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Klaus Münch erzählt humorvoll über brenzliche Situationen kurz vor seinen Reisen, emotionale Begebenheiten in eiskalten oder überhitzten Autos, sein Verhältnis zu Tieren, und darüber was Frauen so alles von ihm wollen, für welchen Fußballverein sein ganzes Herz schlägt, wie er mit den Fans der gegnerischen Mannschaft umzugehen pflegt, welches sein Lieblingsgetränk ist, wie es in seinem Schlafzimmer zugeht, und so weiter und so fort... Ergänzt werden die Geschichten durch Zeichnungen von Elke Schürmeyer.
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Seitenzahl: 209
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Vorwort
…im Religionsunterricht (1971)
…in Hamburg (1979)
…in der Freistunde (1980)
…auf dem Interstate Highway 101 (1980)
…in Italien (1984)
…kurz vor dem Start in den Sommerurlaub `88 (1988)
…an der Supermarktkasse (1989)
…früh morgens in der Brauerei (1991)
…im Heißluftballon (1994)
…auf dem Weg zur Spätschicht (1995)
…am Tag des offenen Kreißsaales (1996)
…hinter dem Bahnhof (1997)
…auf der Spielemesse (1999)
…beim Kindergartenfasching (2001)
…im Schlafzimmer (2002)
…im Outdoorladen (2003)
…in Assmannshausen (2008)
…bei Mrs. Gilday (2009)
…in Duisburg (2012)
…kurz vor dem Start in den Sommerurlaub`13 (2013)
…an Heiligabend (2014)
…bei der Yoga-Endentspannung (2015)
…in Frankfurt Sachsenhausen (2016)
…bei Ida (2019)
…bei den Waldteichen (2019)
Über den Autor/Über die Illustratorin
Als unsere Tochter Miriam eines Tages – wie immer voller Enthusiasmus und absoluter Erschöpfung – vom Kindergarten nach Hause kam war es ihr ein großes Bedürfnis, mich über die neuesten Ereignisse dort in Kenntnis zu setzen. Deshalb fragte sie mich, ob sie mir mal ein paar „Neulichkeiten“ erzählen dürfe. Diese Wortschöpfung habe ich ganz spontan in mein Herz geschlossen, und die Idee zu diesem kleinen Werk hier war im gleichen Moment entstanden. Ich erzählte schon immer gerne „von früher“ und schwelgte oft in Erinnerungen. Nun habe ich einige Begebenheiten zu Papier gebracht. Die folgenden Geschichten sind alle tatsächlich wie beschrieben geschehen. Es handelt sich um lauter wahre „Neulichkeiten“!
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Klaus
Ach übrigens, stell Dir doch mal vor, was mir passiert ist, und zwar
neulich …
Nun gehörte ich – und zwar mit einer gehörigen Portion Stolz – schon zu den Großen in der Schule. Also, nicht nur was die Körperlänge anging – da zumindest war ich eigentlich immer schon der Größte – nein, auch dass ich schließlich schon die 4. Klasse besuchte, gab mir ein erhabenes Gefühl gegenüber anderen. Z.B. gegenüber diesen pimpfigen und winzigen Drittklässlern. Von den Zweitklässlern reden wir erst gar nicht...!
Mit meinen schulischen Leistungen war diese hochkarätige Sinnesempfindung nicht zu begründen, denn diese waren eher mittelprächtig. Aber auf dem Schulhof einer Grundschule geben nun mal die Kinder der 4. Klasse den Ton an. Und das war gut so. Musste ich doch vorher ganze drei Jahre sehnsüchtig darauf warten, für ein jämmerlich kurzes Jahr dann endlich in dieser formidablen Position zu sein. Gut, die Situation besserte sich zwar schon von Schuljahr zu Schuljahr, aber so richtig toll war es erst, wenn man wirklich der Älteste auf dem Gelände war.
Meinen Klassenkameraden und mir war selbstverständlich auch klar, dass wir dann im nächsten Jahr, also auf der nächsten Schule, wieder die allerkleinsten und die am allermeisten Gehänselten sein werden. Aber, soweit dachten wir selten voraus. Das Jetzt galt!
Es war ein ganz normaler Tag, und eine der großen Pausen – also eine dieser Unterrichtsunterbrechungen, in der die Kleinen auf dem Schulhof schön brav das tun mussten, was wir Großen von ihnen verlangten – war gerade zu Ende gegangen. (Die sogenannte kleine Pause hatte ihren Namen übrigens nur, weil sie so kurz, also nur eine kleine Verschnaufpause war. Nicht dass da jemand auf andere Interpretationen käme...)
Im weiteren Verlauf des Schultages stand nun eine Stunde römisch-katholischer Religionsunterricht auf dem Plan. Ich erinnere mich extrem genau daran, dass unser Herr Pfarrer an diesem Tage u.a. die folgende Frage stellte: „Wer ist Stellvertreter Gottes auf Erden?“
Sofort schnellte Stefans Hand in die Höhe. Na klar! Religion war genau sein Ding. Da war er der Klassen-Primus. Dieser Streber! Nach und nach hoben aber auch andere Mitschüler und Mitschülerinnen ihre Hände. Sehr zu meiner Verwunderung. Und bei manchen hätte ich das nicht erwartet. Zirka die Hälfte der Klasse zeigte inzwischen, per erhobenen Arm, dass sie sich angesprochen fühlte. Als dann schließlich noch der Thomas – diese Pflaume – seinen Finger nach oben streckte (was er sonst eigentlich stets vermied) reichte es mir.
„Das gibt es ja wohl nicht! Also, wenn der, dann ich aber auch, und zwar schon lange!!“, ging es mir durch den Sinn und somit beteiligte selbst ich mich an der kollektiven Dehn- und Streckübung der Klasse.
Und was tat unser Herr Pfarrer? Er zögerte lange und blickte verständlicherweise suchend und wohl überlegend in die Runde. Ich konnte sein Zaudern nachvollziehen. Solch eine entscheidende Angelegenheit musste natürlich gut durchdacht sein. Dann endlich entschied er sich und wandte sich Uwe zu.
„Ja, Uwe, na was meinst Du denn?“
„Der Papst ist Gottes Stellvertreter auf Erden!“, sagte der Schüler brav, und mit etwas Stolz in der Stimme. Normalerweise wusste Uwe nicht allzu viel in Reli beizutragen.
„Was faselt der denn da?“, dachte ich verwundert und verstand den Sinn seiner Antwort nicht. Was hatte denn jetzt – bitte schön – der Papst mit diesem Vorgang hier zu tun?
„Häh? Wie jetzt?“
Inzwischen hatten sich alle Finger meiner Mitschüler wieder gesenkt und der Unterricht wurde mit Informationen über das Kirchenoberhaupt fortgesetzt. Nur, mitten in der Klasse blieb ein verwirrter Schüler zurück, der erst nach Rücksprache mit seinem Nachbarn Nils erfahren musste, dass die Frage: „Wer ist Stellvertreter Gottes auf Erden?“ eben nicht im Sinne von „Wer von Euch hat Lust, Gott auf Erden zu vertreten?“ gedacht war. Nee! Sondern sie sollte eine Aufgabenstellung, also eine Art Überprüfung unseres Wissensstandes diesbezüglich sein. Und deshalb war Uwes Auskunft, der Papst, selbstverständlich die einzig mögliche und völlig korrekte Antwort gewesen. Zumindest für einen gläubigen Katholiken. Und ich dachte schon, unser Pfarrer ist auf der Suche nach einem Freiwilligen für diesen Job! Wie gesagt, anfangs hatte mich diese Aufgabe nicht unbedingt gereizt, aber als ich sah, wie viele aus meiner Klasse dafür zu haben waren – und vor allem als dann sogar der Thomas Interesse zeigte – dachte ich mir, wie bereits erwähnt, wenn der, dann kann ich das auch!
Übrigens noch eine Anmerkung am Rande:
Hätte der Kollege Uwe seine Antwort an die Tafel schreiben müssen, hätte er mit 100%-iger Sicherheit „Der Pabst“ geschrieben. Jede Wette! Nahezu alle Kelkheimer Schülerinnen und Schüler in den ersten vier Klassen schrieben damals den Oberhirten der katholischen Kirche mit einem „b“ in der Mitte. Das kam daher, dass es zu dieser Zeit in unserem Städtchen wirklich nur einen einzigen Laden gab, in dem man Schreibwaren kaufen konnte. Und da Schüler berufsbedingt zwangsläufig mehrmals im Jahr eine solche Location aufsuchen mussten, ging man bei uns dann stets zum „Pabst“, denn das war der Name des Besitzers jenes gut sortierten Bücher- und Schulbedarf-Paradieses. Das Geschäft kannte wirklich jeder in Kelkheim.
Ich weiß noch genau welchen Schrecken ich bekam, als mir in der 5. Klasse ein Lehrer in einer Klassenarbeit das Wort „Pabst“ als Fehler anstrich! Ich rannte wutentbrannt zu ihm, um ihn zur Rede zu stellen, aber es half nichts. Er grinste nur und verwies darauf, dass es fast allen in meinem Alter so erging, zumindest in dieser kleinen, idyllischen hessischen Ortschaft, am Rande des Taunus.
Da ich diese ehrwürdige Hansestadt schon immer sehr gerne mochte, versuchte ich in meiner Jugend alle Gelegenheiten wahrzunehmen, dort hinzureisen. Eines Tages, es war im November 1979, kamen einige meiner Kumpels auf die glorreiche Idee, das folgende Wochenende in dieser schönen Metropole im Norden unserer Republik zu verbringen, da der Krischn seine dort ansässige Oma besuchen wollte.
So traf es sich richtig gut, dass in dieser besagten Woche am Freitag in der Schule nicht viel los war und man diesen Tag dann getrost auch mal wörtlich nehmen konnte.
Es gab sechs Interessenten für die Reise und zufälligerweise standen zwei Autos dafür zur Verfügung. Und zwar der VW-Käfer vom Geiger und der – wer hätte das gedacht? – VW-Käfer vom Wolfgang.
Mit von der Partie waren neben den beiden erwähnten Fahrern und mir auch die Ann-Kathrin und die Conny sowie der Krischn (der mit der Oma). Die beiden Mädels hatten Bekannte in Hamburg bei denen sie nächtigen wollten, und der Rest würde bei der besagten Großmutter untergebracht werden.
Da Wolfgang – der einzige Werktätige der Reisegesellschaft – am Freitag noch arbeiten musste konnte er erst am Nachmittag abreisen, was uns Anderen aber zu spät war.
Geiger, Ann-Kathrin, Conni und ich starteten deswegen bereits morgens um 6 Uhr gen Norden. Wir kamen auf der Autobahn gut voran. Nach 6 h trafen wir an unserem ersten Ziel in der Hansestadt, den Bekannten von Ann-Kathrin und Conni, ein. Geiger und ich verabschiedeten uns bis Sonntagnachmittag von unserer weiblichen Reisebegleitung und fuhren erstmal in die Innenstadt. Um 19 Uhr waren wir dann mit den Nachzüglern Wolfgang und Krischn im „Posemuckel" verabredet. Das war so eine Art unterirdisches Bierdorf mitten in der City. Jedenfalls ein idealer Treffpunkt. Es wurde ein netter Abend, zunächst jedenfalls. Wir ermüdeten allerdings relativ bald, was in Anbetracht der Tatsache, dass wir einen langen und anstrengenden Tag hinter uns hatten, nicht sonderlich verwunderlich war. So wurde beschlossen, bereits gegen 22 Uhr in Richtung Krischns Oma – welche in einem mir nicht bekannten Hamburger Stadtteil etwas außerhalb wohnte – aufzubrechen. Dort wurden fast alle sehnsüchtigst erwartet, denn die alte Dame wollte eigentlich schon längst im Bett liegen und „pofen“, wie man in dieser Gegend zu sagen pflegte. Aber wieso eigentlich nur fast alle? Naja, die Sache war die, dass im Vorfeld ein kleiner, aber bedeutender und folgenreicher Kommunikationsfehler vorlag. Die Oma war lediglich bereit drei junge Männer aufzunehmen.
Das waren der Krischn (klar, war ja ihr Enkel) sowie der Geiger und der Wolfgang (na klar, es waren ja die Fahrer). Sämtliche Versuche, die Großmutter umzustimmen schlugen fehl. Sie blieb hanseatisch stur. Ich musste draußen bleiben, in dieser saukalten, nebligen Novembernacht, in Hamburg. Die Jugendherberge an den Landungsbrücken hatte längst geschlossen. Geld für eine Hotelübernachtung besaß ich selbstverständlich nicht. So stand ich immerhin vor der Wahl zwischen Geigers und Wolfgangs Käfer als Nachtquartier. Wenn ich wenigstens schon den Führerschein gehabt hätte, dann wäre ich noch ein paar Runden mit voll aufgedrehter Heizung gefahren, um mir mein Bettchen vorzuwärmen. So aber blieb mir nur die kalte Enge des VWs, um eine kuschelige Nacht zu verbringen. Eine richtige Decke oder ähnliches stand mir bedauerlicherweise auch nicht zur Verfügung. Und mein alter – einst extrem günstig erstandener – Anorak verdiente nicht wirklich die Bezeichnung Winterjacke, aber ich hatte immerhin meinen Eintracht-Schal bei mir. Trotz der kargen Ausstattung war ich anfangs – meinem Charakter entsprechend – optimistisch eingestellt. Erstens, weil das meinem Naturell entsprach, zweitens, weil ich im Prinzip jemand war, der nicht so schnell und leicht fror. Schön fand ich die Situation nicht, aber „es könnte funktionieren“, dachte ich.
Nur der geringe Platz, welchen ich im VW-Käfer vorfand, ließ mich etwas die Stirn runzeln. Des Weiteren hatten sowohl Wolfgang als auch Geiger, nur äußerst ungemütlich kalte Kunststoffsitze in den Billigversionen ihrer Autos. Wenn ich das im Vorfeld geahnt hätte, hätte ich im Posemuckel ordnungsgemäß alkoholisch kräftig zugeschlagen und mich warmgetrunken.
Ich fügte mich in mein Schicksal und machte es mir auf der Rückbank angemessen gemütlich. Nach ca. fünf Minuten hatte ich erstmals das Bedürfnis mein linkes Bein anders zu positionieren. Das war mir aber leider aus Platzgründen nicht möglich. Wenigstens waren die Scheiben bald schon von innen beschlagen. So konnte mich nicht jeder Vorbeigehende sofort entdecken. Obwohl, eigentlich war in dieser arktischen Novembernacht sowieso keiner mehr freiwillig draußen. Nur eben so arme Schüler, die von Krischns Oma kein Asyl bekommen hatten. Das Kondenswasser begann von den Scheiben zu tropfen. Naja, es gab Schlimmeres. Zumindest war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht richtig kalt, versuchte ich mich zu beruhigen. Dies gelang mir allerdings nur für eine kurze Zeit.
Es mag sein, dass ich sogar mal für zehn Minuten am Stück eingenickt war. Aber diese mich einquetschende Position nervte langsam.
„Dann versuche ich eben im Sitzen zu pennen.“
Auch das ging nicht lange gut. Und dann kam es wie es kommen musste. Zu der Enge gesellte sich schließlich noch die Kälte hinzu, welche allmählich durch jede Ritze des alten Käfers von draußen in die Fahrgastzelle kroch. Und Ritzen hatte dieser Wagen jede Menge.
Vom Stadtteil, in dem ich mich befand, hatte ich bei unserer Ankunft nicht viel mitbekommen. Es schien auf den ersten Blick ein etwas noblerer zu sein. Also, nicht dort wo die ganz Reichen wohnten, aber auch nicht ärmlich. Ich fragte mich zusätzlich, was wohl wirklich passiere, wenn doch ein Anwohner zufällig vorbeikommen würde, z.B. weil er vorher bis tief in die Nacht in seiner Stammkneipe versackt war. Und was, wenn er mich sähe. Wie würde der Hamburger auf mich im Auto reagieren? Ängstlich? Mitleidig? Gar nicht?
Würde er/sie mir evtl. sogar Unterschlupf gewähren, oder eher doch die Polizei rufen? Keine Ahnung. Sollte ich es wagen, auf mich aufmerksam zu machen, oder sollte ich das Risiko eingehen, eventuell im Auto zu erfrieren? Viele Gedanken schossen von allen Seiten in mein Hirn. Man kennt das z.B. aus den einschlägigen US-amerikanischen Spielfilmen. Dort trifft dann der tragische Held in seiner größten Not, plötzlich und unerwartet auf eine tapfere, furchtlose und hübsche Retterin, die ihn schließlich mit zu sich nach Hause nimmt. Aber ich war weder in Amerika, noch war ich ein Held. Ferner machte ich in dieser Nacht obendrein äußerlich nicht unbedingt den sympathischsten oder ansehnlichsten Eindruck. Ein langhaariger Jugendlicher, ungewaschen, unrasiert und unterkühlt. Also nicht in dem Sinne unterkühlt, wie man es den Norddeutschen oft vorurteilsmäßig nachsagt. Nein, gemeint war nur meine Körpertemperatur von gefühlten 25°C. Höchstens! So kauerte ich erstmal weiter im „VWKühlschrank". Ich konnte nicht einschlafen, was meinen Beinen allerdings ständig gelang. Kein Wunder bei der Enge und der geringen Bewegungsfreiheit.
Ein weiteres, potenzielles Problem tat sich auf. Was, wenn ich nachts aufs Klo musste? Ich hatte ja abends im Posemuckel doch das eine oder andere Getränk zu mir genommen. In dieser Gegend eine geeignete Stelle zu finden konnte schwierig sein. Sollte ich dann im Notfall evtl. Krischns Oma aus dem Bett klingeln? Fürwahr keine gute Idee, befand ich. So langsam wurde die Kälte unerträglich schmerzhaft. Alles, ja wirklich alles, tat mir weh. Und irgendwie wollte ich nicht mehr. Eine Uhr hatte ich übrigens auch nicht dabei. Wie spät mochte es wohl inzwischen sein, hier am Nordpol? Keine Ahnung! Irgendwann kam ich zu der Erkenntnis: „alles andere macht mehr Sinn und ist sicherlich besser für mich, als weiter in diesem Auto zu leiden.“ Ich beschloss mich auf den Weg zu machen. Wohin wusste ich nicht. Aber auf jeden Fall die Beine ausstrecken und mich bewegen. Wenn ich ganz viel Glück haben sollte, fände ich vielleicht sogar eine offene Kneipe. Bei meiner Körpergröße wäre es bestimmt nicht aufgefallen, dass ich noch nicht volljährig war. Aber gleich vorneweg, ich fand keine offene Kneipe. Der gesamte Stadtteil lag ruhig und leblos im Tiefschlaf. Nachteilig machte sich draußen der kalte Wind bemerkbar. Unter dem hatte ich im Auto zumindest nicht zu leiden. So war sie, die heutige Jugend, mit nichts zufrieden. Immer nur am Maulen. Mal über den engen Raum, mal über den frostigen Wind. Aber stets unzufrieden. Schlimm, oder?
Ich weiß auch nicht mehr genau wie lange ich umhergeirrt bin, bis ich dann jedenfalls, zu meiner großen Freude, die folgende Entdeckung machte: Eine Bushaltestelle!!! Und das Allerbeste daran war: dort standen ein paar Leute herum, bibbernd vor Kälte. Und mein Verstand sagte mir, dass dies nur eines bedeuten konnte: der Bus kommt bald. Es war Samstagmorgen, und warum sollten sich sonst – noch dazu bei derartig frischen Temperaturen, welche jeden Atemzug für alle Umstehenden sichtbar werden ließen – ein paar Menschen an einer Bushaltestelle versammeln. Daraus resultierte für mich nur die einzige, oben bereits erwähnte, Schlussfolgerung. Und, dieser Gedanke gefiel mir! Man beäugte mich sehr misstrauisch. Schließlich kannte man mich nicht und mein Äußeres war wenig adrett. Aber mir war das in diesem Moment mehr als egal.
Es dauerte tatsächlich nur ca. fünf Minuten, bis das ersehnte öffentliche Verkehrsmittel um die Ecke bog. Auf der Anzeige stand in großen, warm leuchtenden, gelben Buchstaben das Ziel der Fahrt angeschrieben: S-Bahn Poppenbüttel. OK, das war also der Ort, zu dem ich nun wollte!
Kaum hatte ich mich auf dem weichen Sitz niedergelassen, spürte ich zum einen die ersten schwachen Anzeichen einer wohligen Wärme in mir aufsteigen, und des Weiteren eine tiefe, mich übermannende, Müdigkeit, welcher ich nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Der Busfahrer allerdings schon, denn von ihm wurde ich kurze Zeit später, relativ unsanft mit den Worten: „Endstation, bitte alle aussteigen! Das gilt auch für Dich, Du Penner!“, aufgeschreckt. Wie ich später erfuhr, war ich stattliche vier Minuten im Bus gefahren, da ich nämlich an der vorletzten Haltestelle vor der Endstation zustieg. Die SBahnstation war zugig. Zum Glück dauerte es wieder nicht allzu lange, bis eine Bahn erschien. Bereits nach 15 Minuten konnte ich meine Reise in die Innenstadt antreten. Ach ja, am Bahnhof erfuhr ich dann endlich wie viel Uhr es war, 04:20 Uhr. Verdammt früh, fand ich.
In der warmen S-Bahn schlief ich unverzüglich wieder ein. Aber es war ein unruhiger Schlaf. Denn irgendwie wollte ich die Station Landungsbrücken nicht verpennen. Dort, mitten in der Stadt, am Hafen, plante ich auszusteigen. Was genau ich dort so treiben wollte, wusste ich bis dato nicht. Hauptsache nicht mehr frieren müssen. Bis zum nächsten Treffen mit den anderen Jungs – um 10:30 Uhr waren wir zu einer Hafenrundfahrt verabredet – waren es schließlich noch ein paar Stunden, die es irgendwie rumzubringen galt.
Es gelang mir tatsächlich an der gewünschten Station auszusteigen. Dort war noch überhaupt nichts los, um diese Uhrzeit. Kein Kiosk hatte geöffnet. Dabei sehnte ich mich doch so sehr nach einer Cola! Ja, verrückt, oder? Zu dieser Zeit war ich ein Cola-Freak. Das Zeug konnte ich damals zu jeder Tages- und Nachtzeit in mich reinkippen! Aber an diesem frühen Morgen hatte ich keine Gelegenheit, ein Fläschchen käuflich zu erwerben. Jeder Vernünftige Mensch hätte sich in dieser fröstelnden Situation einen heißen Kaffee oder Tee für die innere Erwärmung gewünscht. Ich nicht. Ich hätte eine gekühlte koffeinhaltige Limonade vorgezogen.
Da ich mich, aufgrund früherer Aufenthalte in dieser schönen Stadt etwas auskannte, dachte ich mir: „Ich laufe jetzt vom Hafen, in Richtung Mönckebergstraße, der großen Einkaufsmeile der City. Das hält mich in Bewegung und bestimmt wird mir dadurch wärmer.“ So begab ich mich auf einen Weg, der in seinem Verlauf immer düsterer und dunkler wurde. Flotten Schrittes versuchte ich der Kälte zu trotzen, als ich in einiger Entfernung eine Brücke registrierte, unter welcher sich irgendetwas zu bewegen schien. Langsam näherte ich mich dieser Stelle. Je dichter ich kam, desto genauer konnte ich erkennen, was sich unter der Unterführung abspielte. Ein leichtes Unbehagen breitete sich in mir aus...
Ich hörte Stimmen. Lallende Stimmen. Nun konnte ich sodann menschliche Körper erkennen. Einige lagen an der Seite auf dem Boden, andere standen. Es war ein Obdachlosen-Treffpunkt. Auch diese armen Menschen hatten die winterliche Nacht im Freien verbringen müssen. Sie hatten noch nicht mal einen VW-Käfer. Aber dafür ein paar Schlafsäcke. Und Alkohol. Das war deutlich zu riechen. Mir war spürbar mulmig zumute. Eine Flasche kreiste, obwohl es gerade mal halb sechs Uhr morgens war. Als man mich bemerkte, wurde ich von ca. 15 Augenpaaren misstrauisch begutachtet. Da man jedoch registrierte, dass ich kein Polizist und kein sonstiger Ordnungshüter war, bot man mir unverzüglich einen Schluck aus der Pulle an. Ich lehnte allerdings dankend ab, weil ich vermutete, der Cola-Anteil des Getränks sei für mich zu gering.
Ja, man erkannte mich als einer der ihren. Kein Wunder. Äußerlich unterschied ich mich nicht allzu sehr von ihnen. Einige rückten sogar etwas zusammen, um mir einen Platz in ihrer Mitte anzubieten. Fand ich ja nett, aber irgendwie war das dann doch nicht das, wonach ich suchte. Deshalb zog ich es vor, weiterzugehen und das freundliche Angebot nicht anzunehmen. Das kam bei meinen Leidensgenossen nicht gut an und man warf mir ein paar zornig klingende Worte hinterher. So marschierte ich weiter in Richtung Zentrum. In der Mönckebergstraße hatten selbstverständlich noch alle Geschäfte geschlossen. Auch hier wurde ich nicht fündig, auf der Suche nach einer Cola. Dafür fand ich – zu meiner großen Freude – eine Vitrine mit Werbe-Plakaten für die neue Schallplatte meines großen Idols, Udo Lindenberg. Das musste ich unbedingt fotografieren. Diese Aktion fiel zwei uniformierten Herren auf, welche gerade Streife fuhren. Sie bogen kurzerhand mit ihrem Einsatzwagen – und mit quietschenden Reifen – in die Fußgängerzone ein, schnitten mir den Weg ab, parkten das Fahrzeug direkt vor mir und stiegen aus, um mich zu verhören. Was ich denn um diese Zeit hier so alleine machen würde, wollten sie wissen. Wo ich denn herkam, wo ich denn hinwolle und überhaupt, ob ich mich denn ausweisen könne. Ich erzählte ihnen meine komplette Story, natürlich auch das mit Krischns Oma, mit dem eiskalten VW, usw… Sie schienen Mitleid mit mir zu haben und sahen freundlicherweise von einer Verhaftung ab. Und sie gaben mir den Tipp es mal am Hauptbahnhof zu probieren. Dort konnte man um diese Zeit schon einen heißen Kaffee bekommen. Dankend für den Rat schlich ich weiter. In der B-Ebene unter dem Hauptbahnhof war es immerhin etwas wärmer als draußen. Deswegen hielt ich mich dort ein wenig länger auf. Plötzlich weckte dort etwas mein besonderes Interesse… Ein Passbildautomat!
„Das isses“, dachte ich. „Ich werde diese Situation jetzt mal für die Nachwelt festhalten. Vielleicht kann ich das später mal meinen Enkeln präsentieren. Seht her, so sah euer Opa aus, als er damals Hamburgs kälteste Nacht seit Beginn der Wetteraufzeichnungen so heldenhaft überlebt hatte. Wahrscheinlich werden sie dann schreiend und traumatisiert aus dem Zimmer laufen und ich kriege Ärger mit ihren Eltern“. Ob es später tatsächlich noch mal irgendjemand interessieren würde oder nicht, egal, ich musste das einfach dokumentieren! Der Automat spuckte anschließend so eine Art „Horror-Picture-Show“ aus.
<Fahndungsfoto>
So langsam begann dann nach und nach Leben in die Stadt einzuziehen. Es kamen immer mehr Leute zusammen und es war mir endlich möglich meine geliebte Cola zu erstehen. Später machten sogar ein paar Läden auf, so dass ich nicht mehr in der Kälte rumlaufen musste. Obwohl ich schon immer jemand war, der nicht so leicht friert, war das, was ich in den letzten Stunden ertragen musste zu viel für mich. Oder besser gesagt, zu wenig, und zwar zu wenig an Temperaturen!
Bald setzte ich mich wieder in eine U-Bahn und fuhr zurück zum Hafen. Dort befand sich, auf einem Hügel – mit traumhaft schönem Blick über das gesamte Becken – die Jugendherberge der Stadt. Damit sich so etwas wie in der vorherigen Nacht nicht wiederholt, checkte ich gleich ganz früh morgens für die nächste Nacht dort ein. Ich wollte nichts mehr riskieren. Nicht, dass es später heißen würde: „Ja da hättest Du gleich früh morgens kommen müssen, um hier noch ein Bett zu kriegen.“ Nee nee, lieber gleich Nägel mit Köpfen machen!!
Ein paar Stunden später. Endlich!!! Juhuuu!!! Es war 10:30 Uhr geworden. Und ich traf mich mit den anderen zur obligatorischen, großen Hafenrundfahrt. Merkwürdigerweise waren sie alle unfassbar ausgeschlafen, frisch rasiert, geduscht, gut gesättigt so wie bestens gelaunt, als wir uns an den Landungsbrücken trafen. Es interessierte sie aber tatsächlich zu hören, wie es mir erging, denn der Schreck war groß, als sie morgens das Haus verließen und die VWs leer vorfanden. Wolfgang, Geiger und Krischn zeigten sich jedenfalls glücklich mich einigermaßen wohlauf wieder zu sehen.
Das Geld für die Hafenrundfahrt war bestens angelegt, denn ich schlief die kompletten zwei Stunden lang tief und fest. Und das auch noch im Warmen. Gut, diese Barkassen sind recht laut uns schaukeln kräftig, aber davon habe ich absolut nichts mitbekommen.
So konnte ich diesen Tag aber insgesamt passabel überstehen. Abends trudelte ich dann vorschriftsmäßig vor 22 Uhr in der Jugendherberge ein. Es war zwar ein 8-Bettzimmer mit lauter fremden Typen drin, welche unterschiedlich lärmend schnarchten, aber es war warm. Und ich hatte genügend Platz, um mich ausstrecken zu können. Mehr brauchte ich gar nicht in dieser Nacht. Einziger Nachteil, sie war viel zu kurz, denn am nächsten Morgen stand dann der traditionelle Besuch des berühmten Fischmarktes auf dem Programm. Eigentlich wollte ich nicht wieder so früh raus, aber da die anderen alle extra zeitig aufstehen wollten, konnte ich schlecht „nein“ sagen. Obwohl wir schon um 6 Uhr dort waren, wurden bereits zahlreiche Stände abgebaut. Sehr viel hatten wir nicht mitbekommen, von diesem besonderen Spektakel.
Und Geiger eröffnete mir noch etwas. Er hatte festgestellt, dass die Lichtmaschine von seinem Auto defekt war. Somit musste er also so zeitig in Richtung Heimat starten, um garantiert vor Einbruch der Dämmerung wieder in Kelkheim einlaufen zu können. Auf gut Deutsch, Start sofort nach Erreichen der Helligkeitsstufe, bei der man getrost ohne Licht fahren konnte. Ich war bedient, denn es wurde vorher beschlossen, dass ich mit ihm mitfahren musste. Die beiden Mädels wurden erst um 16 Uhr abgeholt und Wolfgang und Krischn waren ja schließlich am Freitag erst später angereist. Also blieb nur ich als Reisebegleitung für Geiger übrig. Außerdem wollte Krischn auch etwas von Ann-Kathrin. Und die sechsstündige Fahrt im VW-Käfer bietet eine vielversprechende Gelegenheit sich etwas näher zu kommen. Schön für ihn, Pech für mich, denn ich musste viel zu früh abreisen. So blieb mir eigentlich nur die Erkenntnis, dass es doch nichts Schöneres auf der Welt gibt, als richtig gute Freunde zu haben, die immer für mich da waren, wenn ich sie brauchte!!