Das Haus der Medusa - Katharina Burkhardt - E-Book

Das Haus der Medusa E-Book

Katharina Burkhardt

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine tragikomische Geschichte über schrullige Nachbarn, Liebe und Hass, Sahnetörtchen und Zuckerguss. „Dieses Buch ist kein klassischer Krimi, aber auch kein echtes Drama und schon gar keine Komödie. Und doch ist es ein bisschen von allem.“ Zuckerbäckerin Florentine zieht in ein altes Haus in Hamburg, das von einer bewegten Vergangenheit erzählt. Im Erdgeschoss richtet sie begeistert ihr Café ein, in einem der Obergeschosse ihre Wohnung. Doch je länger sie in dem Haus wohnt, desto unheimlicher wird es ihr. Nach und nach entdeckt sie, dass alle ihre Nachbarn etwas verbergen, dass hinter jeder Tür Geheimnisse lauern. Dann gibt es einen Toten im Haus. Und bald darauf noch einen. Mit Florentines Ruhe ist es vorbei. Lebt sie etwa Tür an Tür mit einem Mörder oder einer Mörderin? Sie stellt Nachforschungen an – und verstrickt sich dabei selbst immer mehr in den Machenschaften ihrer Nachbarn. „Die Geschichte zieht einen sofort in ihren Bann, die Figuren sind sehr liebevoll gezeichnet und verbergen erstaunliche Geheimnisse. “ „Leicht und locker mit bittersüßem Schokoladenüberzug. Lesenswert!“ „Hier verweben sich die unterschiedlichen Schicksale einer Handvoll Frauen zu einer einzigen wunderbaren Geschichte, die für mich mit Abstand eine der besten ist, die ich in den letzten Jahren habe lesen dürfen.“ Dies ist die vollständig überarbeitete 2. Auflage des Romans, der bereits 2014 erschien.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2015

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Haus der Medusa
Impressum
Über dieses Buch
Über die Autorin
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
Januar
Februar
März
Epilog
Kontakt
Danksagung
Entstehungsgeschichte

 

 

 

Das Haus der Medusa

 

Katharina Burkhardt

Impressum

 

© 2014 Katharina Burkhardt

2. überarbeitete Auflage 2021

c/o Die Bücherfee

Karina Reiß

Heiligenhöfe 15 c

37345 Am Ohmberg

 

[email protected]

 

Lektorat: Beate Brown

 

Covergestaltung: A&K Buchcover

www.akbuchcover.de Bildnachweise:

[email protected]

[email protected]

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung der Autorin zulässig.

Dies gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen über das Internet.

Über dieses Buch

Bittersüß und dunkel wie Zartbitterschokolade.

 

Zuckerbäckerin Florentine zieht in ein altes Haus in Hamburg, das von einer bewegten Vergangenheit erzählt. Im Erdgeschoss richtet sie begeistert ihr Café ein, in einem der Obergeschosse ihre Wohnung. Doch je länger sie in dem Haus wohnt, desto unheimlicher wird es ihr. Nach und nach entdeckt sie, dass alle Nachbarn etwas verbergen, dass hinter jeder Tür Geheimnisse lauern.

 

Dann gibt es einen Toten im Haus. Und bald darauf noch einen. Mit Florentines Ruhe ist es vorbei. Lebt sie etwa Tür an Tür mit einem Mörder oder einer Mörderin? Sie stellt Nachforschungen an – und verstrickt sich dabei selbst immer mehr in den Machenschaften ihrer Nachbarn.

 

Eine tragikomische Geschichte über Frauen und Männer, über Liebe und Hass und die dunkelsten menschlichen Abgründe – verpackt in zuckersüße Sahnetörtchen, garniert mit rosa Liebesperlen.

 

„Dieses Buch ist kein klassischer Krimi, aber auch kein echtes Drama und schon gar keine Komödie. Und doch ist es ein bisschen von allem.“

Über die Autorin

Katharina Burkhardt wuchs in Bielefeld auf. Danach verschlug es sie in den Norden, sie verbrachte den größten Teil ihres Lebens in Hamburg und Lüneburg. Schon als Kind entstanden Geschichten in ihrem Kopf, die für sie manchmal lebendiger erschienen als das echte Leben. Aber es dauerte noch viele Jahre, bis sie sich ernsthaft der Schreiberei widmete. Zunächst studierte sie Angewandte Kulturwissenschaften und arbeitete als Medienpädagogin, Trainerin in der Erwachsenenbildung, Persönlichkeitscoach und für PR-Agenturen und Redaktionen. Nebenher entstanden Kurzgeschichten, Blogtexte und schließlich der erste Roman. Heute lebt sie in Hamburg und im Saarland und arbeitet als Autorin und Lektorin. Ihre Geschichten erzählen von eigensinnigen Frauen und ihrer Suche nach dem kleinen und großen Glück. Sie sind anrührend, witzig, sinnlich, gelegentlich abgründig und auch mal tieftraurig – wie das Leben halt so ist.

 

Fürchte den Bock von vorn,

das Pferd von hinten

und das Weib von allen Seiten.

(Anton Tschechow)

 

 

 

Eine Frau ohne Geheimnisse

ist wie eine Blume ohne Duft.

(Maurice Chevalier)

April

 

Florentine Stern mochte das alte Haus vom ersten Moment an. Es stand an der Ecke einer kaum befahrenen Kreuzung und bot der Welt beinahe trotzig seine massive Stirn. Die hellgrüne Fassade war mit Ornamenten und Säulen verziert, über der großen Eingangstür wachte unter der Jahreszahl 1882 der Kopf einer grimmig dreinblickenden Frau, und – das war überhaupt das Größte, wie Florentine fand – im ersten Stock stand zwischen zwei Fenstern in einer Nische eine überlebensgroße, bunt bemalte Gipsfigur, die unverkennbar Otto von Bismarck darstellte. Der Fürst, auf dessen Brust militärische Orden prangten, blickte streng über die Köpfe der Passanten hinweg. Eine Hand hatte er so angewinkelt, als würde sie segnend auf dem Kopf eines Kindes ruhen – oder über dem Haupt des Volkes schweben, das unsichtbar zu Füßen des Fürsten stand.

Florentine war begeistert. Dieses Haus erzählte Geschichten von vergangenen Zeiten. Es erzählte von Kriegen, von Eroberungen und Verlusten, als Altona sich noch unter dänischer Herrschaft befunden hatte, von einer Klassengesellschaft, in der in der Beletage die feinen Bürger residierten, während in den oberen Stockwerken mit den niedrigeren Decken und den kleineren Fenstern die armen Poeten und jungfräulichen Lehrerinnen lebten, von den Dienstboten ganz zu schweigen, die in winzigen Kammern direkt unter dem Dach hausten.

Nun war Florentine in eine dieser alten Lehrerinnenwohnungen gezogen. Dabei war sie weder Lehrerin noch Jungfrau. Aber die Zeiten hatten sich zum Glück geändert.

Florentine war Tortenbäckerin, und sie betrachtete voller Stolz das große Schaufenster im Erdgeschoss des Hauses. Das war– neben dem strengen Preußen – das Beste an diesem Haus, oder genauer: Der kleine Laden hinter diesem Fenster war das Beste. Von der Straße aus betrachtete sie zufrieden ihr Werk. Altstadt-Confiserie stand in großen, geschwungenen Lettern auf einem Schild über der Tür, und auf dem Glas des Schaufensters hieß es verheißungsvoll: Florentines süße Versuchungen.

Florentine legte die Hände in die Hüften, lachte und hob den Kopf. An einem Fenster über dem Laden bewegte sich rasch ein dunkler Schatten und verschwand dann aus ihrem Blickfeld. Irritiert starrte sie nach oben auf das dunkle Fenster. Einer ihrer Nachbarn wollte offenbar nicht gesehen werden, während er sie beobachtete.

Eine Windböe wirbelte über den Platz und trieb ihr feinen Regen ins Gesicht. Sie strich sich die langen Haare aus der Stirn, ging rasch in den Laden zurück und machte sich daran, die letzten Kartons auszupacken.

 

***

 

Sie fand, es war ein echter Glücksfall, Wohnung und Geschäftsräume im selben Haus mieten zu können.

»Du solltest besser einen Laden in Ottensen suchen«, hatten Freunde zu ihr gesagt. »Dort wirst du viel mehr Umsatz machen als in der Altstadt.«

Aber Gewerbeflächen in zentraler Lage waren für Florentine nicht erschwinglich. Sie hatte zwar von ihrer Patentante ganz überraschend eine beträchtliche Summe Geld geerbt und sich damit ihren Traum erfüllen können; ein größeres Risiko wollte sie dennoch nicht eingehen. Selbst hier in Altona-Altstadt, in dem kleinen Viertel zwischen Holstenstraße und Max-Brauer-Allee, waren die Mieten so beträchtlich, dass ihr schwindelig bei dem Gedanken wurde, wie viele Torten sie backen musste, um ihre Kosten decken zu können.

Mit Jakob zusammen wäre das alles natürlich etwas leichter gewesen, dachte sie und stopfte mit grimmiger Entschlossenheit leere Kartons in den Altpapiercontainer im Hof. Jakob, ja, dieser Mistkerl wäre sicher geschickter im Verkaufen gewesen. Er hatte ständig gute Ideen, war schnell in allem, was er tat, und besaß den nötigen Biss, um so einen Laden zum Laufen zu bringen. Leider hatte er jedoch nicht genug Biss besessen, Florentine die Treue zu halten. Er hatte nicht mal genug Biss besessen, sie rechtzeitig vorzuwarnen. Eines Tages erklärte er einfach, er müsse weg, ihm sei mit ihr alles zu eng und zu öde. Das eigene Café an der Nordsee sei doch im Grunde nur Florentines Traum gewesen, nicht seiner, ob sie das nie gemerkt habe? Er wolle mehr. Er wolle Abenteuer, Entdeckungen, Leben. Und so hatte er kurz vor Florentines dreißigstem Geburtstag seine Sachen gepackt und war von einem Tag auf den anderen zu Yvonne gezogen, einer sehr blonden, sehr lebenslustigen Frau.

»He, Sie müssen die Pappen in kleine Stücke reißen, sonst verstopfen Sie ja den ganzen Container.«

Florentine wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen und drehte sich erschrocken um. Hinter ihr stand Klaus-Dieter Nowitzki, ihr Vermieter. Er war Mitte siebzig, hochgewachsen, mit Halbglatze und Bart. Zornig funkelte er Florentine durch seine randlose Brille hindurch an und nahm ihr mit einer ruppigen Bewegung einen Karton aus der Hand. Demonstrativ zerriss er die Pappe in kleine Stücke, die er anschließend stapelweise in den Müll beförderte.

»Das Altpapier wird nur einmal im Monat geleert. Wenn Sie da jetzt Ihre ganzen Kartons einfach so reinschmeißen, ist die Tonne ja im Nu voll.« Er klang wie ein Lehrer, der ein Schulmädchen abkanzelte.

Florentine stammelte eine Entschuldigung und floh zurück in ihren Laden. Ihr war schon bei der Vertragsunterzeichnung aufgefallen, dass Herr Nowitzki ein schwieriger Mensch zu sein schien. Er war geradezu spitzfindig auf kleinsten Details des Mietvertrags herumgeritten und Florentine keinen Schritt entgegengekommen, sodass sie schließlich die Gewerberäume, die sich in einem schlechten Zustand befunden hatten, auf eigene Kosten renovieren ließ.

Im hinteren Ladenraum, der ihr als Backstube diente, gab es ein Fenster zum Hof hin, der ringsum von den angrenzenden Häusern umschlossen wurde. Eine Tür führte auf eine Terrasse hinaus, hinter der sich Beete und ein schmaler Grünstreifen erstreckten. Narzissen und Tulpen reckten ihre bunten Köpfe der Welt entgegen und hatten den Kampf mit Regen und Sturm aufgenommen, die dieser April ihnen bisher reichlich bescherte. In der Kastanie, die schon zum Nachbargrundstück gehörte, hockten zwei große Krähen. Herr Nowitzki stand immer noch an den Müllcontainern und wühlte in den Abfällen herum. Hatte er etwas verloren? Oder überprüfte er etwa, was seine Mieter für Abfall produzierten? Florentine fröstelte, und einen Moment lang wurde sie von der grauen Stimmung erfasst, die das Wetter erzeugte.

 

***

 

Die Eröffnungsfeier war rundum gelungen. Florentines Mutter reiste extra aus Husum an; ihr Vater lebte schon einige Jahre nicht mehr. Zwei alte Schulfreundinnen kamen und ein paar ehemalige Kollegen. Und natürlich Lisa, ihre beste Freundin. Von ihren neuen Nachbarn kam niemand. Dabei hatte Florentine ihnen allen eine Einladung in den Briefkasten geworfen.

Ihre Gäste tranken Sekt, aßen Törtchen und Mousse und wünschten Florentine Glück. Sie erhielt viel Lob für die Ausstattung des Ladens, den sie ganz im Stil der Fünfzigerjahre eingerichtet hatte. Die Theke mit den Vitrinenaufsätzen war ein Originalstück, genauso wie die beiden Cocktailsessel in der Ecke mit dem Nierentisch dazwischen. Die Geräte in der Backstube waren natürlich alle neu, doch Florentine zog auch hier das Design vergangener Zeiten vor. Es kam ihr zugute, dass Retro im Trend lag und sie keine Mühe hatte, Kühlschrank, Herd und Rührmaschine im nostalgischen Look zu erstehen. Sie selbst hatte zur Feier des Tages ein Kleid im Matrosenstil gewählt, mit blau-weiß-gestreiftem Oberteil und marineblauem Rock. Ihre braunen Haare umspielten ihr Gesicht jedoch nicht wie geplant in eleganten Wellen, sondern standen nach dem Einsatz von Lockenwicklern und Brennstab widerspenstig ab. Eine kleine rote Kappe, die schräg auf ihrem Kopf saß, verbarg geschickt, dass Florentines Frisur nicht annähernd so perfekt saß wie bei all den Retro-Models im Internet.

»Du siehst großartig aus«, versicherte ihr Lisa, als sie zum wiederholten Mal fragte, ob ihre Frisur nicht doch etwas missraten und der Rock zu eng sei. »Entspann dich endlich! Du hast hier etwas ganz Wundervolles geschaffen und es wird alles gut.«

»Ich hoffe es«, seufzte Florentine, zupfte ein wenig an ihrem Rock herum und machte sich daran, eine neue Ladung Petits Fours aus der Backstube zu holen.

 

***

 

Am nächsten Tag lud sie die übrig gebliebene Birnen-Tarte, die Joghurt-Himbeertörtchen, Vanillesahneröllchen und Eierlikörmousse auf eine Tortenplatte und ging im Haus von Tür zu Tür. Sie hatte allerdings offenbar eine ungünstige Zeit erwischt, denn die wenigsten Nachbarn öffneten ihr.

Im ersten Stock wohnten Nowitzkis auf der einen sowie Hanna und Nele Faber auf der anderen Seite. Florentine klingelte zuerst an der linken Tür bei Nowitzkis. Nach einer Weile vernahm sie ein leises, scharrendes Geräusch hinter der Tür, geöffnet wurde ihr aber nicht. Sie klingelte noch einmal. Das ganze Haus schien förmlich den Atem anzuhalten. Doch nichts geschah. Nebenan bei Fabers rührte sich noch weniger.

Florentine stieg die Treppe weiter hinauf. Im zweiten Stock wohnten laut Klingelschild A. Wengler in der einen Wohnung und Janssen und Köhler in der anderen. Bei Janssen und Köhler blieb die Tür verschlossen, bei A. Wengler wurde sie geöffnet. Vor Florentine stand eine ältere Frau mit blond gefärbten, kunstvoll aufgesteckten Haaren, rosa Pullover über üppigem Busen und dunkelblauer Bundfaltenhose. Ihre blauen Augen blitzten wach hinter einer modischen Brille, ihre Stimme war kräftig und hatte eine deutlich norddeutsche Färbung. Sie lachte herzlich, als sie das Tablett mit den Törtchen sah.

»Ach, unsere junge Konditorin. Das ist aber eine Überraschung!«

Florentine nannte ihren Namen, woraufhin die ältere Dame sich als Annemarie Wengler vorstellte. Sie bat Florentine in ihr Wohnzimmer, das ganz in Weiß gehalten war. Eine weiße Couchgarnitur nahm den halben Raum ein, an der Wand standen weiße Regale, die zur Hälfte mit Büchern, zur anderen Hälfte mit Vasen und Nippes gefüllt waren. Die Schiebetür zum Zimmer nebenan war geöffnet und Florentine erspähte ein Mädchen an einem runden Esstisch, das über seinen Hausaufgaben saß.

»Schau mal, Nele, was wir Leckeres kriegen!«, rief Frau Wengler und das Mädchen sprang von seinem Stuhl auf und kam herüber. Ihm schien eine Unterbrechung sehr gelegen zu kommen.

Nele war die Tochter von Hanna Faber und verbrachte öfter die Nachmittage bei Frau Wengler, wenn ihre Mutter arbeiten musste. Frau Wengler drängte Florentine, mit ihnen Kaffee zu trinken, und gemeinsam verputzten sie einen großen Teil der Köstlichkeiten. Annemarie Wengler war freundlich und lebhaft, Nele hingegen still und ernst.

»Kommen Sie gern jederzeit vorbei, wenn Sie Hilfe brauchen«, bot Annemarie Wengler zum Abschied an.

Florentine eilte bestens gelaunt zurück in die Confiserie, um Nachschub zu holen, bevor sie in die höheren Etagen hinaufstieg. Mona Reichenbach, ihre direkte Nachbarin, traf sie nicht an. Ganz oben unter dem Dach wohnten ein Henning Fischer und Schmidt-Rohlfs.

Florentine klingelte zuerst bei Herrn Fischer. Die Tür wurde energisch aufgerissen. Vor ihr stand ein Mann mittleren Alters mit sportlicher Figur, dunklen kurzen Locken und strahlenden braunen Augen, an denen Florentine fasziniert hängenblieb.

»Hallo!« Henning Fischer lachte amüsiert und zeigte dabei eine Reihe perfekter Zähne. Er schien es gewohnt zu sein, dass Frauen ihn anhimmelten.

Florentine wurde rot und stammelte verlegen etwas von wegen Einweihungsparty und neuer Nachbarin. Sie streckte Henning Fischer die Tortenplatte entgegen.

»Ach richtig, ja, deine Einweihungsfeier.« Er duzte Florentine ganz selbstverständlich, was ihr etwas zu vertraulich erschien. »Besten Dank für die Einladung. Tut mir leid, dass ich nicht vorbeikommen konnte, aber wir hatten in der Schule eine Konferenz, die sehr lange dauerte. Ich bin Lehrer«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu. »Und da ich bis morgen noch einen Stapel Klausuren korrigieren muss, habe ich jetzt leider auch gar keine Zeit.«

Die lebhaften Augen musterten Florentine so eindringlich, dass sie erneut errötete. Verlegen senkte sie den Blick – nur, um nun auf eine äußerst ansehnliche Männerbrust zwischen einem viel zu weit geöffneten Hemd zu starren. Ihr Blick flog zurück zum Gesicht dieses Adonis. Dort zu verweilen war unverfänglicher.

Ihr war selten ein Mann mit so viel Charisma begegnet. Der Platz in dem kleinen, alten Treppenhaus reichte kaum aus für so viel Lebendigkeit und Selbstsicherheit, Männlichkeit und Erotik. Henning Fischer war Florentine fast ein bisschen unheimlich.

Aus der Wohnung drang plötzlich ein leises Klirren. Henning Fischer drehte leicht den Kopf, dann sagte er rasch: »Weißt du was, ich komme einfach in den nächsten Tagen mal bei dir im Laden vorbei, jetzt passt es grade wirklich überhaupt nicht.«

Er griff sich zwei Stücke von der Birnen-Tarte, wobei Florentine feststellte, dass er sehr wohlgeformte, gepflegte Hände hatte. Er strahlte sie an, als sei sie die Frau seiner Träume, und schloss behutsam die Tür.

Florentine wandte sich der anderen Wohnung zu. Henning Fischers Zahnpastastrahlen verfolgte sie und sie fragte sich, warum er nicht einfach geradeheraus gesagt hatte, dass er nicht alleine zuhause war.

Während Henning Fischer vor Vitalität sprühte, trat Florentine nun dem Tod entgegen, das spürte sie in dem Moment, in dem Eileen Schmidt-Rohlfs ihr die Tür öffnete. Florentines Vater war an Krebs gestorben, und sie erkannte die Anzeichen sofort. Das Kopftuch, unter dem keine Haare hervorschauten, das magere Gesicht, die knochigen Hände mit den Hämatomen auf den Handrücken. Und Augen, die gelegentlich schon hinter den Horizont zu blicken schienen.

»Es ist Brustkrebs«, erklärte Eileen, nachdem sie sich in einem großen, alten Ohrensessel niedergelassen hatte. Florentine schob eine Wolldecke auf einem kleinen Sofa zur Seite und nahm dort Platz. Annemarie Wenglers Wohnung strahlte stilvolle Eleganz aus. Bei Eileen hingegen war alles klein und gemütlich. Sie hatte nur zwei Zimmer, die durch Schrägen und Dachbalken eng und winkelig wirkten. Bücherregale nahmen eine gesamte Wand ein und schmiegten sich in die Schräge. Ein Tischchen war mit weiteren Büchern und Zeitschriften beladen. Auf der anderen Seite hingen über einer Kommode viele gerahmte Fotos. Florentine schluckte.

»Aber man erzielt doch heute schon ganz gute Erfolge bei Brustkrebs«, sagte sie und bereute den Satz sofort.

Eileen lächelte. »Ja, meistens.«

Sie war Anfang vierzig, trug sportliche Kleidung und hatte immer noch ein junges, lebendiges Gesicht. Eileen bot Florentine sofort das Du an und wirkte damit nicht anbiedernd wie Henning Fischer, sondern spontan und unkompliziert. Sie beugte sich vor und musterte Florentines Tortenplatte.

»So was Feines habe ich schon ewig nicht mehr gegessen. Selbst wenn ich mal halbwegs Appetit habe, so wie im Moment, fehlt mir das Geld dafür.«

»Nimm dir bitte so viel du magst, ich kann die Sachen nicht verkaufen und müsste sie sonst wegwerfen«, sagte Florentine ermutigend. Sie wagte nicht nach weiteren Details über Eileens Situation zu fragen, es schien alles zu schrecklich und bedrückend zu sein. Eileen nahm sich ein kleines Joghurt-Himbeertörtchen und betrachtete es andächtig.

»Das ist ja fast so, als hätte ich Geburtstag.«

Behutsam biss sie in das Törtchen und schloss beim Essen die Augen.

 

***

 

Florentines eigene Wohnung war nicht so eng wie Eileens, aber auch nicht so herrschaftlich wie Frau Wenglers. Es gab keinen Balkon und die etwas niedrigeren Decken ließen die Wohnung kleiner erscheinen. Sie hatte jedoch auch drei Zimmer, von denen zwei bei geöffneter Verbindungstür ein Gefühl von Weite und Größe erzeugten.

Florentine favorisierte nicht nur für ihren Laden nostalgische Möbel, sie hatte auch für ihre Wohnung im Laufe der Jahre ein Sammelsurium an alten Stücken auf Flohmärkten erstanden und zum Teil selbst restauriert. Jetzt kamen die schönen alten Möbel endlich richtig zur Geltung. Im Wohnzimmer stand ein großer Biedermeierschrank. Das blaue Buffet in der Küche stammte aus den Dreißigerjahren. Der kleine Esstisch war vermutlich ungefähr so alt wie dieses Haus, ebenso einige der Stühle. Florentine hatte an den Fenstern bunte Vorhänge angebracht und auf ihrem breiten Sofa – eines der wenigen Stücke, das sie neu gekauft hatte – türmten sich Kissen in allen Farben. Obwohl im Schlafzimmer nach wie vor einige unausgepackte Kisten standen und an den Wänden noch keine Bilder hingen, sah es schon jetzt gemütlich bei Florentine Stern aus, und sie fühlte sich tagsüber sehr wohl in ihrem neuen Zuhause.

Nachts lag sie viel wach und lauschte in die Dunkelheit hinein. Sie hatte noch nie in so einem großen, alten Haus gewohnt und fand es ein wenig unheimlich, all die Geräusche zu hören, die sie nicht zuordnen konnte. Die uralten Holzdielen knarrten, es knackte im Gebälk, Stimmen schienen in dunklen Ecken zu wispern, seufzend und klagend. Sie stellte sich vor, dass nachts die Seelen der Menschen zum Leben erwachten, die früher in diesem Haus gelebt hatten und vielleicht sogar hier gestorben waren. Sie schienen sich mit den lebenden Menschen zu unterhalten, die vor Kummer und Sorge auch nicht zur Ruhe kamen, rastlos umhergingen oder in ihre Kissen weinten.

Florentine gewöhnte sich an, nachts das Flurlicht brennen zu lassen. Und sie gewöhnte sich ab, vor dem Einschlafen gruselige Filme zu sehen.

Mai

Nachdem es im April entsetzlich viel geregnet hatte, brachten milde Temperaturen Anfang Mai die Natur regelrecht zum Explodieren. Alles erblühte gleichzeitig, die Luft roch nach Frühling und der Himmel war wolkenlos und samtig. Das Thermometer kletterte auf siebenundzwanzig Grad. Die Menschen flogen aus an Elbe und Alster und eröffneten die Grillsaison. Torten und Sahneschnittchen waren da nicht gerade angesagt.

An Tagen wie diesen wurde Florentine unruhig. Würde sie es schaffen und sich mit ihrer Confiserie hier in dieser stillen Seitenstraße behaupten? Vielleicht hätte sie doch mutiger sein und weiter nach Ottensen ziehen sollen. Oder nach St. Pauli, wo es von Touristen wimmelte und die Mieten sicher auch bezahlbar waren.

Um sich zu beruhigen, ging sie in die Backstube, rieb Zitronenschale und rührte Butter und Zucker schaumig. Beim Backen entspannte sie sich. Die Konzentration auf die vielen, kleinen Handgriffe, die sie verrichten musste, die Arbeit mit frischen Produkten von unterschiedlichster Konsistenz und nicht zuletzt die vielfältigen Gerüche gaben ihr Ruhe und Sicherheit.

Florentine liebte Zitronenkuchen, weil er schlicht, aber raffiniert war, fruchtig-frisch und dennoch trocken und lange haltbar. Doch ihre Kunden hatten ihren eigenen Kopf, und gerade Zitrone war sehr umstritten, sie wurde von vielen Leuten regelrecht verachtet. Vor allem Männer mochten überhaupt keinen Zitronenkuchen. Aber Männer waren ohnehin schwerer für Süßes zu begeistern als Frauen.

Florentine ließ sich davon nicht abschrecken, sondern backte einen Zitronenkuchen in einer großen Gugelhupfform. Gerade an diesen ersten heißen Tagen des Jahres fand sie Zitrone besonders erfrischend. Und die Zitronenliebhaber gaben ihr recht. Der Zitronenkuchen und die Törtchen mit weißer Schokolade waren das Einzige, was sie heute halbwegs verkaufte.

Sie rückte gerade die letzten Törtchen zusammen, als Henning Fischer seinen Kopf zur Confiserie hereinsteckte. Er strahlte Florentine an, als würde er dafür bezahlt. Nervös strich sie sich eine Locke aus dem Gesicht und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

»Ich hätte gern einen Kaffee.« Henning Fischer lehnte sich lässig gegen die Theke. Er sah noch umwerfender aus als bei ihrer letzten Begegnung – sofern das überhaupt möglich war. Unter einem eng anliegenden T-Shirt zeichnete sich ein durchtrainierter Körper ab und Gesicht und Arme waren so braun gebrannt, als sei das Wetter nicht erst seit vier Tagen schön, sondern bereits seit vielen Wochen.

Florentine fand auf einmal, dass ihre Shorts eine Spur zu kurz waren und viel zu viel ihrer bleichen, untrainierten Oberschenkel preisgaben. Sie hatte nie eine Modelfigur besessen, war bereits als Kind etwas mollig und hatte sich später zu einer jungen Frau mit üppigen Rundungen entwickelt. Jakob hatte sie dafür geliebt und Florentine machte sich nie nennenswerte Gedanken über ihre Figur. Doch seit Jakob sie wegen der schlanken, sehr sportlich wirkenden Yvonne verlassen hatte, zweifelte sie immer häufiger an sich selbst.

Jetzt bemühte sie sich, all ihre Konzentration aufs Kaffeekochen zu lenken und hoffte, dass Henning Fischer sie nicht allzu genau musterte. Er schien zum Glück auch eher an ihren Backkünsten interessiert zu sein.

»Kannst du was empfehlen?« Neugierig beugte er sich über die Kuchenvitrine.

»Zitronenkuchen«, antwortete Florentine prompt. »Oder die Törtchen mit weißer Schokolade. Die sind bei diesem Wetter der Renner.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Die Leute bilden sich offenbar ein, dass weiße Schokolade wegen der hellen Farbe leichter und bekömmlicher ist als Vollmilch- oder Zartbitterschokolade.«

»Und? Ist sie es?«

»Nein.«

Henning Fischer lachte, bestellte dann aber doch lieber ein Stück Käsequarkkuchen und erfüllte den ganzen Raum mit seinem Charme und Aftershave.

»Du hast wirklich einen tollen Laden«, sagte er anerkennend und Florentine spürte zu ihrem eigenen Ärger, dass sie rot wurde.

Zum Abschied sah er ihr tief in die Augen. »Vielleicht darf ich mich ja gelegentlich mal mit einem Kaffee bei mir oben unterm Dach revanchieren.«

Sie wurde erneut rot, stammelte etwas von »wenig Zeit« und »mal sehen«, und atmete erleichtert auf, als Henning Fischer in den Frühlingsabend entschwand.

 

***

 

An einem dieser warmen Maitage lief Florentine in ihrer Mittagspause schnell hinüber auf den Wochenmarkt in der Großen Bergstraße, einer Einkaufsstraße, die ihre glanzvollen Zeiten lange hinter sich hatte und der nun durch zahlreiche Bauvorhaben zu neuem Ansehen verholfen werden sollte. Der Baulärm lag wie ein schwerer Klangteppich über dem Viertel. Florentine schlängelte sich zwischen türkischen Frauen mit bunten Kopftüchern und ärmlich gekleideten Rentnern an den Marktständen entlang. Sie erstand einen Strauß Tulpen, Erdbeeren und ein Pfund Spargel aus der Lüneburger Heide.

Als sie nach Hause zurückkam, traf sie Nele Faber, die einen großen Rucksack trug. Nele hatte den Kopf schief in den Nacken gelegt und schaute die Fassade hinauf. Florentine folgte ihrem Blick und blieb an dem grimmig aussehenden Frauenkopf über dem Türbogen hängen.

»Die guckt ganz schön böse, was?«

»Ja, aber das ist gut so.« Nele war offenbar nicht sonderlich beeindruckt.

»So? Warum denn?«

»Das ist doch die Medusa«, erläuterte Nele altklug. »Die war früher eine wunderschöne Frau, aber dann hat jemand sie mit einem Mann im Tempel erwischt, und daraufhin wurde sie in so ein hässliches Monster verwandelt, das auf dem Kopf keine Haare hat, sondern Schlangen.«

Florentine starrte angestrengt nach oben. Sie vermochte nicht auszumachen, ob diese dicken Strähnen, die sich um das Gesicht der Frau kringelten, tatsächlich Schlangen waren. Aber an die alten griechischen Mythen erinnerte sie sich vage.

»Die Medusa sah so grässlich aus, dass die Leute bei ihrem Anblick zu Stein erstarrten«, fuhr Nele fort. »Na, und irgend so ein Gott fand es natürlich gar nicht gut, dass die so viel Macht hatte, und darum hat er ihr den Kopf abgehauen und den immer als Schutz gegen seine Feinde mit sich rumgetragen.«

Richtig, dachte Florentine, so ging der Mythos weiter. Darum hatten in der Antike viele Häuser zur Abwehr von Bösem ein Medusenhaupt über dem Eingang hängen. Und im 19. Jahrhundert, in dem man gerne die alten Epochen kopierte, war diese Tradition wieder in Mode gekommen. Florentine staunte darüber, was Nele alles wusste.

»Wer hat dir das denn erzählt?«

»Meine Mutter. Die arbeitet in einer Bibliothek und weiß ganz viel.« Neles Wangen glühten vor Stolz.

»Und warum erstarren wir jetzt nicht zu Stein? Warum werden nur die Fremden bestraft?«

»Das ist doch ganz einfach.« Nele glühte noch mehr. »Uns gehört die Medusa und darum muss sie uns beschützen.«

Florentine lächelte. Es war wirklich alles ganz einfach. Dann ging ihr auf, dass Nele gar nicht wegen der Medusa angestrengt am Haus emporgeschaut hatte. Es stellte sich heraus, dass ihre Mutter wider Erwarten nicht auf ihr Klingeln reagierte und Frau Wengler auch nicht da zu sein schien. Nun versuchte Nele zu ergründen, warum ihre Mutter nicht öffnete.

»Hast du denn keinen Schlüssel?«, fragte Florentine verwundert. Nele war elf Jahre alt und ging in die fünfte Klasse, da würde sie doch über einen eigenen Schlüssel verfügen und auch mal allein in der Wohnung sein können. Nele zögerte und ihr Blick wurde ein wenig unsicher.

»Doch, schon. Aber wenn meine Mutter da ist und trotzdem nicht die Tür aufmacht, gehe ich lieber nicht rein, denn dann will sie meistens allein sein.«

Die Mutter wollte nicht, dass ihr Kind nach Hause kam? Florentine verbarg ihr Entsetzen und musterte Nele nachdenklich. Sie war ein ernsthaftes Mädchen mit blasser Haut und strohblonden, glanzlosen Haaren, die ihr lang über die Schultern fielen. Ihre grünen Augen funkelten jedoch lebhaft in der Mittagssonne. Florentine schlug Nele vor, eine Weile mit in die Confiserie zu kommen. Dankbar willigte das Mädchen ein, setzte sich auf die Terrasse im Hof, auf der Florentine einen Holztisch und Stühle aufgestellt hatte, aß frische Erdbeeren und spielte mit ihrem Handy herum. Später schaute sie zu, wie Florentine Brownies backte und gelegentlich einen Kunden bediente.

Wie immer vergaß Florentine beim Backen die Zeit.

---ENDE DER LESEPROBE---