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Der Einfluss der Religionen und ihrer Symbole in der säkularisierten Gesellschaft ist nach wie vor unübersehbar. In allen Phasen der Geschichte haben die Religionen versucht, auf ihre ›Umwelt‹ einzuwirken: in Politik und Gesellschaft, Wissenschaft und Erziehung. Selbst die alltäglichen ›Dinge des Lebens‹ wie Essen, Trinken, Sexualität, Gesundheitsvorstellen, die Einstellung zu Arbeit, Freizeit und Muße sind religiös beeinflusst worden. Zahlreiche Phänomene unserer säkularisierten und individualisierten Gesellschaft haben zum Teil jüdische und christliche Wurzeln: Menschenrechte, Völkerrecht, Geschichtsbewusstsein, wissenschaftliches Denken und Technik. Auch die Gefühlseinstellungen hat das Christentum seiner jeweiligen konfessionellen Gestalt entsprechend mitgeprägt. Im 20./21. Jahrhundert haben sich die Religionen schneller verändert als je zuvor. Sie sind auf allen Kontinenten zu einer Herausforderung geworden. Konservative religiöse Kräfte kämpfen gegen den religiös neutralen Staat. Nationale Minderheiten und unterdrückte Völker entdecken die Religion als Bewahrerin ihrer Identität. Die Religionen geben Antworten auf weltweit ungelöste Fragen wie Gewalt, Armut, Unterdrückung von Minderheiten, Globalisierung, Bevölkerungspolitik, Umweltschutz Der vorliegende Band beleuchtet Glaubenssätze und Entwicklung der Religionen sowie ihre Antworten auf aktuelle Fragen.
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Seitenzahl: 568
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Monika & Udo Tworuschka
Religionen der Gegenwart
Die Verfasser
Monika Tworuschka, Dr. phil., geb. 1951, Islam- und Religionswissenschaftlerin, freie Tätigkeit in Printmedien und Hörfunk
Udo Tworuschka, Prof. Dr. phil., geb. 1949, Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Vollständige Ebook-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes Originalausgabe
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2011/2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster
ISBN der Ebook-Ausgabe: 978-3-402-19690-8 ISBN der Druckausgabe: 978-3-402-12859-6
Sie finden uns im Internet unter www.aschendorff-buchverlag.de
Inhalt
VORWORT
EINLEITUNG
Der Begriff ‚Weltreligion‘
Spuren der Religion in unserer Gesellschaft
JUDENTUM
Jüdische Symbole
Einführung
Grundbegriffe
Das Judentum – Volk und Religion
Gott – Tora – Volk – Land
Heilige Schriften
Tenach
Talmud
Jüdischer Glaube
Monotheismus
Bilderverbot
Die 13 Glaubenssätze des Moses Maimonides
Der Messias und die messianische Zeit
Gott und das Leiden
Menschenbild
Die Zehn Gebote
Stammzellenforschung
Mann und Frau
Heilige Zeiten
Feste am Lebensweg
Beschneidung
Bar Mizwa/Bat Mizwa
Trauung
Scheidung
Tod und Bestattung
Feste im Jahreskreis
Sabbat
Der jüdische Kalender
Rosch ha-Schana
Jom Kippur
Sukkot
Simchat Tora
Chanukka
Purim
Pessach
Omer-Zeit und Lag ba Omer
Schawuot
Tub’Schwat
Heilige Orte
Synagoge
Jerusalem
Religiöse Handlungen
Gottesdienst
Gebete
Essen und Trinken
Religiöse Autoritäten
Das Judentum angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Familienplanung
Gleichgeschlechtliche Liebe
Menschenrechte
Todesstrafe
Krieg und Frieden
Wirtschaftsethik
Umweltethik und Tierschutz
Nutzung von Medien
Freizeit und Sport
Hauptströmungen im Judentum
Frühjudentum
Heutiges Judentum
Judentum in Deutschland
CHRISTENTUM
Christliche Symbole
Einführung
Jesus von Nazareth
Heilige Schriften
Die Bibel
Christlicher Glaube
Gott
Dogmatische Positionen
Monotheismus und dreieiner Gott
Menschenbild
Stammzellenforschung
Mann und Frau
Kirche/n
Maria
Heilige Zeiten
Feste am Lebensweg
Taufe
Erstkommunion – Firmung – Konfirmation
Trauung
Tod und Bestattung
Feste im Jahreskreis
Advent und Weihnachten
Passionszeit und Ostern
Pfingsten
Fronleichnam
Heilige Orte
Kirchen
Jerusalem, Rom, Compostela
Religiöse Handlungen
Gottesdienst/Messe
Abendmahl/Eucharistie
Religiöse Autoritäten
Das Christentum angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Familienplanung
Gleichgeschlechtliche Liebe
Menschenrechte
Todesstrafe
Krieg und Frieden
Wirtschaftsethik
Umweltethik und Tierschutz
Nutzung von Medien
Freizeit und Sport
Hauptströmungen im Christentum
Christentum in Deutschland
ISLAM
Symbole
Einführung
Grundbegriffe
Islam – Religion der Einheit und des großen Bundes
Die Anfänge
Das vorislamische Arabien
Mohammed
Mohammed im Glauben seiner Gemeinde
Kritische Blicke auf das Leben Mohammeds
Heilige Schriften
Der Koran
Sunna und Hadith
Die Scharia
Islamischer Glaube
Das ‚Zeugnis‘ des Glaubens
Glaube an Gott
Bilderverbot
Glaube an Gottes Engel
Glaube an Gottes Bücher
Glaube an Gottes Gesandte
Exkurs: Jesus im Islam
Glaube an den Jüngsten Tag
Menschenbild
Stammzellenforschung
Mann und Frau
Schleier
Heilige Zeiten
Feste am Lebensweg
Feste um Schwangerschaft und Geburt
Beschneidung
Trauung
Tod und Bestattung
Die Feste im Jahreskreis
Muharram
Aschura-Tag
Die fünf Heiligen Nächte
Nacht der Empfängnis des Propheten
Nacht der Geburt des Propheten
Nacht der Nachtreise
Nacht des Schuldenerlasses
Nacht der Macht/Bestimmung
Fest des Fastenbrechens (Id al-Fitr)
Opferfest (Id al-Adha)
Alis Geburtstag
Id al-Gadir Homm
Heilige Orte
Moschee
Mekka, Medina und Jerusalem
Religiöse Handlungen
Die fünf Säulen
Glaubenszeugnis
Rituelles Pflichtgebet
Fasten
Rituelle Pflichtabgabe
Pilgerreise
Essen und Trinken
Religiöse Autoritäten
Der Islam angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Familienplanung
Gleichgeschlechtliche Liebe
Menschenrechte
Todesstrafe
Krieg und Frieden
Wirtschaftsethik
Umweltethik und Tierschutz
Nutzung von Medien
Freizeit und Sport
Hauptströmungen des Islam
Sunniten und Schiiten
Aleviten
Islam in Deutschland
HINDUISMUS
Symbol
Einführung
Grundkategorien
Dharma
Varna
Karma
Samsara
Heilige Schriften
Shruti
Veda
Brahmanas
Aranyakas
Upanishaden
Smriti
Shastras
Sutras
Puranas
Epen
Mahabharata-Epos
Bhagavadgita
Ramayana-Epos
Glaube
Die großen Heilswege
Karma Marga
Jnana Marga
Bhakti Marga
Hindu-Religionen und ihre Götter
Brahman, Ishvara, Deva
Vishnuismus
Shivaismus
Menschenbild
Die vier Lebensstadien
Die vier Lebensziele
Stammzellenforschung
Mann und Frau
Heilige Zeiten
Feste am Lebensweg
Vorgeburtliche Riten und Riten im Kleinkindalter
Überreichung der ‚Heiligen Schnur‘
Hochzeit und Ehe
Tod und Bestattung
Feste im Jahreskreis
Divali
Holi
Heilige Orte
Tempel
Heilige Städte, heilige Flüsse
Religiöse Handlungen
Tägliches Leben und häusliche Puja
Tempelpuja
Essen und Trinken
Die ‚heilige‘ Kuh
Religiöse Autoritäten
Der Hinduismus angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Familienplanung
Gleichgeschlechtliche Liebe
Menschenrechte
Krieg und Frieden
Wirtschaftsethik
Umweltethik und Tierschutz
Nutzung von Medien
Freizeit und Sport
Hauptströmungen des Hinduismus
Vorvedische Religion
Vedische Religion
Asketischer Reformismus
Klassischer Hinduismus
‚Sekten‘-Hinduismus
Moderner Hinduismus
Hinduismus in Deutschland
BUDDHISMUS
Symbol
Einführung
Grundbegriffe
Das Leben Siddharta Gautama Buddhas
Der Dhamma
Heilige Schriften
Pali-Kanon
Schriften des Mahayana-Buddhismus
Glaube
Leben als Unheil
Die ‚vier edlen Wahrheiten‘
Nirvana
Menschenbild
Stammzellenforschung
Mann und Frau
Heilige Zeiten
Feste am Lebensweg
Die Mönchsweihe
Trauung
Tod und Bestattung
Feste im Jahreskreis
Vesak
Esala Perahera
Vassa/Varsa
Pavarana
Heilige Orte
Stupa und Vihara
Städte in Indien
Religiöse Handlungen
Die Puja
Meditation
Essen und Trinken
Religiöse Autoritäten
Der Buddhismus angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Familienplanung
Gleichgeschlechtliche Liebe
Menschenrechte
Todesstrafe
Krieg und Frieden
Wirtschaftsethik
Umweltethik und Tierschutz
Nutzung von Medien
Freizeit und Sport
Hauptströmungen des Buddhismus
Theravada und Mahayana
Gemeinsamkeiten
Unterschiede
Grundzüge der Buddhalehre
Heilswege im Mahayana-Buddhismus
Der Weg der Weisheit
Der Bodhisattva-Weg
Amida-Buddhismus
Die radikale Gnadenlehre Shinran Shonins
Hokké-Buddhismus
Zen-Buddhismus
Zazen, Koan und Satori
Zen und die japanische Kultur
Vajrayana-Buddhismus
Buddhismus in Deutschland
JAINISMUS
Symbol
Mahavira
Heilige Schriften
Lehre
Menschenbild
Heilige Zeiten
Übergangsriten
Feste im Jahreskreis
Heilige Orte
Der Jainismus angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Gewaltlosigkeit
Vegetarismus
Tierschutz
Leben in der modernen Gesellschaft
Hauptströmungen
Heutige Verbreitung
DIE RELIGIONEN CHINAS
Symbol
Laozi und der Daoismus
Heilige Schriften
Daodejing
Lehre
‚Philosophischer‘ und ‚Religiöser‘ Daoismus
Ethik
Die fünf Gebote
Die zehn guten Taten
Hauptströmungen des ‚Religiösen Daoismus‘
Der Daoismus angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Leben in der Gesellschaft
Einstellung zur Umwelt
Einfluss der Religionen Chinas im Westen
Kongzi und der Konfuzianismus
Kongzi
Heilige Schriften
Lehre
Menschenbild
Heilige Orte
Religiöse Handlungen
Der Konfuzianismus angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Familienplanung
Gleichgeschlechtliche Liebe
Menschenrechte
Wirtschaftsethik
Hauptströmungen
Konfuzianismus außerhalb Chinas
SHINTO
Symbol
Heilige Schriften
Lehre
Menschenbild
Mann und Frau
Heilige Zeiten
Feste
Heilige Orte
Der Fuji-san
Religiöse Handlungen
Der Shinto angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Familienplanung
Herrschaft und Demokratie
Wirtschaftsethik
ZOROASTRISMUS
Symbol
Zarathustra
Heilige Schriften
Lehre
Heilige Zeiten
Schwangerschaft/Geburt
Initiation
Hochzeit
Tod und Bestattung
Heilige Orte
Religiöse Handlungen
Der Zoroastrismus angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Mischehen
Bestattung
Menschenrechte
Heutige Verbreitung
SIKHISMUS
Symbol
Guru Nanak
Die zehn Gurus
Heilige Schriften
Gemeinschaft
Lehre
Menschenbild
Mann und Frau
Heilige Zeiten
Feste am Lebensweg
Heilige Orte
Amritsar
Religiöse Handlungen
Der Sikhismus angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Leben in der modernen Gesellschaft
Streben nach eigenem Staat
Heutige Verbreitung
BAHAISMUS
Symbol
Baha’u’llah
Heilige Schriften
Lehre
Menschenbild
Mann und Frau
Gemeinde
Heilige Zeiten
Feste am Lebensweg
Feste im Jahreskreis
Heilige Orte
Religiöse Handlungen
Der Bahaismus angesichts aktueller Probleme der Gegenwart
Familienplanung
Gleichgeschlechtliche Liebe
Menschenrechte
Krieg und Frieden
LITERATUR
Vorwort
Wer sich über die Geschichte der die Welt prägenden Religionen informieren will, dem steht heutzutage eine große Auswahl religionsgeschichtlicher Darstellungen, Handbücher und Lexika zur Verfügung. Schnell wird dadurch der Blick auf das Ganze verstellt, man verliert sich in Einzelheiten. Weniger wäre in einer solchen Situation oft mehr. Für den Einstieg in die Religionswelt benötigt man eine kompakte, grundrissartige Darstellung der großen und kleinen ‚Weltreligionen‘, wie wir sie in diesem Taschenbuch vorlegen. Selbstverständlich können wir nur eine Auswahl präsentieren. Diese orientiert sich an der Bedeutsamkeit der Religionstradition für die Welt von heute, auch im ideengeschichtlichen Sinne. Um einen Vergleich der Religionen zu erleichtern, haben wir die einzelnen Religionen, soweit es ging, nach analogen Prinzipien gegliedert: Grundbegriffe, Heilige Schriften, Glaube, Menschenbild, Heilige Zeiten und Orte, Feste, religiöse Handlungen, Verbreitung der Religion in Deutschland. Einen besonderen Stellenwert hat der abschließende Abschnitt über die Religionen „angesichts aktueller Probleme der Gegenwart“. Auf einen wissenschaftlichen Apparat haben wir bewusst verzichtet. Ganz selten finden sich daher Fußnoten, die längere Zitate belegen oder Hinweise auf wichtige Abhandlungen enthalten.
Fremdländische Namen und Fachbegriffe werden nicht in wissenschaftlich korrekter Umschrift, sondern umgangssprachlich wiedergegeben. Selbstverständlich ist auch das Christentum Gegenstand dieser Veröffentlichung, wobei wir versucht haben, katholische, protestantische und orthodoxe Sichtweisen zu differenzieren. Gleichwohl bleibt die Darstellung eine religionswissenschaftliche. Sollten sich die Gläubigen der Religionen in unserem Text nicht wieder erkennen, würden wir das bedauern.
Für die akribische Arbeit am Register danken wir Herrn Lars Polten aus Jena.
Bad Münstereifel, im August 2010
Monika & Udo Tworuschka
Einleitung
DER BEGRIFF ‚WELTRELIGION‘
Bücher wie das vorliegende bezeichnen ihren Gegenstand oft als ‚Weltreligionen‘. Es ist nicht nur umstritten, wie viele Weltreligionen es gibt, sondern ob es überhaupt welche gibt. Manche Autoren gehen von dreien aus, identifizieren diese mit den ‚abrahamitischen Religionen‘ Judentum, Christentum, Islam. Der Religionswissenschaftler Gustav Mensching ging in seinem Kompendium ‚Die Weltreligionen‘ (1972) von fünf aus. Fünf Weltreligionen versuchten die Autoren des vorliegenden Buches auf ihrer CD-ROM ‚Religiopolis‘ (2004) lebendig werden zu lassen. Ein Extraheft der Illustrierten ‚Stern‘ Ende 2009 stellte ‚Die sechs Weltreligionen‘ vor: Christentum, Buddhismus, Islam, Judentum, Hinduismus sowie den zu einer Religionstradition zusammen gefassten Daoismus/Konfuzianismus. ‚Sieben Weltreligionen‘ (hierbei Daoismus und Konfuzianismus getrennt) beschrieben Gerhard Wehr (2004) und Manfred Hutter (2005). Der internationale Buchmarkt bietet Darstellungen mit acht, neun, zehn und elf Weltreligionen an, so Peter Meinhold in ‚Die Religionen der Gegenwart‘ (1978). Vertreter von ‚zwölf Weltreligionen‘ beteten 1986 mit dem Papst in Assisi.
Vor einiger Zeit brach unter europäischen Religionswissenschaftlern eine kurze, aber heftige Diskussion nicht über die Anzahl der Weltreligionen aus, sondern über den Begriff selbst. Ist dieser viel verwendete Begriff überhaupt eindeutig? Erfüllt er die Kriterien eines religionswissenschaftlichen Terminus? Was genau ist überhaupt eine Weltreligion? Sind ihre Kriterien das Alter, die zahlenmäßige Größe, ihre Verbreitung über möglichst viele Kontinente? Genügt es, wenn ein Kriterium erfüllt ist? Oder müssen alle Kriterien vorhanden sein, damit eine Religionstradition als Weltreligion ‚geadelt‘ werden kann?1
Die Historikerin und Vergleichende Literaturwissenschaftlerin Tomoko Masuzawa vertrat in ihrem umstrittenen Buch ‚Die Erfindung der Weltreligionen‘ (2005) die Ansicht, dass Mitte des 19. Jhs. die in Europa traditionelle Sichtweise und Einteilung der Religionen in Judentum, Christentum, Islam und Heidentum aufgrund historisch-philologischer Kritik aufgebrochen wurde. Im Zuge dieser Entwicklung seien andere Klassifizierungen entstanden wie National- und Universalreligion, ‚große‘ Religionen, schließlich ‚Weltreligionen‘.
Gibt es neben Alter, Größe und Verbreitung noch andere Kriterien, um eine Religion als ‚Welt‘bzw. ‚Universalreligion‘ klassifizieren zu können? Der deutsche Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (1863–1969) führte in seinem Werk ‚Vom Ursprung und Ziel der Geschichte‘ (1949) den Begriff ‚Achsenzeit‘ ein. Damit bezeichnete er den groben Zeitraum zwischen 800 und 200 v.Chr., in dem die großen Philosophien und Weltreligionen entstanden: „Dort liegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir heute leben“ (19). Das Neue dieser Zeit liegt darin, „dass der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst wird“ (20). Jaspers behauptete sogar: „Das Menschsein im Ganzen tut einen Sprung“ (22f.).
Der Jaspers’sche Gedanke der ‚Achsenzeit‘ beeinflusste den Historiker und Kultursoziologen Shmuel Noah Eisenstadt (geb. 1923). In seinen Untersuchungen setzte er sich mit den achsenzeitlichen Kulturen auseinander, zum ersten Mal wohl in seinem Aufsatz über die Achsenzeit (1982), dann in dem zweibändigen Werk ‚Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt‘ (1987) und in ‚Die großen Revolutionen und die Kulturen der Moderne‘ (2006). Das Konzept der ‚Achsenzeit‘ ermöglicht eine systematisch-vergleichende Analyse der Wandlungsmöglichkeiten verschiedener Zivilisationen. Außerdem eröffnet es den Weg für eine Theorie der Vielfalt der Moderne. Die achsenzeitlichen Kulturen brachten zum ersten Mal in der Geschichte intellektuelle Eliten hervor, ermöglichten die Unterscheidung von transzendenter und weltlicher Ordnung. Magische Praktiken wurden zurück gedrängt. Religion und Weltliches wurde unterscheidbar.
Mit religionsstrukturellen Fragen beschäftigt sich der Religions- und Missionswissenschaftler Theo Sundermeier (geb. 1935). Er unterscheidet ‚primäre und sekundäre Religionserfahrung‘. Primäre Religionen sind Religionen von Kleingruppen. „Elemente dieser Religionserfahrung sind in allen Religionen wiederzufinden.“ Es sind „Grunderfahrungen, die sich darum als lebenswichtige Bausteine jeder Religion durchhalten, weil sie konstitutiv zur Religion gehören. Die Religionsgeschichte verläuft nicht von einer primitiven zu einer höheren Stufe, vielmehr verändert sich die Religionserfahrung mit der Welterfahrung so, dass sich das Neue immer wieder in die primäre Erfahrung integriert und an ihr ausrichtet“ (36). Die Kleingesellschaften wandeln sich zur Großgesellschaft, und es entsteht eine neue Art der Weltbewältigung: „Die größere Gesellschaft entlässt den Menschen in einen größeren Raum der Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten. Der einzelne gewinnt an Freiraum, die umfassende Religionserfahrung deckt nicht mehr alle Lebensräume ab, der Raum der Profanität vergrößert sich“ (36). ‚Die sekundäre Religion‘ ist wesentlich durch Individualisierung gekennzeichnet. ‚Sekundäre Religionen‘ haben einen universalen Anspruch, sind missionarisch, unterscheiden die eine wahre Religion von den vermeintlich falschen. „Die sekundäre Religionserfahrung löst die primäre nicht einfach ein für allemal ab, sondern setzt sie voraus. Sie grundiert das Vorverständnis, bildet den Deutungsrahmen, aus dem das Neue begriffen wird. Primäre und sekundäre Religionserfahrung sind zu unterscheiden, sind aber gleichwertig [...] Die primäre Religionserfahrung ist der Grund, der von der sekundären überlagert wird. Diese löst die primäre nicht einfach ab [...], sondern integriert sie.
Ähnlich ist der Ansatz des Ägyptologen, Kultur- und Religionswissenschaftlers Jan Assmann (geb. 1938). „Irgendwann im Laufe des Altertums [...] ereignete sich eine Wende, die entscheidender als alle politischen Veränderungen die Welt bestimmt hat, in der wir heute leben. Das ist die Wende von den ‚polytheistischen‘ zu den ‚monotheistischen‘ Religionen, von Kultreligionen zu Buchreligionen, von kulturspezifischen Religionen zu Weltreligionen, kurz von ‚primären‘ zu ‚sekundären‘ Religionen“ (Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis der Freiheit, 2003, 11).
Grundlegende religionsstrukturelle Erkenntnisse sind bereits mit den Namen Rudolf Otto (1869–1937) und Gustav Mensching (1901–1978) verknüpft. Otto hatte schon 1917 (!) auf das ‚Gesetz der Parallelen in der Religionsgeschichte‘ hingewiesen, und zwar im gleichnamigen ‚Schlusswort zu Buch I-III‘ seines Werkes ‚Vischnu-Narayana. Texte zur indischen Gottesmystik‘ (205–218). Dort thematisierte er den Übergang vom Mythos zum Logos. Diesen in der Religionsgeschichte fast überall gleichen Schritt setzte er zwischen 800 und 500 vor Christus an. Sein Schüler Gustav Mensching (1901–1978) legte 1938, lange vor Jaspers, in ‚Volksreligion und Weltreligion‘ strukturelle Überlegungen zur Unterscheidung dieser beiden Grundstrukturen vor. Nach seiner Auffassung ist Träger der Volksreligion ein sich grundsätzlich im ‚Heil‘ befindendes Kollektiv (Familie, Clan, Stamm, Volk usw.). Gott/Götter sind auf ihre jeweiligen vitalen Gemeinschaften bezogen, so dass ihnen Universalität fehlt. Ihre Ethik ist auf das Kollektiv bezogen. Missionierung steht außerhalb volksreligiöser Denkweise, da man davon ausgeht, dass andere Menschen eigene, für sie relevante Götter besitzen. Universalreligionen dagegen werden von Einzelnen getragen. Diese befinden sich in einer ‚generellen und existentiellen Unheilssituation‘ (christlich: ‚Sünde’; buddhistisch: ‚Leiden‘). Universalreligionen vertreten einen Absolutheitsanspruch, reklamieren das Heil für sich allein, haben die Tendenz zur Ausbreitung durch Missionierung. „Das neu entdeckte Ich strebt [...] zur Autarkie. Dieser Menschheitssituation entsprechen in unverkennbar strukturhafter Einmütigkeit alle Universalreligionen, denn sie gehen [...] alle von einem fundamentalen Bruch in der Tiefe der menschlichen Existenz aus und suchen eine neue Rückverbindung auf die eine oder andere Art mit dem Heiligen herzustellen.“2 Im vorliegenden Buch verwenden wir die Begriffe ‚Weltreligion‘ bzw. ‚Universalreligion‘ in der von Gustav Mensching definierten Bedeutung.
SPUREN DER RELIGION/EN IN UNSERER GESELLSCHAFT
Während das 19. Jh. nur etwa 50 religiöse Neubildungen hervorgebracht hatte, ‚boomt‘ Religion im 20. und 21. Jh.. Zunächst entstanden Gemeinschaften an den Rändern oder außerhalb der Großkirchen: Zeugen Jehovas, Mormonen, Anthroposophie. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bildeten sich religiöse Gemeinschaften aus dem Kontext der großen Weltreligionen. Die Neubildungen zentrierten sich um eine Stifterpersönlichkeit. Diese steht als Offenbarer, Prophet, Meister, Guru im Mittelpunkt von Organisation, Kultus, individueller Frömmigkeit. Zersplitterung und Entfaltung so genannter ‚Patchwork-Religiosität‘ kennzeichneten die nächste Phase. Patchwork (‚Flickwerk‘) meint die von Einzelnen, aus unterschiedlich passförmigen Einzelelementen verschiedener Religionen zusammengesetzte Religion. Seit Ende der 1980er Jahre wurden die Neubildungen der 1960er und 70er Jahre von kleinen und kleinsten Religionsgemeinschaften abgelöst, oft nur wenige Mitglieder stark. Ebenfalls blühte der Lebenshilfe- und Psychomarkt auf. Ohne formal einer religiösen Gemeinschaft beitreten zu müssen, stellen sich Interessenten ihre Religiosität individuell zusammen. Mehrere hundert religiöse Gemeinschaften praktizieren heute in Deutschland ihren Glauben.
Die neuzeitliche Christentumsgeschichte ist durch intensive religiöse Pluralisierung charakterisiert, als Folge eines umfassenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. Darüber hinaus sind weitere religiöse und nichtreligiöse Weltdeutungsangebote aufgetreten. Die Großkirchen haben ihre Bedeutung für die Gesellschaft als Ganzes verloren, und der Einzelne kann über seine religiöse Zugehörigkeit autonom entscheiden.
Zahlreiche Studien haben in den letzten Jahren den Glauben der Deutschen erhoben. Nachgewiesen wurde u.a. die erhebliche Diskrepanz zwischen (‚dogmatischen‘) Glaubenssätzen und tatsächlich gelebtem Glauben. Nach den Erhebungen der Bertelsmann Stiftung (2008) glauben 69 Prozent der Europäer nach wie vor an einen ‚Gott‘ bzw. an ein göttliches Wesen. Und daran, dass es ein Weiterleben nach dem Tode gibt. Die Religionen erfüllen wichtige gesellschaftliche Aufgaben, die weit über die geistige Orientierung der Menschen hinausgehen.
Für viele Menschen sind die kirchlichen Kasualien – Taufe, Kommunion, Konfirmation, kirchliche Trauung und Bestattung – nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Auch der Besuch von Gottesdiensten und Messen an Festtagen hat nachgelassen. Nach Ansicht des Philosophen Jürgen Habermas leben wir in einer ‚postsäkularen Gesellschaft‘. Die Entwicklung ist widersprüchlich: schwindende Bedeutung der Kirchen auf der einen, Renaissance des Religiösen auf der anderen Seite.
Doch der Einfluss des Christentums und seiner Symbole in unserer säkularisierten Gesellschaft ist nach wie vor unüberseh- und -hörbar: große Kathedralen und kleine Dorfkirchen, Friedhöfe, Kreuze am Weg, das sonntägliche Glockenläuten.
In allen Phasen seiner Geschichte hat das Christentum versucht, auf seine ‚Umwelt‘ einzuwirken: in Politik und Gesellschaft, Wissenschaft und Pädagogik. Selbst alltägliche Lebensverrichtungen wie Essen, Trinken, Sexualität, Gesundheitsvorstellungen, die Einstellung zu Arbeit, Freizeit und Muße sind vom Christentum zumindest (mit-)geprägt worden. Zahlreiche Phänomene unserer säkularisierten und individualisierten Kultur haben zum Teil jüdische und christliche Wurzeln: Menschenrechte, Völkerrecht, Geschichtsbewusstsein, wissenschaftliches Denken, Naturwissenschaft und Technik. Alltägliche Lebensverrichtungen und phasen sowie Gefühlseinstellungen hat das Christentum seiner jeweiligen konfessionellen Gestalt entsprechend mitgeprägt.
Selbstverständlich spielt auch die islamische Kultur in Europa eine erhebliche Rolle. So verdankt ihr das Abendland die Übermittlung des antiken Erbes. Arabische Gelehrte beschäftigten sich mit den Werken der griechischen Philosophen. Ärzte und Naturwissenschaftler übertrugen sie ins Arabische. Sie setzten sich in ihren eigenen Schriften mit ihnen auseinander, vermehrten sie um neue Erkenntnisse. Die arabischen Versionen griechischer Autoren wurden in das Lateinische übertragen. Das bei uns selbstverständliche Dezimalsystem mit der Null als Platzhalter gelangte über islamische Gelehrte aus Indien zu uns.
Religiösen Ursprungs ist auch die Einrichtung des Kalenders. Bedeutsame Ereignisse dienen oft als Anfangspunkte religiöser Zeitrechnung: So beginnt die jüdische Zeitrechnung mit der Weltschöpfung, die islamische mit Mohammeds Hidschra (‚Auswanderung‘) von Mekka nach Medina, die buddhistische mit Buddhas Eingang in das Nirvana.
Dass wir das Jahr 2010 schreiben, ist nicht selbstverständlich. Die westliche Zeitrechnung legt nämlich einen christlichen Maßstab zugrunde, rechnet vor bzw. nach Christi Geburt und hat sich in den allermeisten Ländern durchgesetzt. Der Sieben-Tage-Rhythmus unserer Woche mit dem Sonntag bzw. Sabbath als Ruhetag verraten jüdisches und christliches Erbe. Viele christliche Begriffe sind in unsere Alltagssprache eingegangen, zum Beispiel ‚Sünde‘ in Verkehrssünderkartei. Selbst die Sprache nicht-religiöser Zeitgenossen transportiert biblische Wendungen. Diese sind längst zu geflügelten Worten geworden: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ (Hos 8,7); „ich wasche meine Hände in Unschuld“ (Ps 26,6); „der Antrag bekam den Segen des Haushaltsausschusses“.
Nach wie vor prägen Religionen das Gewissen vieler Menschen. Dass wir auf andere Rücksicht nehmen, Nachbarschaftshilfe leisten, uns spendenbereit für Notleidende zeigen, verweist (zumindest auch) auf religiöse Ursachen. Man sollte das moralische Vorbild religiöser Instanzen und Persönlichkeiten nicht unterschätzen. Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche hat das Vertrauen in Papst und Kirche dramatisch einbrechen lassen: Mitte März 2010 vertrauten nur noch 24% dem Papst und 17% seiner Kirche (nach Forsa). Anderseits gibt es einen Vertrauensschwund auch gegenüber anderen Institutionen: Bundesregierung, Gewerkschaften, Banken und Versicherungen, Zentralrat der Juden...
1 Der Religionswissenschaftler Manfred Hutter hat in ‚Die Weltreligionen‘, 2005, dieses Problemfeld ausgiebig diskutiert.
2 Gustav Mensching: Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze, Stuttgart 1959, S. 76.
JUDENTUM
JÜDISCHE SYMBOLE
Abbildung (1) Menorah
Als Symbol für den jüdischen Glauben steht vor allem der siebenarmige Leuchter, die sogenannte Menorah. Dieser Leuchter wurde während der 40-jährigen Wanderung durch die Wüste auf Befehl Gottes zusammen mit anderen heiligen Geräten hergestellt und gehört zu den Kultgeräten des Stiftzeltes. Dies war im Alten Testament ein Ort der Begegnung zwischen Gott und den Menschen (2 Mos 33,7-11). Später stand der Leuchter im Jerusalemer Tempel. Seine sieben Arme stellen nach der Anschauung mancher die sieben Weltrichtungen dar: Ost, West, Nord, Süd, oben, unten sowie der Standort des Menschen selbst. Alle sieben Arme sollen vom Licht des heiligen Geistes erleuchtet werden. Die Fenster des einstigen Tempels waren so angelegt, dass kein Tageslicht hineinfiel, sondern das Licht der Menorah aus dem Heiligtum hinaus drang. Die Menorah symbolisierte die Erleuchtung, war Bild für den Auftrag Israels, ein Licht für die Völker zu sein. Die Menorah wurde nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n. Chr. zusammen mit dem übrigen Tempelschatz verschleppt. Seitdem gilt sie als verschwunden. Im Mittelalter wurde die Menorah Symbol für den Dritten Tempel. Dieser soll einst errichtet werden, wenn der Messias kommt. Auch deshalb ist der siebenarmige Leuchter seit 1948 offizielles Emblem des Staates Israel.
Abbildung (2) (Magen David)
Ebenfalls ein wichtiges jüdisches Symbol ist der Magen David – fälschlicherweise oft als Davidstern bezeichnet. Bei ihm handelt es sich um zwei ineinander verschachtelte Dreiecke, die zusammen einen sechszackigen Stern bilden.
In biblischer Zeit diente dieser Stern zur Dekoration. Ob der Schild Davids in Wirklichkeit diese Form hatte, ist nicht bekannt. Im Mittelalter wurde es üblich, dieses Symbol als ‚Siegel Salomos‘ oder ‚Schild Davids‘ zu bezeichnen. Im 16. Jh. benutzte die jüdische Gemeinde in Prag das Emblem zum ersten Mal, um ihre jüdische Identität zu bekunden. Der jüdische Religionsphilosoph und Pädagoge Franz Rosenzweig (1886–1929) gab seinem Hauptwerk den Titel ‚Stern der Erlösung‘ (1921), womit der Magen David gemeint war. Die sechs Zackenspitzen sollen Gott-Welt-Mensch und Schöpfung-Offenbarung-Erlösung bedeuten. Der Stern wurde so zum Bild für das messianische Zeitalter und den Weg dorthin. Schließlich entwickelte sich der ‚Schild Davids‘ durch den Zionismus zum Symbol der jüdischen Nationalbewegung und findet sich heute auf der israelischen Fahne. Die Nationalsozialisten missbrauchten dieses Symbol, um jüdische Bürger zu diskriminieren, indem sie sie zwangen, den ‚Judenstern‘ auf ihre Kleidung aufzunähen.
EINFÜHRUNG
Religionsgeschichtlich gehören Judentum, Christentum und Islam eng zusammen. Das Judentum ist jedoch nicht nur die ‚Mutter‘ der beiden größten Weltreligionen, sondern eine eigenständige Religion. Die Geschichte des jüdischen Volkes umfasst etwa 4000 Jahre. Damit zählt das Judentum zu den ältesten lebenden Religionen der Menschheit. Die jüdische Geschichte ist durch Erfahrungen von Bedrängnis, Verfolgung und Leiden geprägt – aber auch durch Epochen friedlichen Miteinanderlebens und kulturellen Austausches. Die sich durch die Geschichte des christlichen Abendlands ziehende blutige Spur der Judenverfolgung erreichte in der Shoa, der Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden zur Zeit der Nazi-Diktatur, eine unfassbare Dimension. Das griechische Wort Holocaust, das für die Bezeichnung dieses in der Geschichte einmaligen Völkermordes auch gebraucht wird, bedeutet das von den Flammen völlig verzehrte ‚Ganzopfer‘ der alten Israeliten. Wenn Juden von diesem Völkermord sprechen, verwenden sie das hebräische Wort Shoa: ‚Verwüstung, Vernichtung, Katastrophe‘. Im Unterschied zu Holocaust hat es keine religiösen Anklänge.
GRUNDBEGRIFFE
Das Judentum – Volk und Religion
Judentum ist nicht nur die Bezeichnung für eine bestimmte Religion, sondern zugleich auch für ein Volk, das sich von Gott zu einem besonderen Dienst erwählt weiß und dem Gott die Tora geschenkt hat. In der Bibel wird dieses Volk Beth Israel (‚Haus Israel‘) genannt. Judentum meint dieses Volk, seine Geschichte, Kultur und Wertvorstellungen. Das Judentum kennt nicht die Trennung der Welt in einen säkularen und einen religiösen Bereich. Der ganze Mensch ist gefordert, den in der Tora offenbarten Willen Gottes zu erfüllen. Konkreter Ausdruck des göttlichen Willens sind die religiösen Vorschriften. Erst in der Neuzeit löste sich diese Einheit von Religion und Volk zum Teil auf. Im Unterschied zur Gola, d.h. Diaspora (griech. ‚Zerstreuung‘, Bezeichnung für eine unter Andersdenkenden zerstreut lebende nationale, ethnische, religiöse Minderheit), bilden heute in Israel Religions-, Volksgemeinschaft und Nation eine Einheit. Viele Juden in den USA und Europa dagegen haben sich ‚assimiliert‘. Sie haben sich an die sie umgebende Kultur angeglichen und empfinden sich als eine ‚Konfession‘ neben anderen.
§ 4 des israelischen Rückkehrgesetzes von 1950 gewährt jedem Juden das Recht, als Einwanderer nach Israel zu kommen und israelischer Staatsbürger zu werden. Dieses Gesetz definiert Jude als jemanden, „der von einer jüdischen Mutter geboren wurde, oder sich zum Judentum bekehrt hat, und der nicht einer anderen Religion angehört“.
Weltweit bekennen sich rund 14 Millionen Menschen zum Judentum. Knapp sechs Millionen leben in den USA. In der ehemaligen Sowjetunion sind es 2,6, in Israel 3,5 Millionen. In Deutschland, einst weltweit geistiges Zentrum dieser Religion, ist die Zahl jüdischer Bürger inzwischen wieder auf 200.000 gestiegen. Vor dem Beginn der Nazizeit betrug sie mehr als eine halbe Million.
Gott – Tora – Volk – Land
Juden sind überzeugt, dass Gott sein Volk ‚erwählt‘ hat, weil Gott gerade dieses Volk liebt nicht weil das Volk besondere Vorzüge gehabt hätte. Am Anfang der Geschichte Israels beauftragt Gott Abraham, in das ‚verheißene Land‘ zu ziehen.
Abraham ist der älteste der drei Patriarchen (Erzväter) Israels. Die Patriarchen (Mitte des 2. Jahrtausend v.u.Z.) sind die Urväter des Judentums. Abraham wurden von Gott Land und Nachkommen verheißen. Zusammen mit seiner Frau Sara verließ er seine Geburtsstadt Ur in Chaldäa, bevor sein Sohn Isaak (hebräisch Jizchak) geboren wurde. Abraham schloß mit Gott einen Bund, womit das Treueverhältnis zwischen Gott und seinem Volk gemeint ist. Den ersten Bund schloss Gott mit der Menschheit, indem er Noah vor der Sintflut rettet. Bei seinem Bund mit Abraham verhieß Gott dem Stammvater zahlreiche Nachkommenschaft und das Land Kanaan, ein ungefähr dem heutigen Israel entsprechendes Gebiet. Immer wieder hat es Erneuerungen des Bundes gegeben, nachdem die Israeliten ihn ‚gebrochen‘ hatten.
Später sprach Gott zu Mose: „Geh, zieh hinauf von hier, du und das Volk, das du aus Mizraim (= Ägypten) heraufgerührt hast, in das Land, das ich Abraham, Jizhak und Jaakob zugeschworen habe mit den Worten: Deinem Samen will ich es geben.“ (2 Mos 33, 1).
Mose, von den Juden als größter Prophet verehrt, übergab seinem Volk die Tora: die gnadenhafte Weisung und Lehre, die für Weisheit, und für das göttliche Gesetz steht.
Bis heute beten Juden in Richtung Erez Israel, das als Mittelpunkt der Welt verstanden wird. Erez Israel, das ‚Land Israel‘, ist Juden auch deshalb heilig, weil Gott es als sein Eigentum auserwählte, um dort mitten ‚unter den Kindern Israels‘ zu wohnen (4 Mos 35,34). Es gilt als Land der ‚Gegenwart Gottes‘. Israel wird in der jüdischen Tradition als Mittelpunkt der Welt angesehen. Als Mitte des Landes gilt Jerusalem. In seinem Zentrum befand sich in der Antike der Tempel mit dem Allerheiligsten, der Bundeslade.
Viele Juden in aller Welt betrachten es als religiöse Pflicht, in Erez Israel zu wohnen und wollen ihren Lebensabend dort verbringen. Der Bibelvers 4 Mos 33,53: „Und ihr sollt das Land in Besitz nehmen und darin wohnen“ wird immer wieder in den Auseinandersetzungen mit den Arabern als Argument gegen einen eigenen palästinensischen Staat angeführt.
Zusammen mit dem Gedanken des Bundes steht das Streben nach ‚Heiligkeit‘ im Mittelpunkt des Judentums. Weil Gott ‚heilig‘ ist, soll auch sein Volk ‚heilig‘ sein. Juden sollen sich im Bereich von Kult und Moral rein halten und Unreinheit vermeiden. ‚Jüdischkeit‘ bedeutet, dass das gesamte Leben des Einzelnen und der Gemeinsachaft von den göttlichen ‚Geboten (Mizwot) bestimmt ist: Geburt, Heranwachsen, Heirat, Tod, Essen und Trinken, Wohnen, Kleidung, Umgang mit der Zeit, Arbeit, Wirtschaftsleben.
HEILIGE SCHRIFTEN
Tenach
Wenn Juden von ihrer heiligen Schrift, der Hebräischen Bibel, sprechen, verwenden sie ein Kunstwort: TeNaK (gesprochen Tenach). Es setzt sich aus den hebräischen Anfangsbuchstaben der drei Teile zusammen, in welche die Hebräische Bibel eingeteilt ist: Tora (fünf Bücher Mose; Pentateuch), Nebiim (frühere und spätere Propheten), Ketubim (Schriften). Da die Juden im Unterschied zu den Christen kein ‚Neues Testament‘ kennen, bezeichnen sie ihre Hebräische Bibel selbstverständlich auch nicht als ‚altes‘ Testament. Die Bezeichnung ‚Altes Testament‘ hat immer wieder zu antijüdischen Missverständnissen geführt, weil ‚alt‘ im Sinne von veraltet, überholt verstanden wurde. Im Unterschied zum ‚Alten Testament‘ der Christen hat die jüdische Bibel nicht 39, sondern nur 24 Schriften, weil manche (Könige, Zwölf Kleine Propheten, Esra und Nehemia, Chronikbücher) nur als jeweils ein Buch gezählt werden.
Die Autoren der Hebräischen Bibel sind uns weitgehend unbekannt. Ihre Schriften entstanden in einem Zeitraum von über 800 Jahren. Die einzelnen Schriften sind nicht einheitlich, haben einen zum Teil sehr komplizierten Entstehungs- und Bearbeitungsprozess durchlaufen. Der Pentateuch enthält unterschiedliche Textsorten: Lieder, Heldensagen, Legenden, Reden, Erzählungen, Glaubensbekenntnisse, Gebete, Lebensregeln und Gesetze.
Tora bedeutet ‚Lehre, Weisung‘ und wird in der Hebräischen Bibel für Einzelbestimmungen und belehrungen, für das fünfte Buch Mose (Deuteronomium) sowie für die fünf Bücher Mose insgesamt (Pentateuch: ‚Fünfrollenbuch‘) verwendet. Im biblischen, rabbinischen Judentum wurde Tora zum Inbegriff für Weisheit, Wahrheit und göttliche Offenbarung.
Das rabbinische Judentum unterschied zwischen ‚geschriebener Tora‘ (den fünf Mosebüchern, dann auch den anderen biblischen Büchern als göttlicher Offenbarung) und ‚mündlicher Tora‘. Beide wurden nach frommer Tradition Mose übergeben. Tora darf man nicht einseitig mit ‚Gesetz‘ übersetzen, da dies den Sachverhalt verkürzt.
Wie freudig die jüdische Einstellung zur Tora ist, bringt Psalm 119, 1.12– 16 zum Ausdruck:
Wohl denen, deren Weg ohne Tadel ist,
die leben nach der Weisung des Herrn.
Gepriesen seist du, Herr!
Lehre mich deine Gesetze!
Mit meinen Lippen verkünde ich
alle Urteile deines Mundes.
Nach deinen Vorschriften zu leben
freut mich mehr als großer Besitz.
Ich will nachsinnen über deine Befehle
und auf deine Pfade schauen.
Ich habe meine Freude an deinen Gesetzen,
dein Wort will ich nicht vergessen.
Talmud
Neben dem TeNaK steht der Talmud (hebr. ‚Lernen, Lehre, Studium‘), die höchste Autorität bei der Auslegung der Gesetze und der Lehre. Das gewaltige Sammelwerk entstand im Laufe mehrerer Jahrhunderte als Zusammenfassung von Mischna und Gemara. Die hebräisch geschriebene Mischna (hebr. schana ‚einprägen, wiederholen‘) wurde von den Pharisäern und Tannaiten (jüdische Gesetzeslehrer des 1.-3. Jhs.) geschaffen. Sie bemüht sich, „alle Bereiche des profanen Lebens, des Kultus, der religiösen Verpflichtungen, des mitmenschlichen Zusammenlebens in der eigenen Gemeinschaft und gegenüber der fremden Umwelt zu regeln“ (Michael Krupp). Die Gemara (aramäisch ‚Vollendung, Gelerntes‘) enthält die Jahrhunderte lang in den rabbinischen Hochschulen Palästinas und Babyloniens über die Mischna geführten Diskussionen.
Die 63 Abhandlungen der Mischna verteilen sich auf sechs ‚Ordnungen‘: 1. Gesetze und Bestimmungen aus der Landwirtschaft, Segenssprüche, Vorschriften über das Armenrecht u.a. 2. Vorschriften über Sabbat, Fest- und Fasttage; 3. Eherecht, Gelübde; 4. zivil- und strafrechtliche Vorschriften; 5. kultische Anweisungen (verschiedene Opfer); 6. Vorschriften über rituelle Reinigung.
Man unterscheidet zwei Gattungen des talmudischen Stoffes: Während die Mischna die verschiedenen Halachot (Plural von Halacha ‚der einzuschlagende Weg‘, Gesetz) hintereinanderstellt, diskutiert die Gemara jede einzelne Halacha. Außerdem gibt es erzählende, belehrende, erbauliche und anekdotenhafte Stoffe, die Haggada (‚Erzähltes‘) genannt werden.
JÜDISCHER GLAUBE
Monotheismus
Am Anfang der israelitischen Religion steht der Glaube an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Dieser ‚Gott der Väter‘ offenbarte sich einzelnen Personen, gewann damit Bedeutung für deren Clan. `
Der Gott Israels ist ein Gott der Geschichte, handelt in geschichtlichen Ereignissen und tut seine Macht kund. Gott wohnt im Himmel, offenbart sich in atmosphärischen Erscheinungen (Blitz, Donner, Regen, Erdbeben). Er wird als ‚heilig‘ bezeichnet. Er will als der einzige verehrt werden, sorgt sich leidenschaftlich um das Wohlergehen seines Volkes. Ist einerseits vom ‚großen und furchtbaren‘ (5 Mos 7,21), vom ‚schrecklichen Gott‘ (Ps 89,8) die Rede, so noch häufiger von seiner Langmut und Barmherzigkeit. Jahwe ist König und gerechter Richter. Er stellt sich auf die Seite der Armen (Witwen, Waisen, Fremden, Unterdrückten), gewährt seinem Volk Sicherheit. Die Vorstellung vom gerechten Gott ist eng mit dem Gedanken verbunden, dass Gott ‚barmherzig‘ ist (hebr. rahum), ein Ausdruck, der sich von Rechem, Mutterleib, herleitet. Gott wird ‚unser Vater‘ genannt. Seine Macht und Herrschaft gebraucht er aus Liebe zu den Menschen. Als ‚König‘ wird er von den Juden in Ehrfurcht angerufen. Als ‚Richter‘ sitzt er über die ganze Menschheit zu Gericht. Jahwe wird gelegentlich als ‚Hirte‘ bezeichnet, ein im Alten Orient geläufiger Königstitel. Wenn er als ‚Fels‘ beschrieben wird, versinnbildlicht dies seine schützende Kraft. Er ist treu zum Bund mit seinem Volk, das er liebt. Die Propheten preisen Gottes Sich-Herablassen zu seinem Volk. Gottes Macht ist für den Juden nur Mittel seiner Gnade. Jahwe hat sein Volk befreit, mit ihm einen Bund geschlossen und den Israeliten das Land gegeben.
Am Berg Sinai stellte sich der Gott Israels dem Mose mit folgendem Satz vor: „Ich bin Jahwe“. Dieser Gottesname geht auf die hebräische Grundform zurück: JHWH. In vokalisierter Form wird daraus ‚Jahwä‘. Wörtlich bedeutet dieser Name ‚Ich bin, der ich bin‘. Juden sprechen den Namen aus Ehrfurcht nicht aus, verwenden Ausdrücke wie Adonaj (mein Herr) oder Hashem (der Name).
Bilderverbot
Das zweite Gebot des Dekalogs (‚Zehn Gebote‘) verlangt: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Abbild machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an, diene ihnen nicht!“ (2 Mos 20,4f.) Auch weitere Bibelstellen verbieten dem Menschen, Bilder von Gott anzufertigen, geschnitzte Holz- oder behauene Steinbilder herzustellen.
Gottes geheimnisvolles und erhabenes Wesen darf nicht bildhaft dargestellt werden. Der große Unterschied zwischen Gott und Welt führt dazu, dass nichts Weltliches, also keine Darstellung, ausreicht, um Gott zu vergegenwärtigen. Das nachbiblische Judentum dehnte das Bilderverbot auf jedes Tier- und Menschenbild aus.
Die 13 Glaubenssätze des Moses Maimonides
Das Judentum kennt keine zu Dogmen geronnene Glaubenslehre. Trotzdem haben jüdische Denker versucht, verbindliche Glaubensgrundsätze zu formulieren. Die berühmtesten sind die ‚13 Glaubensgrundsätze‘ des Moses Maimonides.
Dieser bedeutendste Rabbiner seiner Zeit wurde am 30.3.1135 in Cordoba geboren und starb am 13.12.1204 in Fustat bei Kairo. Als Philosoph, Jurist und Arzt war er in Spanien, Marokko und Ägypten tätig. Seit 1185 wirkte er als Hofarzt des Sultans Salah ud-Din (volkstümlich: Saladin). Mit seinen 13 Glaubensgrundsätzen wollte er den jüdischen Glauben kurz formulieren und diesen zugleich vom Islam und Christentum abgrenzen.
1. Erhaben ist der lebendige Gott und gepriesen, er ist, und keine Zeit beschränkt sein Dasein.
2. Er ist einzig, und nichts ist einzig gleich seiner Einzigkeit, er ist unsichtbar, und unendlich ist seine Einheit.
3. Er hat nicht die Gestalt eines Körpers und ist unkörperlich, wir vermögen nicht seine Heiligkeit zu schätzen.
4. Er war früher als jedes Ding, das erschaffen worden; er ist der Erste, und seine Ewigkeit begrenzt kein Anbeginn.
5. Ja, er ist der Herr der Welt, und jedes Geschöpf zeugt von seiner Größe und seinem Reich.
6. Reichtum göttlichen Schauens verlieh er den Männern seines auserwählten Volkes, das seinen Ruhm verkündet.
7. Nicht erstand in Israel gleich Mosche (=Mose) noch ein Prophet, der seine Herrlichkeit schaute.
8. Lehre der Wahrheit gab Gott seinem Volke durch seinen Propheten, den Bewährten seines Hauses.
9. Gott wird sein Gesetz in Ewigkeit nicht in ein anderes wechseln, umändern.
10. Er sieht und kennt unsere Geheimnisse, schaut schon am Anbeginn das Ende einer Sache.
11. Er vergilt dem Menschen Gnade nach dessen Werk und erteilt die Strafe dem Bösewicht nach dessen Lasterhaftigkeit.
12. Er schickt am Ende der Tage unseren Gesalbten, zu erlösen, die auf das Endziel seiner Erlösung harren.
13. Die Toten wird Gott beleben in der Fülle seiner Gnade, gelobt sei für und für sein ruhmvoller Name.
Der Messias und die messianische Zeit
Juden, Christen und Muslime teilen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Mensch und Welt. Diese Hoffnung ist mit dem Glauben an den Messias verbunden. Seit dem Babylonischen Exil (587–ca. 450 v.Chr.) gehört die Erwartung des Messias zu den Grundvorstellungen des jüdischen Glaubens. Er drückt die Hoffnung auf einen Wandel der Welt durch das machtvolle Eingreifen Gottes aus. Während das Christentum davon ausgeht, dass der Messias bereits in Jesus Christus erschienen und die neue Ordnung schon angebrochen sind, warten Juden auf die Ankunft des Messias.
Das nachexilisch-biblische Judentum sah im Messias den Idealkönig. Er verhilft seinem Volk wieder zu Ansehen und Größe. In der apokalyptischen Literatur ist der Messias eine Hoffnungsgestalt, und mit seinem Erscheinen brechen das Ende dieser Welt sowie eine neue himmlische und irdische Ordnung an. Der griechische Begriff Apokalyptik bedeutet ‚Offenbarung‘. Bezeichnet wird damit eine Bewegung innerhalb des Frühjudentums, dessen religiöse Schriften kein Bestandteil der Hebräische Bibel wurden. Die Zeit der Apokalyptik reichte vom 3. vorchristlichen Jh. bis in die Zeit des Neuen Testaments. Das (Reform-)Judentum stellt sich den Anbruch der Endzeit auch ohne einen persönlichen Messias vor, sozusagen als ‚messianische Zeit‘. In ihr wird alles anders und besser – eine Welt ohne Elend und Gewalt. Den marxistischen jüdischen Philosophen Ernst Bloch (1885–1977) beseelte das ‚Prinzip Hoffnung‘. So lautet der Titel seines zwischen 1954–59 erschienenen dreibändigen Werkes. Bloch suchte nach Möglichkeiten, um das Leben menschlicher zu gestalten. Diesen Ansatz beeinflusste auch der Messiasgedanken.
Immer wieder gab es im Judentum Persönlichkeiten, die als Messias betrachtet wurden oder sich dafür hielten. So deuteten die gegen die Römerherrschaft kämpfenden Zeloten (66–73 n. Chr.) einzelne ihrer Führer als Messias. Die Zeloten (griechisch ‚Eiferer‘) vertraten die sozialrevolutionäre Idee eines Messias, der seine Herrschaft mit Gewalt errichtet. Vor allem unter dem Druck von Judenverfolgungen traten ‚falsche Messiasse‘ auf, wie der zum Islam übergetretene Sabbatai Zewi (1626-1676). Im Reformjudentum wurde der Messias entpersönlicht, zur ‚Chiffre für die Hoffnung‘ auf das Gottesreich. Orthodoxe Zionisten deuteten die Gründung des modernen Staates Israel in einem messianischen Sinne als ‚Beginn der Erlösung‘. Die orthodoxe Siedlungsbewegung Emunim (‚Getreue‘) mit ihrer Forderung nach einem ‚Groß-Israel‘ ist Träger eines messianischen Nationalismus. Diese Zionisten beziehen sich auf den jahrtausendealten religiösen Glauben an messianische Erlösung, der im jüdischen Bewußtsein immer mit der Rückkehr ins Land Israel und nach Zion (Jerusalem) verbunden war. Jedoch unternahmen die meisten Juden vor der Entstehung des Zionismus selber keine politischen Schritte, um nach Israel zurückzukehren. Der mächtigste aller chassidischen Führer und Oberhaupt der Lubavitscher Richtung, Rabbi Menachem Mendel Schneerson (gest. 1994), wurde von seinen Anhängern zu Lebzeiten mit dem Messias gleichgesetzt.
Gott und das Leiden
Im alten Israel nahm man zunächst einen Zusammenhang zwischen dem Tun und Ergehen des Menschen an. Dies wird schon daran deutlich, dass man für die böse Tat und die sich konsequent daraus ergebende schlimme Folge ein und dasselbe Wort benutzte. In den Klagepsalmen wurde die Frage nach dem ‚Warum‘ des Leidens gestellt. Diese Lieder beklagen entweder kollektives (u.a. Missernte, Trockenheit, militärische Niederlagen) oder individuelles Leid (u.a. Krankheit, Armut, plötzlicher Tod). Der berühmte Klagepsalm 22 („Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“) endet jedoch nicht in Verzagtsein und Hoffnungslosigkeit. Stattdessen preist er den nicht verborgen und fern bleibenden Gott. Psalm 73 stöhnt über das Glück der Gottlosen und das eigene Leid des Beters. Dieser ist zuversichtlich, dass Gott „meines Herzens Trost und mein Teil“ ist (Verse 25f.). Die Gewissheit, dass Gott unser Leben behütet und auf dem richtigen Weg leitet, drückt Psalm 23 aus. Die Klagelieder des Alten Testaments führen uns Menschen vor Augen, die ihr großes Leid vor Gott ausschütten. Zugleich drücken sie eine unbeirrbare Gewissheit auf Gemeinschaft mit Gott aus.
Angesichts des Leidens Unschuldiger ist der Vergeltungsgedanke im Judentum fragwürdig geworden. Besonders eindringlich drückt die Erfahrung des Leidens das Hiob-Buch aus: Der gottesfürchtige Hiob wird mit schweren Leiden geprüft. Trotzdem hält er unbeirrt an Gott fest. Im Hiob-Buch wird die Annahme zurückgewiesen, dass alles Leiden seine Ursache in menschlicher Schuld habe.
Das traditionelle jüdische Reden von Gott und dem menschlichen Leiden ist angesichts der Shoa an seine Grenzen gestoßen. Wie lässt sich der Glaube an Gottes Allmacht, Güte und Barmherzigkeit mit dem fabrikmäßig ‚durchgeführten‘ (die Nazis liebten dieses Wort) Völkermord durch die Nazis in Einklang bringen?
Orthodoxe Theologen wie Menachem Immanuel Hartom (1916–1992) hielt am traditionellen biblischen Gottesglauben fest und deutete die Shoa als Strafgericht Gottes für das sündige Israel. Er verstand Gott als ‚mysterium tremendum‘, das schreckenerregend-schauervolle Geheimnis, dessen unerforschliche Ratschlüsse der Mensch anerkennen müsse. Martin Buber (1878-1965) interpretierte die Shoa als Zeit der ‚Gottesfinsternis‘, in der sich Gott verborgen und seine Geschöpfe verlassen hat – entweder, weil Israel sündigte, oder weil die Abwendung Gottes in seinem Wesen liegt. Die radikalste Auffassung, die Gott-ist-tot-Position, vertrat Rabbiner Richard L. Rubinstein (geb. 1924): „Gott ist wirklich in Auschwitz gestorben“. Während Rubinstein Auschwitz als ungeheuerliche Katastrophe betrachtete, nach deren Sinn zu fragen, Gotteslästerung wäre, vertrat der Rabbiner und Philosoph Emil L. Fackenheim (1916–2003) die Ansicht: Auschwitz hat nicht die Grundlage des Glaubens an den Gott der Geschichte zerstört. In Auschwitz gab Gott seinem Volk ein 11. Gebot: „Israel soll leben!“ Der sichtbarste Ausdruck dieses Gebotes sei der heutige Staat Israel.
Der bedeutende Gelehrte Abraham J. Heschel (1907–1972) sprach vom ‚leidenden Gott‘. Der Gott Israels wird im Unterschied zum griechischen Denken nicht als in sich ruhend gedacht, sondern er leidet und tröstet, nimmt Anteil am Schicksal seines Volkes. Heschel fragt, ob nicht nur der Exodus aus Ägypten bzw. die Heimkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft, sondern auch der Ort der größten Qualen, Auschwitz, ein Ort göttlicher Offenbarung gewesen sein könnte.
Menschenbild
Die gesamte Schöpfung (Kosmos, himmlische Wesen, Tiere, Pflanzen, Menschen) gilt als Werk des mächtigen und gütigen Gottes. Vom Ursprung und von ihrem Wesen her ist die Schöpfung gut, ja sogar sehr gut (1 Mos 1,1-2,4).
Es ist jüdische Grundüberzeugung: Die Schöpfung ist für den Menschen gemacht worden. Sie hat eine vom Schöpfer gewollte Sinn- und Zielrichtung. Der Mensch ist als Mann und Frau „nach dem Bilde Gottes“ geschaffen. (1 Mos 1, 26f.; 9,6). Als ‚Krone der Schöpfung‘ hat ihm Gott einen Herrschaftsauftrag über die Schöpfung verliehen. Mit seinen Nachkommen soll er die Erde bevölkern, sie bebauen und bewahren. Zerstören und verderben jedoch darf er die Schöpfung nicht. Die Menschen sollen die gute Schöpfung Gottes bearbeiten, verbessern, vollenden.
Der Dekalog, die ‚Zehn Gebote‘, zeigen, wie der Mensch ein Gott wohlgefälliges Leben führen kann, das auf Vergebung angewiesen ist:
Die Zehn Gebote (2 Mos 20,2–17 und 5 Mos 5,6–21)
1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.
2. Fertige kein Bild von Gott an.
3. Missbrauche nicht den Namen deines Herrn.
4. Halte den Ruhetag ein.
5. Ehre Vater und Mutter.
6. Du sollst nicht töten.
7. Zerstöre keine Ehe.
8. Du sollst nicht stehlen.
9. Lüge nicht.
10. Bringe nicht an dich, was einem anderen gehört.
Der Mensch soll Gott nachahmen, ihm immer ähnlicher werden. Juden und Christen kommen sich in der Hochschätzung des Menschen als eines gottebenbildlichen Wesens sehr nahe. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Antwort auf die Frage nach dem Bösen.
Der Gedanke der Sünde hat große Bedeutung in der Bibel. Er erklärt, dass die alltägliche Erfahrung des Menschseins nicht nur durch Heil, Glück, Liebe gekennzeichnet ist, sondern auch durch Unheil und Leid. Sünde bedeutet in der Hebräischen Bibel Verfehlung: „sich auflehnen, sich gegen jemanden empören“, gegen Gott rebellieren. Die Hebräische Bibel kennt keine Erbsündenlehre. Sünde ist nicht Bestandteil der guten Schöpfung Gottes, sondern bricht dämonisch aus verborgenen Tiefen des Menschen hervor. Der Mensch besitzt den freien Willen, kann zwischen Gut und Böse unterscheiden. Nach 1 Mos 8,21 und Ps 51,7 hat der Mensch einen ‚guten‘ und einen ‚bösen Trieb‘. Trotz seiner angeborenen Neigung zum Bösen kann er Gutes vollbringen und das Schlechte neutralisieren. Gott allein vergibt die Sünden, und er hat in der Geschichte immer wieder Zeichen seines Willens zur unverdienten Vergebung gesetzt. Der Mensch soll sich zu besonderen Zeiten (Neujahr, Versöhnungstag) durch ‚Umkehr‘ für die Vergebung bereiten.
STAMMZELLENFORSCHUNG
Die in der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, verankerte Pflicht zu heilen, zielt auf die ‚Erhaltung des Lebens‘. In diesem Sinn gelten Gendiagnostik, Gentherapie, Präimplantationsdiagnose, Stammzellenforschung und -therapie als erlaubt, sofern sie dem Wohl des Menschen dienen. Israel ist führend auf dem Gebiet von Gentests und pränataler Diagnostik. Drei Prozent aller Kinder in Israel entstehen durch Invitro-Fertilisation. Diese ist nach jüdischer Vorstellung gestattet, wenn es sich bei dem Samenspender um den Ehemann handelt und andere Möglichkeiten der Empfängnis unmöglich sind. Bezüglich der überzähligen Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung entstehen, überwiegt die Meinung, dass man erst mit der Geburt von einer ‚Person‘ sprechen kann. Da Embryonen außerhalb des Mutterleibs nicht überleben können, ist embryonale Stammzellenforschung nach jüdischem Gesetz erlaubt. Man soll biomedizinische Entwicklungen nicht verhindern, denn sie können geeignet sein, Leben zu retten und Kranke zu heilen. Selbst gegen das Klonen erheben jüdische Gelehrte keine prinzipiellen Bedenken.
Mann und Frau
Mann und Frau sind nach dem Verständnis der Hebräischen Bibel nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Die Frau gilt als ‚Krone des Mannes‘ (Spr 12,4) und ‚Priesterin des Hauses‘. Die Hebräische Bibel legt die Gleichheit von Frau und Mann fest: „Gott schuf den Menschen in seinem Bilde als Mann und Frau“ (1 Mos 1,27). Erst durch die Ischa (‚Frau‘) erkennt der Mann sich nach 1. Mose 2,18 als Isch (‚Mann‘). Vor Begründung und zu Beginn des Königtums besaßen Frauen in Israel mehr soziale Macht als später. Die rabbinische Tradition nennt einige Frauen mit Namen, die neben 48 Männern das Prophetenamt innhehatten: Sara, Miriam, Debora, Abigail, Hulda und Esther. Doch wurden Frauen später durch die Rabbinnen aus dem Minjan, dem Quorum der zehn männlichen, für den Gottesdienst notwenigen Beter ausgeschlossen, durften nicht mehr zur Tora-Verlesung aufgerufen werden oder als dritte Person bei der Liturgie des Tischgebets fungieren. Manche dieser Funktionen wurden zeitweilig aber auch von Frauen übernommen. Frauen in Orient und Okzident leiteten auch oft selber ihre eigenen Gebete, und es gab auch Vorbeterinnen in Frauensynagogen.
Zur besonderen Aufgabe der Frau gehört es, den Sabbat und die Festtage durch das Entzünden und Segnen der Lichter einzuleiten. Zu den religiöskultischen Tätigkeiten der Frau gehörten: die Mitgliedschaft in der ‚Beerdigungsgemeinschaft‘, das Knüpfen von Schaufäden in Gebetsmänteln, das Zusammennähen von Torarollen, das Besticken der Torabänder und die Herstellung der Toravorhänge. Frauen konnten auch ‚Beschneiderin‘ oder ‚Schächterin für Geflügel‘ werden.
Tamar Frankiel, aus dem liberalen Protestantismus stammende Feministin und orthodoxe Jüdin, spricht von der ‚maskulin-femininen Struktur‘ des jüdischen Lebens, um zu verdeutlichen, dass das öffentliche soziale und politische Leben und die öffentliche Religion zur Domäne der Männer wurden, während der Aufgabenbereich der Frau vorwiegend mit Haus, Familie und Spiritualität zusammenfiel.
Die religiöse Bildung von Frauen und Mädchen wurde jahrhundertelang vernachlässigt. Um den vielfachen Ansprüchen des jüdischen Lebens in Heim und Gesellschaft gerecht zu werden, wurden von der Frau unterschiedliche Fähigkeiten erwartet. So gehörten dazu Hygiene und Heilmethoden, aber auch das Lesen biblischer und rabbinischer Kommentare auf Hebräisch oder in der jeweiligen Umgangssprache. In der Antike war es üblich, dass jüdische Mädchen im Gegensatz zu ihren Brüdern die Sprache der nichtjüdischen Gesellschaft lernten, in der sie lebten. Frauen mit kaufmännischem Wissen waren in Geld- und Bankgeschäften tätig. Jüdische Frauen leiteten auch Stiftungen für Krankenhäuser und Altenheime. Außerdem waren sie als Setzerinnen hebräischer Bücher in bekannten Familienverlagen tätig. Das moderne jüdische Verlagswesen wurde größtenteils von Frauen aufgebaut.
Nach der Breslauer Rabbiner-Versammlung von 1846 wurden Frauen in den Minjan aufgenommen, religiöser Unterricht für Mädchen eingeführt, und beide Geschlechter nahmen in der Synagoge auf derselben Ebene Platz. Im Sidur (Gebetbuch) strich man folgenden Absatz: „Gelobt seist Du Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Weib erschaffen“. Seit Beginn des 20. Jh. gibt es auch Tora-Talmudstudien für Frauen. Auch die Orthodoxen errichteten ihre eigenen Institute für Frauen. Die Gleichstellung der Frau in der öffentlichen Religionsausübung setzte sich allerdings erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. durch. Das gilt nicht für die Orthodoxie.
HEILIGE ZEITEN
FESTE AM LEBENSWEG
Beschneidung
Jeder männliche Jude wird ‚beschnitten’: Seine Vorhaut wird von einem mohel (‚Beschneider‘) durchtrennt. Während der ‚Bund der Beschneidung‘ heutzutage aus hygienischen Gründen oft unmittelbar nach der Geburt vollzogen wird, fand die Beschneidung im alten Israel während der Pubertät statt. Einander widersprechende Traditionen führen sie auf Mose oder Abraham zurück. Ursprünglich war das Gebot der Beschneidung eines unter vielen anderen Vorschriften. Später erhielt es eine die anderen Bibelgebote überragende Bedeutung. Es galt als ‚Bundeszeichen‘ zwischen Gott und seinem erwählten Volk. Als ‚Beschneidung des Herzens‘ (5 Mos 10,16; Jer 4,4) wurde der Brauch vergeistigt.
Im Unterschied zu den Jungen haben jüdische Mädchen kein vergleichbares Fest. Sie erhalten ihren Namen, und der Rabbiner spricht ein kurzes Gebet. Auch ist die religiöse Mädchenerziehung weniger aufwendig als die der Jungen. Diese sollen im Geist der Tora zu frommen und gelehrten Persönlichkeiten erzogen werden. Aus Liebe und Ehrfurcht vor Gott sollen sie sich mit der Heiligen Schrift beschäftigen.
Bar Mizwa und Bat Mizwa
Mit 13 Jahren wird ein jüdischer Junge Bar Mizwa (‚Sohn der Pflicht‘). Von nun an ist er ein religiös mündiges Gemeindeglied. Erstmalig legt er die Gebetsriemen an, schwarze Lederkapseln, die auf Pergament geschriebene Schriftverse (2 Mos 13,1–10 und 13,11–16; 5 Mos 6,4–9; 11,13–21) enthalten und mit schwarzen Lederriemen am linken Oberarm und an der Stirn festgebunden werden: „Und du sollst sie [die Worte] binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein“ (5 Mos 6,8). Die Schriftverse erinnern den Gläubigen an die Gottesoffenbarung und an den Auszug aus Ägypten. Mit Herz und Hirn soll der Gläubige an das Wort Gottes denken. Von nun an wird der Knabe beim Minjan (‚Zahl‘), der erforderlichen Mindestzahl von zehn männlichen Juden beim Gottesdienst, mitgezählt. Der Junge trägt einen Abschnitt der Tora in hebräischer Sprache vor, anschließend meistens den Prophetenabschnitt, der inhaltlich mit dem gelesenen Tora-Abschnitt zusammenhängt. Bei einem festlichen Essen hält der Bar Mizwa einen kleinen Vortrag, durch den er zeigen kann, dass er sich erfolgreich mit der rabbinischen Literatur beschäftigt hat. Die heute praktizierte Form wurde wesentlich vom liberalen deutschen Judentum des 19. Jhs. eingeführt und von der protestantischen Konfirmation beeinflusst. Mädchen werden mit 12 Jahren Bat Mizwa (‚Tochter der Pflicht‘). Heutzutage ist die große Feier für die Jungen zu einer Art Wallfahrtsfest geworden. Die Orthodoxen führen ganze Gruppen von Dreizehnjährigen zu einer Art Kollektiv-Bar-Mizwa zusammen. In Israel wird sie häufig an der Westmauer in Jerusalem begangen.
Trauung
Das Judentum bewertet Sexualität und Ehe positiv. In der Bibel wird die Ehe zum Garant für den Fortbestand der Familie. Der Mann nimmt nach traditioneller Vorstellung den ersten Rang in der Ehe ein. Aber auch die Mutter hat eine große Bedeutung (vgl. Sabbat). Die Kinder sollen ihre Eltern ‚ehren‘, die ihrerseits für das Wohl ihrer Nachkommen sorgen und sie im jüdischen Geist erziehen.
Die Ehe ist kein Sakrament, gilt jedoch als etwas Geheiligtes. Darauf weist der hebräische Ausdruck Kidduschin (hebr. ‚Heiligungen‘) hin. Eine legitime Ehe beruht auf bestimmten Voraussetzungen. 3 Mos 18,6–18 beschreibt detailliert das Verbot der Heirat mit nahen Blutsverwandten.
Beide Partner sollen in der Ehe sexuelle Erfüllung finden. Jüdisches Recht verurteilt jede sexuelle Beziehung einer Frau mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann ist, als Ehebruch. Falls es Zeugen vor einem Gerichtshof gibt, setzt die Hebräische Bibel die Todesstrafe für beide Ehebrecher fest. Diese Strafe wurde jedoch selten in der späteren Praxis verhängt. War die Frau des Ehebruchs überführt, so verlangte das rabbinische Recht die Auflösung der Ehe. Eine Heirat mit dem Ehebrecher war jedoch nicht gestattet. Die aus diesem Ehebruch hervorgegangenen Kinder durften keine gebürtigen Juden heiraten.
Da Bibel und Talmud Polygamie gestatteten, gab es keine gesetzliche Definition des Ehebruchs für den Mann. Ihm war aber Sexualverkehr mit einer anderen als seiner eigenen Frau verboten. Sogar das Alleinsein mit Frauen außerhalb der eigenen Familie war nicht gestattet. Die Frau hat ein Recht auf sexuelle Befriedigung unabhängig von der Fortpflanzung. Im Anschluss an ihre Periode findet ein Tauchbad (Mikwe) statt. Vergewaltigung in der Ehe ist verboten. Die Eheschließung findet meist in Gegenwart von Zeugen in der Synagoge statt. Unter einem ‚Brauthimmel‘ empfängt das Paar den Segen des Rabbiners, trinkt gemeinsam aus demselben Becher Wein. Der Bräutigam spricht folgende Trauungsformel in Gegenwart von zwei Zeugen: „Siehe, du bist mir angeheiligt durch diesen Ring nach dem Gesetz Moses und aller Propheten“. Danach übergibt der Bräutigam seiner Frau den Ehering, und der Rabbiner verliest den auf aramäisch geschriebenen Ehevertrag: „Du sollst meine Frau sein, ich will dir dienen, dich ehren und versorgen nach der Weise jüdischer Männer, die ihren Frauen dienen, sie hochschätzen, ernähren und versorgen in Treue“.
Scheidung
Der Talmud bewertet Ehescheidung negativ: „Über einen, der seine erste Frau von sich scheidet, vergießt der Altar Tränen“. Unter bestimmten Umständen ist jedoch eine Ehescheidung möglich. Das Gesetz schreibt eine ‚Abkühlungsfrist‘ vor. Dann soll geprüft werden, ob die Ehe nicht doch fortgeführt werden kann. Wenn alle Mittel nicht dazu führten, dass das Paar die Ehe aufrecht erhalten will, übergibt ein orthodoxer Jude vor dem Rabbinatsgericht seiner Frau den sogenannten Scheidungsbrief. Ohne ihn kann die Frau nicht wieder heiraten.
Tod und Bestattung
Verstorbene haben mit der Beerdigung so lange ihren Ruheplatz, bis der Messias kommt und die Toten wieder auferstehen. Daher gelten Vernichtungen bzw. Aufhebungen jüdischer Grabstellen als frevelhaft.
Weil der Körper einst das Gefäß des göttlichen Geistes war, soll er geehrt und in seiner Ganzheit beerdigt werden. Das Judentum kennt die Vorstellung der Auferstehung wie auch den Gedanken der unsterblichen Seele. Nach der Auferstehungslehre stirbt die Seele mit dem Körper, bis sie dereinst mit ihm wieder vereint wird. Nach der Lehre der Unsterblichkeit der Seele existiert die Seele nach dem Tod des Körpers weiter im Himmel bis zum Tag der Auferstehung. Orthodoxe Juden akzeptieren bis heute beide Vorstellungen nebeneinander. Das Reformjudentum verwirft im Allgemeinen die Vorstellung der Auferstehung der Toten und lehrt die Unsterblichkeit der Seele. Die rabbinische Literatur beschreibt das Jenseits als ‚Freude des Sabbats‘ und ‚Freude des Tora-Studiums‘. Das Jenseits ist ein ‚Tag, der ganz Sabbat ist‘, eine ‚Himmlische Akademie‘, in der Gott selbst den Rechtschaffenen die Tora lehrt.
Nachdem ein Mensch gestorben ist, übernimmt die ‚Heilige Bruderschaft‘ jeder Gemeinde die nötigen Bestattungsvorkehrungen. Mitglieder dieser Bruderschaft waschen und bekleiden den Leichnam. Der Tote soll so schnell wie möglich beerdigt werden, meist am Tag nach dem Tod. Es ist religiöse Pflicht, den Verstorbenen auf seinem letzten Wege zu begleiten, die Trauernden zu trösten. Der Trauergottesdienst gipfelt in den Worten: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gepriesen“. Der Rabbiner hält die Leichenrede und spricht ein Gebet, das vielfach so endet: „Denn Du bist Erde, und zur Erde kehrst Du zurück“. Der Sarg mit meist einem Säckchen Erde aus Erez Israel wird in das Grab gelassen. Oft beteiligen sich die Anwesenden mit drei zeremoniellen Erdwürfen. Dann kehrt die Trauergemeinde zur Gebetshalle zurück und setzt den Gottesdienst fort.
Während der ersten sieben Tage nach dem Begräbnis verzichten die unmittelbar Betroffenen (Ehegatte, Ehefrau, Kinder, Eltern, Brüder und Schwestern) auf alle weltlichen Aktivitäten. Man spricht daheim Gebete. Eine Gedenkkerze brennt während der ganzen Zeit. Das zweite Trauerstadium umfasst den ersten Monat nach dem Tode. Die Trauernden dürfen während dieser Zeit zwar wieder ihrer Arbeit nachgehen, doch müssen sie bestimmte religionsgesetzliche Vorschriften beachten. Das dritte Stadium erstreckt sich über das gesamte erste Jahr. Während dieser Zeit normalisiert sich das Leben weithin. Am Ende dieser Periode wird der Grabstein errichtet.
Jüdische Gräber sind meist schmucklos. Während der Nazizeit fielen etwa 80-90% aller jüdischen Friedhöfe Schändungen zum Opfer. Die heutigen Schmierereien und Schändungen jüdischer Friedhöfe in Deutschland haben oft neonazistischen Hintergrund.
FESTE IM JAHRESKREIS
Sabbat
„Komm, mein Geliebter, entgegen der Braut, lass uns den Sabbat freundlich empfangen“ – so beginnt die um 1540 von Salomo Alkabez verfasste Hymne. Wenn am Schluss des Gebetes diese Zeilen noch einmal wiederholt werden, blickt man in manchen Gemeinden zum Eingang der Synagoge. Dadurch soll die Hoffnung ausgedrückt werden, dass ‚Königin Sabbat‘ jetzt wirklich in das Gotteshaus einzieht.
Für Juden ist dieser Tag der Höhepunkt ihrer Woche. Er gilt als Geschenk Gottes, als Vorgeschmack der zukünftigen Welt. In den Familien herrscht Heiterkeit, Freude über reichhaltiges Essen und gute Getränke. Niemand darf an diesem Tag arbeiten, weder Mensch noch Tier. Juden betrachten diese Vorschrift nicht als Zwang. Wenigstens einmal in der Woche fühlen sie sich richtig frei: „Wie Israel den Sabbat gehalten hat, so hat der Sabbat Israel am Leben gehalten.“ Diese jüdische Überzeugung drückt sich in der Pflicht zu strikter Sabbatruhe aus. Diese hat heutzutage zu mancherlei Problemen geführt. In Israel wird z.B. darüber diskutiert, ob an diesem Tag Autos oder Züge fahren bzw. Flugzeuge fliegen dürfen. Für orthodoxe Juden ist dies eine nicht akzeptable Verletzung des Sabbatgebots. Viele andere Juden dagegen halten die traditionellen Sabbatpflichten nicht mehr ein.
Die hebräische Bibel spricht an mehreren Stellen von der Bedeutung des Sabbats (oder Schabbat bzw. jiddisch Schabbes): Am siebten Tag der Woche ruhte sich Gott nach der Weltschöpfung aus. Dieser Tag gilt als ‚Zeichen des Bundes‘ zwischen Gott und seinem Volk. Juden deuten den Sabbat auch historisch: als Erinnerungstag an den Auszug aus Ägypten. Nicht-Juden nehmen oft nur die vielen Einschränkungen des Sabbats wahr. „Nur Mensch zu sein“ – nichts anderes: So interpretierte der jüdische Soziologe und Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) den Sabbat.
Der jüdische Kalender
Feste sind für Juden unmittelbarster Ausdruck des Glaubens. Die ‚Liebe zu den Geboten‘ hängt eng mit dem ‚Schmücken der Gebote‘ zusammen. Der Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) beschrieb die außergewöhnliche Bedeutung des jüdischen Festes einmal so: „Der Katechismus des Juden ist sein Kalender“.
Man unterscheidet drei Festgattungen: die ‚ehrfurchtsvollen Tage‘, die drei ‚Wallfahrtsfeste‘ und die ‚kleinen Feste‘. Hinzu kommen die fünf öffentlichen sowie die zahlenmäßig variierenden privaten Fasttage.
Tischri (September/Oktober), 30 Tage
1. Neujahrstag I (Rosch ha-Schana)
2. Neujahrstag II
10. Versöhnungstag (Jom Kippur)
15. Laubhüttenfest I (Sukkot)
16. Laubhüttenfest II
22. Laubhüttenfest VIII (Schemini Azeret)
23. Gesetzesfreude (Simchat Torah)
Marcheschwan (Oktober/November), 29 Tage
Kislew (November/Dezember), 30 Tage
25. Chanukka I
Tewet (Dezember/Januar), 29 Tage
3. Chanukka VIII
Schewat (Januar/Februar), 30 Tage
Adar (Februar/März), 29 Tage
14. Purim
15. Schuscham Purim
Nissan (März/April), 30 Tage
15. Pesach I
16. Pesach II
21. Pesach VII
22. Pesach VIII
Ijar (April/Mai), 29 Tage
18. Lag ba-Omer (33. Tag der Omerzählung)
Siwan (Mai/Juni), 30 Tage
6. Wochenfest I (Schawuot)
7. Wochenfest II
Tannus (Juni/Juli), 29 Tage
Aw (Juli/August), 30 Tage
9. Trauer- und Fasttag (Tischa be-Aw)
Elul (August/September), 29 Tage
(Hans-Joachim Gamm, Judentumskunde, München 1964, 124f.)
Rosch ha-Schana
Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahr, fällt in die Monate September/Oktober. Rosch ha-Schana gilt als der Tag, an dem Gott die Welt erschuf (= 3761 vor Beginn unserer Zeitrechnung). Das zweitägige Fest leitet zu Beginn des jüdischen Neujahrs die Hohen Feiertage ein, die nach zehn Bußtagen mit dem Tag der Versöhnung (Jom Kippur) enden. Zu Neujahr sitzt Gott über die Taten der Menschen zu Gericht, die im Buch des Lebens eingeschrieben sind. Doch er gibt ihnen die Möglichkeit zur Umkehr. In den zehn Bußtagen denkt man darüber nach, wen man im vergangenen Jahr eventuell gekränkt hat, wie man das Unrecht gut machen kann. Am Tag der Versöhnung fällt Gott sein abschließendes Urteil. Deshalb wünschen sich Juden zu Neujahr: „Zu einem guten Jahr möget ihr eingeschrieben werden.“
Am Neujahrstag bläst der Rabbiner oder ein anderer Kultusbeamter das Schofar. Dieses angeschnittene Widderhorn ruft den Menschen zu Einkehr, Besinnung und Buße auf. Deshalb wird das Neujahrsfest auch ‚Tag des Posaunenschalls‘ genannt. Nach jüdischem Glauben erklang es einst bei der Sinai-Offenbarung. Rosch ha-Schana ist ein Fest der Einkehr und Besinnung, der Rechenschaft und des Gebets um eine gute Zukunft. Guter Brauch ist es, Grußbotschaften an Bekannte, Freunde und Geschäftspartner zu versenden: Unser Wunsch für einen guten ‚Rutsch‘ in das Neue Jahr ist eine Verballhornung des hebräischen ‚Rosch‘.
Jom Kippur
Nach dem Neujahrsfest folgen zehn der Tage der Buße und Wiedergutmachung. Denn ohne Versöhnung unter den Menschen gibt es keine Versöhnung mit Gott. Das ‚Versöhnungsfest‘ am 10. des Monats Tischri beschließt die zehn ‚Tage der Umkehr‘, welche die Juden auf das große Ereignis der Versöhnung vorbereiten. Jom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag. An ihm entscheidet Gott endgültig über das Schicksal der Menschen. Alle Erwachsenen fasten und verbringen den Tag in der Synagoge. Die Gebete dieser Tage handeln von der Rückkehr zu Gott, Reinigung von allen Sünden und vom wohltätigen Tun. Nach 3 Mos 16,30 soll dieser Tag ‚Versöhnung‘ bewirken. Kinder fasten nicht wie die Erwachsenen den ganzen Tag. In manchen Gemeinden ist es üblich, einem Hahn die Sünden aufzuladen – so wie im alten Israel dem ‚Sündenbock‘. Der Hahn wird später geschlachtet und zu Suppe verarbeitet. Ein langer Ton aus dem Schofar beendet den hohen Festtag.
Sukkot
Das frohe ‚Laubhüttenfest‘ am 15. Tischri war ursprünglich ein großes Herbst- und Weinlesefest (Erntdedankfest). Es fällt mit dem Jahreszeitenwechsel zusammen, wenn die in Palästina für Ertrag und Gedeihen so bedeutsame winterliche Regenperiode beginnt. 3 Mos 23, 39-43 schreibt vor, am ersten und achten Tag der Sukkot-Festwoche nicht zu arbeiten. Während dieser acht Tage sollten die Israeliten in Hütten wohnen, „damit eure Nachkommen wissen, wie ich die Kinder Israel habe in Hütten wohnen lassen, als ich sie aus Ägypten herausführte“. Heute noch errichten Juden auf ihrem Balkon oder im Garten Hütten und bedecken deren Dächer mit Zweigen.
Ein wichtiges Symbol des Laubhüttenfestes ist der Feststrauß. Er besteht aus vier Arten von Früchten und Zweigen (Palmenzweig, Myrthe, Weide und der Zitrusfrucht ‚Etrog‘). Während des Gottesdienstes in der Synagoge wird dieser Strauß in verschiedene Richtungen geschwenkt. Er wird in feierlichen Umzügen um die aus dem Toraschrein herausgehobene Torarolle getragen und bei bestimmten Gebeten geschüttelt.
Simchat Tora