schmeichelte ihr eine andere Stimme.

Ein Mann kam ihr entgegen, groß und gut aussehend. Was, wenn er es wäre? Ihre Augen verfingen sich eine Sekunde lang ineinander. Mia hielt den Atem an, ihr Herz setzte einen Schlag aus, dann war es vorbei. Der Mann pfiff nach dem Hund, der zwischen den Steinen an der Uferböschung herumschnüffelte. Mia drehte sich um und ging heimwärts.

Sie dachte an Frank. Vor dem Gesetz waren sie noch Mann und Frau, aber sie konnte den Tag kaum erwarten, an dem sie endlich auch auf dem Papier geschieden waren. Keine Minute länger als zwingend nötig wollte sie mit diesem Mann verbunden sein. Wie so oft, wenn sie an Frank dachte, stieg in ihr eine ohnmächtige Wut auf.

Und plötzlich fasste sie einen Entschluss.

»Pah, Frank Lohmann«, sagte sie mit grimmiger Entschlossenheit in die Stille ihrer Wohnung hinein, »was du kannst, kann ich schon lange.«

Sie musste dennoch zwei Gläser Wein trinken, bevor sie den Mut fand, die Mail abzuschicken.

»Hallo, ich bin an dem Job interessiert. Wie sehen die Bedingungen aus?«

Die Antwort kam noch am selben Abend. Mia schlug das Herz bis zum Hals, als sie die Mail öffnete.

»Hallo, danke für Ihr Interesse. Ich schlage vor, dass wir uns mal treffen und schauen, ob wir uns dieses besondere Arrangement miteinander vorstellen können. Falls ja, läuft es so ab: Sie kommen ein-, zweimal pro Woche zu mir, erledigen Ihren Job, ich bezahle Sie, und fertig. Sie müssen nur blasen, mehr nicht. Ich werde Sie nicht anfassen, werde nicht mehr von Ihnen verlangen. Für einmal Blasen gibt es 50 Euro. Gruß A.«

Atemlos starrte Mia auf ihren Bildschirm und las die Mail noch mal und noch mal. Sie musste vollkommen verrückt geworden sein, dass sie auch nur in Erwägung zog, sich mit diesem Mann zu verabreden. Aber eine seltsame Aufregung hatte sie erfasst. Angenommen, sie ginge auf den Deal ein, dann könnte sie im Monat bis zu vierhundert Euro verdienen, bar auf die Hand, schwarz. Und es war mit keiner nennenswerten Anstrengung verbunden. Im Gegenteil, vielleicht würde es ihr sogar Spaß machen. Sie malte sich lustvolle Begegnungen aus, erotische Abenteuer, sinnliche Verführungen. Und sie stellte sich vor, was sie sich alles würde leisten können. Vierhundert Euro – das war für sie ein Vermögen. Mia schloss die Augen. Es konnte natürlich auch sein, dass der Typ total durchgeknallt war, krank im Kopf, ein Vergewaltiger. Es konnte sein, dass er fett und hässlich war und aus dem Mund stank – von anderen Körperteilen ganz zu schweigen.

Mia atmete tief durch und streckte sich auf ihrem Sofa aus. Wer wagt, gewinnt, säuselte die Verführerstimme in ihrem Ohr. Ein lustvolles Prickeln erfasste ihren Körper. Ja, dachte sie, oh ja!

Mia machte sich sorgfältig zurecht. Sie duschte und rasierte sich gründlich. Anschließend cremte sie sich am ganzen Körper mit nach Rosen duftender Bodybutter ein, einem sündhaft teuren Zeug, das ihre Freundin Henny ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie kramte die schwarzen Spitzendessous hervor, die sie von Frank zum zweiten Hochzeitstag bekommen hatte (wenn der wüsste!), und zog eine schwarze Strumpfhose an. Sie brauchte lange, bevor sie sich für ein grau meliertes Wollkleid mit langen Ärmeln entschied. Es endete knapp über ihren Knien und sah nicht zu freizügig, aber auch nicht zu langweilig aus. Nervös biss sie sich auf die Lippen. Dann machte sie sich auf den Weg.

Der Treffpunkt befand sich unten an der Elbe, in der neu gebauten HafenCity. Das war die erste Überraschung. Dies war auf jeden Fall kein Ort, an dem verwahrloste Penner lebten. Hier wohnten die Schönen und Erfolgreichen der Stadt, die Glücklichen, die alles hatten und urbanen Luxus liebten, das Exklusive, Außergewöhnliche. Hier wohnte niemand, der im Szene-Magazin schräge Anzeigen aufgab.

Der Mann hatte ihr angeboten, sich an einem öffentlichen Ort in der Nähe seines Hauses zu treffen. Mia war erleichtert. Sie hätte es unheimlich gefunden, sofort zu ihm in die Wohnung zu kommen. So aber konnte sie jederzeit gehen, wenn er ihr nicht gefiel, es war ein Spiel, bei dem sie keinerlei Risiko einging. Sie fand die vereinbarte Stelle, lehnte sich an ein Geländer und starrte in das glänzende Wasser des Hafenbeckens hinunter. Das Viertel war elegant, aber tot. Viel Beton, futuristische Hausfassaden, enge Straßenschluchten, durch die der Wind pfiff, kaum Grün. Wie konnte man hier leben? Wo fand man hier Wärme und Geborgenheit?

»Hallo, sind Sie Mia?«

Die Stimme faszinierte sie, noch bevor sie den Mann sah, zu dem sie gehörte. Dunkel und sehr erotisch. Mia drehte sich aufgeregt um. Sie blickte in zwei leuchtende blaue Augen, die sie zu durchbohren schienen.

»Äh, ja, hallo«, sagte sie verlegen.

»Ich bin Arthur.« Ohne die flüchtigste Spur eines Lächelns streckte er Mia eine Hand entgegen. Er musterte sie mit einem schnellen, wachen Blick und erfasste auf einen Schlag alles an ihr – das schmale Gesicht, die dicken, rotbraunen Haare, die sie hochgesteckt hatte, ihr nervöses Lachen, die langen Beine, die in teuren Stiefeln steckten – Relikte aus Zeiten, in denen es ihr finanziell erheblich besser gegangen war.

Arthur war groß und schlank, mit einem markanten Gesicht. Sein fast schwarzes Haar war sehr kurz geschnitten und bereits von vielen Silberfäden durchzogen, auf der Stirn hatten sich tiefe Furchen eingegraben. Trotz der sichtbaren Alterszeichen sah er außergewöhnlich gut aus und hatte eine so starke Ausstrahlung, dass die Welt um ihn herum in Bedeutungslosigkeit zu versinken schien.

Eine vage Erinnerung stieg in Mia auf, ein Gefühl, als würde sie Arthur von irgendwoher kennen, aber es fiel ihr nicht ein. Vermutlich lag das nur an seiner Präsenz, die Mia fast unheimlich war.

Sie hatte einen jüngeren Mann erwartet, keinen, der nicht schon schätzungsweise um die fünfzig war. Vor allem aber hatte sie einen Mann erwartet, der etwas Spitzbübisches an sich hatte, einen Lausbuben, der sich einen Spaß aus frechen Verführungen machte. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie beide über diese absurde Anzeige lachen würden, bevor sie nach oben gehen und sich voller Lust und Vergnügen lieben würden.

Doch Arthur war ganz anders. Er trug einen eleganten Wollmantel, unter dem eine Anzughose zum Vorschein kam. Alles an ihm sah teuer, perfekt und sehr männlich aus. Männer wie er saßen in Aufsichtsräten und regierten die Welt, sie jetteten von Kontinent zu Kontinent, sprachen fließend sieben Sprachen, waren verheiratet und hatten zwei Geliebte. Männer wie Arthur hatten es nicht nötig, sich mit einer Kontaktanzeige eine Frau zu suchen, die ihnen für Geld gelegentlich ein wenig Erleichterung verschaffte.

Allein die Vorstellung, diesen Mann zu bedienen, fand Mia lächerlich.

»Und nun?« Sie sah Arthur unschlüssig an. Sie war sicher, dass er sich auch etwas anderes vorgestellt hatte, eine vollbusige Blondine vielleicht, deren Lippenstift eine Spur zu grell war, oder das genaue Gegenteil, eine Frau, die dieselbe kalte Eleganz wie er ausstrahlte. Vor allem aber hatte er vermutlich eine erheblich jüngere Frau erwartet, eine knackige Zwanzigjährige, die sich mit derart schrägen Jobs ihr Studium finanzierte, und keine arbeitslose Enddreißigerin, die vor lauter Scham und Verlegenheit kaum ein Wort herausbrachte.

»Setzen wir uns doch einen Moment.« Arthur wies auf eine Bank am Kai. Er wartete, bis Mia Platz genommen hatte, bevor er sich neben ihr niederließ, nah genug, um im Kontakt mit ihr zu bleiben, doch nicht so dicht, dass sie sich von ihm bedrängt fühlte.

»Das mag Ihnen alles seltsam vorkommen. Aber Sie können natürlich jederzeit gehen. Jetzt sofort oder zu jedem anderen Zeitpunkt.« Er sprach leise und mit großem Ernst.

Mia musterte ihn aufmerksam. Er hatte ein klassisches Profil mit einer geraden Nase und einem kräftigen Kinn. Beim Sprechen wurden makellose Zähne in seinem Mund sichtbar. Als er den Kopf ganz in ihre Richtung drehte, sah sie eine feine, gezackte Linie, die sich von seinem linken Auge bis hinunter auf die Wange zog. Eine Narbe. Ganz so makellos war dieser Arthur also doch nicht.

»Egal, wie Sie sich entscheiden, Verschwiegenheit ist mir sehr wichtig. Wenn Sie jetzt aufstehen und gehen, kann ich das verstehen. Sie werden garantiert nie wieder von mir hören. Wenn Sie aber heute oder in den nächsten Tagen zu mir in die Wohnung kommen, bitte ich Sie um absolute Diskretion. Ich erwarte, dass Sie mit niemandem über das sprechen, was zwischen uns passiert. Umgekehrt können Sie sicher sein, dass Ihnen nichts geschehen wird. Ich verlange nichts, was Sie mir nicht freiwillig geben wollen.« Arthur musterte Mia eindringlich, bis sie vor Verlegenheit die Augen niederschlug. »Was denken Sie?«

Mia war verwirrt. Arthur schien nicht eine Sekunde lang infrage zu stellen, dass sie die Richtige war, um diesen Job auszuüben. Er vertraute ihr gerade ohne zu zögern sein bestes Stück an. Wie absurd. Am liebsten hätte Mia gerufen, Arthur solle nach Hause gehen, er solle weiter in seinen Aufsichtsräten herumsitzen und mit Millionen jonglieren, statt sich mit ihr, einer arbeitslosen Werbetexterin einzulassen. Sie wollte sagen, dass sie sich überfordert fühlte, dass sie Angst vor Arthur und seiner Eleganz hatte, Angst, ihm nicht gut genug zu sein, Angst, sich vor ihm zu blamieren.

»Können Sie sich das denn mit mir vorstellen?«, fragte sie unsicher.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Arthurs Gesicht, ohne seine Augen zu erreichen. »Natürlich kann ich das. Sie sind eine attraktive Frau.« Mia freute sich schon über das Kompliment, als er hinzufügte: »Außerdem bin ich nicht sehr anspruchsvoll, ich habe schließlich keine große Wahl.«

Mias Freude schlug augenblicklich in Ärger um. Was für ein unverschämter Kerl! Glaubte der, er könne sich alles erlauben, bloß weil er Geld hatte?

Der Februarwind blies von der Elbe herauf. Mia zog fröstelnd die Schultern hoch. Sie zögerte. Arthurs herablassende Bemerkung ärgerte sie. Andererseits war sie jetzt schon so weit gegangen. War es nicht albern, in letzter Sekunde zu kneifen? Noch dazu bei einem so gut aussehenden Mann?

»Also gut«, sagte sie entschieden, »wir probieren es mal. Aber ich gehe sofort, wenn ich mich unwohl fühle. Und ich will sechzig Euro für jedes Kommen haben.« Der Doppeldeutigkeit ihres letzten Satzes wurde sie sich erst bewusst, als sie ihn bereits ausgesprochen hatte.

Arthur runzelte die Stirn. »Wie lange werden Sie wohl alles in allem für Ihren Job brauchen? Zehn Minuten? Eine Viertelstunde? Das macht bei fünfzig Euro also mindestens zweihundert pro Stunde. Finden Sie nicht, dass das schon ein ganz guter Satz ist?«

»Außergewöhnliche Jobs sollte man auch außergewöhnlich bezahlen«, entgegnete Mia. Die Sache fing an, ihr Spaß zu machen.

»Einverstanden.« Arthur streckte ihr die Hand entgegen. »Sechzig Euro, keine Fragen und absolute Diskretion.«

Sie besiegelten ihren Vertrag mit einem festen Händedruck.

Mia stand auf. »Wollen Sie, dass ich sofort mit der, äh, Arbeit anfange, oder soll ich in den nächsten Tagen wiederkommen?«

Arthur erhob sich ebenfalls. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne sofort beginnen. Dann sehen wir gleich, ob es auch funktioniert.«

Mia nickte zustimmend. Die Spannung in ihr wuchs ins Unerträgliche. Sie hatte seit Ewigkeiten keinen Sex mehr gehabt. Und es war Lichtjahre her, seit sie das letzte Mal Sex mit einem fremden Mann gehabt hatte. Seit damals hatte sich ihr Körper deutlich verändert, und zwar keineswegs zu ihrem Vorteil. Würde sie Arthurs Ansprüchen genügen? Was würde er zu den Speckröllchen auf ihren Hüften sagen? Zu der Orangenhaut an ihren schlaffen Oberschenkeln und den Falten auf ihrem Dekolleté? Nicht dass sie wirklich dick war, im Gegenteil. Doch in der letzten Zeit hatte ihr Körper eine beunruhigende Tendenz entwickelt, breit und schlaff zu werden. Sie fühlte sich unbehaglich, als sie sich schweigend von Arthur in eins der Häuser führen ließ, die wie Bauklötze am Kai standen.

Sie fuhren mit dem Aufzug in den vierten Stock hinauf. Natürlich wohnte Arthur in der obersten Etage, das war nicht anders zu erwarten gewesen. Seine Wohnung war ein Traum aus lichtdurchfluteten Räumen auf drei Ebenen. Die sparsame Möblierung mit Antiquitäten und Designermöbeln unterstrich den luftigen Charakter der Wohnung. Jedes Teil hatte genau den richtigen Platz, jedes Bild war mit Bedacht ausgewählt worden und harmonierte perfekt mit seiner Umgebung. Persönliche Dinge wie Fotos oder Bücher fehlten jedoch, das Wohnzimmer wirkte so leblos wie ein Möbelladen.

Mia trat an eins der Fenster, die bis zum Boden reichten und den Blick auf Hafen und Elbe freigaben.

»Das ist ja fantastisch!«, rief sie begeistert.

Undeutlich hörte sie Arthur eine Antwort murmeln. Er war die Treppe hinauf in die offene Küche gegangen, die sich zusammen mit dem Essbereich auf der obersten Ebene befand. Er kam mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern zurück.

»Ich dachte, ein kleiner Schluck hilft uns vielleicht, den ersten Schritt zu machen.« Er reichte Mia ein Glas.

Sie griff dankbar danach und kippte das kostbare Getränk vor Aufregung in einem Zug hinunter.

»Nun ja«, bemerkte Arthur trocken, während er ihr nachschenkte, »manchmal reicht ein einziger Schluck wohl nicht.«

Mia lachte. Der Alkohol entspannte sie, und dieser Arthur schien tatsächlich ein lebendiger Mensch zu sein. Nachdem sie das zweite Glas geleert hatte, sagte er jedoch sehr nüchtern:

»Also gut, kommen wir zum eigentlichen Teil unserer Zusammenkunft.«

Er stellte die Gläser auf dem Couchtisch ab und setzte sich in die Mitte eines weißen Sofas, mit Blick auf die Elbe. Mia blieb unsicher stehen. Arthur hatte die Anzugjacke abgelegt und die Krawatte gelockert. Trotzdem sah er immer noch wie der Chef der Weltbank aus und nicht wie ein Mann, mit dem man sich hemmungslos in den Laken wälzte.

»Na dann …«, Arthur machte eine einladende Handbewegung in Richtung seines Schoßes. »Dann machen Sie mal.«

»Einfach so? Ohne Vorspiel und alles?«

»Ja, genau. Einfach so. Sie blasen, ich zahle, so stand es doch in der Anzeige.«

»Äh, ja …«

Mia bewegte sich langsam auf Arthur zu, der sie mit einem Ausdruck abwartender Neugier betrachtete. Wurde man so, wenn man zu lange in Luxushotels unter karibischer Sonne Urlaub gemacht hatte? Wenn man zu viele Aktien kaufte? Wenn man zu oft zum Vorstandsvorsitzenden gewählt wurde? Mia konnte sich keinen Reim darauf machen. Arthur wollte wirklich nur, dass sie seinen Schwanz aus der Hose holte, daran herumlutschte, ihn wieder einpackte, und fertig? Es schien ganz so.

Das war wirklich ekelhaft. Und total pervers.

Und außerdem – wo blieb sie selbst dabei? Was war mit ihrem Spaß, mit lustvollen Verführungen, wohligem Rekeln auf dem flauschigen Teppich vor dem riesigen Fernseher in der Ecke da hinten? Und warum zum Teufel hatte sie sich mit dieser sauteuren Bodybutter eingecremt und ihre schönste Wäsche angezogen?

Verwirrt kniete sie sich auf den Parkettboden zu Arthurs Füßen. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Was, um Himmels willen, tat sie hier? Irritiert und unsicher fummelte sie an Arthurs Hose herum, bis sie den Reißverschluss geöffnet hatte. Zum Vorschein kam eine schwarze Unterhose, unter der sich deutlich die Konturen eines hübschen Pakets abzeichneten. War Arthur etwa schon erregt? Das gab es doch gar nicht. Ein Mann in seinem Alter.

Mia strich behutsam mit den Fingern über den Stoff seiner Unterhose. Sie wollte den Bund hinunter schieben, doch Arthur fasste in den Eingriff und zog seinen steifen Penis hervor, der Mia groß und beängstigend fremd entgegen sprang. Arthur legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Mia umfasste seine pralle Männlichkeit, die so perfekt war wie der ganze restliche Mann. Arthur war komplett rasiert und roch auch an seinen intimsten Stellen frisch und verführerisch nach Seife, Sauberkeit und männlicher Kraft. Mia massierte ihn leicht und spürte sein Gewicht und seine Lebendigkeit in ihrer Hand. Sie beugte sich vor und streifte die zarte Haut mit ihrem Mund. Arthur stöhnte leise auf. Als Mia ihre Lippen fester um ihn legen wollte, richtete er sich jäh auf.

»Moment!«

Er zog aus seiner Hosentasche ein Kondomtütchen. Mia war überrascht und erleichtert zugleich. Sie hatte noch nie Oralsex mit Gummi gehabt und konnte sich nicht vorstellen, dass sie dabei Vergnügen empfinden würde. Andererseits – wer weiß, mit wie vielen Frauen dieser Arthur es sonst so trieb; Safer Sex war da in jedem Fall angebracht. Nachdem Arthur sich eingepackt hatte, beugte Mia sich erneut über ihn. Statt männlich-herber Frische schlug ihr nun ein süßlicher Geruch entgegen. Das Gummi schmeckte abscheulich.

»Bäh, was ist denn das?« Mia verzog angewidert das Gesicht.

»Was denn?« Arthur riss erschrocken die Augen auf.

»Ist das Kondom irgendwie aromatisiert?«

»Keine Ahnung. Ist es sehr schlimm? Dann suche ich ein anderes.«

Mia las die Aufschrift auf dem Kondomtütchen: »Mit Erdbeergeschmack.« Sie schüttelte sich. Dann fiel ihr Blick auf Arthurs gequälten Gesichtsausdruck. »Ist schon in Ordnung«, beeilte sie sich zu sagen und strich wie zur Beruhigung zart über seinen Penis, der schon gefährlich an Spannung verloren hatte.

Arthur kam jedoch schnell wieder in Schwung und diesmal lief alles störungsfrei. Der Erdbeergeschmack war zwar widerlich, aber irgendwie verstärkte er nur das distanzierte Gefühl, mit dem Mia diesen schrägen Job verrichtete. Arthur hingegen genoss ihre Verwöhnungen sichtlich.

Mia verharrte einen Moment reglos, nachdem er gekommen war. Langsam richtete sie sich auf. Arthur hatte die Augen immer noch geschlossen, sein Gesicht war seltsam verzerrt und sein Atem ging schnell und flach. Mit leichter Hand fuhr Mia über den feinen Wollstoff seiner Hose und spürte darunter die kräftigen Oberschenkelmuskeln.

Arthur öffnete blitzartig die Augen und richtete sich auf.

»Danke«, sagte er knapp, streifte sich das Gummi ab und verstaute sein Geschlecht wieder in der Hose.

»Das war’s?« Mia konnte es immer noch nicht glauben. Sie stand auf und streckte den Rücken durch.

»Das war’s.« Arthur stand ebenfalls auf. Er ging zu einer Kommode und kam mit ein paar Geldscheinen zurück. »Sechzig Euro, wie vereinbart. Werden Sie wiederkommen?«

»Sie?« Mia starrte Arthur an. Er hatte soeben vor ihr die Hosen heruntergelassen, sie hatte ihm einen geblasen, und jetzt siezte er sie immer noch? Der Typ musste komplett gestört sein. Aber Arthur bemerkte Mias Irritation gar nicht. Er fuhr sich durch die Haare und presste die Lippen aufeinander.

»Also, wie ist es – kommen Sie wieder?« In seiner Stimme lag ein drängender Ton.

Mias Wangen waren gerötet, ihre Frisur hatte sich ein wenig aufgelöst. Sie hob den Kopf und sah Arthur offen an. Zum ersten Mal gelang es ihr, sich von diesen durchdringenden Augen nicht einschüchtern zu lassen. Während sie das Gefühl hatte, Arthur schaue ihr mitten in die Seele, vermochte sie umgekehrt nicht zu deuten, was in ihm vorging. Seine Augen funkelten wie ein Ozean in der Sonne, aber unter der glitzernden Oberfläche schienen nur Dunkelheit und Kälte zu lauern. Eine Sekunde lang glaubte Mia, Furcht dazwischen aufblitzen zu sehen. Furcht wovor? Sie schüttelte irritiert den Kopf.

»Heißt das nein?«

»Es heißt, dass ich das alles hier ziemlich schräg und verwirrend finde. Aber ich komme wieder.« Ihre Stimme klang klar und fest, die Angst war verflogen.

Arthur nickte zufrieden. Er vereinbarte einen neuen Termin mit ihr, wie mit einer Geschäftspartnerin.

Mia ging die drei Kilometer zu Fuß nach Hause in ihre kleine Straße auf St. Pauli. Sie zog ihre Mütze tief in die Stirn und stemmte sich gegen den Wind, der in kräftigen Böen von der Elbe herüberfegte. Die frische Luft half ihr, ihre wirren Gefühle zu sortieren.

Sie war aufgedreht und erschöpft zugleich. Sie hatte Sex gehabt und doch keinen Sex gehabt. Sie war verführt worden und doch nicht verführt worden. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht darüber sein sollte, dass Arthur ihre Speckröllchen nicht zu Gesicht bekommen hatte. Vor allem aber wusste sie immer noch nicht, warum sie das getan hatte. Bevor sie Frank kennenlernte, hatte sie mit drei Männern Sex gehabt. Alle hatte sie geliebt, mit allen hatte sie eine feste Beziehung geführt. Ihr hatte nie der Sinn nach kurzen, schnellen Abenteuern gestanden.

Und jetzt so etwas. Ein Gefühl von Ekel wallte in ihr auf, als sie daran dachte, wie sie vor diesem Fremden gekniet und ihn befriedigt hatte. Verwirrt schob Mia eine Locke, die der Wind quer über ihr Gesicht geweht hatte, unter ihre Mütze. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich auf diesen Arthur einzulassen? Und warum zum Teufel wollte sie ihn wiedersehen? Ihr war das selber unbegreiflich.

Arthur, dachte sie abfällig, was war das überhaupt für ein beknackter Name?

Zuhause angekommen kochte Mia sich einen Tee und setzte sich damit auf ihr elegantes, graues Ecksofa, das viel zu groß für das kleine Wohnzimmer war. Sie hatte es einst mit Frank gekauft, damals, als sie noch glaubten, ewig zusammenzubleiben.

»Lass uns was Richtiges kaufen, das nicht schon nach einem Jahr auseinanderfällt«, hatte Mia gesagt, nachdem sie für sich entschieden hatte, dass von Franks geschmacklosen Möbeln nur wenige mit in ihre gemeinsame Wohnung durften.

Frank war fast ohnmächtig geworden, als er den Preis sah. »Fünftausend Euro für ein Sofa? Himmel, dafür muss ein alter Mann lange schuften.«

Mia hatte sich zärtlich an ihn geschmiegt. »Dafür müssen wir auch in den nächsten zwanzig Jahren kein neues kaufen«, hatte sie gesagt.

Am Ende hatte Frank sich überzeugen lassen und sogar noch freiwillig ein paar Hundert Euro draufgelegt, weil er einen robusteren Bezug haben wollte: »Dann übersteht das Sofa auch noch ein paar Kinder und Hunde.«

Mia hatte sich im siebten Himmel befunden. Doch das war lange her.

Ihr jetziges Wohnzimmer wurde – neben dem Sofa – von Bücherregalen beherrscht, die eine ganze Wand ausfüllten. Von der Decke hing ein Kronleuchter, der glitzerndes Licht verbreitete. Größer als zwischen dieser winzigen, alten Wohnung und Arthurs sterilem Palast konnten die Gegensätze kaum sein.

Mia lehnte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Doch sie kam nicht zur Ruhe. Schließlich stand sie auf, nahm das Geld von Arthur aus ihrer Tasche und legte es in eine Schachtel auf ihrem Nachttisch. Noch zwei, drei Mal, und sie konnte sich den schicken Mantel leisten, den sie neulich in einem Schaufenster gesehen hatte. Zwei weitere Male und sie würde sich auch die Stiefel kaufen können, die sie bereits zweimal anprobiert hatte. Wenn sie einen ganzen Monat durchhielt, wäre sogar ein Urlaub drin. Eine Woche Last Minute nach Gran Canaria, einfach dem tristen norddeutschen Winter entkommen.

Sie dachte an Arthurs tiefblaue Augen. Und an sein gequältes Gesicht. Alles hat seinen Preis, dachte sie und schloss die Schachtel mit dem Geld behutsam.

2

Mia hatte Frank auf der Party einer Kollegin kennengelernt.

»Es kommen lauter interessante Leute«, hatte Andrea behauptet. Es war ihr dreißigster Geburtstag, und sie wollte es richtig krachen lassen. Sie hatte einen Club auf dem Kiez gemietet, einer ihrer Freunde legte die Musik auf, und in der Tat füllte sich der kleine Raum schnell mit vielen sehr wichtig aussehenden Leuten.

Mia war erst seit zwei Wochen bei Keutner und Lempe, sie kannte ihre Kollegen noch nicht richtig und wusste nicht, an wen sie sich halten sollte. Mit einem Bier in der Hand stellte sie sich abseits in eine Nische und beobachtete das Treiben um sich herum. Dumpfe Technobässe wummerten durch ihren Körper.

»Du scheinst hier auch nicht viele Leute zu kennen«, schrie ihr auf einmal eine Stimme ins Ohr.

Mia drehte sich überrascht um und erblickte einen Mann, der sie vergnügt angrinste. Er war kaum größer als sie, hatte eine untersetzte, kräftige Figur, blonde Haare, trug eine Brille, Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift: »Über Gewicht spricht man nicht, Übergewicht hat man.«

Mia grinste zurück.

»Stimmt«, brüllte sie dem Mann entgegen. »Und du? Kennst du viele?«

»Ich kenne Andrea. Und jetzt dich.« Er lachte breit.

»Mich kennst du doch noch gar nicht«, entgegnete Mia, aber er schien sie nicht richtig zu verstehen und zuckte fragend mit den Achseln.

»Mich kennst du noch nicht«, brüllte Mia in sein Ohr.

Er nickte. Dann deutete er hinter Mia.

»Schlechter Platz hier!«, schrie er und als Mia sich umdrehte, fiel ihr Blick auf eine riesige Lautsprecherbox. Sie lachte verlegen. Wie bescheuert, sich ausgerechnet an den lautesten Platz im ganzen Club zu stellen! Der Mann schob Mia vor sich her in eine Ecke, in der die Musik deutlich leiser war. Er hob seine Bierflasche und prostete Mia zu:

»Ich bin Frank.«

»Mia.«

»Freut mich, Mia. Woher kennst du Andrea?«

»Ich bin eine Kollegin von ihr. Und du?«

»Ich bin ihr Nachbar.« Er verzog das Gesicht, als sei das eine Strafe. »Hast du auch Nachbarn, die jeden Tag auf deiner Matte stehen und irgendwas von dir wollen?«

»Nein. Aber ich habe eine Nachbarin, die mir gerne im Treppenhaus auflauert und mich dann stundenlang über meine Arbeit ausfragt.«

Mia war verblüfft, wie schnell und selbstverständlich Frank sie in ein Gespräch verwickelte und ihr das Gefühl gab, die interessanteste Person in dem mittlerweile brechend vollen Club zu sein. Erst viel später wurde ihr klar, dass es eine Gabe von Frank war, Menschen für sich zu gewinnen. Mit seinem charmanten, jungenhaften Lachen brachte er sie blitzschnell dazu, sich in seiner Nähe wohlzufühlen, ihn zu mögen und ihm zu geben, was er brauchte – angefangen bei seinen Nachbarn, die keineswegs ständig etwas von ihm wollten, sondern vielmehr sehr geduldig hinnahmen, dass er oft bis spät in die Nacht Partys feierte, bis hin zu seinem Bankberater, dem er einen Kredit nach dem nächsten aus dem Ärmel leierte.

Nach dem dritten Bier tanzten Mia und Frank miteinander, eng gedrängt mit den anderen Partygästen auf der winzigen Tanzfläche. Immer wieder berührten sich ihre Körper wie zufällig. Frank bewegte sich leichtfüßig und geschmeidig, trotz seiner Körperfülle. Mia musterte ihn unauffällig. Er sah nicht wie jemand aus, mit dem man nach einer Party im Bett landete und der dann am nächsten Morgen auf Nimmerwiedersehen verschwand. Frank sah so aus, als wolle er sofort heiraten und einen Bausparvertrag abschließen.

Das gefiel Mia. Sie war nach einer recht langen Beziehung und zwei kürzeren Partnerschaften seit über einem Jahr alleine. Frank, der mit seinem Bausparvertrag vor ihrer Nase herumwedelte, verhieß Sicherheit. Und die strebte Mia an. Alle Welt heiratete zurzeit und vermehrte sich wie verrückt. Mia wollte davon nicht ausgeschlossen sein. Sie wurde in diesem Jahr vierunddreißig; höchste Zeit, den passenden Vater für ihre Kinder zu finden. Aber ob dieser dickliche Frank dafür der richtige Kandidat war?

Normalerweise wären Mia vielleicht Zweifel gekommen. Da sie aber bereits das vierte oder fünfte Bier getrunken hatte (sie hatte längst aufgehört, mitzuzählen), war sie herrlich entspannt und ließ den Dingen einfach ihren Lauf.

Einmal kam Andrea an ihr vorbei und sagte gönnerhaft: »Na, ihr zwei versteht euch ja prächtig.«

Mia grinste verschwommen, sie fühlte sich wie losgelöst von ihrem Körper und dieser merkwürdigen Partygesellschaft.

Irgendwann, weit nach Mitternacht, bekam Frank Konkurrenz. Stefan Büttner, einer von Mias neuen Kollegen, drängte sich an Mia heran. Er war groß, schlank und sehr attraktiv. Mit zusammengekniffenen Augen, eine Zigarette im Mundwinkel, ließ er sich von der Woge der tanzenden Leiber direkt vor Mias Füße treiben. Sie sah zu ihm auf, lächelte – und erkannte mit dem letzten Bisschen Klarheit, das sie in ihrem Hirn noch fand, dass sie sich auf gefährliches Eis begab. Stefan sah so aus, als hätte er schon mit jeder Frau geschlafen, die auf dieser Party anwesend war, und vermutlich noch mit einer Million anderer. Jetzt war sie, die Neue, an der Reihe.

Einen Moment lang genoss Mia es, von Stefan umschwärmt zu werden. Sie bewegte sich im selben Rhythmus wie er, spürte, wie er seinen Unterleib gegen sie presste, fühlte seine Wärme und ihre Erregung, drehte sich um – und blickte in Franks Augen, die so ehrlich und unschuldig schauten, dass Mia gerührt lächelte. Sie löste sich von Stefan und bewegte sich immer mehr in Franks Richtung. Er reichte ihr seine Hand und ohne zu zögern griff sie danach und ließ sich von ihm aus der Menge führen. Als sie sich flüchtig nach Stefan umdrehte, hatte der sich bereits einer anderen Frau zugewandt.

Im Treppenhaus schlug ihnen kühle Luft entgegen. Mia taten die Füße weh, sie war heiser und halb taub von der lauten Musik, und sie merkte erst in der kalten Nachtluft, wie betrunken sie schon war.

»Ich glaube, ich muss langsam mal nach Hause«, sagte sie zu Frank.

Er nickte. »Ich haue auch ab. Wo musst du hin?«

»Nach Eimsbüttel.«

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Gern. Wie kommst du denn heim?«

»Ich bin mit dem Fahrrad da. Ich wohne nicht weit von hier.«

Während sie auf das Taxi warteten, fragte Frank zögernd: »Hättest du Lust, mal mit mir essen zu gehen?«

»Klar, warum nicht?«

Bereitwillig gab sie Frank ihre Telefonnummer und erhielt im Gegenzug einen zerknautschten Kassenbon, auf den er eine Nummer und seinen Namen kritzelte – Frank Lohmann.

Am nächsten Morgen hatte Mia nur noch eine verschwommene Erinnerung an Frank. Er war nett gewesen, aber sie verspürte kein nennenswertes Bedürfnis, ihn wiederzusehen. Vielleicht, so überlegte sie, während sie sich einen starken Kaffee kochte, lag das aber auch nur an ihrem fürchterlichen Kater.

Als Frank sich in den nächsten drei Tagen nicht meldete, beruhigte Mia sich wieder. Er war wenigstens kein aufdringlicher Typ, der einer Frau auf die Nerven ging, statt sich begehrenswerter zu machen, indem er sie ein wenig zappeln ließ. Nach einer Woche dachte Mia mit leiser Enttäuschung, dass er es mit dem zappeln lassen vielleicht ein wenig übertrieb. Nach zwei Wochen war sie sich sicher, dass er kein Interesse an ihr hatte und auf der Party genauso alkoholumnebelt gewesen war wie sie selbst. Sie vergaß Frank Lohmann wieder.

Es dauerte fast drei Monate, bis sie sich wiedertrafen. Mia hatte viel zu lange gearbeitet und hetzte beim Umsteigen am Hauptbahnhof von einem Bahnsteig zum anderen, um trotzdem noch rechtzeitig zu ihrem Fitnesskurs zu kommen. An einer Ecke rannte ein Mann in sie hinein und rammte ihr seine Laptoptasche in den Bauch. Mia taumelte und stürzte fast.

»Aua!« Sie warf dem Mann einen bösen Blick über die Schulter zu und wollte weiter hasten.

»He!« Der Mann stoppte sie, indem er nach ihrem Arm griff.

Was fiel dem Kerl ein? Wollte er jetzt etwa mit ihr darüber diskutieren, wer hier wen angerempelt hatte?

Kampflustig drehte sie sich um: »Ja?«

Zu ihrer Überraschung lachte der Mann freundlich.

»Hallo Mia!«

Das Gesicht kam ihr bekannt vor, aber sie konnte es nicht gleich einordnen.

»Frank«, half ihr der Mann auf die Sprünge. »Wir sind uns bei Andreas Party begegnet.«

»Ach, richtig.« Natürlich, Frank, der Nachbar von Andrea. Den hatte sie mittlerweile längst vergessen. Während sie sich anklagend den Bauch hielt, sagte sie: »Das ist ja eine Überraschung. Was treibst du so, wenn du nicht gerade unschuldige Frauen über den Haufen rennst?«

»Tut mir echt leid. Aber du kamst angefegt wie ein Tornado, da hatte ich keine Chance mehr, auszuweichen.«

Sie musterte Frank. Er sah anders aus als beim letzten Mal, aber sie wusste nicht genau, woran das lag. War er schlanker? Trug er eine andere Frisur? Andere Brille? Was auch immer es war, es stand ihm gut und ließ ihn interessanter als bei ihrer ersten Begegnung erscheinen.

Versöhnlich sagte Mia: »Das mit dem Tornado war aber auch nicht gerade ein Kompliment.«

»Ähm … nee, nicht so richtig. Aber ich könnte dir ein echtes Kompliment machen.«

»Dann mal los!« Mia grinste erwartungsvoll.

Er holte tief Luft, machte eine theatralische Geste und sagte dann: »Gnädigste, Sie sehen heute einfach umwerfend aus!«

Sie lachten gemeinsam, als sei dieser alberne Witz der brillanteste Gag aller Zeiten.

»Du, ich habs wahnsinnig eilig«, sagte Mia schließlich.

»Ich auch. Hast du meine Telefonnummer noch?«

»Ich weiß nicht. Glaube schon, ja.«

»Dann ruf doch mal an.«

Er drehte sich um und verschwand in der Menge.

Ruf doch mal an. Warum wollte er nicht anrufen? Seit wann telefonierten Frauen den Männern hinterher?

Sie rief ihn trotzdem zwei Tage später an. Er freute sich.

»Wollen wir mal zusammen essen gehen?«, fragte er.

»Das hast du mich schon mal gefragt.«

»Stimmt. Diesmal machen wir es aber, ja?«

»Ja.«

Sie trafen sich bei einem Italiener auf St. Pauli. Frank trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Wer zuletzt lacht, hat es einfach nicht früher begriffen.«

»Du trägst gerne Shirts mit solchen Sprüchen, oder?«, stellte Mia fest. Sie fand das ziemlich kindisch. Frank hatte sich überhaupt keine Mühe bei der Wahl seiner Kleidung gemacht. Er trug dieses alberne Shirt und dazu eine alte, abgewetzte Jeans. Mia hingegen hatte sich dreimal umgezogen, bevor sie sich für eine schwarze Bluse mit bunter Stickerei auf der Brust und einen sehr kurzen, roten Stretchrock entschieden hatte.

Obwohl sie einen neckenden Tonfall angeschlagen hatte, sah Frank bestürzt aus. »Ist das schlimm? Blamiere ich mich grade total?«

»Ein bisschen, ja.«

Er wurde tatsächlich rot. »Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass ich eine Frau finde«, murmelte er und stocherte mit gesenktem Kopf in seiner Pizza herum. Verlegen schielte er zu Mia hinüber. Sie fing seinen Blick auf und plötzlich machte ihr Herz einen Hüpfer und die Welt drehte sich nur noch für sie.

Nach dem Essen gingen sie in eine Bar um die Ecke. Sie saßen dicht nebeneinander auf Barhockern am Tresen und ihre Knie berührten sich. Es war zu laut, um sich richtig zu unterhalten, also tranken sie schweigend ihre Cocktails und beobachteten das Treiben um sich herum. Als Frank sich vorbeugte, um sie etwas zu fragen, kam Mia ihm so weit entgegen, dass sich ihre Wangen berührten.

»Willst du noch was trinken oder lieber gehen?« Franks Lippen waren dicht an ihrem Ohr.

»Gehen«, sagte Mia, rührte sich aber nicht vom Fleck. Frank roch gut und er fühlte sich gut an. Er fuhr ihr leicht mit der Hand über die Wange und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. In seinen Augen lag eine unbeschreibliche Zärtlichkeit.

Auf der Straße fasste er ihre Hand und ließ sie nicht mehr los, bis sie in seiner Wohnung im Schanzenviertel ankamen. Im Treppenhaus kicherten sie ausgelassen bei der Vorstellung, Andrea könne aus ihrer Wohnung kommen und wie eine Concierge kontrollieren, wen Frank zu so später Stunde mit nach Hause brachte. Arm in Arm taumelten sie in Franks Wohnung hinein.

»Was möchtest du trinken?«, fragte Frank. Er kramte in einer kleinen Abstellkammer hinter der Küche. »Wie wäre es mit einem Bier?« Dann ging er zum Kühlschrank hinüber und schaute hinein. »Du könntest natürlich auch ein Bier kriegen.«

Mia lachte. »Hm, mal sehen … ich glaube, ich nehme das Bier.«

»Das ist eine sehr gute Wahl.«

Frank öffnete zwei Flaschen und reichte ihr die eine. Sie gingen ins Wohnzimmer und ließen sich auf einem kleinen Sofa nieder. Franks Wohnung war typisch männlich eingerichtet – mit einem wilden Sammelsurium aus praktischen, aber stillosen Möbeln und wahren Geschmacklosigkeiten wie einem aufblasbaren Sitzkissen, das aussah wie ein riesiger Fußball. Der Aschenbecher auf dem Couchtisch quoll über und in einer Ecke standen einige leere Bier- und Weinflaschen. Ordnung schien auch nicht unbedingt Franks Sache zu sein.

Besorgt folgte er Mias Blicken. »Hier ist es ziemlich unordentlich, tut mir leid.«

Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie den Abend bei ihm beenden würden. Das überraschte Mia. Aber es sprach auch für Frank. Er hatte nicht geplant, sie abzuschleppen, es war einfach passiert.

»Kein Problem«, sagte sie leichthin und prostete Frank mit ihrer Flasche zu. Sein Gesichtsausdruck änderte sich, die Konturen wurden markanter, der niedliche Junge verwandelte sich in einen begehrenswerten Mann. Er legte Mia seine große Hand an die Wange, und sie schmiegte sich hinein. Diese kleine, intime Geste barg alles in sich – ihr Vertrauen in Frank, ihr Begehren und, ja, ihre Liebe. Sie stellte keine Fragen, sie war nicht unsicher oder ängstlich, sie wusste in dieser Sekunde mit geradezu überwältigender Klarheit, dass sie Frank wollte, jetzt und für immer.

»Darf ich dich küssen?«, fragte Frank, und als sie »Ja!« sagte und die Wärme seiner Lippen spürte, war das für sie wie ein Versprechen.

Frank ließ sich viel Zeit, sie auszuziehen und ging dabei sehr behutsam und zart vor. Geradezu ehrfürchtig öffnete er ihren Büstenhalter und nahm ihn in die Hand.

»Wow!«, rief er begeistert.

Mia rekelte sich auf dem Sofa und hob ihm erwartungsvoll ihre Brüste entgegen. Zu ihrer Verwunderung galt Franks Kompliment jedoch ihrer bordeauxroten Unterwäsche, die mit schwarzer Spitze besetzt war, und nicht ihrem nackten Körper mit der makellosen Haut und der sanften Wölbung unter dem flachen Bauch.

Frank hielt mit seligem Gesichtsausdruck eins der BH-Körbchen an seine Nase und schien Mias Irritation gar nicht zu bemerken.

»Was für wundervolle Wäsche«, murmelte er hingerissen und nun erst besann er sich auf das Wesentliche.

Als er sich auf Mia rollte, ging er dabei sehr vorsichtig vor, fast ängstlich. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. Es schien ihn nicht zu beruhigen, dass Mia vor Glück strahlte. Nur zögernd drang er in sie ein und vergewisserte sich dabei immer wieder, dass es ihr gut ging. Er war der zärtlichste, rücksichtsvollste Liebhaber, den Mia je gehabt hatte. Alles an ihm fühlte sich warm, weich und sehr vertraut an.

In einer einzigen Nacht vervollständigte Frank alles, was Mia je gefehlt hatte. Sie war die glücklichste Frau auf der Welt.

3

Als Mia das nächste Mal zu Arthur kam, nahm er nicht auf dem Sofa, sondern auf einem weißen Sessel am Fenster Platz. Er hatte ein Kissen für sie bereitgelegt, geschmacksneutrale Kondome besorgt und zusätzlich zum Champagner standen Wasser und Scotch zur Auswahl. Mia blieb beim Champagner, Arthur schenkte sich Whisky ein. Sie wechselten noch weniger Worte als beim ersten Mal. Mia erledigte ihren Job, trank Champagner, schaute dabei ein paar Minuten aus dem Fenster auf die Elbe und die Baukräne auf den zahlreichen Baustellen ringsum, dann verabschiedete sie sich und ging heim.

In den nächsten Wochen änderte sich an diesem Ablauf nichts. Arthur bestellte sie in unregelmäßigen Abständen, manchmal einmal pro Woche, manchmal häufiger. Sie trafen sich zu fast allen Tageszeiten, außer in den frühen Morgenstunden und nachts. Arthur schien genauso viel Zeit zu haben wie Mia. Das überraschte sie. Sie war davon ausgegangen, dass er ein vielbeschäftigter Mann war, der Tag und Nacht arbeitete, um sein Geld zu vermehren. Aber offenbar verbrachte er einen Großteil seiner Tage zuhause.

Arthur begrüßte und verabschiedete sie stets mit einem festen Händedruck. Er trug immer ein frisch gebügeltes Hemd, eine Anzughose und teure Lederschnürschuhe, manchmal sogar Krawatte und Jackett. Selbst an den ersten warmen Frühlingstagen wählte er keine luftigere Kleidung. Mia machte sich jedes Mal so sorgfältig zurecht, als würde sie zu einer Verabredung mit ihrem Geliebten gehen. Sie bevorzugte schmal geschnittene Kleider und hohe Stiefel, die ihre schlanke Figur betonten. Sie zog sich sogar weiterhin extra schöne Unterwäsche mit Strapsen und Strümpfen an. Dabei wusste sie, dass Arthur ihre Dessous nie ansehen würde, ja, sie war sich nicht mal sicher, ob ihm überhaupt auffiel, was sie darüber trug.

Sie befriedigte ihn nicht immer mit dem Mund, oft genügte es ihm, wenn sie ihn in die Hand nahm. Aber er wollte nie etwas anderes und zog sich auch nie weiter aus.

Arthur machte sie nicht mehr nervös, aber sie war auch nicht richtig entspannt in seiner Gegenwart. Während er mit geschlossenen Augen auf seinem Sessel saß und sich seinen Begierden hingab, fühlte sie sich ihm ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Doch sobald er die Augen öffnete, wurde sie sich seiner Stärke bewusst und ließ sich von ihr einschüchtern.

Sie gewöhnte sich an, auf dem Hinweg den Bus zu nehmen und auf dem Rückweg zu Fuß zu gehen. Sie brauchte den Spaziergang, um wieder zu sich zu finden und ihre Gefühle zu sortieren. Es war ihr so, als würde sie zwischen zwei Welten pendeln, in denen sie eine jeweils andere Rolle spielte.

Nach ihrer anfänglichen Enttäuschung darüber, dass sie selbst nicht auf ihre Kosten kam, arrangierte Mia sich mit Arthur und ihrem neuen Job. Sie bemühte sich, nicht allzu sehr über ihr Verhältnis zu Arthur nachzudenken, falls man überhaupt von einem Verhältnis sprechen konnte. Sie verdrängte ihre Zweifel ebenso wie den gelegentlich aufwallenden Selbstekel und die Abscheu davor, wie nüchtern sie diese immer gleichen sexuellen Handlungen vollzog. Sie erzählte niemandem davon, nicht mal ihren besten Freundinnen Henny und Annika – und zwar nicht nur, weil sie mit Arthur Stillschweigen vereinbart hatte. Sie wusste einfach nicht, wie sie diese Geschichte erklären sollte. Sie wusste ja nicht mal, wie sie das Ganze nennen sollte. Eine Affäre war es nicht. Eine Liebesbeziehung erst recht nicht. Dann schon eher ein Tauschhandel. Arthur brauchte diese nüchterne, sterile Form der Befriedigung und Mia brauchte das Geld. Und das Gefühl, etwas völlig Absurdes zu tun, etwas, das sich außerhalb ihres bisherigen Lebens befand und somit gut zu dem passte, was ihr neues Leben ausmachte: abgründiges Chaos. Was sie mit Arthur hatte, war ein einfacher Deal. Nur – wie sollte Mia das ihren Freundinnen begreiflich machen?

Es gelang ihr nicht, mehr über Arthur in Erfahrung zu bringen. Er sprach kein Wort über sich, und in den Räumen, die Mia zu Gesicht bekam, gab es keine Hinweise, keine privaten Fotos, keine Briefe, die herumlagen, nichts. An der Wohnungstür hing kein Namensschild. Gelegentlich befiel Mia noch dieses seltsam unbestimmte Gefühl, Arthur zu kennen, aber ihr fiel nie ein, woher. Es gab nur einen Weg, mehr über ihn zu erfahren: Sie musste ihn fragen.

Doch das schien unmöglich zu sein. Keine Fragen, hatte Arthur verlangt, und er selbst hielt sich in jeder Hinsicht daran. Die einzigen Fragen, die er ihr stellte, lauteten: »Was möchten Sie trinken?« und: »Wann kommen Sie wieder?« Es erschien Mia aussichtslos, diese Mauer des Schweigens zu durchbrechen.

Bei einem ihrer Besuche wagte sie doch eine Frage:

»Finden Sie nicht auch, dass es langsam mal Zeit wird, dass wir uns duzen?«

Arthur zog erstaunt die Augenbrauen zusammen. »Warum?«

»Na ja, Sie lassen hier regelmäßig die Hosen vor mir runter und wir werden sehr intim miteinander. Da ist so ein distanziertes Sie doch ziemlich fehl am Platz, oder nicht?«

»Ich lasse auch vor meinem Arzt die Hosen runter und duze ihn trotzdem nicht«, entgegnete Arthur. Er stand mit seinem Whiskyglas in der Hand am Fenster, sein Blick war verschlossen und abweisend. Mia trug ein knielanges, moosgrünes Baumwollkleid mit weiten Ärmeln, die Haare fielen ihr offen auf die Schultern. Sie sah schön und selbstbewusst aus und so fühlte sie sich auch. Arthur war der Letzte, von dem sie sich heute einschüchtern lassen würde. Kämpferisch reckte sie ihr Kinn vor.

»Ihr Arzt bläst Ihnen aber auch keinen, nehme ich an.«

Arthur drehte sich abrupt um und funkelte sie zornig an. Ärger schwang in jedem Wort mit, als er sagte: »Ich habe keine Lust, mit Ihnen solche Diskussionen zu führen. Dazu habe ich Sie nicht herbestellt.«

Mia wusste nicht, was sie davon halten sollte. Was zum Teufel war mit dem Mann los? War er total verrückt? Sie hatte eine harmlose, durchaus berechtigte Frage gestellt. Darauf durfte sie doch wohl eine anständige Antwort erwarten, sonst konnte sie genauso gut gehen.

Um Geduld bemüht entgegnete sie: »Es ist wohl nicht zu viel verlangt, dass Sie mir höflich antworten.«

»Schluss jetzt!«, bellte Arthur. »Wir sind einen Deal eingegangen, mehr nicht. Das ist eine rein geschäftliche Beziehung, in der irgendwelche gefühlsduseligen Anwandlungen nichts zu suchen haben.«

Mia hatte vor Empörung Mühe, ihre Stimme ruhig zu halten. »Das ist doch lächerlich! Und außerdem können Sie das auch in einem anderen Tonfall sagen. Vereinbarungen hin oder her, aber auch mit Geschäftspartnern sollte man anständig umgehen. Selbst wenn es sich dabei nur um die Putzfrau handelt. Oder die Schwanzlutscherin.« Das letzte Wort spuckte sie verächtlich vor Arthur aus.

Statt einer Antwort knallte er sein Glas auf den Tisch und stapfte mit wütendem Gesicht hinüber zu seinem Lieblingssessel.

»Können wir dann mal?«, knurrte er.

Mia blieb einen Moment lang reglos stehen und starrte ihn fassungslos an, wie er da saß, bereit, sie zu empfangen, trotz seines Zorns, der noch spürbar im Raum hing. Langsam drehte sie sich um und ging Richtung Tür.

»Wo wollen Sie denn jetzt hin?«, brüllte Arthur.

»Nach Hause. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich so weitermache. Ich bin nicht Ihr Fußabtreter, an dem Sie hemmungslos Ihren Frust auslassen können.«

Das Schweigen, das sich anschließend ausbreitete, schien mit Händen greifbar zu sein. Mia ging in den Flur, nahm ihren Mantel aus dem Garderobenschrank und zog ihn über. Sie hatte die Wohnungstür schon halb geöffnet, als sie Arthurs Stimme dicht hinter sich hörte, so ruhig und souverän wie meistens, dunkel und erregend wie immer.

»Wie lange kommen Sie jetzt schon zu mir, Mia?«

Die Frage überraschte sie. Sie schob die Tür wieder zu und drehte sich zu Arthur um. Sie bemühte sich, hinter dem attraktiven Gesicht den Menschen zu finden, der diesen Arthur ausmachte. Aber da war nichts als eine Maske, schön, aber kalt und hart, selbst in diesem Moment, in dem er sie offen ansah und ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmete.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Sieben, acht Wochen, schätze ich. Ich müsste in meinem Kalender nachsehen.« Noch während sie die Worte aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie mit ihrer Reaktion bestätigte, was Arthur behauptete: Sie hatten eine rein geschäftliche Beziehung, in der ein vertrauliches Du vollkommen fehl am Platz war. Was stellte sie sich überhaupt so an? War es wichtig, ob sie diesen seltsamen Menschen siezte oder duzte? Sie hatten sich doch sowieso nichts zu sagen.

»Sieben oder acht Wochen«, wiederholte Arthur bedächtig. »Warum haben Sie mich nicht schon vor acht Wochen darauf angesprochen, wie Sie gerne angeredet werden möchten?«

»Na ja, damals schien es mir noch unangemessen.«

»Und heute finden Sie es angemessener? Warum?« Arthurs Augen glänzten dunkel im Schein der Flurlampe. Er war blass und hatte tiefe Schatten unter den Augen. Schon die ganze letzte Zeit hatte er sehr erschöpft gewirkt, fand Mia. Vermutlich arbeitete er zu viel. Irgendwoher musste ja das viele Geld kommen. Arthur musterte sie auf eine Weise, die ihr Gesicht zum Glühen brachte.

»Ich weiß nicht«, stammelte sie verlegen. »Eigentlich ist nichts anders. Außer, dass wir uns seitdem ziemlich oft gesehen haben. Und … na ja, ich finde das alles irgendwie schräg.« Sie kam sich auf einmal unglaublich dumm vor. »Ich habe noch nie einen Mann gesiezt, den ich … na ja … Sie wissen schon …« Hilflos brach sie ab. Ihr Zorn verlor sich in dieser seltsamen Unsicherheit, die sie in Arthurs Nähe immer wieder befiel.

Arthur fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und lehnte sich gegen einen Türrahmen. Er lächelte plötzlich und sah dadurch auf einen Schlag viel jünger aus.

»Acht Wochen sind eine ziemlich lange Zeit. Wissen Sie, dass noch keine Frau so lange in diesem Job durchgehalten hat wie Sie?«

»Was?« Mia hob überrascht den Kopf. »Soll das heißen, Sie spielen dieses Spiel ständig wieder, in immer neuer Besetzung?«

»Könnte man so sagen, ja.«

Das war wirklich zu lächerlich! Mia sah Arthur herausfordernd an. Alle Unsicherheit war verflogen. »Haben Sie keine anderen Hobbys?«

»Wenige.«

»Vielleicht sollten Sie es mal mit Schach probieren. Das soll auch sehr entspannend wirken.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

Kampflustig standen sie einander gegenüber.

»Die Frauen …«, hakte Mia schließlich nach, »Warum gehen die alle immer wieder?«

Erneut fuhr Arthur sich mit der Hand durch die Haare. »Nun ja, nicht jede Frau hat Spaß an dieser sehr einseitigen Form von Erotik.« Er wirkte fast verlegen, als er fortfuhr. »Davon abgesehen finden sie mich vermutlich alle genauso unmöglich wie Sie.«

»Wenn Sie sich eine Professionelle holen, die für Geld alles macht, haben Sie das Problem nicht.« Mia war selbst überrascht von der Schärfe in ihrer Stimme.

Arthur ließ sich davon jedoch nicht beirren. Er sah so aus, als hätte er viel Erfahrung mit Frauen, auch mit Prostituierten. Er sah so aus, als hätte er überhaupt mit allem auf dieser Welt viel Erfahrung. Gelassen sagte er:

»Das ist nicht so mein Ding, wissen Sie.« Es folgte ein kleines Zögern, in dem seine Sicherheit ganz überraschend ein wenig bröckelte. «Ich finde die Situation so schon schwierig genug. Aber ich glaube, bei einer Prostituierten würde ich mich nur noch erbärmlicher fühlen.«

Mia konnte ihre Verblüffung nicht verbergen. Sie war bis jetzt davon ausgegangen, dass Arthur sich Frauen kaufte, wann und wie immer es ihm beliebte – so, wie er auch Mia gekauft hatte.

»Ja, da staunen Sie jetzt, was?«, bemerkte Arthur sarkastisch. »Der böse Arthur ist in Wahrheit auch nur ein Mensch.«

Mia grinste. »Das überrascht mich jetzt wirklich.«

Arthur nickte nachsichtig. »Spotten Sie nur. Das habe ich wohl nicht anders verdient. Aber ich sage Ihnen noch etwas, das Sie überraschen wird.« Sein Blick wurde weicher, fast freundlich. »Sie machen Ihre Sache wirklich gut. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie noch ein wenig bleiben würden.«

Seine Augen hielten Mia gefangen, unergründlich und faszinierend. Sie gab sich einen Ruck und zog den Mantel wieder aus. Arthur nahm ihn und warf ihn achtlos über ein Schränkchen im Flur.

»Bitte«, sagte er und wies mit einer Hand zum Wohnzimmer. »Ich habe ehrlich gesagt einen ziemlichen Druck auf der Leitung.«

Als er zu seinem Sessel ging, bemerkte Mia, dass er ein wenig steif und ungelenk lief. Vielleicht hatte er sich beim Sport überanstrengt. Oder beim Sex. Es war schließlich kaum denkbar, dass er immer nur so ruhige Nummern wie mit Mia schob.

Bevor Arthur sich in seinen Sessel setzte, sagte er in versöhnlichem Tonfall: »Falls es übrigens zur Förderung eines guten Betriebsklimas beitragen sollte, dürfen Sie mich ab sofort auch gerne duzen.«

Er schaffte es tatsächlich, Mia zum Lachen zu bringen.

Sie war überwältigt von seinem Druck auf der Leitung. Nach nur wenigen Berührungen mit den Fingern spürte sie seine Energie in ihrer Hand. Sie rieb ihn energisch, beugte sich vor, um ihn zu küssen, begierig, an seiner Kraft teilzuhaben, und plötzlich drängte Arthur ungestüm vorwärts, zog ihren Kopf tiefer zu sich herab und stieß in ihren Mund hinein, bevor sie das Wort Kondom auch nur denken konnte. Sie ließ ihn gewähren und gab sich seinem Rausch hin, umschloss ihn fest mit ihrem Mund, während er immer tiefer in sie eindrang, bis sie fast würgen musste. Er kam schnell und heftig, und sie spürte ihre eigene Erregung aufwallen, als sie seine Kraft in ihrem Mund pulsieren fühlte und seinen Samen schmeckte.

Anschließend verharrten sie noch eine Weile reglos beieinander. Mia hielt ihn fest umschlossen und fühlte seine Wärme. Erst allmählich löste sie sich behutsam von ihm. Dabei musste sie seine Hand zur Seite schieben, die immer noch auf ihrem Kopf ruhte. Arthur hielt die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Nur seine Brust hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Mia stand auf.

»Ich gehe mal kurz zur Toilette«, sagte sie leise.

Im Gäste-WC wusch sie sich Gesicht und Hände mit warmem Wasser und spülte den Mund kurz aus. Sie wusste selbst nicht, warum sie das tat. Sie hatte es zu ihrer eigenen Verwunderung überhaupt nicht eklig gefunden, als Arthur ungeschützt in ihrem Mund gekommen war, im Gegenteil, es hatte etwas geradezu verstörend Intensives gehabt.

Als sie zurückkam, stand Arthur bereits mit einem Whiskyglas in der Hand am Fenster. Ohne zu fragen, schenkte er ihr ebenfalls einen Whisky ein. Schweigend standen sie nebeneinander und schauten wie so oft auf die Elbe hinaus. Der Scotch brannte in Mias Kehle. Ihr gingen jede Menge Fragen durch den Kopf, doch sie stellte keine einzige mehr.

In der nächsten Zeit ließen sie die Kondome immer häufiger weg. Sie verloren nie ein Wort darüber, es geschah einfach, ganz natürlich und selbstverständlich. Diese kleine Abweichung ihrer üblichen Routine veränderte ihr Verhältnis erstaunlicherweise mehr als das eingeführte Du. Das Weglassen eines kleinen Gummis bewirkte, dass zwischen ihnen eine Nähe entstand, die sie bis dahin nicht gehabt hatten. Mia streifte flüchtig Arthurs Schulter, wenn sie an ihm vorbei ins Wohnzimmer ging. Arthur streichelte ihr Haar, während sie vor ihm kniete, und hin und wieder berührte er sogar leicht ihre Wange. Es waren überraschend zärtliche Berührungen, doch Mia war sich nicht sicher, ob Arthur sie auch so bewusst wahrnahm wie sie selbst. Oft verharrten sie nach seinem Höhepunkt noch eine Weile in ihren jeweiligen Stellungen, stumm miteinander verschmolzen. Manchmal dachte Mia, dass es jetzt eigentlich weitergehen müsse, dass dies nur der Auftakt zu viel mehr sei, aber es ging nie weiter. Irgendwann öffnete Arthur die Augen, Mia stand auf, und der Zauber war vorbei.

---ENDE DER LESEPROBE---