Eifel-Grauen - Monika Tworuschka - E-Book

Eifel-Grauen E-Book

Monika Tworuschka

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Beschreibung

In der Nähe des Matronentempels in Pesch entdeckt ein Jogger die Leiche eines Mannes. Bald wird ein weiteres Opfer in der Kakushöhle gefunden. Bei den Toten handelt es sich um Opfer einer internationalen Friedenskonferenz auf der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang. Wegen der Prominenz der Opfer übernimmt bald eine SOKO die brisante Mordermittlung, während das Eifeler Ermittlerduo Sarah Berger-Roth und Johannes Nöthen eigenständig weiter recherchiert. Die Spur führt in eine düstere Vergangenheit, und das Spiel des Täters ist noch lange nicht vorbei.... Ein tiefgründiger Krimi mit psychologisch vielschichtigen Charakteren, der die raue Natur und Wildnis der Eifel, atemberaubende Spannungsmomente und liebevolle Beschreibung von Gaumenfreuden in sich vereint.

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Seitenzahl: 309

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Personen

Sarah Berger-Roth:

Oberkommissarin, vor einem halben Jahr aus Köln in die Eifel gezogen, steht oft unter Stress und im Interessenskonflikt zwischen Familie und Beruf, vermisst Köln, FC-Fan

Mark Berger:

ihr Mann, Gymnasiallehrer für Sport und Geschichte

Christoph, Tilda und Benjamin Berger:

ihre Kinder

Johannes Nöthen:

Hauptkommissar, stammt aus der Eifel, geschieden, selbstbewusster und erfahrener Ermittler, dessen Coolness bisweilen arrogant wirkt, große Zuneigung zu seiner Tochter Lotte und seiner Labradorhündin Tessa

Lotte:

seine Tochter

Tessa:

seine Labradorhündin

Hanna Meyer:

Sehr belesene und erfahrene

Buchhändlerin, Besitzerin der Schmökerecke, liebt Kriminalromane, Hobby-Detektivin, Mitglied im Eifel-Kochclub

Peter Heimbach:

Buchhändler, Kollege von Hanna Meyer, zeichnet sich durch großes Wissen über die Eifel aus und hält gern belehrende Vorträge

Ursula Lanzerath:

besitzt einen kleinen Dorfladen, ist mit Johannes Nöthen befreundet

Herbert Wißkirchen:

Antiquitätenhändler, Mitglied in der Eifel-Kameradschaft

Hermann Josef Schuster:

Pensionierter Oberstudienrat und Hobby-Imker

Gerhard Bergmann:

Konferenzorganisator auf Vogelsang IP

Meike Keller:

Konferenzorganisatorin auf Vogelsang IP

Julia Krüger:

Staatsanwältin, kompetent, modebewusst und arrogant

Lena Diefental:

Organisatorin eines Kindergeburtstags und Hobbyköchin im Eifel-Kochclub, mit Hanna Meyer befreundet

Greta Reiser:

Journalistin, schreibt für den Eifeler Beobachter

Konferenzteilnehmer

Rebekka Cohn und David Cohn:

liberale Juden, setzen sich im Nahostkonflikt statt einer Einstaaten - oder Zweistaatenlösung für eine Konföderation ein, um den Frieden zwischen Israel und Palästina zu sichern

Sherab Tsering:

tibetischer Buddhist und Wegbegleiter des Dalai Lama

Rajan Srikumari und Nandita Srikumari:

Mitglieder der Sarvodaya-Bewegung, die eine Gesellschaft anstrebt, in der Frieden herrscht und die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt werden

Khaled Husaini:

syrischer Friedensaktivist und Kritiker des Assad-Regimes

Firas Husaini:

sein Sohn

Michael Connacht:

ehemaliges IRA- Mitglied, war an den Friedensverhandlungen des Karfreitag-Abkommens von 1998 beteiligt

Adil Mahmud:

irakischer Muslim, Kunstsammler, setzt sich für den Dialog zwischen Muslimen und der Minorität der Mandäer im Irak ein

Die in dem Roman Eifel-Grauen beschriebenen Personen und Ereignisse sowie Namen, Institutionen und Organisationen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig. Die vorkommenden Orte und Landschaften wurden so detailgetreu wie möglich beschrieben. Wo sich die fiktive Buchhandlung Schmökerecke und das erfundene Antiquariat Wißkirchen befinden, wurde bewusst offen gelassen.

Begebenheiten wie das Reibekuchenfest in Wachendorf undder Imkerstammtisch in Arloff finden tatsächlich statt. Streitigkeiten zwischen Anglern und Schwimmern am Freilinger See kommen gelegentlich vor. Aber die fiktiven Personen dieses Romans können logischerweise nicht vor Ort gewesen sein. Ruth Kahn, die bis zu ihrer Deportation 1942 tatsächlich in Arloff lebte, kann nicht mit der fiktiven Großmutter von Rebekka Cohn befreundet gewesen sein.

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei meinem Mann Udo Tworuschka für seine kreative Unterstützung und seine unerschöpfliche Geduld beim Korrekturlesen bedanken. Ebenso danke ich meinem Sohn Christopher für das gelungene Cover und die unermüdliche Ausdauer bei den abenteuerlichen Vorbereitungen am Freilinger See.

Wer hätte das gedacht! Alle sind sie wieder hierher zurückgekommen – nach so vielen Jahren. Sicher, auch er war heimgekehrt. Dabei wollte er der Eifel, dem Ort seiner Wurzeln und Sehnsüchte, für immer den Rücken kehren! Doch ein einziger Tag hatte alles verändert: Schreckliche Dinge waren in der von ihm so geliebten Landschaft geschehen.

Inzwischen streift er wieder regelmäßig über vertraute Wege im Herzen des Nationalparks. Obwohl er es sich nicht eingestehen will, hat er all das schmerzlich vermisst: die Weite der Landschaft, den gelb leuchtenden Ginster, den blühenden Weißdorn und die angenehm, zart süßlich duftenden Heckenrosen auf der Dreiborner Höhe. Er liebt die kargen Wacholderheiden, den Wechsel von Talauen und laub- und nadelwaldbewachsenen Höhen. Wenn man ganz, ganz still ist, kann man das kehlige, tief gurrende Krächzen der Kormorane hören: „chroho-chrohochro-ho“. Diese „Vögel des Jahres“ 2010 treten oft in größeren Gruppen auf und rasten nach dem Fischfang mit weit geöffneten Flügeln am Ufer der Stauseen.

Lange hat er überlegt, ob er in die Eifel zurückkehren soll. Seine Spuren hat er sorgfältig verwischt. Wenn er schon zurückkommt, soll niemand wissen, wer er in Wirklichkeit ist, wer sich hinter seinem Namen verbirgt.

Und die anderen, die einst so vertrauten, inzwischen aber fremd gewordenen Jugendfreunde? Er hat sie nie aus den Augen verloren. Akribisch hat er verfolgt, was sie so trieben. Andere mochten sie täuschen mit ihrer so weißen Weste, ihrem so tadellosen Ruf, ihrem so vorbildlichen Lebensweg. Aber er kennt sie besser! Diese „anständigen“ und „aufrichtigen“ Menschen, die heute so viele bewundern und schätzen… In Wirklichkeit sind sie elende Schweine. Und niemand weiß das besser als er. Denn niemand kennt ihre Vergangenheit so gut.

Wie so oft wandert er auf schmalen Pfaden von Einruhr an den steilen Hängen des Obersees entlang und genießt die Ruhe der Natur. Mit sehr viel Glück sieht man auch mal einen Schwarzstorch, der in ungestörten Gegenden zu Hause ist. Wildkatzen mit ihrem schwarzen Aalstrich zu sichten, ist fast schon ein Ding der Unmöglichkeit. Dabei hat sich ihre Zahl in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Bussarde, Habichte, Rotmilane sieht man oft majestätisch am Himmel ihre Kreise ziehen. Besonders attraktiv machen den Nationalpark auchdie verschiedenen Specht-Arten, die zum Brüten alte, dicke Laubbaumstämme oder abgestorbene, insektenreiche Gehölze benötigen.

Hoch über ihm ragt die ehemalige „Ordensburg“ empor. Errichten ließen sie die Nationalsozialisten 1934 als Kaderschmiede für den Führungsnachwuchs. Der romantisch anmutende Name „Vogelsang“ stammt von einer Anhöhe gegenüber der Ordensburg.

Tatsächlich. Sie waren zurückgekehrt. Wenn sein Plan aufgeht – und daran hat er nicht den geringsten Zweifel – würde man nicht nur in der Eifel, sondern in der ganzen Welt aufhorchen. Diese so vorbildliche Gruppe von Menschenfreunden – mit einem Schlag würde ein Schatten auf sie fallen. Einige würden dann nicht mehr auf dieser schönen Erde weilen…

Diese Aussicht erfüllt ihn mit einer tiefen Befriedigung. Heiter und mit sich im Reinen blickt er zur Ordensburg empor.

Inhaltsverzeichnis

Personen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

KAPITEL 1

Fast immer zur gleichen Zeit beginnt er seinen morgendlichen Lauf. Die Maisonne wirft ihre ersten Strahlen auf die Wälder und Hügel. Die dunkelgrünen Blätter der Bäume bilden einen auffallenden Kontrast zum strahlend blauen Himmel und verbinden sich mit dem Rot des Sonnenlichts. Es ist noch früh, kurz vor sieben, als der Mann in grauer Sporthose und grünem T-Shirt zu seiner täglichen Joggingstrecke aufbricht. Er genießt diese Auszeit vom Alltag, die Nähe zur Natur, die frische Luft.

Seit er mehrmals pro Woche läuft, fühlt er sich aktiver und oft jünger als seine 55 Jahre. Regelmäßiges Laufen soll das biologische Alter um bis zu neun Jahre verkürzen. Inzwischen glaubt der schlanke, mittelgroße Läufer mit den grau melierten Haaren fest daran, dass körperliche Fitness ein Zeichen von Stärke und Männlichkeit ist. Seitdem trägt er immer öfter sportliche Kleidung, die seine muskulöse Statur betont. Denn seine neuen Freunde wollten nur echte Kerle, keine Weicheier!

Er mag die Morgenstunden, wenn die Natur so richtig zum Leben erwacht. Entspannt trabt er vom Waldparkplatz „Römische Tempelanlage“ hinter Pesch auf den Rundwanderweg, vorbei an dem zweistöckigen Wohnhaus mit dem daneben liegenden Wirtschaftsgebäude. Er hört das Plätschern des Wespelbachs, der sich durch die saftigen Wiesen schlängelt. Direkt hinter der Brücke trifft er auf den Hornbach, der nun Eschweiler-Bach heißt. Obwohl der Weg allmählich ansteigt, kommt er nicht aus der Puste. Am Wegesrand ragen kahle Baumstämme mit abgesägten Ästen in den Himmel. Auf der Wiese links ein einsamer Hochstand; rechts in der Böschung bizarr geformtes Totholz, ein umgestürzter Baum versperrt einen kleinen Waldweg. Auf beiden SeitenStacheldrahtzäune, teilweise von hohem Gras überwuchert. Jetzt geht's nach rechts auf einen Weg, der immer steiler ansteigt.

Er hat sich für diese Strecke entschieden, obwohl es wahrscheinlich klüger wäre, sich hier nicht so oft blicken zu lassen. Doch so früh ist vermutlich noch niemand unterwegs, der ihn kennt. Nachts wäre das anders. Ihn schaudert bei diesem Gedanken, aber er hat auch eine gewisse Faszination. In der Dunkelheit schmiegten sich die Bäume noch enger aneinander, nur wenig Mondlicht drang spärlich durch die Blätter. Es lag so ein Hauch von Geheimnis in der Luft. Niemand sprach laut, obwohl es keine Zeugen gab. Alle wussten, dass der Ort im Dunkeln geheim bleiben musste. Seit einiger Zeit beschleicht ihn ein mulmiges Gefühl, wenn er sich dem „Heidentempel“ nähert, wie diese antike Anlage im Volksmund heißt. Dabei kommen aufregende, aber auch beängstigende Erinnerungen in ihm hoch.

Nach etwa 200 Metern muss er eine rot-weiße Schranke umkurven. Der Weg unten ist feucht; das Gelände ist sumpfig, und wie immer riecht es hier modrig. Er mag diesen muffigen Geruch nicht, der ihn an verdorbene Lebensmittel und den schlecht gelüfteten Keller erinnert, in den er als Kind nur ängstlich herabstieg, um Kartoffeln zu holen.

Je höher er kommt, desto trockener wird es. Kleine Kieselsteine knirschen unter seinen Schuhen. Er bleibt kurz stehen, um Luft zu holen, taucht ein in die Atmosphäre auf dem Addig, wie diese Anhöhe genannt wird. Vorbei an mit Moos bewachsenen Baumstämmen trabt er geradewegs auf eine Buchenhecke zu. Dann erreicht er den Unterstand auf der rechten Seite mit der Informationstafel. Der Tempelbezirk der Matronae Vacalinehae – der Muttergöttinnen – war ursprünglich ein Baumheiligtum. Der in unmittelbarer Nähe gemauerte Brunnen lieferte wohl das Wasser für den Kult. Die Leute aus der Gegend haben damals den Schutzgöttinnen von Haus und Hof Opfer gebracht und um ihre Hilfe und Wohlergehen gebeten.

Auch heute noch schätzen Wandernde das Heiligtum als Ort der Ruhe und Kraft, genießen die Stille des Waldes, die besondere Aura des sakralen Ortes. Auch der Läufer kann sich der Atmosphäre der Tempelanlage nur schwer entziehen. Eigentlich will er hier möglichst schnell vorbeilaufen und sich auf den Weg nach Nettersheim und Zingsheim machen.

Nur einen flüchtigen Blick wirft er auf den Umgangstempel. Nicht zum ersten Mal bestaunt er die Opfergaben im Schoß der Göttinnen und auf den Weihesteinen: Früchte, Blätter, Tannenzapfen, Muscheln, Steine, Zweige mit inzwischen vertrockneten Beeren und viele Kupfermünzen. Wer hat sie wohl dorthin gelegt? Welche Wünsche und Bitten waren damit verbunden? Tante Helga hatte ihm mal schmunzelnd erzählt, dass Lisbeth aus Nöthen immer wieder zum Heidentempel pilgerte, weil sie sich sehnlichst ein Kind wünschte. Zuvor war sie mehrmals vergeblich nach Lourdes gefahren. Laut Tante Helga hat es dank der Muttergöttinnen dann endlich geklappt. Er wirft einen kritischen Blick auf die Münzen. Reichen die paar Kupferstücke für so große Wünsche? Vielleicht wäre es besser, nicht so geizig zu sein und ein bisschen mehr springen zu lassen…

Jäh bleibt er stehen. Hat da jemand eine besonders große Opfergabe niedergelegt? Oder täuschen ihn seine Sinne? Das Herz klopft ihm bis zum Hals, als er eine zusammengesunkene Gestalt erblickt. Da liegt jemand! Ein Mensch. Er geht näher ran und tippt dem Mann vorsichtig an die Schulter. Sofort ist ihm klar: Hier kommt jede Hilfe zu spät. Das Gesicht des dunkelhaarigen Mannes ist wie erstarrt, kein Atemzug ist zu spüren. Der Tote ist auf die rechte Seite gesunken, ein Arm liegt unter dem Körper, der andere mit der Handfläche nach unten im Laub. Ein Hosenbein ist hochgerutscht. Verstört taumelt der Jogger zurück, zwingt sich, genauer hinzusehen.

Erleichtert stellt er fest, dass er den Toten nicht kennt. Einen Moment lang hatte er befürchtet, es könnte einer von ihnen sein. Verstohlen schaut er sich um, ob jemand in der Nähe ist. Dann zieht er sein Smartphone aus der Hosentasche und entschließt sich, sofort den Notruf zu wählen. Schwer atmend und stockend berichtet er, was passiert ist. Außerdem gibt er eine genaue Wegbeschreibung.

Dass es hier bald von Polizisten nur so wimmeln wird, bereitet ihm Unbehagen. Aber einfach den Toten nicht zu melden, macht ihn doch erst recht verdächtig! So sehr er sich auch bemüht, er kann seinen Blick nicht von der starren Gestalt lösen.

Dann entdeckt er den Armreif des Toten. Das außergewöhnliche Schmuckstück aus Kupfer hätte ihn unter normalen Umständen aus beruflichen Gründen interessiert. Aber jetzt ist er zu nervös. Angespannt schaut er auf die Uhr. Er hat noch einen wichtigen Termin, muss pünktlich im Geschäft sein. Die Minuten verrinnen aufreizend langsam. Ungeduldig wippt er mit den Füßen. Endlich hört er in der Ferne den Motor eines sich nähernden Autos, wenig später Stimmen.

KAPITEL 2

„Wie ist es, haben Sie sich schon halbwegs eingelebt?“, fragt Peter Heimbach seine Kundin. Der Buchhändler kommt aus dem Nebenraum des dezent altmodisch-chic eingerichteten Ladens, umgeben von hohen Regalen, gefüllt mit Büchern in allen Farben und Größen. Nach Möglichkeit möchte man hier keine Billigbücher verkaufen und bemüht sich um Qualität. Selbstverständlich, es gibt sie auch in der Schmökerecke: die Lebensratgeber, Pflanzenund Städteführer, die Sternendeutungsbücher u.a. Ohne solche Titel ginge Umsatz verloren. Aber nach der Philosophie des Hauses versteht sich die Schmökerecke als Ort, wo lohnende Inhalte empfohlen werden, wo man das Gespräch über und mit Büchern inszeniert. Und so ist der Besuch der Schmökerecke eine Art gesellschaftliches, intellektuelles Spiel. Man erhält viele Anregungen und geht schlauer wieder raus, als man reingekommen ist. Eine traditionelle Buchhandlung ist eben mehr als bloß ein Buchverkaufsladen. Und, nicht zu vergessen, es gibt noch Kunden wie etwa den schon lange nicht mehr praktizierenden Hausarzt, der sich endlich die Zeit nehmen kann, die sieben Bände „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust zu lesen und sich darüber auszutauschen.

Das Markenzeichen des Buchhändlers Peter Heimbach ist der Rautenpullover – ein Muster aus tiefem Blau und Grau, das so vertraut ist wie die Geschichten, die er erzählt. Lächelnd begrüßt er jeden Besucher des Ladens. Mit seinen blauen Augen mustert er einen Kunden aufmerksam durch seine randlose Brille. Er kennt die Lebensgeschichten seiner Stammkunden oft genauso gut wie die Handlungsstränge vieler Bücher, die er verkauft. Deshalb weiß er auch, dass Sarah Berger-Roth vor einem halben Jahr aus Köln in die Eifel gezogen ist. Die etwa 175 cm große, schlanke Frau trägt dunkelblaue Jeans und ein mintfarbenes Sweatshirt. Ihr dunkles, schulterlanges Haar umrahmt ihr schmales Gesicht mit den braunen Augen. Sie schaut sich gerade in der Kinderbuchabteilung um. „Das lässt sich so allgemein nicht beantworten.“ Sarah zuckt unsicher mit den Schultern. „Die Menschen sind hier sehr freundlich, und die Natur einfach Spitze. Aber es gibt auch ein paar Nachteile.“

Sie merkt selbst, dass sie nicht sehr überzeugend klingt. Sarah möchte niemanden vor den Kopf stoßen. Doch ihr Leben in Köln vermisst sie schon sehr. Die Eifel ist mit dem Eigelstein nur schwer zu vergleichen… Oft sehnt sich Sarah nach ihrer alten Wohnung im Agnesviertel zurück. Die Wohnung war zwar viel zu klein, aber dafür richtig gemütlich. Vor ihrem inneren Auge erscheinen Szenekneipen, behagliche Cafés und prachtvolle Altbauten – und natürlich das bewährte Miteinander mit den Nachbarn. Trotzdem haben sie und ihr Mann sich nach langem Zögern entschlossen, mit den Kindern in die Eifel zu ziehen. Eine größere und bezahlbare Wohnung war in Köln nicht zu finden, ein Haus schon gar nicht!

„Haben Sie sich schon mal in der Gegend umgeschaut? Wenn sie möchten, kann ich Ihnen noch ein paar interessante Ausflugsziele nennen.“ Die langen Beratungsgespräche von Herrn Heimbach sind legendär. Gekonnt spickt er sie mit persönlichen Einsichten, auch kleinen Weisheiten. Nicht zum ersten Mal versucht er, seiner neuen Kundin Ausflüge in die nähere Umgebung zu empfehlen. Dafür ist Sarah dankbar. Mit den Kindern hat sie das Freilichtmuseum in Kommern besucht, einen Ranger auf dem Wildnispfad getroffen und ist mit der Stella Maris über den Rursee geschippert. Erst am letzten Wochenende haben sie einen Spaziergang rund um den Freilinger See unternommen. Tilda war besonders begeistert von den vielen Jungvögeln.

Sarah nimmt sich noch ein Buch, blättert kurz darin herum und legt es wieder zur Seite. Dann greift sie zu einem anderen. Die Kinderbuchabteilung ist bunt und spricht junge Lesende und Eltern an. „Was genau suchen Sie denn?“ „Ein Geschenk. Mein Sohn Christoph ist zu einem Kindergeburtstag eingeladen.“ „Bei Kinderbüchern weiß die Chefin am besten Bescheid. Ich schau mal, wo sie ist!“

„Guten Morgen, Frau Berger-Roth!“, begrüßt sie Hanna Meyer, die Inhaberin der Schmökerecke mit einem Lächeln im Gesicht. Hanna ist eine schlanke Frau mit dunklen, leuchtenden Augen und kurzen, grau gelockten Haaren. Sie trägt meistens eine schwarze Brille und bevorzugt einen unauffälligen, aber eleganten Kleidungsstil. Sie trägt gern dunkle Farben wie Schwarz und Grau. Hanna ist ein großer Fan von Jugendliteratur. Sie kennt nicht nur alle Bestseller, sondern auch Bücher aus unterschiedlichen Kulturen. Über aktuelle Trends ist sie immer auf dem Laufenden.

„Ist das Buch für einen Jungen?“ „Ja, genau.“ „Welches Alter? Wofür interessiert er sich denn?“ „Elf Jahre. Starwars. Da kenne ich mich nicht aus. Ich weiß leider nicht einmal, ob es dazu Bücher gibt.“ „Da gibt es einige. Aber die müsste ich bestellen.“ „Dann doch lieber etwas anderes!“ Nicht zum ersten Mal vermisst Sarah die große Auswahl in ihrer alten Kölner Stammbuchhandlung.

„Ich denke, er kennt Harry Potter.“ Hanna Meyer zeigt Sarah eine Reihe von Büchern, die sie sachkundig beschreibt. „Besonders kann ich dieses Buch empfehlen. Da gibt es auch eine Fernsehserie.“ „Okay.“ Sarah gibt zu, dass Frau Meyer sich gut auskennt. „Dann packen Sie das Buch bitte als Geschenk ein!“

„Ein hübsches Armband trägt Herr Heimbach“, stellt Sarah leicht belustigt fest. Ihr Mann Mark besitzt ein ähnliches; denn ihre Tochter Tilda stellt auch solche kleinen Kunstwerke aus Leder her. Gerade, als sie ihn fragen will, wer ihm das Armband geschenkt hat, vibriert ihr Smartphone. Sie lauscht einen Moment. „Ich muss zum Matronentempel. Wie komme ich dorthin?“ „Welchen meinen Sie? Da können wir hier in der Eifel gleich mehrere bieten…“ Peter Heimbach schmunzelt gönnerhaft und macht sich bereit für einen Vortrag. „Mehrere?“ Sarah stöhnt: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Wie sollte sie ihrem Kollegen erklären, dass sie wieder einmal nicht schnell genug den Weg gefunden hatte? Sie hatte doch versprochen, so schnell wie möglich da zu sein. So ein Mist! Warum hatte sie Johannes nicht gefragt? Aber wer kommt schon auf die Idee, dass es mehrere Matronentempel gibt. „Liegen die nebeneinander?“ „Nicht direkt. Also, südwestlich von Zingsheim gibt es einen römischen Tempel auf der Görresburg. In diesem Heiligtum wurden vom ersten bis zum vierten Jahrhundert Schutz- und Muttergottheiten verehrt...“ „Stopp, ich brauche jetzt keinen gelehrten Vortrag, sondern eine Wegbeschreibung, besser noch eine Adresse für das Navi!“

Scheinbar ungerührt fährt Heimbach fort: „Und dann gibt es noch einen gallo-römischen Umgangstempel bei Zingsheim...“ „Wie kommt man da hin?“ Sarah vibriert innerlich. „Ja, aber wir haben ja noch den Tempel in Pesch“, fährt Peter Heimbach unbarmherzig fort. „Hat man Ihnen nichts Näheres gesagt?“ Sarah überlegt fieberhaft. „Ich glaube, er sagte Matronentempel oder Heidentempel und so etwas wie... „Addick?“, ergänzt sie unsicher. „Ach, Sie meinen den Matronentempel in Pesch, den Heidentempel. Der Hügel, auf dem er steht, heißt Addig. Der dortige Tempelbezirk ist einer der bedeutendsten ...“ „Bitte aufhören!“ Sarah ist völlig genervt. „Wie komme ich am schnellsten dorthin?“ „Richtung Zingsheim, von dort auf die L 206 Richtung Pesch. Da ist ein Parkplatz.“

Die Klingel macht ein kurzes Ding-Dong, als die Oberkommissarin zu ihrem Auto eilt. „So ein Mist“, denkt sie. Wegen der besch... Parksituation hatte sie ihren Wagen auf dem großen Parkplatz vor der Stadt abgestellt – gut zehn Minuten Fußweg. Sie eilt an den Geschäften vorbei in Richtung Stadttor. Dann weiter die Straße entlang lässt sie den Discounter rechts liegen, hetzt links über den Parkplatz und erreicht keuchend ihren Škoda.

Sie fährt stadtauswärts den Berg hinauf. Die Serpentinen schlängeln sich den Berg hinauf. Die Sonne wirft ihr flackerndes Licht durch das dichte Blätterdach einiger Bäume, während der PKW vorsichtig die Kurven hinaufkriecht. Plötzlich taucht vor ihr ein landwirtschaftliches Fahrzeug auf, das in gemächlichem Tempo die Straße entlangtuckert. Ihre Geduld wird auf eine harte Probe gestellt, als sie genervt dem langsamen Gefährt folgt, das Tempo gedrosselt, die Hände fest am Lenkrad. Überholen ist unmöglich, die Straße zu schmal, die Kurven zu gefährlich. Sarah schielt angespannt immer wieder auf die Uhr. Gott sei Dank – das Fahrzeug biegt in einen Wirtschaftsweg ab. Doch die schmale, kurvige Straße lässt immer noch kein hohes Tempo zu.

Nach einer halben Stunde hat Sarah den Waldparkplatz gefunden, eigentlich ein perfekter Ort, um zu verweilen und die Stille des Waldes zu genießen. Aber dazu hat sie wirklich keine Zeit. Hastig folgt sie den Wegweisern, eilt den Hügel hinauf. Völlig außer Atem erreicht sie den Tempelbezirk.

„Braucht ihr in Köln immer so lange zum Tatort?“ Johannes Nöthen schaut zunächst auf seine Armbanduhr und dann seine Kollegin leicht amüsiert an. Wie immer wirkt er souverän und locker. Sarah bewundert seine Coolness. Gleichzeitig ist sie genervt. Auch hier am Tatort trägt Nöthen Designerjeans, Hemd und Pullover sowie eine Sonnenbrille der angesagtesten Marken. Sein sportlich-forsches Auftreten strahlt wie immer Selbstbewusstsein und Professionalität aus. Mit seiner humorvollen Gelassenheit und lockeren Art hat er längst den Respekt seiner Kollegen erworben.

Doch für Sarah grenzt seine Coolness manchmal an Arroganz. „Was war es denn diesmal? Probleme in Schule oder Kita? Oder hast du einfach den Weg nicht gefunden?“ „Ich fahr` nicht wie du mit quietschenden Reifen durch die Kurven! Außerdem ist Matronentempel nicht eindeutig“, knurrt Sarah. „Jetzt bin ich ja da!“ Die imposante Tempelanlage beeindruckt sie. Interessiert betrachtet sie die vielen Opfergaben.

„Warum eigentlich Tatort? Sind wir denn sicher, dass es Fremdverschulden war?“ Sarah runzelt die Stirn. „Unsere Kollegen gehen davon aus. Sonst hätten sie uns nicht gerufen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nicht sicher sein.“ „Was wissen wir über den Todesfall?“ „Nicht viel. Nicht einmal, ob der Mann wirklich hier zu Tode gekommen ist. Aber wir müssen wohl davon ausgehen. Da keine größeren Verletzungen zu erkennen sind, können wir die Todesursache noch nicht feststellen. Die Platzwunde an der Stirn könnte auch von einem Sturz stammen.“

Sarah nickt. „Wir wissen also nicht, ob es sich um einen Unfall, einen Suizid, Körperverletzung mit Todesfolge, einen Totschlag oder tatsächlich um einen vorsätzlichen Mord handelt.“ „Wird das jetzt ein Vortrag in der Polizeischule?“ „Sorry! Nein. Aber Vorsatz können wir nicht ausschließen.“ „Natürlich nicht. Aber das Opfer könnte auch eines natürlichen Todes gestorben sein, zum Beispiel an Herzversagen.“ „Stimmt.“

„Was sagt der Notarzt?“ „Er kann keine äußere Gewaltanwendung feststellen. Er schätzt den Todeszeitpunkt auf 23 bis 1 Uhr. Einen Unfall hält er für unwahrscheinlich. Aber ihm sind bläulich verfärbte Lippen aufgefallen.“ „Dann… war er vielleicht unterkühlt oder hatte Sauerstoffmangel.“ „Das ist gut möglich. Wir müssen jetzt mal abwarten, was die weiteren Untersuchungen ergeben.“ „Hatte er Papiere?“ „Ja, einen ausländischen Pass.“ „Wurde er ausgeraubt?“ „Wohl kaum. In der Brieftasche befinden sich Bargeld und diverse Kreditkarten. Die sicherlich nicht billige Sky Dweller- Rolex ist noch am Handgelenk.“

Sonst noch etwas?“ „Ein Armband mit Schriftzeichen oder Symbolen. Und eine hölzerne Kette mit vielen Perlen. Schwer zu sagen, ob die wertvoll sind.“

„Wer hat die 110 angerufen?“ Johannes deutet auf den Mann, der ein paar Meter entfernt steht. „Den kenne ich doch!“ entfährt es Sarah überrascht. „Ja, ein alter Bekannter und sichtlich nervös.“ „Ist das nicht ganz normal, wenn man unerwartet über einen Toten stolpert?“ „Sicher.“ „Kennt er den Toten?“ „Er sagt nein. Ist ihm nie begegnet.“ „Und was wollte er überhaupt hier? Den Tempel besichtigen?“ „Nein, eigentlich nur vorbeijoggen. Das macht er wohl öfter. Ich habe ihm nur gesagt, dass er später ins Präsidium kommen soll, um das Protokoll zu unterschreiben.“

KAPITEL 3

Sie hat keine Probleme, den Weg zu finden, auch ohne Navigationsgerät. Vor Harzheim biegt sie rechts ab und fährt über eine schmale, kurvenreiche, leicht abschüssige Landstraße durch Felder und Wiesen nach Eiserfey. Dann durchquert sie den Ort und fährt nach links. Vorbei am silbernen Denkmal des Riesen Kakus, der kampfbereit seine Keule geschultert hat, erreicht sie oberhalb des Feytals den Ort Dreimühlen.

Vormittags unter der Woche ist hier wenig los und sie kann bequem einen der wenigen Parkplätze benutzen. An Wochenenden stehen die Autos oft an beiden Seiten der B 477. Familien zieht es immer wieder zu der großen Höhle im markanten Kartsteinfelsen, um die sich spannende Sagen ranken. Vor allem in der Corona-Zeit, erinnert sich Lena Diefental, hielten sich viele Familien auf dem Gelände rund um die Höhlen auf. Lena war schon oft an dieser prähistorischen Fundstätte.

Sie stellt ihren PKW hinter einem Lieferwagen vor dem Café Landgenuss ab, einem langgestreckten Gebäude mit Satteldach. Zwei Fahnen mit der Aufschrift „Hochwald-Food“ flattern im Wind. Hier gibt es „Milch und mehr“, Obst und Gemüse stammen aus der Region. Mehrere Tische mit Bänken umgeben das Café.

Immer wieder hat Lena Abenteuerspiele für ihre Kinder auf dem Gelände rund um die Höhle „ausgeheckt“. Besonders spannend fanden Kira, Tom und Nico, wie die Neandertaler ihre Speere hergestellt haben: Sie befestigten eine Feuersteinklinge an einem Holzstock und verwendeten als Klebstoff sogenanntes Birkenpech. Begeistert hatten die Kinder damit Wollnashörner, Mammuts und Berglöwen gejagt. Dann hatten sie Winkel der Höhle erkundet, ohne müde zu werden.

Lena kann mit Kindergeburtstagen in Freizeitparks, bei denen man sich gegen Bezahlung weder um Aktivitäten noch um Verpflegung kümmern muss, wenig anfangen. Sie plant lieber selbst eine spannende, altmodische Schnitzeljagd rund um das Höhlengelände. Es wird auch Brot aus der Steinzeit geben, selbst gebacken! Die Kinder, die mehr Action gewohnt sind, dürfen gerne meckern. Später sind alle begeistert, wie immer.

Lena geht den abschüssigen, etwa drei Meter breiten Weg zur Höhle hinunter, der mit Kies und dann mit Rindenmulch bedeckt ist. Der Weg wird von 30 Meter hohen Buchen, Eichen und Ulmen gesäumt, die von Efeu fast erwürgt werden. Lena genießt die Ruhe. Aus der Ferne hört sie den Lärm des Autoverkehrs und immer wieder Vogelstimmen, zum Beispiel das „Tok, Tok“ eines Spechts.

Lena will eine Kindergeburtstags-Rallye rund um die Höhle organisieren und den Schatz irgendwo in der dunklen Kammer oder in der Nähe des Fledermausgitters verstecken. Die Kids sollen spielerisch Fragen zur Geschichte der Höhle beantworten. Dabei geht es um die Neandertaler, die hier vor 80.000 Jahren gelebt und Steingeräte hinterlassen haben. Etliche Jahre danach haben Rentierjäger in der Höhle gerastet, die später auch Kelten und Römer bewohnten. Bis zu neun streng geschützte Fledermausarten nutzen heute die Höhlen als Winterquartier. Auch eine zweite kleine Höhle, das Kalte Loch, etwas weiter nördlich, hat sie als Versteck eingeplant. Als Erstes vergräbt sie den Hinweis in der Nähe des alten Brunnens. Auch die Löcher in der Felswand vor der Höhle eignen sich super als Verstecke.

Jedes Mal, wenn sie die große Höhle, die Kirche, betritt, ist sie von der beeindruckenden Kulisse unter den 15 Meter hohen Felsen beeindruckt. Lena weiß nicht, ob sie sich geborgen fühlt oder den freien Himmel über sich vermisst. Sie versucht, sich vorzustellen, wie die Menschen vor Jahrtausenden in der Höhle Zuflucht gesucht haben oder den Zugang zur Erde als große Mutter und Erdgöttin verehrt haben.

So dunkel ist es gar nicht. Durch den Eingang, den schmalen Hinterausgang und zwei Öffnungen in der Höhlendecke und rechts dringt fahles Licht herein, so dass man keine Taschenlampe braucht – es sei denn, man möchte die Dunkle Kammer rechts unten erforschen. Sie will noch einen Hinweis für die Kinder in einer Öffnung links neben dem Treppenaufgang verstecken.

Auf einmal hört sie ein Geräusch. Sie bleibt stehen und erschrickt. Ist hier jemand? Oben in der Höhle sieht sie eine vermutlich männliche Gestalt, die langsam auf dem steinigen Boden entlangschleicht. Lena ist hin- und hergerissen zwischen Angst und Neugier. Ihre Gedanken überschlagen sich. Gleichzeitig ärgert sie sich über ihre Nervosität. Ist es nicht völlig normal, dass auch an Werktagen einige Menschen die Höhle besuchen?! Trotzdem kann sie ihre innere Unruhe nicht ganz abschütteln. Der Unbekannte bleibt auf der Treppe stehen, das Gesicht im Schatten verborgen. Was treibt der da? Warum kriecht er über den felsigen Boden? Ein normaler Besucher würde sich anders verhalten!

Er musste sie doch auch gesehen haben. Kein Wort, obwohl sie einen kurzen Gruß erwartet hätte. Irgendwie fühlt sie sich bedroht. Aber sie weiß nicht genau, woher ihre Angst kommt. Ob die fremde Gestalt sie angreifen, verletzen oder sexuell belästigen könnte? Sie versucht, ihre Unsicherheit mit einem selbstbewussten „Guten Tag“ zu überspielen.

Im Halbdunkel erkennt sie, dass die mittelgroße Person in einer dunklen Jacke sich schnell auf sie zubewegt. Ihr Gesicht ist teilweise von einem Schal verdeckt, aber die Augen kann Lena erkennen. Sie hat eine Tasche um die Schulter gehängt. Unerwartet rempelt die Person Lena rücksichtslos an, sodass sie das Gleichgewicht verliert. Als sie sich wieder aufrichtet, ist die Gestalt verschwunden.

Der Zusammenstoß ist zwar nur kurz, doch Lena ist danach leicht verwirrt. „Du Blödmann, du hättest dich ruhig entschuldigen können!“, schimpft Lena.

Auf der Rückfahrt sind Wut und Angst vergessen. „Ich könnte die Begegnung mit dem unheimlichen Unbekannten in eine meiner nächsten Schatzsuchen einbauen“, überlegt Lena. „Vielleicht hat der Mann ja die Höhle als Ort der Besinnung und Meditation aufgesucht? Definitiv zu langweilig! Vielleicht hat er nach verborgenen Schätzen, archäologischen Funden oder anderen geheimnisvollen Dingen gesucht? Ja, das passt schon eher. Daraus lässt sich bestimmt etwas machen! Oder er wollte sich verstecken, weil er von der Polizei verfolgt wurde. Das ist mal ein spannender Gedanke! Vielleicht wollte der Fremde auch etwas verbergen, das niemand finden sollte, womöglich Diebesgut? Da gab es viele Möglichkeiten. War er eventuell auch gefährlich? Was hatte der Fremde vorgehabt? Fast hätte Lena vergessen, zum Supermarkt abzubiegen.

KAPITEL 4

Hauptkommissar Johannes Nöthen holt sich eine Tasse Kaffee und öffnet die mitgebrachte Tüte mit belegten Brötchen. Bis zur Dienstbesprechung ist noch etwas Zeit. Tessa richtet sich auf und beschnuppert kurz die Tüte. „Lass das bitte! Du bekommst gleich ein Leckerli!“ Wie so oft bringt Johannes Nöthen seine hellcremefarbene Labradorhündin Tessa mit zum Dienst. Die meisten Kolleginnen und Kollegen können damit gut leben; denn die kontaktfreudige, sehr agile und zugleich sanftmütige Tessa ist bei allen beliebt und lässt sich gern verwöhnen. Außerdem ist Herrchen meistens besser drauf, wenn sie dabei ist.

Tessa ist oft ungestüm, voller Energie und Neugier. Ob sie einen Befehl befolgt oder nicht, entscheidet sie spontan. Als Johannes ruft, schaut sie kurz auf, aber sie ist viel zu sehr mit den aufregenden Düften der Brötchentüte beschäftigt, um zu hören, was er sagt. Tessa folgt einfach ihrer Nase und ihrem Herzen, die sie oft auf abenteuerliche Wege führen. Manchmal ist Hauptkommissar Nöthen frustriert, aber wenn Tessa fröhlich mit der Rute wedelt und ihn mit ihren treuen Augen anschaut, beruhigt er sich schnell wieder.

Einmal wollte Johannes seinen Kollegen zeigen, wie gut Tessa erzogen ist. Vor versammelter Mannschaft rief er „Tessa, sitz!“ Doch Tessa blickte nur kurz auf und widmete sich dann wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Kauen auf einem alten Tennisball. Der Hauptkommissar versuchte es noch einmal, diesmal mit mehr Nachdruck: „Tessa, Platz!“ Aber Tessa hatte offenbar andere Pläne und trottete stattdessen zu einem Kollegen, um sich hinter den Ohren kraulen zu lassen. Die Anwesenden fingen an zu kichern, was Johannes ziemlich peinlich war. Der sonst so souveräne Polizist spürte, wie ihm die Situation unangenehm wurde und er rot im Gesicht anlief. Aber dann lachte er mit: „Na ja, jeder hat mal einen schlechten Tag, oder?“

Heute ist Johannes Nöthen ziemlich frustriert. Lotte kommt am Wochenende zu ihm. Schon seit Tagen überlegt er, wie er die gemeinsame Zeit mit seiner Tochter so gestalten kann, dass sie sich daran lange erinnern wird. Sie haben gemeinsam den Wildpark und das Freilichtmuseum erkundet und einen Ziegenhof besucht. Dort gab es viele Tiere zum Anfassen und Streicheln. Man durfte sie sogar füttern. Und Käse selbst machen. „Ziegen sind `total cool` und lustig“, befand Lotte. Er hatte sie bei ihren Hobbys unterstützt und sie zu Schwimmwettkämpfen und Voltigierturnieren begleitet. Als Nächstes stand ein Ausflug in den Waldkletterpark nach Bad Neuenahr-Ahrweiler auf dem Programm. Lotte hatte sich darauf gefreut, er auch. Doch dann kam der Todesfall dazwischen. Wie er seine ehemalige Frau kannte, würde sie das Wochenende nicht ohne weiteres eintauschen. „Echt beknackt!“

„Hat die Zeit wieder mal nicht für ein Frühstück zu Hause gereicht?“ Oberkommissarin Sarah Berger-Roth hängt ihren Rucksack auf und lässt sich auf einen Stuhl fallen. „Du meinst sicher ein gesundes Frühstück zu Hause?“ „Genau. Aber ich weiß ja, dass du so der Frühstück-to-go-Typ bist und Uschis Brötchen nicht widerstehen kannst. Was machst du eigentlich, wenn Lotte bei dir ist? Geht das dann auch so husch-husch? Gibt es da auch nie was Gesundes?“

„Ich bin halt nicht so der Körnerbrötchen-Müsli-Frischkost-Typ!“ Johannes Nöthen holt einen Stapel Papiere aus seiner Aktentasche. „Deine Aufzählung klingt aber so, als wüsstest du doch, was gesund ist.“ „Kann sein.“ „Lotte und Tessa teilen sich vermutlich jeden Morgen ein Kilo-Glas Nutella. Und du unternimmst nichts. Ich glaube, in deinem Kühlschrank ist auch nicht viel Gescheites.“ „Jetzt ist aber gut! Selbstverständlich bekommt Tessa kein Nutella. Labradore kriegen überhaupt keine Schokolade. Das ist lebensgefährlich.“ „Sorry, das wusste ich nicht“, gibt Sarah klein bei. Wenn es um seine Tessa geht, ist Johannes absolut humorlos. Er liebt sie abgöttisch wie seine Tochter.

„Was ist denn los mit dir?“ „Noch sauer, weil dein FC abgestiegen ist?“ „Ne, der steigt auch wieder auf.“ „Da stellt sich nur die Frage, wann das sein wird? Ob ich das noch während meiner Dienstzeit erlebe? Zur Sache: Ich soll die Ermittlungen zum ungeklärten Todesfall am Matronentempel leiten. Ich würde dich gerne dabei haben. Kurz bevor die anderen kommen: Was wissen wir bisher über den Toten?“

Sarah weiß, dass Johannes eine außergewöhnliche Intuition besitzt. Aus den kleinsten Hinweisen kann er Schlüsse ziehen, die andere übersehen würden. Bevor er auf eigenen Wunsch wieder in die Eifel versetzt wurde, hatte er sein Können bei mehreren Undercover-Einsätzen unter Beweis gestellt, sich nahtlos in verschiedene Milieus eingeschlichen und wertvolle Informationen gesammelt.

Dass er sie bei der Ermittlung dabei haben will, freut Sarah. Vielleicht hält er doch mehr von ihr als es den Anschein hat.

Und noch was kommt ihr in den Sinn. Vielleicht kann sie ihn auch manchmal bremsen? Denn trotz seiner beeindruckenden Ermittlungsarbeit schießt Johannes bisweilen über das Ziel hinaus, lässt sich manchmal von vorgefassten Meinungen leiten. Aber wenn man ihn darauf hinweist, lenkt er meistens ein.

„Was wissen wir bisher?“ „Es könnte sich um Unfall oder Selbstmord handeln. Fremdeinwirkung kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Die Obduktion hat ergeben, dass der Tote an einer Überdosis gestorben ist. Wer ihm die verabreicht hat, oder ob er selbst aus Versehen zu viel oder das Falsche genommen hat, ist schwer zu sagen. In der Nähe des Tatortes konnten wir weder Spritzen, Löffel, Gummibänder oder Drogenreste sicherstellen.“ „Überdosis von was genau?“ „Es waren wohl mehrere Substanzen im Spiel: Kokain und Amphetamin.“ „Ja, die Zahl der Drogentoten ist bei uns in den letzten Jahren drastisch angestiegen. Hauptursache ist wohl der Missbrauch von Opioiden, oft in der Kombi Heroin und Morphin.“ „Das habe ich auch gehört. In den letzten drei Jahren hat die Zahl der polyvalenten Vergiftungen zugenommen.“ „Poly-… was?“ „Poly ist griechisch und bedeutet `viel`. Also Stoffe, die mehrere Erreger und Giftstoff enthalten.“ „Genau! Häufige Verbindungen sind Kokain und Crack oder Kokain und Amphetamin.“

„Bis jetzt wissen wir noch nicht einmal, ob der Tote wirklich drogenabhängig war. Dazu müsste man sich mit seiner Familie und seinen Freunden unterhalten. Was dagegen spricht…“ „Ja?“ „Die toxikologischen Untersuchung, also Blut und Urinproben des Opfers, weisen nicht eindeutig auf regelmäßigen Drogenkonsum hin.“

„Haben wir Fingerabdrücke oder DNA einer weiteren Person?“ „Gibt es Zeugen?“ „Leider haben wir nur den Jogger, der ihn gefunden hat. Er behauptet, dass er da oben öfter läuft. Ich glaube aber nicht, dass das der einzige Grund ist, warum er sich dort herumtreibt. Du kennst ihn ja. Du warst doch vor einiger Zeit in seinem Laden.“ „Du meinst wegen seiner Verbindung zur Eifel-Kameradschaft?“ Richtig!“ „Wir hatten ja eigentlich schon länger den Verdacht, dass sich diese Jungs öfter an geheimen Orten treffen, vielleicht auch auf dem Tempelgelände.“

„Ja, genau. Bisher konnten wir ihnen nichts nachweisen, aber die Hinweise verdichten sich, dass sie etwas Illegales planen und in eine größere Sache verwickelt sind.“ „Was hat das mit dem Toten zu tun?“ „Die Kameradschaft ist nicht gerade als ausländerfreundlich bekannt. Und der Tote ist nun mal kein Deutscher.“ „Ist das nicht etwas weit hergeholt? Ich denke, die Todesursache waren Drogen.“

„Wir müssen allen Spuren nachgehen. Es wäre schon kaltblütig, wenn unser Jogger den Mann erst umgebracht und dann die Leiche gefunden hätte. Aber dass er hier öfter rumläuft, ist schon auffällig.“ „Leider gibt es um die Tempelanlage herum viele Schuhabdrücke. Ich denke, der Tote ist zusammen mit jemandem zum Tempel gekommen.“

„Kommt der Tote aus der Gegend?“ „Nein, er war nur zu Besuch hier.“ „Und wen hat er besucht?“ „Er war zu Gast auf der ehemaligen „Ordensburg“ Vogelsang und Mitglied dieser Friedenskonferenz, über die vor einiger Zeit ständig in den Medien berichtet wurde.“ „Ich erinnere mich. Ich habe auch ein paar Artikel dazu gelesen.“ „Das wird denen gar nicht gefallen, dass es einen Toten gegeben hat. Sie geben sich große Mühe, die Konferenzmitglieder zu schützen. Einige von ihnen sind in der Vergangenheit schon Opfer von Anschlägen oder Ziel von Gewaltandrohungen geworden.“ „Genau. Wir dürfen uns nichts vormachen: Auch bei uns gibt es gewaltbereite Fanatiker und Gegner des kulturellen und religiösen Miteinanders.“

UNGEFÄHR 10 WOCHEN FRÜHER

KAPITEL 5

Hanna Meyer hat gerade ihre Schmökerecke aufgeschlossen und sortiert die Tageszeitungen. Ihr Buchladen ist wie eine kleine Oase inmitten der Hektik der Stadt.