Echokammer - Ingar Johnsrud - E-Book

Echokammer E-Book

Ingar Johnsrud

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Beschreibung

Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Brandaktuell und hochexplosiv!  Echokammer ist die skandinavische Thriller-Sensation des Jahres – der erste Band der preisgekrönten neuen Krimi-Trilogie des norwegischen Erfolgsautors Ingar Johnsrud Während die Wahl des norwegischen Parlaments immer näher rückt, herrscht bei der Terrorabwehr höchste Alarmbereitschaft: Es gibt Hinweise auf einen bevorstehenden Anschlag. Im Verdacht steht eine Gruppe rechtsnationaler Extremisten, die im Besitz einer großen Menge Rizin sein sollen. Doch was genau haben die Terroristen damit vor?  »Intensive, albtraumhafte Spannung auf internationalem Niveau.« Nettavisen Die Anti-Terror-Ermittler Liselott Benjamin und Martin Tong versuchen fieberhaft, den Anschlag zu vereiteln. Währenddessen geht der Wahlkampf in die heiße Phase. Die Spitzenkandidatin der Arbeiterpartei sieht sich auf der Zielgeraden zur Machtübernahme – und nimmt dafür zunehmend zweifelhafte Mittel in Kauf. Mittendrin: Jens Meidell, ihr juristischer Berater. Je tiefer er sich in die politischen Ränkespiele verstrickt, umso mehr gerät er mit dem Rücken zur Wand: Wie weit ist er bereit zu gehen: um der Partei zurück an die Macht zu verhelfen? Um die Demokratie vor rechten Umsturzplänen zu retten? Und vor allem: um seine eigenen dunklen Geheimnisse ein für alle Mal zu begraben? Echokammer ist der Polit-Thriller der Stunde – ein nervenaufreibender, spannungsgeladener Page-Turner um Rechtsterrorismus und die Gefahr der Neuen Rechten, um machtpolitisches Kalkül, Wahlkampfintrigen und Datenmanipulation. Nordic Noir at its best! »Der beste norwegische Thriller der letzten zehn Jahre!« krimlitteratur.com

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Seitenzahl: 499

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ingar Johnsrud

Echokammer

Thriller

Aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Die Parlamentswahlen stehen unmittelbar bevor, der Wahlkampf läuft auf Hochtouren. Was niemand weiß: Die Terrorabwehr geht Hinweisen auf einen drohenden rechtsterroristischen Anschlag nach. Der Countdown läuft. Während die Ermittler Liselott Benjamin und Martin Tong fieberhaft versuchen, die Drahtzieher ausfindig zu machen und den Anschlag zu vereiteln, geht der Wahlkampf in die entscheidende Phase. Dabei nimmt die Spitzenkandidatin der Arbeiterpartei zunehmend zweifelhafte Mittel in Kauf. Umso mehr steht Jens Meidell, ihr juristischer Berater, mit dem Rücken zur Wand: Wie weit ist er bereit zu gehen – um der Partei an die Macht zu verhelfen? Um die Demokratie vor rechten Umsturzplänen zu retten? Und vor allem: um seine eigenen dunklen Geheimnisse ein für alle Mal zu begraben?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

PROLOG

Finnskogen, Waldgebiet in Ostnorwegen, [...]

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

TEIL II

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

TEIL III

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

EPILOG

Nittedal, zehn Tage nach [...]

»Und nichts gibt größere Macht über die Menschen als die Lüge. Denn die Menschen, Söhnchen, leben von Vorstellungen. Und die kann man lenken. Diese Macht ist das Einzige, was zählt.«

 

Michael Ende, Die unendliche Geschichte

PROLOG

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Finnskogen, Waldgebiet in Ostnorwegen, fünfunddreißig Tage vor der Parlamentswahl, Morgen

Wahrscheinlich hatte die Elster sich den Flügel gebrochen. Zumindest war sie am Leben, bemühte sich unentwegt, hochzuflattern, plumpste jedoch immer wieder auf den Waldweg. Ihre schwarzen Federn glänzten in der Morgensonne, die hellen unter dem Bauch waren vom Staub und von der Anstrengung grau geworden. Dann kam der Volvo angefahren, und der Vogel unternahm einen letzten, panischen Versuch.

Der Fahrer registrierte nicht, dass die Elster an der Ölwanne anschlug. Er bekam nicht mit, dass sie im Sog mitgerissen und vom Weg geschleudert wurde. Ebenso wenig bemerkte er den märchenhaften Dunst zwischen den Bäumen oder die Spinnweben in der Schafgarbe am Wegesrand. Für ihn war der Waldrand eine Wand und der holprige Pfad die einzige Lebensader hinaus aus der Sackgasse, in die er geraten war. Eine Fluchtroute, und wie die meisten Fluchtrouten war sie bedrohlich und unvorhersehbar.

Als er vor einigen Monaten hierhergezogen war, war alles noch anders gewesen. Jeder Morgen ein Wunder, jeder Tag eine Erinnerung daran, dass bald ein neuer Wind über die Nation fegen würde.

Was hatten sie gesagt an dem Abend, an dem er draußen auf dem Hof seine Hand auf die Flagge gelegt hatte?

»Meer, Schnee und Blut. Seele, Hoffnung und Wille.«

Wie naiv er gewesen war.

Die Seele hatte keine Ruhe gefunden, und die Hoffnung war wie Nebel verdunstet. Blut hingegen hatte er gesehen. Und dem Blut folgte der Tod.

Der Tod war Erbrechen, ein Eimer und das Bitten um Gnade. Der Tod war Schweiß, stinkende Laken und Hass. Der Tod war ehrlos und feige.

 

Um ihn herum ragte der Wald empor, der Schotterweg war eine Rinne zwischen einer Armee aus Baumstämmen. Er erhöhte den Druck auf das Gaspedal. Der Luftzug durch das geöffnete Fenster wurde stärker, über den Baumwipfeln funkelte grell die Sonne und nahm ihm die Sicht. Er schaffte es nicht, die Blende herunterzuklappen, bevor er begriff, dass dort auf der Fahrbahn etwas war. Die Bremsen quietschten. Er riss das Lenkrad zur Seite.

TEIL I

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Drøbak, Stadt am Ostufer des Oslofjords, fünfunddreißig Tage vor der Parlamentswahl, Nachmittag

Der Applaus war kaum hörbar, das Auditorium halb gefüllt und der überwiegende Anteil der Zuhörer älter als er. Viele trugen Hemden, die in Herzhöhe mit der roten Rose der Arbeiterpartei bestickt waren.

Jens Meidell war im Begriff, die Bühne zu verlassen, als sich in der hintersten Reihe eine Frau erhob und lautstark klatschte.

»Bravo!«

Es war die stellvertretende Vorsitzende der Partei, Christina Nielsen, die sich nun ihren Weg an der Bankreihe entlang nach vorn bahnte, um an der anschließenden Podiumsdiskussion teilzunehmen. Sie hatte ihn hierhergebeten, und als sie einander auf der Treppe begegneten, umarmte sie ihn. »Ich vermute, du hast die Herzschrittmacher in Aufruhr versetzt«, sagte sie leise.

Für Jens Meidell gab es keine andere Partei als die Arbeiterpartei. Seine Mutter hatte einst den Vorsitz innegehabt. An dem Tag, an dem Jens ihr mitgeteilt hatte, dass er sich auf eine Stelle als Jurist bei der Polizei beworben hatte, hatte sie ihn mit einem eisigen Blick bedacht und ihn wissen lassen, dass die Familie Meidell nicht dazu vorgesehen war, das Gesetz auszulegen. Ihre Aufgabe bestünde alleine darin, die Gesetze zu machen.

Seine Rede war unverblümt gewesen, und Jens hatte sein Publikum provoziert. Jetzt war dort vorn auf der Bühne eine hitzige Debatte losgebrochen, bei der Christina ihn in Schutz nahm. Jens stellte fest, dass die Medien recht hatten. Christina Nielsen hatte ein mahnendes Wesen, einen Glanz, der einen Kontrast zu den anderen, bürograuen Gesichtern bildete. Der Glanz von Teflon, behaupteten ihre Kritiker.

Sie war ein paar Jahre älter als er, Anfang vierzig, wie immer in Rot gekleidet und die hellbraunen Haare am Hinterkopf zum charakteristischen Dutt zusammengefasst. Christina war mit einem der Nestoren der Partei verheiratet gewesen. Als er die Öffentlichkeit darüber informierte, an der unheilbaren Krankheit ALS zu leiden, machten viele Menschen die Bekanntschaft mit der zwanzig Jahre jüngeren, eloquenten Frau an seiner Seite. Nach seinem Tod war sie in einer Talkshow zu Gast und berichtete von dem gnadenlosen Weg hin zum unausweichlichen Ende, nutzte den Anlass jedoch auch, um über Politik zu sprechen. Freimütig setzte sie zum Angriff auf eine Arbeitswelt an, in der normale Menschen von unterbezahlten Osteuropäern verdrängt würden, und gegen ein Gerichtswesen, das Kriminelle verhätschele. Sie malte nationalromantische Bilder von den weichen Händen der Krankenschwestern und den groben Pranken der Arbeiter, die den zerbrechlichen Wohlfahrtsstaat aufrechterhielten. Christina Nielsen stand für die neue, volksnahe Arbeiterpartei. Jetzt war sie seit anderthalb Jahren stellvertretende Vorsitzende, und die Zeitungen schrieben ihr die Ehre dafür zu, dass die Partei auf dem besten Weg war, einen sensationellen Wahlerfolg zu erzielen.

»Würde dein Name nicht im Programm stehen, hätte ich dich nicht wiedererkannt.«

Jens hob den Blick. Die Stimme gehörte Waldemar Greger. Der Parteichef war klein und kräftig. Mit seinem runden Bauch und dem Haarkranz, den grauen Resten eines einst lockigen Buketts, war Greger zur wahren Freude der Zeitungszeichner geworden. Die Diskussion war beendet, Jens stand auf und ergriff die ihm entgegengestreckte Hand.

»Du bist erwachsen geworden«, sagte Waldemar. »Ich erinnere mich an die Zeit, als du im Büro deiner Mutter herumgekrabbelt bist. Du und dein Bruder. Ihr zwei Kleinen habt viel Freude verbreitet.« Der Händedruck war warm und herzlich. »Allerdings war es nicht gerade eine Botschaft der Freude, die du heute dabeihattest.«

»Es war gut gemeint«, entgegnete Jens, woraufhin der Parteichef das Thema fallen ließ.

»Wie ich gehört habe, steht es um Ingrids Gesundheit aktuell nicht zum Besten.«

»Mutter ist alt geworden«, sagte Jens. »Sie war während der Coronapandemie im Krankenhaus und hat Mühe, wieder auf die Beine zu kommen.«

»Grüß sie ganz herzlich von mir. Ich habe deiner Mutter viel zu verdanken.«

»Ich hoffe, du versuchst nicht, ihn mir zu stehlen?« Mit der größten Selbstverständlichkeit drängte Christina Nielsen sich zwischen sie, und Waldemars Lächeln verschwand. »Jens hat zugestimmt, mein kriminalpolitischer Berater zu werden.«

Die zerzausten Augenbrauen des Parteivorsitzenden gingen nach oben. »Wirklich?«

Es war bekannt, dass die beiden Parteispitzen einander nicht ausstehen konnten, und Jens überkam das Gefühl, auf einer Eisscholle zu stehen. Ein Schritt zu Waldemar, und sie würde in die eine Richtung, ein Schritt zu Christina, und sie würde in die entgegengesetzte Richtung kippen. »Vorläufig handelt es sich nur um ein Engagement bis zur Wahl«, erklärte er. »Ich spiele seit einer Weile mit dem Gedanken. Und als Christina gefragt hat …«

»Vermutlich liegt es dir im Blut«, erwiderte Waldemar kurz angebunden.

Ein junges Mädchen hatte sich hinter Jens gestellt und klopfte ihm ungeduldig auf den Rücken. Ihre rabenschwarzen Haare ergossen sich über die Schultern eines viel zu großen Hemdes. Das Hemd hatte sie von Jens, die Haare von ihrer Mutter.

»Apropos Blut«, sagte Greger, »das muss deine … Tochter sein?«

Für Außenstehende dürfte das Zögern kaum wahrnehmbar gewesen sein, Jens aber wusste, dass die kurze Unterbrechung viele Fragen beinhaltete. »Ja, das ist Liv«, antwortete er.

Liv, die in wenigen Wochen ihren dreizehnten Geburtstag feierte, grüßte ohne besondere Ehrfurcht, als der Parteichef ihre kleine Hand in seine packte. »Du bist vermutlich in der Parteijugend?«

»In der AUF? Dafür bräuchten sie eine neue Tierschutzpolitik«, ließ sie ihn wissen.

»Liv ist Vegetarierin«, erklärte Jens.

»Pescetarierin!«, präzisierte Liv. »Gehen wir bald?«

Waldemar wieherte. »Ja, ja. Wer in jungen Jahren nicht radikal ist, hat kein Herz. Wer als Erwachsener aber kein Sozialdemokrat wird, hat kein Hirn.«

Kapitel 2

Finnskogen, fünfunddreißig Tage vor der Parlamentswahl, Nachmittag

Autounfällen haftet ein ganz eigener Geruch an. Nach verbranntem Gummi, Staub, Öl, Treibstoff und zerschmettertem Metall, ein Dunst von überhitztem Lack. An diesem Unfallort fand sich zudem ein Hauch von zerborstenem Holz, am stärksten war jedoch der Geruch von Blut. Das war nicht verwunderlich in Anbetracht dessen, dass es den Elch vom Schulterblatt bis zum Bauch aufgeschlitzt hatte.

Es war Anfang August, und die Abendsonne hatte es nicht eilig, unter die Baumwipfel zu gelangen. Ermittlerin Liselott Benjamin schwitzte in ihrer Jacke, während sie die Länge der Bremsspur auf dem Schotterweg maß. Zusammen mit einem jungen Polizisten, zwei Mitarbeitern des Rettungsdienstes, vier Feuerwehrleuten und dem bewusstlosen Mann in dem verunglückten Auto befand sie sich im Finnskogen, eine Stunde Fahrzeit von der Hauptstraße entfernt, nahe der schwedischen Grenze, an einem Forstweg, der vor allem von Holztransportern und Alkoholschmugglern genutzt wurde.

Der Länge der Bremsspur nach zu urteilen, war der ältere Volvo mit unerlaubt hoher Geschwindigkeit durch die schwache Kurve gekommen, bevor er in etwa dort, wo jetzt der Dienstwagen am Wegesrand stand, einen Schlenker gemacht hatte. Wahrscheinlich hatte der Fahrer dort den Elch bemerkt. Dann hatten die Räder vermutlich blockiert, denn die Reifenspuren führten geradeaus weiter. Irgendwann im Laufe dessen war das Auto mit dem Tier kollidiert, wobei die Fellreste in den Glassplittern rund um die zertrümmerte Windschutzscheibe darauf hindeuteten, dass der Elch in das Fahrzeug hineingeschleudert worden war. Während der Körper des Tiers den Brustkorb des Fahrers zerquetschte, schoss das Auto über den Wegesrand hinaus, bis eine Fichte der Fahrt schließlich ein Ende setzte. Der Zusammenstoß musste dazu geführt haben, dass der Elch wieder aus dem Auto hinausbefördert worden war.

Das Verwunderliche war, dass es sich hierbei nicht um einen tödlichen Unfall handelte. Zumindest noch nicht. Der Elch lag aufgeschlitzt und mit gebrochenem Rücken neben dem Baum. Schnaubend starrte er den Polizisten an, der nunmehr mit dem Gewehr herumhantierte.

»Du bist sicher, dass du damit umgehen kannst?«, fragte Liselott den Beamten, als er endlich die Patrone an Ort und Stelle befördert hatte. Dieser murmelte ein Ja.

Eine Mitarbeiterin des Rettungsdienstes lag auf der eingedrückten Motorhaube des Autos und schob sich mit dem Oberkörper durch die Öffnung, an der sich einst die Windschutzscheibe befunden hatte, ins Wageninnere. Ihr Kollege kniete an der Fahrerseite. Zusammen arbeiteten sie daran, den Kopf und den Nacken des Fahrers zu sichern. Die Feuerwehrleute bereiteten Hydraulikscheren und Klemmen vor, um das Dach abzutrennen und den Patienten herauszuholen, sobald dieser stabilisiert war. Liselott ging durch das Heidekraut zur zerbrochenen Scheibe auf der Beifahrerseite. Die linke Gesichtshälfte des Fahrers, die Hälfte, die sie jetzt nur undeutlich erahnen konnte, war ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Wange war aufgerissen, und der untere Lappen, oder wie man es nun nennen mochte, hing wie ein Stück Schwarte unter dem Kinn.

Die andere Gesichtshälfte war unversehrt. Daher ließ sich feststellen, dass es sich um einen Mann in den Zwanzigern handelte, mit heller, frisch rasierter Haut und kahl geschorenem Schädel. Er trug ein grobfaseriges Arbeitshemd und eine Militärhose. Die Blutflecken auf der Hose waren dunkel und eingetrocknet, und Liselott erinnerte sich daran, was der Forstarbeiter gesagt hatte, der den Unfall gemeldet hatte. Dieser Weg wurde an Sonntagen kaum genutzt. Es mussten Stunden vergangen sein, seit der Unfall geschehen war.

»Hat er ein Portemonnaie, irgendwas, das ihn identifizieren kann?«

Einer der Rettungssanitäter schaute hinter dem Kopf des Fahrers hervor. »Die Taschen sind leer.«

Vorsichtig schob Liselott ihren Oberkörper durch die Fensteröffnung. Der Beifahrersitz funkelte vor Glaskristallen, während die heisere Atmung des nach Luft ringenden Mannes den Innenraum des Wagens erfüllte. Das Handschuhfach war leer. Sie überprüfte die Sonnenblenden und den Bereich zwischen den Sitzen, fand jedoch nichts außer ein paar gebrauchten Pappbechern. Die Uhr am Armaturenbrett war wenige Minuten vor sieben stehen geblieben. Das war fast einen halben Tag her. War das der Unfallzeitpunkt?

Dann ertönte ein Schuss, und der Elch machte seinen letzten Atemzug. Die Rettungssanitäterin, die über der Motorhaube gelegen hatte, rutschte zurück und platzierte ihre Füße auf dem Boden. »Wir sind bereit«, sagte sie. »Lasst ihn uns rausholen.«

Das Geräusch von Metall, das aufgebogen und in Stücke geschnitten wurde, pfiff in den Ohren. Liselott rief die Einsatzzentrale an. Sie gab das Kennzeichen des Volvos durch, erhielt eine Antwort, die sie stutzen ließ, und gab das Kennzeichen erneut durch. An der Antwort änderte das jedoch nichts.

Als das Dach aufgebrochen war und die Feuerwehrleute sich an die Feinarbeit machten, wagte sich Liselott zurück zum Auto. Der Kofferraum ließ sich einfach öffnen. Darin stand ein halb voller Benzinkanister. Vor der Rückseite der Hintersitze lag eine Mülltüte. Sie war schwer, weshalb Liselott beide Hände benötigte, um sie herauszuhieven. Mithilfe des Bediensteten schleppte sie sie zum Schotterweg.

»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte Liselott. »Der Zentrale zufolge sind die Nummernschilder gestohlen.«

Sie riss die Mülltüte auf, die voller Haushaltsabfall war. Konservendosen, Kaffeesatz, Kartoffelschalen und Plastikverpackungen sowie etwas, das Nussschalen mit einem sonderbaren, kastanienbraunen Muster ähnelte. Ganz unten in der Mülltüte fand sie einen Wanderrucksack. Auf den Aufhänger war etwas mit Permanentmarker geschrieben worden: »Heike d.K.«.

»Sagt dir der Name irgendwas?«

Der Bedienstete schüttelte den Kopf. Der Rucksack enthielt eine Regenjacke, eine Wasserflasche, ein altes, ausgeschaltetes Nokia-Handy sowie eine kaputte Spiegelreflexkamera. Die Linse war zerstört, und die Speicherkarte fehlte.

»Komisch«, sagte sie zu dem Bediensteten und bat ihn, Asservatentaschen aus dem Auto zu holen. »Solche Kameras sind teuer. Man sollte annehmen, das ließe sich reparieren.«

Sie packten die Kamera in eine Tasche, das Handy in eine andere, den Wanderrucksack in die dritte und den restlichen Müll in ein paar Plastiktüten. Der Fahrer wurde auf eine Trage gehoben. Als die aufgerissene Wange samt Zahnreihe in ihre Richtung klaffte, wandte der Bedienstete den Blick ab.

»Überlebt er?«, erkundigte sich Liselott, nachdem die Trage im Krankenwagen verstaut war.

»Er atmet. Den Rest müssen die Ärzte klären«, antwortete einer der Rettungssanitäter.

 

Auf dem Rückweg in die Zivilisation war der Polizeibedienstete vor allem an dem Elch interessiert. Es war der erste Schuss gewesen, den er im Dienst abgefeuert hatte. Liselott bat ihn, einen Abschleppdienst für das Auto zu organisieren. Sie ihrerseits rief die Zentrale an. »Heike d.K.« stellte sich als Abkürzung für Heike de Klerk heraus. Sie war offensichtlich neu in der Gegend, eine Niederländerin im Alter von vierundzwanzig Jahren. De Klerk war in den Systemen der Polizei registriert, nachdem sie und ihr Lebensgefährte, Faroukh Kaag, vor einigen Monaten wegen Schafdiebstahls angezeigt worden waren.

»Schafdiebstahl?«

»Das Paar lebt vermutlich auf einem abgelegenen Hof irgendwo da draußen«, entgegnete der Mitarbeiter der Einsatzzentrale am anderen Ende der Leitung. »Einer der Bauern der Gegend hat sie wegen Diebstahls mehrerer Lämmer seiner Herde angezeigt.«

»Sind wir den Anzeigen nachgegangen?«

»Nein.«

Liselott wartete, bis ihr Kollege das Gespräch mit dem Abschleppdienst beendet hatte. »Faroukh«, sagte sie zu ihm. »Der Fahrer ist wahrscheinlich Niederländer, Faroukh Kaag.«

»Kein Ortsansässiger, also«, entgegnete er. Es schien, als würde er in dieser Auskunft eine Art Trost finden.

Als sie sich dem Polizeirevier in Kongsvinger näherten, verdichteten sich die Wolken. Dann setzte der Regen ein.

Kapitel 3

Drøbak, fünfunddreißig Tage vor der Parlamentswahl, Abend

Warum heißt es Meidell-Skandal?«

Jens Meidell öffnete die Augen einen Spaltbreit. Nach dem Abendessen waren Liv und er aufs Hotelzimmer gegangen, um auszuspannen, aber er musste eingeschlafen sein. Draußen war es dunkel, und Regen rieselte in eine Dachrinne. Vom Nebenbett waren gedämpfte Bassschläge zu vernehmen, die aus einem Paar Kopfhörer drangen. Jens schob sich in Sitzposition nach oben und sah auf die Uhr. Er hatte eine Verabredung und war spät dran. »Was hörst du da?«

»Labo’D«, ließ die Tochter ihn wissen. »Zwei Mädels aus Bergen. Sie sind cool. Aber warum heißt es Meidell-Skandal?«

»Warum fragst du danach?«

Liv zeigte ihm das Buch, in dem sie las, Niemals zerbrochen. Christina Nielsen hatte es ihm während des Abendessens gegeben. Die stellvertretende Vorsitzende der Arbeiterpartei hatte es selbst geschrieben. Auf dem Cover war ein Foto von Christina und ihrem Ehemann zu sehen, auf dem sie Händchen hielten. »Hier steht, dass sie durch den Meidell-Skandal verstanden habe, wie mächtige Männer sich zusammenrotten.«

»Nun.« Jens platzierte seine Füße auf dem Boden. »Du weißt doch, dass Großmutter als Parteivorsitzende zurücktreten musste«, sagte er. »Aber weißt du auch, warum?«

»Hatte es nicht irgendwas mit Steuern zu tun?«

»Als ich ein bisschen jünger war als du, wurde Großmutter als erste Frau zur Vorsitzenden der Arbeiterpartei gewählt. Sie war bereits Justizministerin gewesen, und alle glaubten, sie würde auch die erste Ministerpräsidentin des Landes werden. Aber im Frühjahr vor der Parlamentswahl fingen die Zeitungen an, über ihren Vater zu schreiben, deinen Urgroßvater. Sie deckten auf, dass er viele Immobilien besessen hatte, und um keine Steuern zahlen zu müssen, es so gedreht hatte, dass es den Anschein hatte, sie würden einem Unternehmen in Luxemburg gehören.«

»Er hat betrogen?«

»Ja.«

»Aber was hat das mit Oma zu tun?«

»Sie war seine Erbin. Dein Urgroßvater ist plötzlich gestorben, und Großmutter sagte den Zeitungen gegenüber, dass sie nichts von den Immobilien gewusst habe. Dann aber tauchte ein Brief von einer Bank in Luxemburg auf, in dem sie als Vorstandsmitglied des besagten Unternehmens aufgeführt war.«

Die Erbsünde war in Livs Gesicht zu lesen, als sie die Kopfhörer wegschob. »Sie war also daran beteiligt?«

»Großmutter gab an, Urgroßvater habe ihren Namen ohne ihr Wissen dort angeführt. Aber das half nichts. Der ganze Aufruhr ruinierte den Wahlkampf. Die Arbeiterpartei verlor die Wahl, und Großmutter war gezwungen, als Parteivorsitzende zurückzutreten.«

»Glaubst du, dass sie die Wahrheit gesagt hat?«

»Das Gericht hat sie freigesprochen.«

»Das war nicht die Frage.«

Die Unermüdlichkeit seiner Tochter zwang Jens unweigerlich zu einem Lächeln. »Ich weiß es nicht. Unabhängig davon bekam das Ganze den Namen Meidell-Skandal.«

»Aber warum schreibt sie, dass mächtige Männer sich zusammengerottet haben?«

»Irgendjemand hat den entlarvenden Brief an die Medien weitergeleitet«, sagte Jens. »Einige glauben, es waren Leute aus der Partei, die sie loswerden wollten. Mächtige Männer, die keine Frau als Parteivorsitz haben wollten.«

 

Die Stimmung im Bankettsaal war ausgelassen, und es wimmelte nur so von Parteileuten. Jens hatte versprochen, mit Christina ein Glas zu trinken, bevor es ihm jedoch gelang, nach ihr zu suchen, wurde er von einer sommersprossigen jungen Frau mit Parteibluse und Stolze Feministin-Button auf der Brust angehalten. »Wir haben über deinen Vortrag diskutiert«, sagte sie. »Es ist schon interessant, zu meinen, dass brutale Strafen die Gesellschaft besser machen würden.« Sie warf den Jugendlichen, mit denen sie zusammenstand, einen Blick zu, so als sei die Konfrontation die Reaktion auf eine Herausforderung.

Jens hatte während seines Vortrags ein Video gezeigt. Darin waren Opfer aus Fällen zu sehen, die er vor Gericht vertreten hatte. Die Opfer erzählten, wer sie waren, bevor sie vergewaltigt, niedergestochen oder überfallen worden waren, und zu wem diese Verbrechen sie gemacht hatten. Sie beschrieben ein System, das sich mehr für die Rechte der Täter als die der Opfer interessierte.

»Ich habe nicht gesagt, dass die Strafen brutal sein sollten«, entgegnete Jens, unsicher, ob es klug war, den Fehdehandschuh aufzunehmen. »Kriminelle sollen durchaus human behandelt werden, ihnen sollen der Schulbesuch und ein Weg zurück in die Gesellschaft ermöglicht werden. Wer jedoch keinen Willen zur Besserung zeigt, muss begreifen, dass dies Konsequenzen haben wird.«

»Viele Gewalttäter sind selbst Opfer von Gewalt. Verdienen nicht auch sie Verständnis?«, wandte die junge Frau ein.

»Was sie verdienen, ist eine deutliche Reaktion. Eine strenge Strafe ist die Art und Weise der Gesellschaft, dem Täter mitzuteilen, dass seine Handlungen etwas bedeuten.«

»Man erweist Menschen also Respekt, indem man sie einsperrt? Das ist lächerlich«, sagte sie.

»Ein Bekannter hat seine gesamte Kindheit hindurch Prügel bezogen«, warf ein anderer der Jugendlichen ein. »Im vergangenen Jahr wurde er verurteilt, weil er seine Freundin geschlagen hat. Wie lange soll er einsitzen?«

Jens war es leid. »So lange, bis er aufhört, seine Freundin zu schlagen.«

»Lebenslang?«

»Wenn es das ist, was nötig ist.«

Der Ausweg kam in Form von Christinas persönlicher Beraterin. Sie hieß Guri, ihr Kleid war ein knisterndes Feuerwerk und ihr schwarzer Pony schnurgerade. »Da bist du. Christina wartet.« Sie nickte Jens zu. »Es klingt, als seid ihr fertig. Zurück jetzt zur Kolloquiengruppe«, sagte sie zu den Jugendlichen.

 

Aus dem Bankettsaal waren lautstarkes Gerede, Gelächter und Musik zu vernehmen. Im Besprechungsraum nebenan erklang unterdessen ein leises Ploppen, als Guri den Korken aus einer Flasche Crémant beförderte, so als würde sie einem Huhn den Hals umdrehen.

»Mein Kriegsrat«, sagte Christina und ließ die Handykamera von sich selbst über die drei anderen im Raum gleiten. »Daniel, Jens und Guri. Das beste Team, das man im Wahlkampf an seiner Seite haben kann.« Sie stoppte die Aufnahme und wies mit dem Handy auf Guri. »Sorgst du dafür, dass das online gestellt wird?«

Für das durchschnittliche Arbeiterparteimitglied galt billige, schicke, großzügig geschnittene Kleidung als Ehrenzeichen. Daniel Carmichael hingegen trug einen maßgeschneiderten Anzug und eine meerblaue Krawatte. Obwohl Jens ihn altersmäßig eher näher der vierzig als der fünfzig verortete, waren seine Haare bereits silbergrau. Sein Handrücken war trocken, sein Akzent selbstsicher.

»Mein Vater ist Brite, meine Mutter Norwegerin. Aufgewachsen bin ich auf Zypern«, sagte Carmichael, als er sich dafür entschuldigte, nicht gewusst zu haben, dass Jens der Sohn einer ehemaligen Parteivorsitzenden war.

»Daniel ist unser Mann bei Munin Grafikos«, erklärte Guri, und Jens beschlich nun wiederum das Gefühl, dass er hätte wissen sollen, worum es sich dabei handelte.

»Wir betreiben Wahlanalyse.« Carmichael schob eine Visitenkarte über den Tisch. Der Slogan »Wir sehen den ganzen Menschen« stand über eine Reihe griechischer Säulen geschrieben, in die die Buchstaben M und G eingraviert waren. Dasselbe Symbol trug Carmichael als Anstecker am Sakko.

Während Guri einschenkte, streifte Christina einen Schuh ab, legte den Fuß über den Oberschenkel und nahm einen feuerroten Streifen über dem Spann in Augenschein. »Die Partei hat mir die Verantwortung übertragen, diesen Wahlkampf zu leiten. Ich habe Daniel engagiert. Sein Unternehmen verfügt über umfassende Erfahrungen und weiß, wie ein moderner Wahlkampf strategisch ausgerichtet werden muss.«

»Es reicht also nicht aus, Rosen zu verteilen?«, ulkte Jens.

Carmichael begriff den Scherz nicht. »Rosen wird es geben. Unsere Arbeit findet jedoch hauptsächlich auf der digitalen Ebene statt. Wir haben uns darauf spezialisiert, die Wählermasse kennenzulernen. Die richtige Botschaft für die richtige Person«, sagte er, so als wäre auch das ein Slogan. »So gewinnt man im einundzwanzigsten Jahrhundert Wahlen.«

Christina wechselte das Thema. »Ich habe Waldemar Bescheid gegeben, dass ich erwarte, den Justizministerposten zu bekommen«, sagte sie. »Das ist selbstverständlich höchst unangemessen, aber das schert mich nicht. In diesem Zusammenhang will ich bekannt geben, dass wir eine Strafrechtsreform planen. Eine Reform, die die Opfer und den gesetzestreuen Bürger in den Fokus nimmt. Die Wähler müssen sehen, dass wir für sie in den Krieg ziehen.«

»Ich hatte gehofft, so etwas zu hören«, erwiderte Jens.

»Zu Zeiten deiner Mutter haben vier von zehn Norwegern für uns gestimmt. Heute sind dreißig Prozent als ein Erdrutschsieg zu betrachten. Viele von denen da draußen«, sie verwies auf den Bankettsaal, »werden behaupten, dass mit den Menschen etwas nicht stimmt. Dass sie sich von einfachen Lösungen für komplizierte Probleme verführen lassen. Die Wahrheit aber ist, dass die Wähler uns durchschaut haben.«

Jens hob die Augenbrauen, während Christina von Guri ein schmales Pflaster bekam. »Die Banden, von denen du in deinem Vortrag berichtet hast. Wie viele der Mitglieder haben Eltern, die in Norwegen geboren wurden? Fünf Prozent, zehn?«

»Ein paar mehr vielleicht, aber …«

»Wenn ich darauf hinweise, werde ich als Rassistin bezeichnet.« Christina kontrollierte das Pflaster, schlüpfte wieder in den Schuh und zog die Lederschnallen fest. »Aber glaub mir, wenn ich sage, dass ich farbenblind bin. Wofür ich hingegen nicht blind bin, ist, dass hart arbeitende Norweger den Glauben an das System verloren haben. Wenn die Wähler sehen, dass der Wohlstand nicht denen zugutekommt, die das Land aufgebaut haben, sondern Leuten, deren Beitrag nur aus Verbrechen besteht, dann sagen sie Stopp.« Sie holte mit den Händen aus. »Daniels Erhebungen sind kristallklar. Die Menschen bitten um nichts anderes, als dass wir für den Wohlfahrtsstaat kämpfen, den wir selbst erschaffen haben.«

Carmichael stimmte zu, indem er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.

Es klopfte, und kurz darauf tauchte im Türspalt ein lockiges Gewirr aus blonden Haaren über einem Paar leicht unsicher dreinblickender Augen auf. Es war eine junge Frau, und sie wies auf einen Notizblock und einen Füllhalter, die vor Jens lagen. »Könnte ich … wir hatten vorhin ein Meeting, und ich vergaß …«

»Kein Problem«, entgegnete Christina.

»Ich habe übrigens ein Interview für dich arrangiert«, sagte die Frau zu Jens, als dieser ihr die Sachen reichte. »Nichts Großes, aber das Polizeiforum würde gern mit dir sprechen.«

»Das war meine Idee«, sagte Guri. »Wenn Ingrid Meidells Sohn in die Politik geht, dachte ich, wäre das eine Nachricht wert.«

Jens zögerte. Er war davon ausgegangen, weitestgehend hinter den Kulissen zu agieren, nicht im Rampenlicht.

»Selbstverständlich sagst du zu«, mischte Carmichael sich ein. »Das ist ein Polizeimagazin. Gutes Training. Es liest sowieso keiner.«

Als die Frau ging, schaute Jens ihr durch das Fenster zum Bankettsaal nach.

»Emilie arbeitet in der Pressestelle«, ließ Christina ihn wissen. »Sie ist Waldemar Gregers Tochter.«

»Selbstverständlich«, rief er aus. »Sie ähnelt ihrem Vater.«

»Nur ein bisschen sympathischer«, kommentierte Christina trocken. »Waldemar hat zwei Wahlen in Folge verloren. Verliert er eine dritte, muss er den Posten als Parteivorsitzender räumen.«

»In den Prognosen steht ihr gut da«, sagte Jens.

»Wir«, lächelte Christina. »Spür nach, wie es sich anfühlt, dieses Pronomen auszusprechen.« Dann wurde sie wieder ernst. »Ich möchte so unbescheiden sein, zu sagen, dass die guten Prognosen in hohem Maße mein und Daniels Verdienst sind. Trotzdem behandelt Waldemar mich wie ein Haar in der Suppe.«

Jens hob abwehrend die Hände. »Wie du sicher weißt, war Waldemar der Berater und Unterstützer meiner Mutter. Ich werde für dich arbeiten, möchte aber nicht in die internen Konflikte der Partei hineingezogen werden.«

Christina warf Guri rasch einen Blick zu, so als hätte sie vorausgesagt, dass er so etwas äußern würde. »Zu unseren politischen Gegnern hast du aber eine Meinung?«

Die vergangenen acht Jahre war das Land von der rechtskonservativen Partei Høyre regiert worden, angeführt von Ministerpräsidentin Anita Vallengren. Es waren stürmische Zeiten gewesen, mit Pandemie, Krieg in Europa und wirtschaftlichen Unruhen, jedoch war die Nation den schlimmsten Sturzwellen eindeutig entgangen. »Um ehrlich zu sein, haben sie meiner Meinung nach gute Arbeit geleistet. Vallengren hat die bürgerlichen Parteien zusammengehalten. Sie wirkt stabil. Wird gemocht.«

»Anita Vallengren hat Krebs«, sagte Christina. »Es soll ernst sein. Sie plant, die Krankheit bis nach der Wahl geheim zu halten.«

Jens starrte sie skeptisch an, woraufhin Guri ihr Handy über den Tisch schob. Auf dem Display war ein Bild von der Ministerpräsidentin zu sehen, wie sie aus einer Tür des Radiumhospitals tritt. »Guri und Daniel sind der Ansicht, die Wähler hätten ein Recht darauf, es zu erfahren«, fuhr Christina fort. »Ich möchte gern deine Meinung hören.«

Jens sah von der einen zur anderen. »Könnte es nicht sein, dass sie vielleicht nur jemanden besucht hat? Oder zu einer Routineuntersuchung dort war, oder …«

»Wir sind uns sicher«, sagte Guri. »Jemand hat uns eine Kopie ihrer Krankenakte zukommen lassen.«

Jens schüttelte den Kopf. »Die Wähler mögen keine schmutzigen Spielchen. Sollte bekannt werden, dass du hinter einer solchen gezielten Indiskretion steckst, wirst du als vollkommen herzlos erscheinen. Die Medien werden dich als eine zynische Machtgierige darstellen, und Waldemar …« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, damit ist niemandem gedient.«

Christina hatte ihren Blick auf Carmichael gerichtet, der keine Miene verzog. »Mein Bauchgefühl sagt das Gleiche«, sagte sie und wandte sich an Guri. »Leg es zu den Akten. Wir gewinnen diese Wahl auf andere Weise.«

Kapitel 4

Ullevål-Krankenhaus, Oslo, vierunddreißig Tage vor der Parlamentswahl, Morgen

Der Morgen war kurz davor, in den Vormittag überzugehen. Ermittlerin Liselott Benjamin befand sich in einem der Flure von Gebäude 17 des Ullevål-Krankenhauses in Oslo. An der Decke kämpfte eine Schmeißfliege mit den Leuchtstoffröhren. Ihr Vater hatte einmal erzählt, dass die Larven von Schmeißfliegen eingesetzt würden, um das Fleisch in nicht heilenden Wunden zu verzehren. Dieser Methode bediente man sich hier in der Notaufnahme jedoch vermutlich nicht. Vielleicht hatte das Tier nur Zuflucht vor dem nächtlichen Regen gesucht.

Sie schickte den von ihr verfassten Bericht ab und klappte den Laptop zu. Durch das Glas in der Tür ihr gegenüber sah Liselott undeutlich den Mann, der gestern hierhergebracht worden war. Sein Kopf war komplett in Verbandsmaterial eingewickelt, und sie erahnte die sich hebende und senkende Brust. Unter der Bettdecke schaute eine blasse Hand hervor. Liselott stellte sich den metallischen Plopp vor, als die Krankenschwester die Nadelspitze durch die Versiegelung einer der kleinen Injektionsfläschchen drückte, den Inhalt heraussaugte und in den Venenkatheter auf seinem Handrücken spritzte.

Gestern Abend war sich Liselott noch sicher gewesen, wer der Verunglückte war. Der Rucksack im Kofferraum gehörte einer Niederländerin, und da war es nur logisch anzunehmen, dass es sich bei dem Autofahrer um ihren niederländischen Lebensgefährten handelte. Während der Zugfahrt nach Hause war jedoch erneut die Frage aufgetaucht, über die sie zuvor bereits gegrübelt hatte: Warum fuhr er ein Auto mit gestohlenen Kennzeichen?

Ab und an fühlte sich die einem Krähenschloss gleichende Villa in bester Lage im Osloer Westen zu groß für sie an, Liselott hatte für all die leeren Räume und den großen Garten keine Verwendung. Gestern hingegen war es gut gewesen, nach Hause in die Einsamkeit zu kommen. Anstatt ins Bett zu gehen, hatte sie sich mit dem Laptop auf dem Schoß in den Wintergarten gesetzt. Zuerst hatte sie eine Abfrage im Fahrzeugregister gemacht, das allerdings dieselbe Information ausspuckte, die zuvor schon die Zentrale durchgegeben hatte, nämlich, dass die Nummernschilder von einem Auto in Oslo gestohlen worden waren. Dann hatte sie die Fahrgestellnummer des Volvos überprüft, und das Rätsel war nur noch größer geworden: Der Wagen war vor ein paar Monaten zum Verschrotten abgeliefert worden, nachdem der Besitzer, ein alter Mann aus dem Finnskogen, verstorben war.

Von den öffentlichen Registern hatte sich ihre Recherche in die sozialen Medien verlagert. Heike de Klerk war vierundzwanzig und Faroukh Kaag siebenundzwanzig, das wusste sie bereits aus den registrierten Personendaten. Den Fotos auf Facebook nach zu urteilen, hatten sie bis vor einigen wenigen Jahren in Amsterdam ganz normale Leben geführt. Faroukh war freiberuflich als Fotograf tätig und studierte Psychologie, Heike arbeitete in einer Bar und schrieb für ein Kunstmagazin. Während des großen Lockdowns hatten sie sich jedoch einen alternativen Lebensstil zugelegt. Faroukh ließ Haare und Bart wachsen, auf einem der Fotos posierten sowohl er als auch Heike mit einem tätowierten Dreieck auf der Brust. Faroukh hatte kohlschwarze Haare, eine markante Nase und ein solides Jochbein. Der Zweifel wuchs. Denn obwohl die malträtierte Gesichtshälfte des Autofahrers den größten Eindruck hinterlassen hatte, wirkte Faroukh sowohl zu gut aussehend als auch zu dunkel, um der Mann im Volvo zu sein.

Sie war auf dem Sofa unter den großen Monsterae eingenickt. Als es hell wurde, hatte sie schnell geduscht und war ins Krankenhaus gefahren.

Die Tür zum Krankenzimmer glitt auf, und eine Ärztin, mit grauen Haaren, zwei Brillen in der Brusttasche und einer auf der Nase, nahm Liselott in Augenschein. »Der Patient liegt im künstlichen Koma. Wir werden ihn für einige Tage in diesem Zustand lassen. Und dann bleibt abzuwarten, wie er auf die Behandlung reagiert.«

»Haben Sie ihn auf Tätowierungen überprüft?«, fragte Liselott.

»Keine Tätowierungen.«

 

Liselott war inzwischen seit über einem Jahr als Ermittlerin der Polizeidirektion in Kongsvinger zugeteilt. Obwohl ihr das einen längeren Arbeitsweg bescherte, hatte sie niemals den Gedanken gehegt, die Villa zu verkaufen. Sie hatte sie von ihren Eltern geerbt, und als Missionarskind war sie nicht gerade verwöhnt, was Ankerplätze betraf.

Im Zug nach Kongsvinger, der sie in etwas weniger als anderthalb Stunden von Oslo aus in nordöstliche Richtung brachte, ging sie ihrer gewohnten Routine nach. Schuhe aus, Schlafmaske auf und Ohrenstöpsel rein. Zum Takt der Räder, die über die Ansatzstücke der Schienen rollten, pflegte sie wegzudösen, heute jedoch nicht. Die Fotos von Heike und Faroukh tauchten auf der Netzhaut auf. Es war mehr als ein alternativer Lebensstil, für den die beiden sich entschieden hatten. Die Beiträge in den sozialen Medien hatten zunehmend ermahnende und verurteilende Züge angenommen. Ein Umweltengagement an der Grenze zum Militanten. Sie waren Anhänger von Verschwörungstheorien. Während der Pandemie hatten sie sich geweigert, einen Mundschutz zu tragen und sich impfen zu lassen. Krankheit und Tod seien Mutter Erdes Art, den Planeten von der Menschenplage zu reinigen. Im vergangenen Herbst hatte das Paar dann Familie und Freunden gegenüber verkündet, den großen Schritt gewagt zu haben. Sie hätten einen abgelegenen, verlassenen Hof im Finnskogen in Norwegen gekauft. Die Gesellschaft müsse ohne sie klarkommen.

Faroukh sorgte dafür, dass ihr neues Leben ausgiebig fotografisch festgehalten wurde. Wöchentlich gab es Beiträge von dem Hof, den sie instand setzten, von farbenfrohen Abenden und herbstlich blassen Morgen. Porträts von den Lämmern, die sie sich zugelegt hatten, Claus, Beatrix, Willem-Alexander und Maxima.

Das letzte Foto hatte Heike vor vier Tagen gepostet. Es zeigte Faroukh, langhaarig, zerzaust und muskulös, damit beschäftigt, einen Baumstumpf auszugraben. Heike stand in einem weiten weißen Kleid daneben. Die blonden Haare, die ein paar Jahre zuvor noch gestriegelt über weißen Blusenkragen gelegen hatten, waren zu einem charmanten Haarknäuel geworden, das ein lächelndes Gesicht umrahmte. Ihre Hände hatte sie unter einem gewölbten Bauch verschränkt.

Kapitel 5

Groruddalen, Gebiet im Nordosten von Oslo, vierunddreißig Tage vor der Parlamentswahl, Vormittag

Dein Name ist Liam Rasch?«

»Ja.«

»Und du bist fünfzehn?«

»Kannst du nicht lesen?« Liam schielte zu dem Wachmann des Einkaufszentrums hinauf, einem kräftigen, glatzköpfigen Kerl, der argwöhnisch Liams Bankkarte in seiner Hand in Augenschein nahm. Seine Kollegin, eine Bitch mit Nasenring und rasierten Streifen über dem Ohr, lehnte sich gegen den Schreibtisch. Der Lagerraum roch nach feuchter Pappe.

»Kann ich gehen?«

»Wie ich dir bereits erklärt habe, Liam«, sagte die Frau, »wurdest du dabei beobachtet, wie du in der Elektronikabteilung etwas in die Tasche gesteckt hast.«

»Das war mein Portemonnaie. Das, was er jetzt hat.«

»Aber das Portemonnaie hattest du in der Hosentasche«, übernahm der Kerl wieder das Wort. »Man hat dich dabei beobachtet, wie du etwas in die Jackentasche gesteckt hast. Woher hast du übrigens die Jacke? Die sieht teuer aus.«

Demonstrativ zog Liam die Jacke enger um sich. Es war eine original Muhammad-Ali-Sportjacke. Er hatte sie mit der Kreditkarte seiner Mutter im Internet gekauft.

»Meine Freundin hat sie mir geschenkt.«

Die Bitch mit dem Nasenring verdrehte die Augen. »Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder durchsuchen wir dich, oder ich rufe die Polizei.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Der Polizei gegenüber kannst du dich nicht weigern. Es gibt einen triftigen Grund für einen Verdacht.«

Triftigen Grund für einen Verdacht. Das hatten die Bullen auch gesagt, als sie gekommen waren, um sein Zimmer zu durchsuchen.

»Okay. Aber nicht er. Ich will nicht, dass mir ein Kerl an den Schwanz fasst.«

»Niemand hat vor, dir an den Schwanz zu fassen«, entgegnete die Frau.

»Was, wenn ich was in der Unterhose habe?«

»Du hast nichts in der Unterhose, sondern in deiner Jackentasche.«

Liam stand auf. Vorsichtig, damit das Handy, das er durch den Schlitz der Sitzfläche des Stuhls geschoben hatte, nicht herausfiel. Als er mit nach oben gestreckten Armen dastand, dachte er, dass die Menschen dumm waren. So verdammt dumm.

 

Nachdem er durch das Einkaufszentrum getrottet war, blieb er vor den Drehtüren stehen. Hielt nach Mo oder jemandem aus seiner Gang Ausschau. Es stand niemand in der Raucherecke, keiner vorm Burger-Laden, und auch der Fußweg zu den Blöcken war leer. Aber Liam hatte nicht erst gestern das Licht der Welt erblickt. Dass er sie nicht sah, bedeutete nicht, dass sie nicht da waren, daher schlich er zur Treppe und in die Tiefgarage hinunter. Dort folgte er den Autos aus dem Tor nach draußen.

Es stellte sich heraus, dass auch Mo nicht erst gestern das Licht der Welt erblickt hatte. Als Liam die Straße überquerte, sah er, wie einer von Mos Bastarden zur Vorderseite des Einkaufszentrums rannte. Liam steckte die Hände in die Jackentaschen. Er rannte nicht. Sie sollten ihn verdammt noch mal nicht rennen sehen.

An einem der unteren Blöcke holten sie ihn ein.

»Versuchst du abzuhauen?«

Mo war ein paar Jahre älter als er, schlank, geschmeidig und gefährlich unvorhersehbar in seinen Reaktionen. Hinzu kamen sechs, sieben andere. Sie kreisten ihn ein.

»Sorry«, sagte Liam. »Ich hab kein Geld.«

»Zehntausend letzte Woche, zehntausend heute«, sagte Mo. »Das war der Deal.«

Denk an die Fußarbeit, dachte Liam, als Mo die Fäuste ballte. Die Schlaghand zur Wange, die Defensive auf einer Linie mit dem Kinn. Irgendeiner trat ihm heftig in den Hintern, und die Fußarbeit misslang. Der Anführer der Gang grinste und griff ihn direkt an.

Als die Faust kam, erwiderte Liam den Schlag nicht. Verwendete die Hand lediglich dazu, seinen Mund zu schützen. Trotzdem saß der Schlag gut, und der folgende, mit der Faust gegen die Rippen, nahm ihm die Luft. Er ließ sich fallen, landete in einer Pfütze und rollte sich auf die Seite. Schützte seinen Kopf.

»Du weißt, was passiert, wenn du nicht zahlst«, sagte Mo.

Zwei der Jungs packten ihn an den Schultern und rissen seine Arme nach oben. Ein dritter griff nach der Jacke und zog sie ihm aus. Liam krümmte sich zusammen. Die Knie vor dem Bauch, während er auf die Tritte wartete.

»Ist euer Plan nicht ein bisschen feige?« Die Stimme war rau.

»Wer zur Hölle bist du?«, schrie Mo.

»Haut ab. Lasst ihn in Ruhe«, fuhr die Stimme fort.

Liam schielte durch das Gewirr an Beinen hindurch. Ein Typ näherte sich. Ein kräftiger, grauhaariger Asiat in billiger Bügelfaltenhose und zerschlissener Lederjacke. Die Wangen waren rötlich und die Nase flach. Der Typ lächelte. Dämlicher Trottel. Sie werden den Scheiß aus ihm rausprügeln. Niemand forderte Mo in seinem eigenen Revier heraus.

Mo musste dasselbe gedacht haben, denn er stürzte voll Karacho nach vorn, als einer der Jungs ihn gerade noch zurückhalten konnte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Mo hielt inne, und der Alte und er nahmen einander in Augenschein. Dann räusperte sich Mo und spuckte auf die Schuhe des Alten. Der lächelte einfach weiter. Mo trat den Rückzug an, und seine Gang folgte ihm. Aus sicherer Entfernung riss einer von ihnen die Arme nach oben und zog mit beiden Händen den Mittelfinger. »Verdammte Bullenfresse«, rief er.

Der Asiat wischte sich die Schuhe ab und streckte eine Hand aus. Liam brauchte keine Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Boxt du?«, fragte der Mann.

»Was geht dich das an?«

»Deine Verteidigung ist gar nicht so schlecht. Aber du musst mit den Ellbogen arbeiten. Du musst sie enger an den Körper bringen. Dann vermeidest du den hier.« Der Alte krümmte sich, so als hätte er einen unsichtbaren Schlag ins Zwerchfell abbekommen.

Liam zitterte unter dem T-Shirt. Er war dreckig und nass. »Er hat gesagt, du bist ein Bulle?«

Der Typ nickte.

»Verfluchtes Schwein«, sagte Liam und ging.

Kapitel 6

Kongsvinger, Kleinstadt im Osten Norwegens, vierunddreißig Tage vor der Parlamentswahl, Vormittag

Liselott Benjamin überquerte die alte Brücke von Kongsvinger. Im Norden zogen Wolken über die Festung, während sich unter ihr dunkel die Glomma entlangschlängelte. Es dauerte nur wenige Minuten, um vom Bahnhof durch die Kleinstadt zum Polizeirevier zu schlendern.

Sie hatte gerade am Schreibtisch Platz genommen, als ihre Chefin angetrabt kam. Sie hieß Hansson, bestand jedoch darauf, Agnes genannt zu werden.

»Mitkommen.« Ohne irgendeine weitere Erklärung ging sie weiter, und Liselott folgte ihr. Sie marschierten an der Reihe von Besprechungsräumen vorbei in Hanssons Büro.

Das Büro war weder groß noch sonderlich schön. Zwar hing ein Bild vom König an der Wand, und es gab einen Tisch mit Obstschale und einer Box Taschentücher darauf, ansonsten aber waren die Möbel die gleichen wie im Rest des Reviers. Auf einer Sitzgruppe in der Ecke warteten ein Mann und eine Frau.

Liselott kannte den Mann. Er hatte ein langes, schmales Gesicht, das zu seinem langen, dünnen Körper passte. Während sie noch versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern, kam ihr eine knochige Hand zuvor.

»Theobal Polka. Chef der Antiterroreinheit des PST.« Liselott fiel ein, woher sie ihn kannte. Er war eines der stummen Gesichter, die ab und an bei Nachbesprechungen auftauchten, wenn Sachen schiefgegangen waren. »Das ist Trude Konrad vom Kriminaltechnischen Labor bei Kripos«, fuhr er fort. Eine kleine Frau mit blonder, helmartiger Frisur erhob sich vom Sofa. Liselott schaute fragend ihre Chefin an. Polizeilicher Sicherheitsdienst und die Einheit zur Bekämpfung von Schwerverbrechen und organisierter Kriminalität?

»Es geht um den Autounfall«, sagte Hansson und richtete die Lamellenvorhänge am Fenster.

»Wir würden uns über einen kurzen Lagebericht freuen«, sagte Polka.

Liselott starrte von einem zum anderen. »Äh … okay. Etwas Spezielles, das …«

»Gerne von Anfang an.«

»Okay. Gestern Nachmittag erhielten wir die Nachricht von einem Autounfall auf einem Forstweg im Finnskogen. Ein Auto war mit einem Elch kollidiert und von der Fahrbahn abgekommen. Der männliche Fahrer wurde ins Ullevål-Universitätskrankenhaus gebracht, der Elch vor Ort erlegt. Ich war heute Morgen im Krankenhaus. Der Mann ist schwer verletzt und liegt jetzt im künstlichen Koma.« Liselott ließ ihren Blick zwischen den Anwesenden hin und her wandern, wie um zu fragen, ob sie weitere Details wünschten. Als niemand etwas sagte, fuhr sie fort. »Es schien wie ein normaler Autounfall. Aber wie ich im vorläufigen Bericht geschrieben habe – Sie haben es vermutlich noch nicht geschafft, ihn zu lesen …«

»Doch, doch«, sagte Polka. »Das haben wir.«

»Gut. Dann wissen Sie, dass es einige unbeantwortete Fragen gibt. Wir wissen nicht, wer der Fahrer ist. Das Auto hatte gestohlene Kennzeichen und hätte längst verschrottet sein sollen. Zudem haben wir im Kofferraum in einer Mülltüte den Rucksack einer Niederländerin gefunden.«

Polka schmatzte, als hätte man endlich etwas Schmackhaftes auf den Tisch gestellt. »Was wissen Sie über diese Heike de Klerk? Deutet irgendetwas darauf hin, dass der Fahrer und de Klerk sich kannten?«

Liselott berichtete, was sie über Heike de Klerk und ihren Lebensgefährten Faroukh Kaag herausgefunden hatte. »Zuerst hatte ich angenommen, der Fahrer sei ihr Freund, aber Faroukh Kaag ist tätowiert, der Mann im Krankenhaus hingegen nicht. Da die Identität des Fahrers nicht bekannt ist, kann ich nicht beantworten, ob er Heike de Klerk kennt oder ob er einfach nur ihren Rucksack gefunden hat oder …« Sie versuchte, Polkas Blick zu deuten. »Ist ihnen etwas zugestoßen? Hatte ich erwähnt, dass sie schwanger ist?«

»Schwanger?« Polka seufzte. Das hatte Liselott in ihrem Bericht offensichtlich nicht erwähnt.

»Es geht um das Material, das Sie zur Analyse eingeschickt haben«, ergriff Trude Konrad das Wort.

Liselott war erstaunt. Das Material war gestern am späten Abend ins Kripos-Labor geschickt worden. Normalerweise dauerte es Wochen, bis sie von dort eine Antwort erhielten.

»Beim Katalogisieren hat einer der Mitarbeiter etwas von dem Inhalt wiedererkannt. Reste von Schalen«, fuhr Konrad fort. »Was Sie als Nüssen ähnelnden Abfall beschreiben, sind in Wirklichkeit Bohnenschalen. Es handelt sich um Castorbohnen.« Liselott überkam das Gefühl, dass sie hätte wissen müssen, was das war. »Castorbohnen sind der Rohstoff, der zur Herstellung von Rizin verwendet wird«, erklärte Konrad.

Es war, als würde der Luft im Raum der Sauerstoff entzogen. »Rizin ist ein Gift«, sagte Liselott leise.

»Eines der tödlichsten, die wir kennen«, warf Polka ein. »In den letzten Jahren wurden in ganz Europa mehrere Terrorlabore aufgedeckt, in denen das Gift hergestellt wurde. Das ist es, was wir befürchten. Terror.« Er ließ das Wort über die Zunge rollen.

»Das Gewächs, das die Bohnen trägt, nennt sich Christuspalme«, sagte Konrad etwas weniger dramatisch. »Das Gift wird aus der Masse extrahiert, die nach der Gewinnung des Öls verbleibt. Mit verhältnismäßig einfachen Mitteln ist es möglich, Rizin in Pulverform oder als Aerosol, also ein Spray, herzustellen. Es ist farb- und geruchlos. In Pulverform reichen ein paar Milligramm aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Das entspricht einigen wenigen Salzkörnern. Eine Behandlung gibt es nicht.«

»Terror?« Das war so plötzlich gekommen, dass Liselott Mühe hatte, die Information aufzunehmen. »Kann es nicht eine andere Erklärung geben?«

»Wir hatten ein paar Fälle, bei denen Afrikaner Bohnen importiert haben, um Schmuck herzustellen. Das ist gesetzlich erlaubt. Aber ein weißer Mann Mitte zwanzig, ohne Ausweispapiere, in einem gestohlenen Auto mit gestohlenem Kennzeichen, weit draußen in der Einöde?« Polka schüttelte den Kopf. »Ihrem Bericht zufolge sind de Klerk und Kaag Verschwörungstheoretiker. Klimaextremisten und Impfgegner, die die Gesellschaft verachten.« Das waren nicht gerade die Worte, die Liselott gewählt hatte, aber die Essenz war die gleiche.

»Ich habe heute Vormittag eine Streife zu dem Hof geschickt«, warf die Revierchefin ein. »Das Gelände ist verlassen. Unter der Scheune haben sie jedoch einen Kellerraum gefunden. Darin wurden große Mengen Lebensmittel, Medikamente und Kleidung aufbewahrt. Die Streife fand zudem Gasmasken, Treibstoff, Funkausrüstung, Jagdgewehre und Munition …« Sie schaute an die Wand zum König, der seinerseits verhalten lächelte. »Genug, um jahrelang unterzutauchen. Oder, um eine größere Zelle zu versorgen.«

Liselott fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen Haare. Was hatten sie da vor Augen? Eine Bande Klimafanatiker, die untergetaucht war, um einen Terrorangriff vorzubereiten? »Was ist mit dem Handy in dem Rucksack? Haben Sie es zum Leben erwecken können?«, fragte sie.

»Es ist passwortgeschützt, das wird also dauern«, sagte Trude Konrad. »Da das Handy aber in Heike de Klerks Rucksack lag, nehmen wir an, dass es ihr oder ihrem Lebensgefährten gehört. Faroukh Kaag hat sich mit einer norwegischen Nummer registriert, als sie ins Land gekommen sind.« Sie schob ein Schriftstück über den Tisch. »Hier ist die Anrufliste.«

Liselott ließ den Finger über die Angaben gleiten. Nahezu alle Nummern waren niederländische.

»Vereinzelt gibt es auch Anrufe zu norwegischen Nummern«, fuhr Konrad fort. »Allerdings sieht es so aus, als handele es sich um Gespräche, die mit dem Betreiben des Hofes zusammenhängen. Die örtliche Agrargenossenschaft, ein Typ, der in der Gegend die Straßen räumt …«

»Sie hier nicht«, sagte Liselott. Ihr Finger hatte bei einem der letzten Gespräche innegehalten, die auf dem Handy eingegangen waren, eine gute Woche zuvor. »Ich habe den Namen in einer der Freundeslisten auf ihren Facebook-Accounts gesehen. Er ist mir aufgefallen, weil der Name norwegisch klingt.«

Polka lehnte sich nach vorn und las. »Sunniva Bjørk. Was wissen Sie über die Frau?«

»Nichts. Ich hatte keine Ahnung, dass sie von Interesse ist.«

»Finden Sie heraus, wer sie ist«, sagte er. »Überprüfen Sie auch die anderen Namen auf der Liste.« Er sah die Revierchefin an. »Wenn Rizin produziert wurde, muss es irgendwo ein Labor geben. Ich will wissen, wo.«

 

Im Flur vor dem Büro verabschiedeten sie sich. Liselott bemerkte, dass der PST-Chef sie musterte.

»Liselott Benjamin«, sagte er schließlich. »Sie haben früher in Oslo gearbeitet, nicht wahr? Sie waren Geiselunterhändlerin?«

»Das stimmt.«

»Sind Sie hierhergezogen?«

»Nein.«

»Was tun Sie dann hier?«

Liselott lächelte verdrossen. »Ich versuche, Fällen wie diesem aus dem Weg zu gehen.«

Kapitel 7

St. Hanshaugen, Stadtteil im Zentrum von Oslo, zweiunddreißig Tage vor der Parlamentswahl, Nachmittag

Jens Meidell hatte die Journalistin vom Polizeiforum von der ersten Sekunde an unterschätzt. Möglicherweise, weil sie sich so bescheiden gab, mit flackerndem Blick und unsicherem Lachen. Oder es lag an ihrem Begleiter. Ein Fotograf mittleren Alters, ein kräftiger Typ, der behauptete, Polizist gewesen zu sein, bis ein Schleudertrauma ihn außer Gefecht gesetzt habe. Er benahm sich wie bei einer Hausdurchsuchung, hob Zeitungen an und berührte die Bücher im Regal, studierte die Karten an der Kühlschranktür und glotzte in jedes einzelne Zimmer.

So war es. Jens hatte die Verteidigung nicht fallen lassen. Er hatte nur nicht verstanden, woher der Angriff kommen würde.

»Diese Wohnung hier ist verdammt noch mal riesig. Fünfraum?«, fragte der Fotograf, als sie im Esszimmer standen.

»Sechs, genau genommen.«

»Verflucht! Wie viel musstest du dafür hinblättern? Zwölf Millionen, fünfzehn?«

Jens warf einen Blick in den Hinterhof. Auf einem der Balkone des Wohnhauses direkt gegenüber saßen zwei Mädchen im Sonnenschein, plauderten und lachten. Es waren Liv und ihre beste Freundin Shanti. »Ich bin hier aufgewachsen.«

»Mit einem goldenen Löffel im Mund«, erklärte der Fotograf.

Jens zog ein paar Stühle vom Esstisch hervor. »Vielleicht können wir anfangen? Kaffee? Tee?«

Während er Tee für die Journalistin und Kaffee für den Fotografen zubereitete, teilte Jens ihnen mit, dass er Zweifel gehabt habe, sich interviewen zu lassen.

»Was hat Sie dazu gebracht, zuzustimmen?«, fragte die Journalistin.

»Als Polizeijurist betrachte ich das System von innen. Wie können Politiker die richtigen Entscheidungen treffen, wenn wir, die wir die Schwächen sehen, diese nicht mitteilen?«

Er stellte Kaffee und Tee auf den Tisch. Dann setzte er an und referierte, was er vorbereitet hatte. Über fehlende Ressourcen für Ermittlungen und die präventive Polizeiarbeit, über Banden, die in den Stadtteilen ihr Unwesen trieben, über Gesetzesverstöße, die kaum geahndet wurden, und ein Strafgesetz, das Serienkriminellen entgegenkam.

Der Fotograf unterdrückte ein Gähnen.

»Ich begegne ständig Opfern und Angehörigen, die vom System im Stich gelassen wurden. Die Strafen stehen in keinem Verhältnis zu dem Leid, das ihnen widerfahren ist. Das muss sich ändern. Wenn nicht, erschüttert es das Vertrauen in unser Rechtssystem.« Jens hatte noch mehr auf dem Herzen, aber nun war die Journalistin zum Leben erwacht.

»Und Sie werden das tun?«, sagte sie.

»Was meinen Sie?«

»Das ist doch wohl der Grund, warum wir hier sind? Verstehen Sie mich nicht falsch, die Ansichten eines Polizeijuristen zur Kriminalpolitik sind spannend, besonders für unsere Leser; was ich mich jedoch frage, ist, warum Sie in die Politik gehen? Und warum haben Sie sich für das Team von Christina Nielsen entschieden?«

Jens lachte nachsichtig. »In der Arbeiterpartei sind alle im selben Team.«

Die Journalistin sah ihn schief an. »Teilt Ihre Mutter diese Auffassung?«

Bevor Jens antworten konnte, ging die Tür auf, und Liv kam herein. Jens erzählte ihr, wer die Gäste waren, und fragte sie, ob sie Hunger habe. »Ist es in Ordnung, wenn ich ihr etwas zu essen mache?«

Als Liv sich an den Küchentisch setzte, richtete der Fotograf die Kamera auf sie. »Darf ich ein bisschen knipsen?«

Jens schaute seine Tochter an. »Das sollte kein Problem sein, oder?«

Liv zuckte mit den Schultern und tauchte in ihr Tablet ab. Jens holte Brot und Aufschnitt aus dem Schrank und signalisierte der Journalistin fortzufahren.

»Es wird jetzt ein bisschen persönlicher, sollten wir vielleicht warten?«

»Schießen Sie einfach los«, erwiderte Jens.

»Okay. Sie beide sind unter traurigen Umständen Vater und Tochter geworden. Können Sie ein wenig darüber erzählen?«

Das Buttermesser fror über der Brotscheibe förmlich ein. Der Fotograf war wachsam, und Jens sah, dass Liv zuhörte. »Das ist richtig«, sagte er geradeheraus. »Das ist auch kein Geheimnis. Mein Bruder war drogenabhängig, und als Liv ein Baby war, kamen wir gemeinsam zu dem Schluss, dass es ihr bei mir besser gehen würde.« Er warf seiner Tochter ein Lächeln zu. »Ich bin sehr froh, dass es so gekommen ist.«

»Ihr Bruder wurde verurteilt … in Verbindung damit, dass seine Lebensgefährtin …«

Jens nahm Liv das Tablet aus der Hand. »Vielleicht isst du doch besser in deinem Zimmer«, sagte er und schickte sie aus der Küche. Als er das Knirschen der Tür zu ihrem Zimmer hörte, wandte er sich an die Journalistin. »Was treiben Sie hier?«

»Kennen Sie einen Blogger, der sich Fenris nennt?«, sagte sie. »Es handelt sich um eine rechtspopulistische Internetseite. Fenris schreibt viel über das Innenleben der Arbeiterpartei.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

Sie reichte ihm einen Ausdruck, und Jens spürte, wie ihm beim Lesen heiß wurde. »Es handelt sich um ein Mitglied des Parteiadels, das jetzt in die Politik eintritt. Jens Meidell hat Vorfahren unter den Eidsvoll-Männern, die einst die Verfassung des Landes verabschiedeten, seine Großmutter väterlicherseits saß im Konzentrationslager Grini ein, und seine Mutter war die erste weibliche Vorsitzende der Partei. Ingrid Meidell hat zwar Steuern hinterzogen, aber in der Hochburg der Doppelmoral, in der Parteizentrale am Youngstorget, spielt das selbstverständlich keine Rolle.«

Jens fuhr sich mit der Hand durch die Haare, und die Kamera klickte. Der Einleitung folgte eine Lüge darüber, dass er der Beste seines Jahrgangs im Jurastudium gewesen sei, sowie eine Liste bedeutender Fälle, die er als Polizeijurist geführt hatte. Dann kam es: »Obwohl das Wunderkind eine energische, treibende Kraft dabei war, Kriminelle vor Gericht zu stellen, scheint es, als kümmere er sich wenig um die Tragödie, die seine eigene Familie heimgesucht hat. Jens’ drogensüchtiger Bruder hat mit einer Spritze Heroin seine hochschwangere Lebensgefährtin ermordet. Ein tragisches Unglück, selbstverständlich, aber sind in diesem Fall wirklich alle Umstände bekannt? Weiß Jens Meidell mehr über diese Tragödie, als er bereit ist zuzugeben?«

Jens spürte den Schweiß in seinen Achseln. »Wer ist dieser Fenris?«, fragte er schnell.

»Das weiß keiner«, antwortete die Journalistin. »Er ist anonym.«

Jens hob den Kopf. Er war wütend, und jetzt hatte sie ihm einen Anlass geliefert, es zu zeigen. »Das ist anonymer Klatsch darüber, was geschehen ist, als meine Tochter ihre Mutter verloren hat. Haben Sie kein Schamgefühl?«

Die Journalistin wirkte nicht im Geringsten beschämt. »Es ist mein Job, Fragen zu stellen. Fenris ist keine zufällige Stimme in den Kommentarspalten. Seine Beiträge werden von Zehntausenden Norwegern geteilt und gelesen. Und wie sich herausgestellt hat, verfügt er über gute Quellen in der Arbeiterpartei.«

»Was meinen Sie damit?«

»Wenn Sie weiterlesen, werden Sie sehen, dass ihm ein Protokoll eines Wahlkampfseminars vorliegt und er daraus einige Ihrer Aussagen zitiert.« Sie schaute in ihren Notizen nach: »Strengere Strafen, härtere Bedingungen im Strafvollzug in den Gefängnissen …«

Sie nahm Jens den Ausdruck wieder ab und las direkt aus dem Artikel vor: »Kriminelle, die keinen Willen zur Besserung zeigen, müssen begreifen, dass es sich dabei um eine Entscheidung mit Konsequenzen handelt. Einer der Teilnehmer an der Diskussion fragte, wie lange ein Frauenschläger in Haft bleiben solle. Da sagte Meidell, dass er Frauenschläger gern lebenslang einsperren würde.«

»Das ist vollkommen lächerlich! Das war eine Frage, mit der ich erst spät am Abend konfront…«

»Aber wurde so etwas gesagt?«

»Selbstverständlich bin ich nicht der Meinung, dass Frauenschläger auf Lebenszeit eingesperrt werden sollten.«

»Wie steht es mit ernsteren Verbrechen? Terroristen, zum Beispiel? Pädophilen? Mördern?«

Jens holte Luft. »Für diejenigen, die wiederholte Male gegen das Gesetz verstoßen, muss es eine heftige Reaktion geben. Und auch wenn es mir missfällt, in dieser Weise überrumpelt zu werden, werde ich auf Ihre Frage antworten: Terroristen haben draußen in der Gesellschaft nichts verloren. Wenn das bedeutet, dass einige äußerst wenige, diejenigen, die die grausamsten, zerstörerischsten Taten begehen, ihr Leben hinter Gittern verbringen müssen, dann halte ich das für richtig.«

Blitzschnell wechselte die Journalistin den Angriffswinkel. »Haben Sie vor, in die Fußspuren Ihrer Mutter zu treten? Eines Tages Justizminister zu werden?«

»Ich bin vor knapp einer Woche in die Politik gewechselt. Ich glaube, es verlangt nach etwas mehr, um Justizminister zu werden.«

»Sagen Sie das nicht«, entgegnete die Journalistin verspielt. »Lassen Sie uns zum Abschluss noch über Ihre neue Chefin sprechen. Die Frau, die Justizministerin werden will.«

»Legen Sie los«, sagte Jens kraftlos.

»Der Arbeiterpartei wird in den sozialen Medien oft übel mitgespielt. Viele jedoch, auch aufseiten der Høyre, loben Christina Nielsens harte Linie. Welche Meinung haben Sie von ihr?«

»Meiner Meinung nach ist Christina erfrischend frei von politischen Floskeln. Sie will Norwegen und der Partei eine neue Richtung geben. Das ist spannend.«

»Genau«, sagte der Fotograf und klopfte mit der Faust auf den Tisch.

 

Als er die Tür hinter ihnen schloss, fühlte Jens sich leer. Er hatte sich nicht gut genug vorbereitet. In seinem Job als Polizeijurist hatten sich die Fragen der Journalisten immer um Fälle gedreht. Um Beweise, Zeugenaussagen und Strafmaße. Niemals um ihn selbst.

»Sind sie gegangen?« Liv stand in der Tür zu ihrem Zimmer.

»Ja. Hast du gelauscht?«

»Ich mag es nicht, wenn du mich rausschickst. Ich bin kein kleines Kind mehr.«

»Nein, das bist du nicht. Aber trotzdem noch immer mein Kind.« Jens ging an die Wand gelehnt in die Hocke.

»Warum bist du so wütend geworden?«

»Weil …«, er zögerte, »das, was mit Mårten und Bea passiert ist, das ist privat. Das gehört uns. Dir und mir. Sie haben darüber nicht zu schreiben.«

Liv setzte eine altkluge Miene auf. »Jedes Mal, wenn jemand fragt, sage ich einfach, wie es ist. Mårten war mein biologischer Vater, und er war ein Scheißkerl. Er hat Mama Drogen gegeben, obwohl sie schwanger war. Ich bin froh, dass er nicht mein Papa ist.« Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu und drückte sich an ihn. »Mach es einfach wie ich. Sag die Wahrheit, kümmere dich nicht darum, was die Leute denken. Das ist viel einfacher.«

 

Es war spät geworden. Liv schlief, draußen war es dunkel, und Jens saß am Küchentisch. Vor ihm lagen ein alter Archivordner und ein noch älteres Foto. Die Aufnahme war schwarz-weiß. Jens war drei, Mårten acht, Jens saß auf dem Schoß des Bruders, mit dem Kopf an seine Wange gelehnt und dem Gesicht vor Lachen verzerrt. Jens erinnerte sich noch immer an die alberne Stimme des Bruders in seinem Ohr. Die Geschichten, die er erzählt hatte, die ihn immer zum Lachen gebracht hatten.

Als Erwachsener hatte Mårten Meidell immer behauptet, er sei als Drogenabhängiger geboren worden. Er hatte sich bei der Geburt eine Schulterverletzung zugezogen, und Mårten war überzeugt, dass Opiate eingesetzt worden waren, um die Schmerzen zu dämpfen. Jens bezweifelte das. Er machte der Mutter Vorwürfe. Ingrid Meidell hatte sich früh vom Vater der Jungen getrennt, und als der Vater bei einem Autounfall ums Leben kam, war sie Justizministerin und hatte keine Zeit für die Trauer der Kinder gehabt. Das hatte sie beide getroffen, besonders aber Mårten. Sein Bruder wurde nicht als Drogenabhängiger geboren, aber er war mit einer verwundbaren Seele zur Welt gekommen.

Jens blätterte in dem Ordner. Das Urteil war etwas über zwölf Jahre alt.

Mårten Meidell, der aufgrund einer ernsthaften Rückenverletzung in seiner Beweglichkeit eingeschränkt ist, gibt vor Gericht an, am Vormittag des 23.07.20XX an der Haustür eine geringe Anzahl Dosen Heroin entgegengenommen zu haben, angeblich von einem Drogendealer, der unter dem Namen Doktor Pepper agiert. Der Angeklagte soll fester Kunde dieses Dealers gewesen sein, der dem Angeklagten zufolge ihm immer Heroin von guter Qualität verkauft habe. Als die Lebensgefährtin des Angeklagten, Bea Andersson, nach einem Termin beim Jugendamt in die Wohnung kam, soll sie äußerst niedergeschlagen gewesen sein. Sie hatte ein paar Tage zuvor eine positive Urinprobe abgegeben, obwohl sie sich größtenteils von den Drogen ferngehalten habe, seitdem sie schwanger geworden war. Bei dem Termin sollen Fragen zur Eignung des Paars als Eltern gestellt worden sein. Andersson bat den Angeklagten, eine Spritze Heroin setzen zu dürfen, um ›sich zu beruhigen‹. Dies habe der Angeklagte, wie er behauptet, ihr allerdings mehrfach verweigert. Letztendlich soll er dem Wunsch der Lebensgefährtin dann aber doch nachgekommen sein.