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Der Mörder ihrer Mutter wurde nie gefasst. Jetzt scheint er erneut zu töten. Eine Frau Mitte dreißig, nackt und erstochen auf dem Küchenboden – aufgefunden von ihrer 12-jährigen Tochter. Als Polizeireporterin Harper McClain den Tatort sieht, hat sie nur einen Gedanken: Das grausame Szenario ist identisch mit einem anderen Mord. Dem an ihrer Mutter. Seit fünfzehn Jahren quält sie der Gedanke, dass der Killer noch immer auf freiem Fuß ist. Nun scheint er wieder zugeschlagen haben. Es gibt keine Fingerabdrücke, keine DNA, keine Spuren. Harper ist entschlossen, die Wahrheit endlich ans Licht zu bringen. Doch die hat ihren Preis.
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Seitenzahl: 518
Christi Daugherty
Echo Killer
Thriller
Aus dem Englischen von Inka Marter
Ihr Verlagsname
Der Mörder ihrer Mutter wurde nie gefasst. Jetzt scheint er erneut zu töten.
Eine Frau Mitte dreißig, nackt und erstochen auf dem Küchenboden – aufgefunden von ihrer 12-jährigen Tochter. Als Polizeireporterin Harper McClain den Tatort sieht, hat sie nur einen Gedanken: Das grausame Szenario ist identisch mit einem anderen Mord. Dem an ihrer Mutter. Seit fünfzehn Jahren quält sie der Gedanke, dass der Killer noch immer auf freiem Fuß ist. Nun scheint er wieder zugeschlagen haben. Es gibt keine Fingerabdrücke, keine DNA, keine Spuren. Harper ist entschlossen, die Wahrheit endlich ans Licht zu bringen. Doch die hat ihren Preis.
Christi Daugherty arbeitete jahrelang als Gerichtsreporterin für die New York Times und die Nachrichtenagentur Reuters, u.a. in Savannah und New Orleans. Für ihre investigativen Reportagen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Als Jugendbuchautorin wurde sie mit der Bestsellerreihe «Night School» bekannt, die in 24 Ländern erscheint. Mit «Echo Killer», ihrem ersten Thriller für Erwachsene, kehrt sie zu ihren Wurzeln zurück. Die Autorin lebt mit ihrem Mann, einem Filmproduzenten, in Südengland.
Für Loyall Solomon. Der mir den ersten Zeitungsjob gab.
Und alles veränderte.
Es war eine dieser Nächte.
Zuerst gab es noch Hoffnung – ein paar Messerstechereien, ein Autounfall mit Potenzial. Aber die Verletzungen waren nur oberflächlich und der Unfall reine Routine. Danach blieb es ruhig.
Und eine ruhige Nacht ist wirklich das Schlimmste, was einer Polizeireporterin passieren kann.
Nur eine Stunde vor der Deadline um Mitternacht saß Harper McClain in der leeren Redaktion. Sie hatte keine Story zu schreiben und machte etwas, das sie wirklich, wirklich hasste – ein Kreuzworträtsel.
In den hohen Fenstern spiegelte sich dunkel der große Raum mit den weißen Säulen und den Reihen leerer Schreibtische, aber Harper achtete gar nicht darauf. Sie starrte auf die Zeitung auf ihrem Schreibtisch, und die verschmierten und durchgestrichenen Buchstaben starrten vorwurfsvoll zurück.
«Wozu braucht man bitte ein Wort mit zwölf Buchstaben für leichtfertigen Wagemut?», schimpfte sie grummelnd. «Ich kenne ein perfektes Wort für Wagemut mit sieben Buchstaben. Es heißt Wagemut. Was soll ich mit einem längeren …»
«Verwegenheit», erklang es vom Schreibtisch der Redakteurin am anderen Ende des Raums.
Harper sah auf.
Lokalredakteurin Emma Baxter schien sich auf den Monitor ihres Computers zu konzentrieren. Der teure silberne Kuli glitzerte in ihrer Hand wie ein kleiner Degen.
«Bitte?»
«Wort mit zwölf Buchstaben für leichtfertigen Wagemut.» Baxter sprach ohne den Blick vom Monitor zu wenden. «Verwegenheit.»
Baxter ging mal schneller, mal weniger schnell auf die fünfzig zu. Sie war klein und drahtig, weshalb ihr der marineblaue Blazer besonders gut stand. Und selbst der ständige Ausdruck vager Unzufriedenheit auf ihrem markanten Gesicht sah irgendwie gut aus. Alles an ihr war akkurat – die gleichmäßig kurzen Fingernägel, die steife Körperhaltung – und an der rasiermesserscharfen Unterkante ihres dunklen Bobs konnte man sich praktisch den Finger schneiden.
«Woher wissen Sie das?» Es lag keine Dankbarkeit in Harpers Stimme. «Oder besser gesagt, warum wissen Sie das? Es ist etwas grundsätzlich schräg an einer Person, die so eine Frage beantwortet, ohne Selbstmordgedanken zu –»
Der Polizeifunkscanner auf dem Schreibtisch erwachte krächzend zum Leben. «Hier Einheit 3-9-7. Wir haben einen Code 9, möglichen Code 6.»
Harper verstummte, neigte den Kopf und lauschte.
«Ich bin bereit, Ihnen die freche Antwort dieses Mal noch zu verzeihen», sagte Baxter großzügig. Aber Harper hatte die Verwegenheit schon wieder vergessen.
Ihr Handy brummte und sie ging ran.
«Miles», sagte sie. «Hast du die Schüsse mitgekriegt?»
«Jepp. Endlich ist was los. In fünf Minuten vor der Tür.» Sein Tennessee-Akzent überzog die Worte mit warmem Honig.
Harper schnappte sich ihre Sachen. Sie klippte den Funkscanner an den Bund ihrer schwarzen Hose, zog eine leichte schwarze Jacke über und schob den schmalen Notizblock und den Stift in die eine, den Presseausweis und das Telefon in die andere Tasche.
Dann rannte sie los.
Baxter hob fragend eine Augenbraue.
«Schüsse auf der Broad Street», rief Harper. «Möglicherweise Verletzte. Ich fahre mit Miles hin.»
Baxter griff nach dem Telefon, um am Redaktionstisch Bescheid zu geben.
«Wenn ich die Titelseite frei halten soll, muss ich es spätestens um halb zwölf wissen.»
«Ach was.»
Harper war schon in dem breiten, hell erleuchteten Flur, der zur Treppe führte. Hinter sich hörte sie noch die Worte ihrer Redakteurin.
«Wenn Sie zurück sind, sollten wir uns mal über Ihren Umgangston unterhalten.»
Baxters Lieblingsdrohung. Harper wusste, sie musste sich keine Sorgen machen.
Der müde aussehende Wachmann an der Rezeption sah nicht einmal von seinem kleinen Fernseher auf, als sie ungeduldig auf den grünen Türöffner schlug und hinaus in die feuchtheiße Dunkelheit trat.
Es war Mitte Juni und glühend heiß. Nachts war es zwar angenehmer, aber nur ein bisschen. Im Augenblick war die Luft samtweich und so dick, man könnte eine Gabel reinstechen und sie würde steckenbleiben. Es war nicht die übliche Luftfeuchtigkeit von Savannah – es war, als müsste man unter Wasser atmen.
Ein Sommerregen in Georgia kann ziemlich bedrohlich sein. Er kann dein Auto, dein Haus und deine Hoffnungen und Träume hinwegspülen, und Harper warf einen Blick auf die Wolken, die über die Mondsichel flitzten, als könnten die ihr sagen, wann der Regen endlich fallen würde. Aber der Himmel verriet nichts.
Die Zeitung befand sich in einem hundert Jahre alten, verwinkelten, dreistöckigen Gebäude, das einen halben Block auf der Bay Street einnahm – nah genug am träge dahinfließenden Savannah River, um den grünen Flussgeruch wahrzunehmen und die dröhnenden Maschinen der Containerschiffe zu hören, die langsam Richtung Meer tuckerten. Der Neonschriftzug «DAILY NEWS» leuchtete rot auf dem Dach und war wahrscheinlich mit das Letzte, was die Seeleute sahen, bevor sich der Atlantik vor ihnen ausbreitete.
Ein Stück die Straße hinunter glänzte selbst um diese Zeit noch die goldene Kuppel des Rathauses, und durch eine Lücke zwischen den Gebäuden sah man die Kopfsteinpflastergasse, die zum Ufer führte.
Harper hatte immer in Savannah gelebt und achtete schon seit Ewigkeiten nicht auf Sehenswürdigkeiten wie die typische klassizistische Südstaatenarchitektur, die begrünten Plätze und die zahllosen Denkmäler für die unseligen Generäle des Sezessionskriegs.
Das alles war einfach da, und auch jetzt würdigte sie es keines Blickes, während sie ungeduldig mit dem Fuß wippte. Der Funkscanner an ihrer Hüfte krächzte. Ambulanzen wurden gerufen. Verstärkung angefordert.
«Jetzt komm schon, Miles», flüsterte sie und sah auf die Uhr.
Es war so ruhig, dass sie das leise Heulen der Sirenen in der Entfernung hörte, als endlich ein schwarz glänzender Mustang um die Ecke bog und mit blendenden Scheinwerfern auf sie zuraste. Er bremste direkt vor ihrer Nase und ließ den Motor aufheulen. Harper riss die Tür auf und sprang auf den Beifahrersitz.
«Fahr schon», sagte sie und schnallte sich an.
Mit quietschenden Reifen brausten sie davon.
Im Innenraum des Mustang herrschte Stimmengewirr. Miles trug einen Funkscanner am Gürtel, hatte einen zweiten fest an der Stelle montiert, wo normalerweise das Radio war, und einen dritten hinter dem Schaltknüppel befestigt. Jeder war auf einen anderen Kanal eingestellt: einer überwachte die Hauptfrequenz der Polizei, einer die Nebenfrequenz, die die Cops für Privatgespräche nutzten, und der dritte war auf die Rettungsdienste und die Feuerwehr eingestellt.
Es war, als käme man in einen kleinen, überfüllten Raum, in dem zwanzig Personen gleichzeitig redeten. Harper war es gewohnt, aber sie brauchte immer einen Moment, bis sie aus dem Durcheinander etwas heraushören konnte.
«Was haben wir?», fragte sie und runzelte die Stirn.
«Nichts Neues.» Miles hielt den Blick auf die Straße gerichtet. «Ambulanz ist unterwegs. Sie warten auf ein Update.»
Miles Jackson, Fotograf, war groß und schlank, hatte dunkle Haut und gepflegtes, kurzgeschorenes Haar. Bis man vor ein paar Jahren alle Fotografen entlassen hatte, war er bei der Zeitung angestellt gewesen. Seitdem arbeitete er freiberuflich und machte alles, was Geld brachte. An Samstagen fotografierte er nachmittags manchmal eine Hochzeit und in der Nacht dann einen Mord.
Er hatte ein cooles, bitteres Lächeln und einen rasanten Fahrstil. Sie waren etwa doppelt so schnell wie erlaubt, als sie in die Oglethorpe Avenue einbogen und der Wagen leicht ausscherte.
Leise fluchend kämpfte Miles mit dem Lenkrad.
«Fährt die Karre nicht schneller?», fragte Harper trocken und hielt sich an der Handschlaufe über der Tür fest.
«Sehr witzig», erwiderte Miles durch die zusammengebissenen Zähne, aber er hatte den Wagen schnell wieder unter Kontrolle.
Sie rasten am Forsyth Park mit dem großen Marmorspringbrunnen vorbei, der das Wasser in Form eines Reifrocks in ein steinernes Becken spie. Harper legte den Kopf schief und lauschte den Scannern.
«Weiß man, wo die Schützen hin sind?», fragte sie.
Miles schüttelte den Kopf. «Sind in irgendwelchen Sozialbauten verschwunden.»
In diesem Augenblick meldete sich der Scanner für polizeiliches Privatgeplauder. Eine grabestiefe Stimme brummte: «Hier 1-4. Einheit 3-9-7, womit haben wir es zu tun?»
Miles und Harper tauschten einen Blick. 14 war der Code, den Lieutenant Robert Smith benutzte, der Chef der Kriminalpolizei. Miles drehte bei den anderen beiden Scannern die Lautstärke runter.
«Lieutenant, wir haben einen Toten, zwei sind verletzt und müssen ins Krankenhaus», antwortete der Beamte vor Ort. Durch die Aufregung war seine Stimme eine Oktave höher geklettert. Er sprach so schnell, dass Harper sich fast von seinem Adrenalinrausch anstecken ließ. «Gangmitglieder. Drei Schützen, alle flüchtig.»
Harper verlor keine Zeit und zog ihr Telefon aus der Tasche. Baxter ging beim ersten Klingeln ran.
«Es ist Mord», sagte Harper ohne Einleitung. «Könnte aber ein Bandenstreit sein.»
«Mist.» Sie konnte hören, wie die Redakteurin mit dem silbernen Kuli auf die Schreibtischplatte trommelte. Taptaptaptaptap. «Rufen Sie an, sobald Sie mehr wissen.» Die Verbindung brach ab.
Harper lehnte sich zurück und schob das Telefon wieder in die Tasche.
«Falls der Tote in einer Gang ist, kommt die Story nicht auf die Titelseite.»
«Dann hoffen wir mal, dass es sich bei unserem Opfer um eine unschuldige Hausfrau handelt», bemerkte Miles, als sie in die Broad Street einbogen.
Harper nickte und sah auf die Straße. «Noch dürfen wir träumen.»
Auf alten Karten von Savannah ist die Stadt ein absolut symmetrisches Raster gerader Linien, so gerade wie von einem Zwangsgestörten gemalt, und die Broad Street liegt im äußersten Osten. Außerhalb dieses Rasters gibt es in alle Richtungen nur dunkle, grüne Leere, die in der präzisen Schönschrift der Kartographen des 19. Jahrhunderts als «Alte Reisfelder» identifiziert wird.
Das geordnete Raster ist weitgehend unverändert geblieben, nur die Reisfelder sind inzwischen verschwunden und durch unschöne Wucherungen ersetzt worden. Die Broad Street war die Trennscheide zwischen dem prachtvollen, alten Postkarten-Savannah und dem Teil der Stadt, in dem Harper und Miles meist ihre Nachtschichten verbrachten.
Auf ihrem Weg Richtung Osten verschwanden nach und nach die großen alten Häuser und die mit der grauen Spitze des Spanischen Mooses behängten Bäume. Stattdessen sah man abplatzende Farbe, verwilderte Gärten und billige Metallzäune.
Keine begrünten Plätze lockerten die dichte Bebauung dieses Viertels auf. Keine Springbrunnen unter Eichen. Stattdessen baufällige Mietshäuser, in denen sich Menschen in hässlichen kleinen Wohnungen stapelten, und das alles hinter maroden Gehwegen und beleuchtet von den grellen Neonreklamen der Fast-Food-Ketten und Discounter.
Hier draußen war einiges los auf der Straße – Drogendealer machten gute Geschäfte um diese Zeit.
Miles’ Hände lagen ruhig auf dem Lenkrad, sein Blick schweifte jedoch wachsam über die umliegenden Gebäude. Er war in den Vierzigern, also älter als Harper. Die Fotografie war seine zweite Karriere. Vor Jahren hatte er in Memphis ein ganz anderes Leben geführt.
«Ich hab im Büro gearbeitet», hatte er ihr einmal erzählt, während er eine seiner Kameras auseinanderbaute. «War ein echter Sesselfurzer, aber hab gut verdient. Ich hatte alles, großes Haus, schöne Frau … Aber es war einfach nicht meins.»
Er hatte immer gern fotografiert und wusste, dass er ein gutes Auge hatte. Eines Tages hatte er sich für einen Kurs angemeldet. Einfach weil er Lust hatte.
«Und dann war’s wie ein Zwang.»
Innerhalb eines Jahres hatte er seinen Job hingeschmissen, seine Frau verlassen und ganz von vorn angefangen.
Er war mal geschäftlich in Savannah gewesen und hatte es nie vergessen, sagte er. Die ruhige Lebensart. Die liebliche, süße Schönheit der Stadt. Die lange Kurve des Flusses. Es war ihm wie im Märchen vorgekommen. Also war er hergezogen, um seinen Traum zu leben.
Sie hatten beide im selben Jahr bei der Zeitung angefangen. Harper als Volontärin, Miles als Fotograf in der Nachtschicht. Und selbst nach sieben Jahren sah er die Stadt noch mit den Augen eines Fremden. Er liebte die gemütlichen Cafés und die Kellnerinnen, die ihn «Süßer» nannten. Er fuhr gern bei Sonnenuntergang nach Tybee Island raus oder setzte sich einfach nur auf eine Bank an der River Street und sah den Schiffen zu. Harper konnte sich nicht erinnern, wann sie so etwas das letzte Mal getan hatte. Für sie war die Stadt einfach ihr Zuhause.
Vor ihnen flackerte die Straße im rotierenden Blaulicht wie eine unheilvolle Disco.
«Da wären wir», murmelte Miles und stieg auf die Bremse. Harper sah angestrengt ins Licht und zählte vier Streifenwagen und mindestens drei Zivilfahrzeuge. Hinter ihnen näherte sich mit heulender Sirene eine Ambulanz, und Miles fuhr rechts ran, um sie vorbeizulassen.
«Wir lassen den Wagen besser hier stehen», entschied er und machte den Motor aus.
Harper sah auf die Uhr. Es war 23 Uhr 12. In 18 Minuten musste sie Baxter mitteilen, ob sie die Titelseite frei halten sollte. Das altvertraute Herzklopfen setzte ein. Irgendwie hatte sie eine Macke, wenn es um Mord ging. Manche behaupteten, sie sei besessen. Aber sie hatte ihre Gründe. Gründe, über die sie nicht gern sprach.
Miles stieg aus und holte seine Ausrüstung aus dem Kofferraum, aber Harper konnte nicht warten.
«Wir treffen uns dort.»
Sie sprang aus dem Wagen und rannte, Notizblock in einer Hand, Stift in der anderen, auf das Blaulicht zu.
Die feuchtwarme Luft roch nach Abgasen und etwas anderem – metallisch und schwer zu definieren. Vielleicht Angst.
Das Blaulicht blendete in der Dunkelheit. Erst als sie an den Polizeiwagen vorbei war, sah Harper die Leiche auf der Straße. Wenn Menschen im Laufen erschossen werden, fallen sie hart. Die Beine in einem unnatürlichen Winkel verdreht, die Arme über dem Kopf, die Kleidung um den Körper verzogen – sie sehen aus wie vom Himmel gefallen. Dieser Typ war eindeutig gerannt, als die Kugel ihn getroffen hatte.
Harper notierte, was sie sah. Jeans und Nikes, ein schlabbriges T-Shirt, das an dem mageren schwarzen Körper hochgerutscht war. Ein großer Blutfleck bildete einen unregelmäßigen Kreis auf dem Pflaster unter der Leiche. Das Gesicht war nicht zu sehen.
Nicht weit weg parkte die Ambulanz. Die Hecktüren waren geöffnet, und aus dem Innenraum fiel Licht auf die Straße. Die Sanitäter behandelten die beiden noch lebenden Opfer – sie hängten Flüssigkeiten an und hinderten andere Flüssigkeiten daran, auszulaufen. Wobei sie damit spät dran waren. Überall war Blut.
Die beiden Verwundeten sahen aus wie Teenager. Der, der näher zu ihr lag, hatte noch richtig Babyspeck im Gesicht. Angezogen waren sie genau wie der Tote – T-Shirt, Jeans, die gleichen Nikes.
Harper machte sich Notizen, aber hielt Abstand. Versuchte, unsichtbar zu bleiben.
Auf der anderen Straßenseite tauchte jetzt Miles auf und hockte sich hin, um die Leiche zu fotografieren. Das war gar nicht so einfach, denn wenn der Typ zu tot aussah, würde die Zeitung das Foto nicht drucken. Also richtete er das Objektiv auf die Hand des Typen – ein Finger war ausgestreckt und zeigte auf etwas, das nun für immer verloren war.
Ein Stück weiter hinten nahm Harper jetzt Bewegung wahr. Zwei Männer in billigen Anzügen gingen langsam, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie lauschten einem uniformierten Streifenpolizisten, der lebhaft redete und auf etwas zeigte.
Wenn man den Bogen erst mal raus hatte, waren Kriminalpolizisten leicht zu erkennen. Harper passte auf, nicht in irgendwelches Blut zu treten, und ging unauffällig am Straßenrand in ihre Richtung.
Sie kannte die Männer von früheren Tatorten. Detective Ledbetter war klein und beleibt, mit schütterem Haar und einem freundlichen Lächeln. Der zweite Detective war Larry Blazer. Er war groß und dünn, hatte dunkelblondes Haar, das elegant ergraute, unwiderstehliche Wangenknochen und Augen so hart wie Kupfermünzen. Die Fernsehjournalistinnen standen alle auf ihn, aber Harper fand ihn gefühllos und eingebildet. Eben genau der Typ Mann, der wusste, wie er sein gutes Aussehen als Waffe einsetzen konnte.
Die Männer waren in ihre Arbeit vertieft und bemerkten Harper nicht, die sich in der Dunkelheit so weit genähert hatte, dass sie ihre Worte hören konnte.
«Die Schützen kamen aus der Anderson-Siedlung. Die Opfer wollen nicht verraten, woher sie sich kannten, aber das war kein Zufall», sagte der Uniformierte. «Jemand wollte genau diese Typen tot sehen.»
Er war eindeutig neu, vielleicht war es sein erster Schusswechsel. Die Worte sprudelten schnell und aufgeregt aus ihm heraus. Blazer dagegen stellte seine Rückfragen langsam und bedächtig. Er versuchte, Ruhe auszustrahlen, und hoffte wahrscheinlich, dass sie ansteckend war.
«Die Opfer haben also ausgesagt, dass die drei Schützen zusammen verschwunden sind? Irgendwelche Angaben, in welche Richtung?»
Der Officer schüttelte den Kopf. «Die sagten nur ‹da lang›». Er zeigte vage auf das Gebäude vor ihnen.
Ledbetter sagte jetzt etwas, das Harper nicht hören konnte. Sie trat einen Schritt näher und fuhr zusammen. Im Dunkeln hatte sie die leere Bierflasche im Rinnstein nicht gesehen, der Lärm, den sie machte, als sie dagegen trat, war allerdings nicht zu überhören.
Die Cops sahen auf. Blazer entdeckte sie zuerst und kniff die Augen zusammen.
«Achtung», sagte er. «Presse ist anwesend.»
Harper trat zurück und wartete. Sie hoffte, dass Ledbetter der leitende Detective in diesem Fall war, aber leider setzte Blazer sich in Bewegung. Mist.
«Miss McClain.» Blazers Stimme war kühl, seine Intonation merkwürdig flach. «Was für eine Überraschung, Sie an meinem Tatort anzutreffen. Ich nehme nicht an, dass Sie eine Zeugin sind?»
Er war fast eins neunzig und baute sich bedrohlich vor ihr auf, aber Harper, selbst nicht gerade klein, ließ sich nicht so leicht einschüchtern.
«Tut mir leid, Detective», sagte sie, ihr Tonfall eine langgeübte Mischung aus Zerknirschung und Respekt. «Hier war nichts abgesperrt. Ich wollte nicht im Weg sein.»
«Natürlich nicht.» Er betrachtete sie widerwillig. «Und doch stehen Sie an einem Ort, wo eine Journalistin nichts zu suchen hat. Und verstreuen überall Ihre DNA.»
Wen wollte dieser Typ verarschen? Die würden die Straße hier garantiert nicht nach DNA absuchen. Den Cops war ein totes Gangmitglied mindestens ebenso egal wie Baxter.
Harper blickte unschuldig zu ihm auf.
«Ich weiß, Sie haben alle Hände voll zu tun», sagte sie, die Freundlichkeit in Person. «Aber hätten Sie vielleicht ein paar winzige Informationen für die Morgenausgabe, damit ich Ihnen nicht länger auf die Nerven gehen muss? Namen der Opfer? Anzahl der Verdächtigen?»
«Die Ermittlung steht erst am Anfang.» Blazer leierte die bekannten Phrasen in einem Ton herunter, der sagte, dass er sie durchschaute. «Es wäre voreilig, schon etwas zu sagen. Wir sind noch dabei, den Toten zu identifizieren, bisher wurden keine Verwandten benachrichtigt. Und jetzt muss ich Sie bitten, den Tatort zu verlassen.»
Er war nicht gerade in Geberlaune. Aber Harper ließ nicht locker.
«Detective, haben wir es mit einem Drogenkrieg zu tun? Müssen die Anwohner sich Sorgen machen?»
Blazer lehnte den Oberkörper leicht zurück und betrachtete sie mit einem Interesse, das ihr gar nicht behagte.
«Ein paar armselige Arschlöcher sind ein paar größeren Arschlöchern in die Quere gekommen, und man hat ihnen verklickert, warum das keine gute Idee war. Warum schreiben Sie das nicht in Ihrem Käseblatt?»
Sie machte den Mund auf, um zu antworten, aber er ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen.
«Das war eine rhetorische Frage. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine offizielle Stellungnahme. Und jetzt verschwinden Sie von meinem Tatort, bevor ich Sie verhaften lasse.»
Harper war klug genug, nichts zu erwidern. Kapitulierend hob sie die Hände und entfernte sich rückwärts.
Als sie wieder zur Ambulanz kam, lehnte Miles lässig an der Seite des Fahrzeugs und prüfte auf dem Kameradisplay seine Aufnahmen.
«Blazer leitet die Ermittlung, also habe ich gar nichts», verkündete Harper mürrisch. «Der Mann hasst mich wie die Pest.»
Miles stieß sich ab, und sie gingen zurück zum Mustang.
«Zufällig habe ich vor zwei Monaten die Hochzeit der Notfallsanitäterin fotografiert», sagte er ruhig, als sie in sicherer Entfernung waren. «Hab ihr ein gutes Angebot gemacht. Sie schuldete mir einen Gefallen.»
Harper packte seinen Arm. «Du weißt, wer der Tote ist?»
«Und noch mehr.» Er hielt ein zerknittertes Blatt Papier hoch. «Ich weiß so einiges. Melissa hatte traumhafte Flitterwochen und war sehr gesprächig.»
«Mein Held!» Harper boxte ihn im Spaß gegen die Schulter. «Was haben wir?»
«Unser Toter heißt Levon Williams», referierte Miles, «neunzehn, frischgebackener Absolvent der Savannah South Highschool, hat für das Baseballteam gespielt. Wahnsinnig guter Schlagmann, hab ich mir sagen lassen. Aber anscheinend auch aufstrebender Heroindealer. Die beiden Verwundeten sind die Partner, von denen man weiß. Die Verdächtigen sind drei schwarze Männer, zwei schlank und eher groß in Jeans und T-Shirt, einer klein und stämmig mit einem Bandana um den Hals. Alle um die zwanzig. Mutmaßliche Mitglieder der East-Ward-Gang.» Er übergab Harper den Zettel. «Steht alles hier.»
Harper überflog das Geschriebene noch einmal, aber es war klar, dass nichts davon Titelseite bedeutete. Sobald sie am Mustang waren, rief sie Baxter an, um ihr die schlechten Nachrichten mitzuteilen.
«Verdammt», sagte die Redakteurin, nachdem sie die Zusammenfassung angehört hatte. «Na gut, kommen Sie zurück und schreiben Sie’s für Seite sechs. Besser als gar nichts.»
Miles ließ den Motor an, sobald Harper aufgelegt hatte.
«Seite sechs?», fragte er.
Harper faltete den Zettel zusammen und steckte ihn ein.
«Begraben unter anderen unwichtigen Neuigkeiten.»
Er zuckte mit den Achseln. «Mal gewinnt man, mal verliert man.»
Er drehte das Lenkrad herum und wollte gerade aus der Parklücke herausfahren, als er hart bremsen musste, um einen weißen Transporter vorbeizulassen. «Gerichtsmedizin Chatham County», prangte in Totengräberschwarz auf der Seite.
«Der Eismann kommt», witzelte Miles.
Harper sah kaum auf. Sie machte sich Notizen für ihren Artikel. Als der Transporter vorbei war, wendete Miles den Wagen mit sauberer Präzision. Sie waren erst ein kurzes Stück gefahren, als plötzlich eine atemlose Stimme den Innenraum erfüllte.
«Hier Einheit 5-6-8, verfolge die Verdächtigen von der Broad Street.»
Harper erstarrte. Miles nahm den Fuß vom Gas. Beide sahen auf den Funkscanner.
«Einheit 5-6-8 verstanden», antwortete die Disponentin in der Zentrale ruhig. «Bitte um Bestätigung: Es geht um die Verdächtigen der Schüsse in der Broad Street?»
«Positiv.» Der Mann keuchte, und seine Stimme zitterte. Er rannte.
«Drei männliche Personen zu Fuß in südlicher Richtung auf der 39th Street unterwegs», rief er. «Zwei sind groß. Ein kleinerer trägt ein Bandana.»
Im Hintergrund hörte Harper, wie die Disponentin die Information in den Computer eingab. Die Finger flogen leicht und schnell über die Tasten. Es war Sarah – Harper erkannte ihre Stimme. Sie war gut.
«An alle Einheiten: Verstärkung benötigt für Einheit 5-6-8, die verdächtige Personen Richtung Osten auf der 39th verfolgt.»
Sarahs Stimme war so emotionslos, als würde sie ein Kuchenrezept vorlesen. Aber ihre Worte ließen Harper vor Aufregung erzittern. Sie drehte sich zu Miles um. «Das ist fünf Blocks von hier.»
«In Ordnung.» Er schaltete und ging aufs Gas. Der Mustang reagierte mit quietschenden Reifen. Ein Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, als er Richtung 39th fuhr.
«Dann versuchen wir mal, auf Seite eins zu kommen.»
Langsam fuhren sie durch die dunklen Straßen. Harper starrte aus dem Fenster und trommelte ungeduldig mit dem Stift auf den Notizblock. Sie hatten nicht viel Zeit. Selbst wenn das hier glattging, würde Baxter die Schlussredaktion verschieben müssen.
Normale Menschen würden wahrscheinlich an das Opfer am Tatort denken – ein kurzes Leben, das gewaltsam geendet hatte. Aber Harper war schon ganz woanders. Sie wollte nur noch wissen, wer den Mann umgebracht hatte. Und so war es immer gewesen. Morde machten Harper nicht zu schaffen. Sie faszinierten sie.
Sie kannte das Prozedere bei einem Mord bis ins Detail. Sie wusste, was die Kriminalpolizei jetzt tat oder der Gerichtsmediziner. Wie man die Angehörigen des Opfers informierte und wie sie reagierten, wenn sie es erfuhren. Sie kannte die Maschinerie, die sich langsam in Bewegung setzte und alle niederwalzte, die irgendetwas mit der Tat zu tun hatten.
Und sie wusste es nicht nur, weil sie darüber schrieb, sondern weil sie es selbst erlebt hatte.
Als sie zwölf Jahre alt gewesen war, hatte ein Mord ihr Leben verändert. Und sie konnte alles – ihre Karriere, ihr Leben und ihr zwanghaftes Interesse an Verbrechen – auf diesen einen Tag vor fünfzehn Jahren zurückführen.
Manche Augenblicke prägen sich so tief in der Seele ein, dass man keine Einzelheit jemals vergisst. Und in der Regel sind das keine schönen Augenblicke. Harper konnte jede Sekunde des Tages, an dem ihre Mutter gestorben war, aufs Neue durchleben. Sie verwandelte die Zeit in eine mentale Filmrolle und spulte sie einfach ab. Sie sah sich, klein und aufgeweckt und absolut sicher, dass ihre Welt sich nie verändern würde. Sah sich glücklich von der Schule nach Hause gehen. Völlig ahnungslos, dass das Leben, das sie kannte, bereits vorbei war.
15:35 Uhr – Die zwölfjährige Harper öffnet die Gartenpforte und schließt sie wieder mit einem metallischen Scheppern.
15:36 Uhr – Sie rennt die Eingangstreppe hinauf, öffnet die unverschlossene Tür und lässt sie laut hinter sich zufallen. Gott, alles ist so hell und warm in ihrer Erinnerung, so voller Farben. Sie ruft: «Mom, ich hab Hunger.» Sie bekommt keine Antwort.
15:37 Uhr – Sie ruft die Treppe hinauf. «Mom?» Noch macht sie sich keine Sorgen. Vor sich hin summend steckt sie den Kopf ins Wohnzimmer, ins Esszimmer.
15:38 Uhr – Sie betritt die Küche. In diesem Augenblick endet ihre Kindheit.
Hier sind mehr Farben – nicht nur das Gelb der Wände und die vielen Töpfchen und Tuben mit Blau, Gold und Grün. Sondern Rot. Überall Rot. Spritzer an den Wänden und auf der Arbeitsplatte. Eine Lache unter dem nackten Körper ihrer Mutter.
Blutrot. Es hinterlässt eine Erschütterung, von der sie sich niemals erholt, und erfüllt sie mit Grauen. In ihrem Erinnerungsfilm steht die Zeit jetzt still. Sehr lange bleibt es 15 Uhr 38.
Dann läuft Harper in Zeitlupe zu ihrer Mutter. Sie verliert die Balance, rutscht aus in dem Blut. Sie versucht zu atmen, aber es ist, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. Ihr tut der ganze Körper weh, und sie kriegt keine Luft, als sie auf die mageren Knie fällt. Es ist das erste und einzige Mal, dass sie Angst hat, ihre Mutter zu berühren. Zitternd streckt sie eine Hand nach der glatten, blassen Schulter aus. Dann erschrickt sie und reißt die Hand zurück.
Ihre Mutter ist so kalt.
Jemand schluchzt in weiter Ferne. «Mom? Mom?» Dann schwächer, flehender: «Mommy?»
Jetzt weiß sie, dass es ihre eigene Stimme ist, aber das Ich im Erinnerungsfilm ist sich nicht sicher. Es fühlt sich wie losgelöst vom eigenen Körper.
Im nächsten Bild rappelt sie sich hoch. Es gibt noch immer keine Luft, und sie ringt nach Atem, aber ihre Lungen funktionieren nicht. Sie schlittert durch die Küche und rennt aus der Gartentür hinaus zu Bonnies Haus. Aber die Larsons sind umgezogen nach der Scheidung, und die neuen Nachbarn sind nicht nett und sowieso nicht zu Hause. Harper hämmert trotzdem an die Tür und hinterlässt Blutspuren auf dem Holz und den Widerhall ihrer Schläge in der Leere.
Jetzt schluchzt sie so heftig, dass sie endlich wieder Luft bekommt. Sie läuft zurück ins Haus und sucht das Telefon, nimmt es in die Hand, aber es rutscht ihr aus den kraftlosen, blutverschmierten Fingern. Sie hebt es vom Boden auf, atmet stockend ein und versucht, sich zu beruhigen. Nur drei Ziffern muss sie wählen. Sie kann das. Sie muss.
«Okay», flüstert sie unter Tränen immer wieder, während sie wählt. Ihre Hände zittern so unkontrolliert, dass das Telefon wackelt. «Okay. Okay. Okay …»
Es tutet. Entfernt eine Reihe merkwürdiger, mechanischer Klicks. Eine Frau antwortet – und diese irrational ruhige Stimme, so gewohnt an die Schrecken der Welt, die die panischen, körperlosen Stimmen von Zeugen und Opfern ihr erzählen, ist eine Rettungsleine, an der Harper sich festhalten kann.
«Sie haben 911 gewählt. Was ist Ihr Notfall?»
Harper versucht zu sprechen, aber die Tränen und die Atemnot machen es beinahe unmöglich. Nur einzelne unzusammenhängende Worte schaffen es von ihrem erschrockenen Verstand zu ihren Lippen.
«Helfen Sie, bitte», schluchzt sie. «Meine Mom. Bitte helfen Sie.»
«Was ist mit deiner Mutter?» Die emotionslose Stimme der Frau ist streng und freundlich. Streng, um ihr zu helfen, sich zu konzentrieren. Freundlich, weil sie ein Kind ist.
Jetzt muss Harper das Wort sagen. Das sie nicht einmal denken kann. Das bis jetzt so weit entfernt war und so wenig mit ihrem Leben zu tun hatte wie Usbekistan. Ihr Verstand will nicht, dass sie das Wort sagt. Es tut so weh, es auszusprechen.
«Meine Mutter … da ist Blut … ich glaube … jemand hat sie ermordet.»
Mehr hat sie nicht. Sie schluchzt jetzt untröstlich. Der Tonfall der Frau verändert sich.
«Süße», sagt sie so sanft, dass die Sorge und die Anspannung darunter verborgen bleiben. «Du atmest jetzt ganz tief ein und sagst mir deine Adresse, okay? Schaffst du das? Ich schicke Hilfe.»
Harper sagt ihre Adresse. Damals weiß sie noch nicht, dass die Frau am Telefon gleichzeitig wichtige Informationen in ihren Computer eintippt, nach ihrem Vorgesetzten winkt und Räder in Bewegung setzt, die sich noch Jahre danach in ihrem Leben weiterdrehen.
Dann fragt die Frau, ob sie in Sicherheit sei, und erst in diesem Moment kommt Harper der Gedanke, dass noch jemand im Haus sein könnte. Ihre Panik wächst bis ins Unvorstellbare. Die Frau sagt, sie solle mit dem Telefon nach draußen gehen und auf dem Gehweg warten, und wenn jemand ihr Angst mache, solle sie weglaufen und schreien.
Sie tut, was ihr gesagt wird. Jeder Schritt ist hölzern und unwirklich. Wieder ist sie an der Gartenpforte mit dem scheppernden Riegel und umklammert mit der blutigen Hand das Telefon. Die Frau redet beruhigend auf sie ein. «Sie sind auf dem Weg, Schätzchen. In drei Minuten sind sie da. Leg nicht auf, Süße …»
In der Ferne hört sie das eindringliche Geheul der Sirenen und begreift trotzdem nicht, dass sie auf dem Weg zu ihr sind.
Und dann bekommt sie noch mehr Angst, als der erste Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht quietschend vor ihr hält, weil die Polizisten mit Pistolen in der Hand aus dem Wagen springen und an ihr vorbei ins Haus rennen.
«Bleib hier stehen», ruft einer ihr zu.
Sie bleibt stehen.
Mehr Streifenwagen fahren vor, und bald ist sie umringt von uniformierten Männern und Frauen mit Pistolen und Schlagstöcken und Schutzwesten.
«Geht es dir gut?», fragt ständig jemand.
Aber Harper geht es nicht gut. Gar nicht gut.
Dann taucht ein großer, Respekt einflößender Mann mit einer tiefen Stimme neben ihr auf. Er nimmt ihr das Telefon aus der Hand und übergibt es einem anderen Polizisten, der es merkwürdigerweise, wie Harper denkt, in einen Plastikbeutel steckt.
Der große Mann hat ein wettergegerbtes Gesicht, und er hat andere Kinder wie sie gesehen, blutverschmiert und verängstigt. Viele. Seine Augen sind freundlich.
«Ich bin Sergeant Smith», sagt er mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme. «Und ich werde nicht zulassen, dass dir jemand etwas tut.»
«Harper!»
Erschrocken zuckte sie zusammen.
Der Mustang fuhr jetzt im Schneckentempo. Sie waren auf einer dunklen Straße mit heruntergekommenen, meist einstöckigen Häusern. Bei einigen waren die Fenster vernagelt. Miles sah sie irgendwie merkwürdig an.
«Wir sind da», sagte er. «Alles in Ordnung?»
«Mir geht’s gut», erwiderte sie schroff und sah aus dem Fenster.
Sie ärgerte sich über sich selbst. Warum dachte sie über diesen Blödsinn nach? Das war Schnee von gestern. Schließlich hatte sie einen Job zu erledigen.
«Irgendein Zeichen von diesen Typen?», fragte sie und blickte weiter in die Dunkelheit.
«Nichts.» Er verlangsamte noch weiter und starrte angestrengt auf die Gebäude. «Sieht aus, als wären wir schneller gewesen als die Verstärkung.»
Das war ungewöhnlich. Harper runzelte die Stirn.
«Warum brauchen die so lange?»
Miles zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung.»
Die 39th Street war schmaler und viel dunkler als die Broad Street. Hier befanden sich die berüchtigtsten Sozialbausiedlungen der ganzen Stadt. Harper war schon oft hier gewesen, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass die Straße jemals so leer gewesen war. Ausnahmsweise hing niemand auf den Eingangstreppen oder den Betonauffahrten ab. Keine Pitbull-Besitzer, die ihre Hunde verglichen, keine jungen Typen, die sich auf dem Basketballplatz herumschubsten.
Miles gab einen leisen Pfiff von sich. «Das ist ungewöhnlich.» Er sprach leise, als könnte man sie durch die Fenster hören.
Harper beugte sich vor und sah hoch.
«Jemand hat die Straßenbeleuchtung ausgeschossen.»
«5-6-8, wie ist Ihre Lage?» Die Stimme der Disponentin, die knisternd im Funkscanner ertönte, schien zu laut in der drückenden Stille.
Eine lange Weile kam keine Antwort. Das Funkgeschnatter war verstummt, als würde jeder Cop in der ganzen Stadt darauf warten, dass dieses eine Verbrechen geschah.
«Hier 5-6-8.» Die Stimme des Officers war jetzt leise, kaum mehr als ein Flüstern. «Die Verdächtigen sind in die Anderson-Häuser gelaufen. Ich habe keinen Sichtkontakt. Ich gehe ihnen nach.»
«Verstanden, 5-6-8», sagte die Disponentin. «Seien Sie vorsichtig, Verstärkung ist unterwegs.»
Miles zeigte auf eine heruntergekommene Ansammlung vernagelter und mit Graffiti bedeckter dreistöckiger Gebäude ein Stück die Straße runter.
«Die Anderson-Siedlung», sagte er. «Steht seit ein paar Jahren leer. Kein schlechtes Versteck.» Er fuhr rechts ran und machte den Motor aus. Die darauf folgende Stille wirkte unnatürlich.
Wie aufs Stichwort nahmen Harper und Miles gleichzeitig ihre Funkscanner ab und legten sie in den Fußraum. Miles sah sie an. Seine Augen funkelten im Halbdunkel. «Es könnte unschön werden.»
Harper grinste. «Erzähl mir was Neues.»
Sie legte die Hand auf den Türgriff. Weitere Worte waren unnötig. Sie wussten beide, wie gefährlich es war. Gleichzeitig sprangen sie aus dem Auto und schlossen leise die Türen, dann schlichen sie langsam auf die vernagelten Gebäude zu.
Feuchtigkeit hing zäh in der warmen Luft, und durch die merkwürdige Stille kam sie ihnen noch drückender vor. Nicht ein einziger Mensch befand sich auf der Straße. Und obwohl ihre weichen Sohlen auf dem Asphalt nicht zu hören waren, hatte Harper bei jedem Schritt das Gefühl, beobachtet zu werden.
Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.
«Wo sind die ganzen Leute?», flüsterte sie.
Miles blieb stehen und betrachtete die maroden Häuser. Sie sahen leer aus. Aber wahrscheinlich stand jemand hinter jeder einzelnen dunklen Fensterscheibe.
«Sie warten», sagte Miles grimmig.
Abseits der Straße bewegte sich etwas im Halbdunkel. Sie sahen es gleichzeitig, aber Miles reagierte zuerst, packte Harper am Arm und zog sie hinter einen parkenden Pick-up.
Harper starrte ins Dunkel und konnte in etwa zwanzig Metern Entfernung drei Gestalten ausmachen. Zwei waren groß und dünn, einer klein und stämmig. Sie standen neben einem der leerstehenden Häuser und schienen nicht bemerkt zu haben, dass sie beobachtet wurden. Stattdessen blickten sie alle drei in die andere Richtung.
Als Harper ihren Blicken folgte, konnte sie zuerst nichts sehen. Dann entdeckte sie den Lichtpunkt einer Taschenlampe, die sich am anderen Ende des staubigen Geländes der Siedlung auf und ab bewegte.
Ihr Herz raste. Das musste der Cop sein. 5-6-8. Er war noch etwa zwei Gebäude von den Gangstern entfernt und ging eindeutig in die falsche Richtung. Er würde ihnen direkt in die Arme laufen.
Vorsichtig blickte Harper über die Haube des staubigen Chevy, um besser sehen zu können, was die Männer taten. Der Kleine fummelte an seinem Hals herum. Inzwischen hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es das Bandana war. Dann steckten die drei flüsternd die Köpfe zusammen. Sie schienen zu streiten.
Irgendwann sagte der Kleine etwas, das die anderen beiden zum Schweigen brachte. Trotz seiner Größe war klar, dass er der Anführer war. Die beiden Größeren traten einen Schritt zurück, als er das Bandana jetzt über Nase und Mund zog, wie ein Bandit in einem Western. Dann griff er hinter sich und zog eine Pistole aus dem Bund seiner Jeans.
Harper wurde flau im Magen. Der Typ wollte den Cop erschießen. Verzweifelt blickte sie über die Schulter auf die leere Straße. Wo zum Teufel blieb die Verstärkung? Die müssten längst hier sein.
Aber hinter ihnen war nichts – nur Dunkelheit.
Miles hatte die Kamera auf dem Rand der Ladefläche des Pick-ups abgestützt und auf die drei Männer gerichtet. Seine Hände waren vollkommen ruhig. Harper beugte sich zu ihm.
«Wir müssen den Cop warnen», zischte sie.
Miles drehte sich nur so weit zu ihr um, dass sie seinen ungläubigen Blick sah. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Reporter an Verbrechensschauplätzen hatten nur Augen und Ohren zu sein – sie beobachteten und weiter nichts. Aber das hier war anders. Jemand würde sterben. Und es war sonst niemand da, der ihn retten könnte.
Die drei Typen traten aus dem Schatten. Harper konnte den Typ mit dem Bandana jetzt deutlicher sehen. Er war gerade mal einen Meter sechzig groß und sah jung aus. Konnte gut noch ein Teenager sein. Aber seine Haltung verriet Selbstbewusstsein. Seine Hand zitterte nicht, als er jetzt seine Waffe hob und auf das wankende Licht zielte. Es hatte etwas Ungeduldiges, wie er das Gewicht dabei auf den Vorderfuß verlagerte. Als könnte er es nicht abwarten zu töten.
Neben ihr machte Miles vorsichtig ein paar Aufnahmen. Die Szene schien Harper fast unwirklich. Es war, als würde sie alles aus großer Entfernung betrachten. Um jetzt noch Hilfe zu rufen, war es zu spät. Und sie waren sowieso zu nah dran. Aber das durfte einfach nicht passieren. Sie konnte unmöglich hier herumsitzen und zusehen, wie ein Mensch starb. Sie musste etwas tun.
Kurz schloss sie die Augen und atmete ein. Dann, bevor sie es sich anders überlegen konnte, brüllte sie los.
«Polizei. Waffen fallen lassen!» Sie hielt inne und überlegte fieberhaft, ob ihr noch irgendetwas Bedrohliches einfiel. «Ihr seid umzingelt.» Miles starrte sie an.
Die Taschenlampe des Polizisten bewegte sich schneller in ihre Richtung, dann blitzte sie noch einmal auf und verschwand. Die drei Gangtypen wirbelten herum. Jetzt zogen auch die beiden Größeren ihre Pistolen aus dem Hosenbund, und alle zielten auf den Pick-up.
Harper und Miles duckten sich.
Mit zusammengekniffenen Augen lauschte Harper auf die Geräusche. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Ihr Atem ging schnell und keuchend. Sie hatte das definitiv nicht zu Ende gedacht.
«Toll», zischte Miles. «Was hast du als Nächstes vor? Willst du sie mit deinem Kugelschreiber erstechen?»
Leider hatte Harper keine Antwort darauf. Was tat man, nachdem man gerufen hatte? Noch einmal rufen? Wo verdammt war die echte Polizei? Vorsichtig hob sie den Kopf und blickte durch die dreckigen Scheiben des Wagens. Alle drei hatten ihre Waffen auf sie gerichtet. Erschrocken duckte sie sich wieder. Ihr Brustkorb fühlte sich an, als wäre darin nicht genug Platz für ihre Lungen. Wenn die Polizei nicht bald hier war, würden sie und Miles sterben.
Sie schluckte und versuchte es noch einmal.
«Ich hab gesagt, Waffen fallen lassen. Sofort.»
«Fickt euch, ihr Scheißbullen!», rief der Größte der drei herausfordernd. Dann hörte sie eine Reihe metallischer Klicks.
Ihr Herz blieb stehen.
«Scheiße», flüsterte Miles.
Sie warfen sich flach auf den Boden, als die Typen das Feuer eröffneten. Das Geräusch war ohrenbetäubend wie das Donnern einer mächtigen Kanone.
Über ihnen zersprangen die Scheiben des Pick-ups. Harper hielt schützend die Hände über den Kopf und kniff die Augen zusammen, als die Scherben auf sie niederprasselten.
Sie saßen in der Falle.
Die Typen schossen eine Ewigkeit. Als sie endlich aufhörten, hinterließ die Stille ein hohles Gefühl in Harpers Brust – eine merkwürdige Leere.
Es rauschte in ihren Ohren, und sie tastete blind nach Miles. Er war nicht da.
«Miles», flüsterte sie eindringlich.
«Ich lebe noch», zischte er aus etwa einem Meter Entfernung. «Was ich nicht gerade dir verdanke.»
Harper blinzelte und strich sich Glasscherben und Staub aus dem Haar, dann sah sie ihn hinter der Ladefläche hocken.
«Bist du tot, Bulle?», rief einer der Gang-Typen höhnisch.
Bevor Harper sich eine passende Antwort überlegen konnte, hörte sie hinter sich eine kühle Stimme.
«Ich lebe und bin ziemlich genervt», sagte die Stimme. «Jetzt lasst die Waffen fallen, oder ihr kassiert diesmal die Kugeln.» Erschrocken drehte Harper sich um. Direkt hinter ihr stand ein großer, breitschultriger Mann, eine Neun-Millimeter-Halbautomatik im Anschlag.
Luke Walker.
Er trug ein schwarzes T-Shirt und Jeans. Die Marke an seinem Gürtel glänzte. Seine Hand war absolut ruhig.
«Ihr seid übrigens wirklich umzingelt», fügte er hinzu und hob seine linke Hand.
Auf dieses Zeichen trat eine Reihe dunkel gekleideter Cops auf die Straße. Über ihnen dröhnte mit einem Mal ein Polizeihubschrauber durch den Himmel, der die Nacht mit seinem blendenden Scheinwerfer in einen kalten, hellen Tag verwandelte. Plötzlich herrschte lautes Chaos und Stimmen riefen Befehle.
Endlich war die Kavallerie da.
Darauf waren die drei Verdächtigen nicht vorbereitet und zielten mit ihren Waffen in alle Richtungen. Dann ließ der Größte von ihnen widerwillig die Pistole fallen. Der Kleine sah ihn wütend an, tat aber Sekunden später dasselbe. Einer nach dem anderen knieten sie sich hin und legten die Hände hinter den Kopf.
Sobald die Cops auf die Typen zugingen, verließ Miles seine Deckung hinter dem Pick-up und rannte rüber, um noch ein paar Fotos zu machen. Harper stand vorsichtig auf. Ihre Knie waren ein bisschen weich.
Das war ziemlich knapp gewesen.
Als sie sich zu Luke umdrehte, schob er seine Waffe ins Holster zurück.
«Harper McClain.» Er klang nicht erfreut. «Warum bin ich nicht überrascht, dich hier zu sehen?»
«Weil ich immer so couragiert bin?» Harper zwang eine Lässigkeit in ihre Stimme, die sie nicht empfand.
Sie kannte Luke, seit sie bei der Zeitung als Volontärin angefangen hatte und er als frischgebackener Streifenpolizist. Mit zwanzig war er ernst und umsichtig gewesen. Sie waren in demselben Viertel aufgewachsen und etwa gleich alt. Ihre Redakteurin hatte sie damit beauftragt, ihn bei der Arbeit zu begleiten, und sie hatten sich von Anfang an gut verstanden.
Drei Stunden lang waren sie mit der naiven Begeisterung von Anfängern von einem Bagatelldelikt zum nächsten gerast, und Harper hatte einen enthusiastischen Artikel über sein Leben als junger Polizist geschrieben. Seitdem waren sie Freunde.
Also kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er wirklich stinksauer war, als er jetzt näher kam. Unter seinen Stiefeln knirschten Glassplitter.
«Couragiert ist nicht gerade das Wort, das ich im Kopf hatte», sagte er scharf. «Verdammt, Harper, seit wann verhaftest du Leute? Du hättest draufgehen können. Das weißt du hoffentlich.»
«Was hätte ich bitte tun sollen?», fragte sie. «Die Verstärkung ist nicht aufgetaucht, und diese Typen wollten Officer Taschenlampe da drüben abknallen.»
«Du hättest auf uns warten können», sagte er. «Du hättest dich an einen sicheren Ort begeben und es melden können. Du hättest nur eine Sekunde an deine eigene Sicherheit denken können. Es gab so einige Möglichkeiten, wenn du einfach mal nachgedacht hättest.»
Harper wurde rot.
«Ich habe ja nachgedacht», hielt sie dagegen. «Und ich wollte, dass alle mit dem Leben davonkommen. Echt, Luke. Halt mal die Luft an.» Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Eine Sekunde dachte sie, er würde etwas einwenden, aber er sah sie nur an.
«Bist du okay?», fragte er dann und trat einen Schritt auf sie zu. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. «Ich war einen halben Block entfernt, als die Typen losgeballert haben. Ich hatte schon Angst, dass …» Er verstummte.
«Mir geht’s gut», versicherte sie ihm. «Das sind total miese Schützen.»
«So mies auch wieder nicht.»
Weiter vorn wurden die Gangster von den Cops durchsucht und leerten ihre Taschen auf dem schmutzigen Pflaster. Dicke Rollen Geldscheine, eine Handvoll kleiner Plastiktüten mit weißem Pulver, ein Kamm, ein paar Münzen.
Langsam setzte Harper die nächtlichen Ereignisse zusammen. Luke war bei der Undercover-Einheit und hatte deshalb viel mit Drogenkriminalität zu tun. Sie hatte ihn seit über einem Monat nicht gesehen, was in der Regel hieß, dass er an einem Fall arbeitete.
«Luke – dir ist doch deswegen kein Fall geplatzt?», fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
«Ich bin seit ein paar Wochen an diesen Clowns dran. Hatte einen Tipp bekommen, dass sie heute Nacht gegen eine rivalisierende Gruppe vorgehen wollten.» Er blickte sie an. «Wie du und Miles da hineingeraten seid, ist mir allerdings ein Rätsel.»
«Wir haben über Funk gehört, dass die Verdächtigen gesichtet wurden», erklärte sie. «Sind rübergefahren, um uns die Sache anzusehen. Wir hatten ja keine Ahnung, dass man uns gleich die Hauptrolle gibt.»
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und sah erst jetzt, dass sie sich an einem Glassplitter geschnitten hatte. Eine dünne Blutspur rann über ihre Haut. Harper starrte darauf.
«Gott, Luke», sagte sie. «Die haben wirklich auf mich geschossen. Ist es so, du zu sein?»
«Jeden Tag», sagte er ruhig.
Sie wischte das Blut ab. «Die bezahlen dir viel zu wenig.»
«Wem sagst du das.» Er schwieg kurz, dann sagte er: «Ihr seid umzingelt? Ehrlich, Harper, du siehst eindeutig zu viel fern.»
«Auf die Schnelle ist mir nichts Besseres eingefallen», gab sie grinsend zurück. Sie war erleichtert, dass er nicht mehr böse war. «Was sagt man denn bei solchen Gelegenheiten?»
Er dachte darüber nach. «Ich sage meistens ‹Waffe fallen lassen, oder ich schieß dir die Eier weg›.»
Sie unterdrückte ein Lachen. «Tja, da wär ich nicht drauf gekommen.»
«Nächstes Mal», sagte er und blickte sie wieder an.
Wenn er lächelte, sah er wieder wie der Neuling aus, den sie vor sieben Jahren kennengelernt hatte. Markantes Kinn und strahlend blaue Augen. Aber die Zeit und der Job hatten ihn ganz schön rangenommen. Die Kanten waren schärfer geworden, und der naive Eifer, an den sie sich von damals erinnerte, war verschwunden. Sie fragte sich, ob er das auch über sie dachte.
In den Jahren, nachdem sie ihn beim Einsatz begleitet hatte, war es bei beiden fast parallel aufwärts gegangen. Im selben Jahr, in dem sie Vollzeit-Polizeireporterin geworden war, hatte man ihn zum Detective befördert. Dann war er ziemlich schnell Sergeant geworden und hatte schon mit fünfundzwanzig Mordfälle bearbeitet.
Sie hatten immer einen Draht zueinander gehabt – ein Überbleibsel jener ersten Nacht auf der Straße. Wenn sie ihn traf, war es eine gute Nacht. Dies war nicht das erste Mal, dass er plötzlich an einem Verbrechensschauplatz aus der Dunkelheit trat, um nach ihr zu sehen.
Aber vor acht Monaten hatte sich dann alles verändert. Luke hatte das Morddezernat verlassen und angefangen, undercover zu arbeiten. Und das ergab keinen Sinn. Undercover war karrieretechnisch eher ein Schritt zur Seite als nach vorn, und ein heftiger noch dazu. Der Job war hart und gefährlich. Als Harper ihn nach dem Grund gefragt hatte, war er der Frage ausgewichen. Egal, sie spürte einfach, dass da etwas nicht stimmte.
Seither hatte sie ihn seltener gesehen. Er verschwand immer wieder für längere Zeit, veränderte regelmäßig und ziemlich drastisch sein Aussehen und blieb auf Distanz. Die wenigen Male, die sie ihn sah, wirkte er nicht glücklich.
«Wie geht es dir?» Sie sah ihn von der Seite an.
«Viel zu tun», sagte er und wich ihrem Blick aus.
Die Schützen waren inzwischen wieder aufgestanden, und man hatte ihnen Handschellen angelegt. Die drei Gang-Mitglieder sahen die Polizisten mit dumpfem Desinteresse an, als würde das alles nicht ihnen passieren.
Außerdem waren wie aus dem Nichts plötzlich Schaulustige auf dem Gehweg aufgetaucht. In feindseligem Schweigen sahen sie zu, wie die Männer zu dem Polizeitransporter gebracht wurden, der sie ins Gefängnis verfrachten würde.
«Luke!»
Ein anderer Undercover-Cop winkte ihm.
Luke nickte. «Warte hier», sagte er zu Harper.
Sie sah ihm nach, wie er ohne Eile die Straße überquerte. Der andere Cop, der auch nur Jeans und ein einfaches T-Shirt trug, hatte die Marke an einer Kette um den Hals hängen.
Die beiden sprachen leise und sahen sich etwas an, das den Verdächtigen abgenommen worden war. Nach einer Minute entfernte sich der andere mit einem Beweismittelbeutel in der Hand. Luke kam zu ihr zurück, blieb aber auf der anderen Seite des Pick-ups stehen.
«Komm, ich muss dir etwas zeigen.»
Sie ging um den Wagen herum. Das Glas knirschte unter ihren Schuhen. Als sie neben Luke stand und sah, was er sah, stockte ihr der Atem.
Der Wagen war völlig zerschossen. Die Fenster waren komplett weg. In der Karosserie hatten die Kugeln ein unregelmäßiges Muster schartiger Löcher hinterlassen, ein paar davon größer als ein Vierteldollar.
«Ich wollte nur, dass du siehst, wie knapp du davongekommen bist.» Jede Heiterkeit war aus seiner Miene verschwunden. «Ernsthaft, Harper, du musst vorsichtiger sein. Sonst bringt dich das irgendwann noch um.»
«Komm schon, Luke», sagte sie. «Ich hab nur meinen Job gemacht.»
«Es ist nicht dein Job, dich umzubringen zu lassen», sagte er schroff. «Es ist meiner.»
Harper starrte ihn an. Bevor ihr darauf eine Antwort einfiel, kam Miles zu ihnen.
«Unser Held», sagte er und schüttelte Luke die Hand. «Danke für die Rettung, Mann.»
«Miles, sag bitte nicht, dass du damit einverstanden warst.» Luke deutete auf den Pick-up.
«Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatte. Gott ist mein Zeuge», sagte Miles. «Ich bitte dich nur, sie erst festzunehmen, nachdem sie ihre Story abgegeben hat.»
Dann wandte er sich an Harper und klopfte auf seine Armbanduhr. «Apropos, auch wenn es ein wirklich netter Abend war …»
Harper sah auf die Uhr. Es war zehn vor zwölf.
«Shit, wir müssen zurück.»
Sie wirbelte herum und rannte zu Miles’ Auto. Dann drehte sie sich kurz noch einmal um. Luke stand immer noch neben dem zerschossenen Auto und blickte ihr nach.
«Danke, dass du mir das Leben gerettet hast, Walker», rief sie ihm zu. «Ich schulde dir was.»
«Oh ja, das tust du!»
Etwas in seiner Stimme sagte ihr, dass er es ernst meinte.
Zurück in der Redaktion schrieb Harper die Story. Baxter sah ihr über die Schulter.
«Schreiben Sie ‹flohen› statt ‹liefen›», sagte sie und tippte mit einem kurzen, nicht lackierten Fingernagel auf den Bildschirm.
Harper korrigierte das Wort ohne Widerrede.
«Sehr gut», murmelte Baxter, wenn Harper etwas schrieb, das ihr gefiel. Sie roch schwach und nicht unangenehm nach Camel Lights und «Coco» von Chanel.
Um halb eins ging der Artikel endlich zum Layout. Miles’ spektakuläres Foto der drei Verdächtigen – einer mit Bandana vor dem Gesicht, die Pistole direkt auf die Kamera gerichtet – beherrschte die Titelseite unter der Schlagzeile: «Mutmaßliche Mörder bei dramatischem Schusswechsel verhaftet».
Baxter reckte die Arme, um die verspannten Schultern zu lockern.
«Warum halten diese Verbrecher sich nie an unsere Deadlines?», fragte sie seufzend.
«Weil es Arschlöcher sind?», schlug Harper vor.
Nach einem kurzen Auflachen ging Baxter zum Kopierraum.
«Gehen Sie nach Hause, Harper. Für diese Nacht haben Sie genug Ärger verursacht.»
Sobald sie weg war, machte Harper den Computer aus und steckte den Scanner in ihre Handtasche. Aber sie stand nicht auf. Sie blieb auf dem Stuhl sitzen und starrte auf den dunklen Monitor. Noch immer sah sie die drei jungen Männer vor sich, die mit ausdruckslosen Mienen ihre Waffen auf sie gerichtet hatten. Dann hörte sie Lukes Stimme: Sonst bringt dich das irgendwann noch um. In gewisser Weise hatte er recht. Gefahr zog sie an. Sie kam ihr gern zu nahe. Aber heute war es knapp gewesen. Sie und Miles gingen häufig Risiken ein, aber heute hatte sie es übertrieben. Sie hatte versucht, die Heldin zu spielen.
Baxter kam aus dem Kopierraum zurück und riss sie aus ihren Gedanken.
«Wollen Sie hier übernachten?», rief die Redakteurin. «Gehen Sie endlich nach Hause.»
Harper richtete sich auf.
«Bin schon weg», sagte sie und griff nach dem Telefon. «Ich muss nur kurz einen Anruf machen.»
Sie wartete, bis Baxter ihre Handtasche nahm und aus der Tür ging. Dann wählte sie eine vertraute Nummer.
«BÜCHEREI», rief eine Stimme ungeduldig.
Im Hintergrund hörte Harper das ganz normale Chaos einer Dienstagnacht in der Bar – laute Stimmen, Gitarren, Gläserklirren, Lachen.
«Hey Bonnie.» Harper lehnte sich zurück.
«Harperschatz! Wo bist du? Warum verschönert dein sexy Hintern nicht gerade meine Bar?»
Bonnies immer leicht heisere Stimme war noch rauer, nachdem sie wahrscheinlich schon den ganzen Abend geschrien hatte, um sich bei dem Lärm verständlich zu machen.
«Ich bin noch bei der Arbeit», sagte Harper. «Ich hab überlegt, vorbeizukommen.»
«Komm. Ich mach dir einen Mai Tai. Mit extra Kirschen.»
Harper lachte. Mai Tai war ihr Lieblingsdrink gewesen, als sie und Bonnie sich noch mit gefälschten Ausweisen in Bars gemogelt hatten. Wissentlich hatte sie seit Jahren keinen mehr getrunken.
Aber plötzlich klang das ganz wunderbar.
«Bin schon unterwegs.»
Es war fast ein Uhr. Harper parkte ihren Wagen unter den ausladenden Ästen einer Eiche vor ihrem Haus in der East Jones Street. Das tief hängende Spanische Moos strich sanft über das Autodach.
Nicht nur Miles stand auf Muscle-Cars. Sein Mustang war allerdings neu und gepflegt, während sie einen fünfzehn Jahre alten Camaro fuhr. Er hatte über 165000 Kilometer auf dem Buckel, aber der Motor schnurrte wie ein Kätzchen. Sie würde den Wagen sicher nicht in der Nähe einer Bar parken, vor allem nicht im Juni. Eine Flut von Touristen strömte seit ein paar Wochen in die Stadt, und sie waren berauscht von der überwältigenden Mischung aus Urlaub, Sonne und Drei-zum-Preis-von-einem-Happy-Hours. Von hier aus konnte sie gut zu Fuß gehen.
Gerade wollte sie aussteigen, als sie zufällig ihr Gesicht im Rückspiegel erblickte. Unter einem ihrer braunen Augen prangte ein Mascarafleck, und das rote Haar über dem sommersprossigen Gesicht war völlig wirr. Wie lange lief sie bloß schon so herum? «Toll, Harper.» Seufzend lehnte sie sich zurück und suchte in ihrer Handtasche nach der Bürste. «Wann wirst du endlich erwachsen.»
Eilig brachte sie ihr Haar in Ordnung, wischte die Wimperntusche unter dem Auge weg und legte dann den roten Lippenstift von MAC auf, den Bonnie ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. «Ich verlange nichts weiter, als dass du ihn ab und zu benutzt», hatte sie gesagt.
Sobald sie halbwegs akzeptabel aussah, stieg sie aus dem Auto. Sie schloss die Tür und warf einen kurzen Blick auf das Haus gegenüber.
Seit fünf Jahren bewohnte sie die Erdgeschosswohnung einer viktorianischen Villa in der Nähe der Kunsthochschule. Ihr Vermieter war ein fröhlicher, hemdsärmeliger Selfmademan namens Billy Dupre. Er mähte den Rasen, reparierte, was kaputt ging, und erhöhte nie die Miete. Im Gegenzug hatte sie ein Auge auf die Studenten im Obergeschoss und nahm ab und an einen Eimer Farbe in die Hand.
Und es lief gut.
Das blaue Haus hatte ein hohes Spitzdach mit einem Buntglasfenster, das an sonnigen Tagen grün und bernsteinfarben funkelte. Jetzt waren alle Fenster dunkel, nur unten im Hausflur brannte ein beruhigendes Licht. Die Tür war solide, und kurz nachdem sie eingezogen war, hatte sie Hochsicherheitsschlösser einbauen lassen.
Das Haus war sicher, dafür hatte sie gesorgt. Zufrieden warf sie die Tasche über die Schulter und marschierte los.
In der Jones Street standen wahrscheinlich nicht die hochherrschaftlichsten Häuser der Stadt, aber sie hatte durchaus ihren Reiz. Tagsüber blickte man durch die hohen Fenster auf Touristenbusse und Studenten mit Mappen unter dem Arm, die auf dem Weg zur Kunsthochschule waren. Nachts wirkte die kleine Straße wie direkt aus der Vergangenheit gepflückt. Gusseiserne Straßenlaternen warfen tanzende Schatten durch die anmutigen Äste der Eichen.
Der Mond war jetzt verschwunden und die Wolken verdichteten sich. Es war immer noch unangenehm warm, und die Feuchtigkeit hing so schwer in der Luft, dass man sie fast sehen konnte. Sobald Harper an der nächsten Ecke links einbog, hörte sie leises, drohendes Donnergrollen am Himmel. Nervös beschleunigte sie ihre Schritte und blickte hinter sich auf die leere Straße.
Die Schüsse hatten sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Es floss immer noch ein Rest Adrenalin durch ihre Adern. Sie hatte dasselbe Gefühl wie eben, bevor man auf sie geschossen hatte – das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber obwohl sie sich ständig umdrehte, war niemand zu sehen.
Als sie die belebte Drayton Street erreichte, war sie froh über das Licht. Hier war um ein Uhr nachts noch einiges los, und aus Eric’s Diner duftete es verlockend nach Frittiertem. Geschickt schlängelte Harper sich durch die Menschenmenge, als die ersten dicken Regentropfen herunterkamen. Rasch löste sie sich halb rennend aus der Menge und bog zur Bücherei ab. Musik und Gelächter drangen aus der offenen Tür, und Harper roch den würzigen Duft von Nelkenzigaretten, als sie sich durch die Grüppchen der draußen stehenden Raucher drängelte und die Bar betrat.
«Hey, Harper», begrüßte der Türsteher sie. «Und? Wieder eine Nacht erfolgreich das Verbrechen bekämpft?»
Der Mann war über eins achtzig groß, hatte einen riesigen Bierbauch, einen zotteligen Bart und hörte auf den unwahrscheinlichen Spitznamen Junior. Harper hatte einmal gesehen, wie er drei Männer gleichzeitig rausgeworfen hatte, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten.
«Es ist ein dreckiger Job, aber einer muss ihn ja machen», sagte sie, hob die Faust und stieß sie mit seiner zusammen.
Junior lächelte und zeigte eine Reihe Zähne, die so ungleich waren, als hätte er sie sich zusammengeklaut.
«Bonnie wartet schon. Sie hat was von Tequila Sunrise gesagt.»
«Mai Tai», verbesserte sie ihn laut, damit er sie bei dem Lärm überhaupt hörte. Dann ging sie weiter in das überfüllte, schummrig beleuchtete Lokal.
Wie der Name sagte, befand sich die Bar in einer ehemaligen Bücherei. Eigentlich waren die Räumlichkeiten total ungeeignet – die alten Leseräume waren klein und viel zu voll, aber irgendwie funktionierte es trotzdem.
Harper mochte den Laden, nicht nur weil Bonnie hier hinter der Theke stand, sondern auch weil sie garantiert niemanden von der Arbeit traf. Die meisten Leute waren zwischen zwanzig und dreißig, rauchten gefälschte Markenzigaretten und diskutierten laut über Nietzsche und Politik. Ein Cop würde sich nicht mal im Traum hierher verirren, und die Journalisten gingen lieber ins Rosie Malone’s, einen Irish Pub in Flussnähe, wo die Lokalpolitiker abhingen.
Die Bücherei war Harpers Laden.
Sie mochte es, dass immer noch die Originalregale an den Wänden standen, voll mit Taschenbüchern, die man ausleihen und tauschen konnte. Man musste nur eine einzige Regel einhalten, die auf einem Schild neben der Tür stand: «Bitte keine Pornos, wir sind Kinder.»
Harper drängelte sich Richtung Theke durch, die in dem Raum war, wo früher der Schreibtisch der Bibliothekarin gestanden hatte. Die Luft dampfte regelrecht, es roch nach Schweiß und verschüttetem Bier, und durch die offene Tür wehte Regen herein.
Bonnie war nicht schwer zu finden – sie hatte sich vor kurzem pinke Strähnchen in das lange, blonde Haar gefärbt, und in dem schummrigen Halbdunkel strahlte sie wie ein Leuchtfeuer. Der Strähnchenlook passte perfekt zu dem Minirock in Leopardenprint und den Cowboy-Stiefeln. Und mit ihrer Figur konnte sie wirklich alles tragen.
Die beiden waren Freundinnen seit Kindertagen und fast wie Schwestern. Bonnie war Künstlerin wie Harpers Mutter. Da man damit nichts verdiente, machte sie vier Nächte die Woche die Bar in der Bücherei und gab zusätzlich ein paar Kurse an der Kunsthochschule – womit sie gerade genug verdiente, um sich eine billige Wohnung in einem dubiosen Viertel leisten zu können.
Bonnie schenkte gerade fünf Tequilas gleichzeitig ein und redete wie ein Wasserfall. Der ziegenbärtige Typ in dem schicken Hemd, der auf seine Getränke wartete, sah sie fast sehnsüchtig an.
Als Bonnie kurz Luft holen musste, nutzte Harper ihre Chance und zeigte auf die Gläser. «Ist nett gemeint, aber so durstig bin ich gar nicht.»
Sofort schrie Bonnie auf und schob dem erschrockenen Ziegenbart die Tequilas zu. Sie hüpfte auf die Theke, schwang die Beine rüber, sprang vor Harper auf den Boden und schloss sie in die Arme.
«Ich kann nicht glauben, dass du da bist. Du hasst es, in der Tourisaison auszugehen.»
«Wie könnte ich einem tropischen Cocktail je widerstehen», sagte Harper.
«Dann mach ich dir ab jetzt jeden Abend einen Mai Tai.» Bonnie betrachtete Harpers Gesicht. «Wie geht’s? Schöner Lippenstift übrigens.»
«War ein echt merkwürdiger Abend.» Harper zuckte mit den Achseln. «Und der Lippenstift ist von dir.»
«Hab ich mir gedacht. Ich habe einen extrem guten Geschmack. Du solltest mich auch deine Schuhe aussuchen lassen.» Damit sprang Bonnie wieder hinter die Theke und landete vor der langen Reihe glänzender Flaschen. «Bleib da stehen. Ich mach dir den Drink, und dann kannst du mir von dem merkwürdigen Abend erzählen.»
Genau in diesem Augenblick schob sich eine Gruppe offensichtlich durstiger und lachender Typen Richtung Theke, die Kreditkarten schon in der Hand. Bonnie warf Harper einen verzweifelten Blick zu. «Zuerst muss ich leider all diese Leute loswerden.»
Ohne Eile zog Harper sich einen Barhocker heran und setzte sich. Trotz der Lautstärke und des Chaos fand sie es irgendwie schon beruhigend, überhaupt hier zu sein. Bonnie war der einzige Mensch auf der Welt, der sie ganz genau kannte, und Harper konnte ihr wirklich bei gar nichts etwas vormachen. Und im Augenblick brauchte sie jemanden, der sie durchschaute.
Sie hatten sich an Bonnies sechstem Geburtstag kennengelernt. Bonnies Familie war ein paar Wochen vorher ins Nachbarhaus gezogen. Sie hatte schon oft gesehen, wie das Mädchen mit dem beneidenswert langen, blonden Haar auf dem Fahrrad den Gehweg auf und ab gerast war, eine Handvoll Brüder im Schlepptau. Man konnte sie nicht übersehen.
Auch wenn ihre bescheidenen Häuschen von außen fast identisch aussahen, war Bonnies lautes, enges Heim das Gegenteil von Harpers. Harper war Einzelkind. Allerdings nicht auf die arme, einsame Art. Eher verwöhnt und geliebt.