Ein altes Haus für Laura oder wie Old Shatterhand nach Potsdam kam - Katharina Schubert - E-Book

Ein altes Haus für Laura oder wie Old Shatterhand nach Potsdam kam E-Book

Katharina Schubert

4,8

Beschreibung

Laura erbt von einer unbekannten Urgroßtante ein altes Haus in der Eifel. Dass sie dafür eine Ferienreise an den französischen Atlantik opfern muss, passt ihr gar nicht. Doch dann lernt sie Oma Therese kennen - und den Nachbarjungen Benji, dessen Vater Maler ist und Winnetou heißt. Fasziniert hört sie Oma Thereses Geschichten zu und streift mit Benji durch die Gegend. Und sie forscht nach Tante Josefa, die fast ihr ganzes Leben hier verbracht hat. Wer war Josefa wirklich? LESEPROBE: Es war Winter. Draußen lag hoher Schnee. Thereses Mutter kam aus dem Stall und bat den Vater: „Hol die Hebamme, es geht los.“ Sie umfasste ihren dicken Bauch und ging schwer atmend die Treppe hoch. Sie bat die Kinder, brav zu sein. Morgen früh hätten sie ein neues Geschwisterchen. Dann ging sie ins Schlafzimmer. Kurze Zeit später hörten die Kinder die Mutter schreien. Thereses Schwester holte Josefas Mutter. Als sie oben im Zimmer war, kam Josefa im Nachthemd durch den Schnee gelaufen und setzte sich neben Therese an den Ofen. Niemand achtete auf die kleinen Mädchen. Es wurde hektisch. Der Vater brachte die Hebamme. Das war Emmas Tante. Immer wieder rannten Thereses Schwester und Josefas Mutter nun treppauf, treppab, holten heißes Wasser und Tücher. Irgendwann schrie die Hebamme, der Vater müsse den Doktor holen, sonst würde die Mutter sterben. Er lief wieder los. Oben stöhnte und schrie die Mutter. Josefa und Therese fürchteten sich sehr. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als der Vater endlich mit dem Arzt kam. Damals gab es noch keine Busse oder Autos. Er musste die zehn Kilometer zum Arzt durch den hohen Schnee laufen. Zurück fuhr er dann mit dem Arzt im Pferdeschlitten. Nachdem der Arzt eine Viertelstunde bei der Mutter war, kam er polternd die Treppe runtergelaufen und schüttelte den Vater: „Du hast mich viel zu spät geholt. Es waren Zwillinge, zwei Jungen, aber sie sind tot. Zehn Minuten später, und deine Frau wäre auch verreckt. So schafft sie es vielleicht.“ Er setzte sich an den Küchentisch und trank ein großes Glas Schnaps. Dann verlangte er sein Honorar. Dieses Mal würde er sich nicht wieder vertrösten lassen und ohne Geld gehen. Fünf oder zehn Mark wollte er. Genau weiß Oma Therese das nicht mehr. Aber sie erinnert sich noch genau, wie arm sie damals waren. Der Vater hatte das Geld nicht. „Pump’s dir zusammen!“, brüllte der Doktor. „Vorher gehe ich nicht.“ Wieder kippte er ein Glas Schnaps in sich rein.

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Impressum

Katharina Schubert

Ein altes Haus für Laura oder wie Old Shatterhand nach Potsdam kam

Roman

ISBN 978-3-86394-013-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1995 im tabu Verlag, München.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Noch zwei Wochen, dann hat die Paukerei endlich ein Ende.

In diesem Jahr scheint die Zeit überhaupt nicht vergehen zu wollen. Und eine schwere Mathearbeit steht noch bevor. Eigentlich hat Laura schon jetzt zu überhaupt nichts mehr Lust.

Es ist unerträglich heiß in der Stadt. Laura liegt auf der Couch, guckt an die blaue, mit Sternen bemalte Decke ihres Zimmers und stellt sich vor, was sie alles in den Ferien unternehmen wird.

Zu Mamas Freundin Marlene will sie fahren. Die lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort in der Nähe von Bordeaux. Ganz dicht am Meer steht ihr Haus, sodass Laura jeden Morgen schon vor dem Frühstück mit ihren Freundinnen Lisa und Maruschka zum Strand laufen und baden kann. Im letzten Sommer war sie nur eine Woche dort, dieses Mal darf sie die ganzen Ferien bleiben.

Laura kann es kaum noch erwarten. Lautes Klingeln reißt sie aus ihren Träumen. Sie rennt in den Flur und öffnet die Tür. „Einschreiben, Eilboten mit Rückschein für Madaus!“

Ein junger Mann hält ihr einen Briefumschlag unter die Nase. „Ist was Amtliches, das muss ein Erwachsener unterschreiben.“ Glücklicherweise steht Frau Möhlmann, die Nachbarin, wie immer hinter der Tür und lauscht. Scheinbar ganz zufällig steckt sie ihren Kopf heraus und fragt: „Kann ich dir helfen, Laura?“

Sie kann.

Neugierig betrachten Frau Möhlmann und Laura den Umschlag. Absender ist ein Notar, Dr. Dr. Olaf von Sibelius.

„Was ist das, ein Notar ?“, fragt Laura.

„So was ähnliches wie ein Rechtsanwalt“, ruft der junge Mann, während er die Treppe hinunterläuft.

„Na, dann bedeutet das nichts Gutes!“ Mit wichtiger Miene geht Frau Möhlmann in ihre Wohnung zurück.

„Wenn Sie bitte Platz nehmen wollen, Herr Notar wird in wenigen Augenblicken erscheinen und die Testamentseröffnung persönlich vornehmen.“

Mit übertriebener Höflichkeit begleitet der junge Mann im Nadelstreifenanzug Laura und ihre Eltern zu drei großen Lehnstühlen, die vor einem riesigen Schreibtisch aus Eichenholz stehen.

„Das Fräulein Tochter am besten in die Mitte.“ Er schiebt Laura auf den Stuhl, weist ihren Eltern die Plätze links und rechts daneben zu. Dann bittet er um die Personalausweise.

Laura findet, dass der Mann sich ein wenig zu wichtig nimmt. Sie sieht sich um. Über dem Schreibtisch hängen drei große, goldgerahmte Bilder mit alten Männern.

„Mama, guck mal, der in der Mitte sieht aus wie der alte Herr Krüger.“

„Das ist der Großvater von Herrn Notar!“, sagt der junge Mann und wirft Laura einen strafenden Blick zu.

„Trotzdem sieht er aus wie der alte Herr Krüger.“

In diesem Moment öffnet sich eine Flügeltür, und ein zierlicher alter Herr kommt herein. Freundlich begrüßt er Laura und ihre Eltern und stellt sich vor: „Von Sibelius.“

Wie auf Kommando antworten die drei: „Guten Morgen, Herr Notar.“

Als Herr von Sibelius an seinem Schreibtisch sitzt, gibt ihm der junge Mann die Personalausweise von Lauras Eltern und eine Aktenmappe.

„Danke, Konrad. Den Rest schaffen wir allein. Sollten wir Hilfe benötigen, rufen wir Sie.“ Er zwinkert Laura zu.

„Wie Sie wünschen, Herr Notar.“ Mit einem säuerlichen Lächeln und einer tiefen Verbeugung verabschiedet sich Konrad.

Laura macht es sich in ihrem Stuhl bequem. Der Notar guckt flüchtig in die Ausweise, dann in die Gesichter von Lauras Eltern und sagt: „Ich darf nun mit der Testamentseröffnung beginnen. Anwesend sind wie folgt und durch Ausweis belegt: Laura Madaus, geboren am 20. Januar 1982, und ihre Eltern.“

Laura fängt an, sich zu langweilen. Die ganze Prozedur hier erinnert sie sehr an die Anwesenheitskontrollen ihrer Klassenlehrerin. Dabei weiß sie nicht einmal, warum sie überhaupt hierher musste.

„Pass gefälligst auf!“, flüstert Papa streng und zeigt auf den Notar.

„Ich darf Ihnen jetzt den letzten Wunsch der vor einem halben Jahr verstorbenen Josefa Elisabeth Reger aus Cromscheid verlesen:

Es ist mein letzter Wille, dass das mir gehörende Haus in Cromscheid 3, mitsamt Mobiliar und Grundstück in den Besitz der Urenkelin meiner verstorbenen Cousine Maria, Laura Madaus, wohnhaft in Potsdam, geht. Mit der Maßgabe, dass Haus und Grundstück bis zur Volljährigkeit des Mädchens von ihrer Mutter verwaltet, aber nicht verkauft werden dürfen.

Gratuliere, Laura, du hast ein Haus geerbt. Nicht schlecht für eine ElQährige.“ Der Notar nickt Laura zu.

„Frau Madaus, ich frage Sie, nehmen Sie das Erbe für ihre Tochter an?“

Lauras Mutter steht ziemlich verwirrt auf und sagt: „Natürlich, Herr Notar.“

Dann geht sie mit ihrem Mann zum Schreibtisch und unterschreibt mehrere Papiere. Anschließend flüstern beide ein paar Minuten mit dem alten Herrn.

Laura sitzt immer noch in ihrem Lehnstuhl und versteht gar nichts. Wer war diese Frau, die ihr ein Haus vererbt hat? Warum hat sie das getan? Und was soll Laura mit einem eigenen Haus? Schließlich besitzt sie ein schönes großes Zimmer in der Wohnung ihrer Eltern.

„Laura, nerv mich jetzt nicht.“ Mama wühlt hektisch in einem Karton mit Familienfotos. „Hier, auf diesem Foto muss sie sein.“

Sie setzt sich zu Mann und Tochter an den Tisch, zeigt ihnen ein ziemlich vergilbtes altes Foto. Darauf zu sehen sind drei kleine Mädchen. Eine hält eine Kerze in der Hand. Auf der Rückseite steht in krakeliger Schrift: Mai 1915, heilige Kommunion v. Josefa-Elisabeth.

„Die mit der Kerze, das muss sie sein. Komisch, ich wusste nicht mal, dass noch eine Cousine meiner Oma lebt.“

„Aber sie wusste, dass es uns gibt. Warum sind wir nicht mal hingefahren? Wo ich mir immer eine Oma gewünscht habe!“ Laura ist enttäuscht.

„Du warst doch noch ganz klein, als deine Oma und Uroma nach dem Unfall gestorben sind. Selbst wenn wir von der Existenz dieser Josefa Reger gewusst hätten, bis 1989 wäre es uns als DDR-Bürgern nicht möglich gewesen, sie zu besuchen. Du vergisst, dass Deutschland bis vor Kurzem noch aus zwei Teilen bestand, die durch eine unüberwindbare Mauer getrennt waren.“ Papa nimmt eine Landkarte. „Hinfahren müsst ihr, und zwar schnell. Schließlich musst du dir dein Erbe ansehen. Eigentum verpflichtet, Tochter! Ihr müsst Formalitäten, wie die Grundbucheintragung, erledigen und gucken, in welchem Zustand das Haus ist. Danach entscheiden wir, ob es vermietet wird oder nicht.“

Papa zeigt mit dem Finger auf die Karte: „Hier, in der Nähe der belgischen Grenze liegt es. Muss ein winziger Ort sein. Am besten, ihr fahrt gleich zu Ferienbeginn.“

„Kommt nicht infrage! Ohne mich. In den Ferien will ich zu Lisa und Maruschka. Ich hab’ mich so drauf gefreut. Das Haus hat so lange ohne uns da gestanden, nun kann es auch noch bis nach den Ferien warten.“

Laura ist wütend und den Tränen nahe.

Mama versucht, sie zu beruhigen. „Wir fahren mit dem Auto nach Cromscheid, bleiben eine oder zwei Wochen dort und erledigen alles. Wenn Papa von seiner Dienstreise zurückkommt, machen wir drei uns gemeinsam auf den Weg zu Lisa und Maruschka.“

„Und zu Monsieur Cachou“, schluchzt Laura.

Papa guckt ungläubig. „Monsieur Cachou?“

„Na, der Kater von Lisa und Maruschka.“

Mama schüttelt den Kopf.

„Wenn es darum geht, Laura, Katzen gibt es mit Sicherheit auch jede Menge in dem Dorf, in dem dein Haus steht.“

„Hoffentlich!“ Laura wischt sich die Tränen aus den Augen.

2. Kapitel

„Gut“, dass Papa nicht dabei ist. Der wäre ausgerastet, so oft, wie wir uns in den letzten beiden Stunden verfahren haben.“ Laura kurbelt die Scheibe der Beifahrertür runter, lehnt sich aus dem Fenster und sieht sich die hügelige Eifellandschaft an, durch die sie fahren. Sie ist müde. Seit fast sieben Stunden sind sie nun schon unterwegs.

Auf einem Hügel halten sie und steigen aus. „Da unten liegt Cromscheid“, sagt Mama erleichtert.

„Gibt’s da wenigstens einen See? Diese Hitze schafft mich.“ Laura bindet sich ihre langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz hoch. „Auf der Karte habe ich keinen gesehen.“

Laura zählt die Häuser. Es sind fünfzehn. Die meisten liegen dicht beieinander links und rechts neben einer geraden Straße. Zwei Bauernhöfe und ein kleiner Friedhof mit Kapelle befinden sich etwa hundert Meter außerhalb des Ortes.

„Hier gibt’s ja nicht mal Straßennamen.“

„Ist ja auch Quatsch, wenn es nur die eine gibt“, findet Mama und fährt langsam die Dorfstraße entlang. Aber auch Hausnummern können die beiden nicht entdecken. Nirgendwo ist ein Mensch zu sehen. Das Dorf wirkt wie ausgestorben.

„Cromscheid 3. Also müsste es das dritte Haus sein.“ Mama sieht sich um.

„Aber von welcher Seite sollen wir anfangen zu zählen?“, gibt Laura zu bedenken.

Mama schlägt vor, den Garten zu suchen, in dem das Unkraut am höchsten steht. Schließlich ist die alte Frau vor einem halben Jahr gestorben. Da sie niemanden hatte, konnte sich auch niemand um ihren Garten kümmern.

„Tolle Idee“, lobt die Tochter ihre Mutter. „Ich nehme die rechte, du die linke Seite.“ Neugierig sieht Laura aus dem Auto. Ein bisschen fühlt sie sich wie einer dieser Privatdetektive aus dem Fernsehen.

„Hier muss es sein!“ Sie halten vor einem ziemlich verwilderten Grundstück. Nur der Giebel des Hauses guckt hinter einer Hecke vor. Am Gartentor hängt ein Holzschild, auf dem der Kopf eines Indianers und der eines Kindes gemalt sind.

„Hübsch, nicht?“ Neugierig folgt Laura ihrer Mutter in den Garten. Hinter den Büschen ist eine Wiese, deren Gras Laura bis zum Ellenbogen reicht. Auf ihr wachsen Obstbäume und verschiedene Beerensträucher.

„Dein armer Vater, der hasst doch Gartenarbeit wie die Pest!“

„Was für ein schönes Haus!“ Laura strahlt. Fensterläden und Türen des kleinen weißen Hauses sind dunkelgrün und mit bunten Blumen verziert. Mama nimmt die drei Schlüssel, die der Notar ihr gegeben hat, aus der Tasche und will die Haustür aufschließen.

„Bei uns lohnt sich kein Einbruch!“, ertönt eine Stimme von hinten.

Laura und Mama drehen sich erschreckt um. Sie sehen einen Jungen in Lauras Alter in einem der Apfelbäume sitzen. Er hat seine Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen und grinst die beiden frech an.

„Quatsch, wir wollen nichts klauen. Wir wollen nur in unser Haus“, sagt Laura schnippisch.

„Aber das ist nicht euer Haus. Hier wohnen Winnetou, Elly und ich.“

„Winnetou, wer ist das denn?“, will Laura wissen.

Mama unterbricht sie. „Entschuldigung, wir sind fremd hier und dachten, dies ist das Haus von Josefa Reger. Weil das Grundstück so verwildert ist. Sie ist doch vor einem halben Jahr gestorben.“

„Das ist nicht verwildert, das ist ein Ökogarten! Weiß man gleich, dass ihr aus der Stadt kommt.“ Der Junge grinst noch frecher. „Aber ihr seid trotzdem falsch hier. Oma Josefa hat auf der anderen Straßenseite gewohnt. Ihr könnt es nicht verfehlen. Das graue Haus mit den kleinen Fenstern.“

Er guckt auf die Uhr. „Nebenan, unter den drei großen Linden, sitzt jetzt Oma Therese auf der Bank und schläft. Aber wehe, ihr weckt sie auf!“

„Mein Gott, ist mir das peinlich“, sagt Mama. „Bitte entschuldige und sage deinen Eltern, dass es uns leid tut.“ Dann zieht sie Laura mit sich fort zum Auto.

Der Junge schiebt seine Mütze mit dem Zeigefinger aus der Stirn. „Hier gibt’s keine Eltern. Nur mich, Winnetou und Elly.“

„Mann, der hat es gut, der wohnt mit einem Indianer zusammen.“ Enttäuscht folgt Laura ihrer Mutter.

Als sie endlich vor dem richtigen Haus stehen, würden beide am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen und wegfahren.

Es ist mit Abstand das kleinste und armseligste im ganzen Ort. Das Dach ist verwittert. Dunkle Kunststoffplatten sind auf den Putz genagelt.

Einige klappern locker im aufkommenden Sommerwind. Die Fenster sind winzig. Der Schuppen neben dem Haus droht jeden Augenblick zusammenzubrechen.

„Aber der Garten ist gepflegt.“ Mama versucht, sich und Laura Mut zu machen. „Guck mal, die schönen Blumen.“

„Pst.“ Laura zieht ihre Mutter zur Seite und zeigt auf das Nachbargrundstück.

Unter drei großen Linden sitzt eine alte Frau in einer bunten Kittelschürze auf der Bank und schläft. Neben ihr ein riesiger Wecker. ,Auch wenn du mit achtzig Stundenkilometern hier vorbeifährst, kannst du noch sehen, wie spät es ist. Die alte Frau können wir fragen, wer den Garten gepflegt hat. Aber erst, wenn sie wieder wach ist. Sonst kriegt sich der Blödmann mit der Baseballmütze nicht mehr ein.“

Laura schiebt ihre Mutter zur Eingangstür. „Mal gucken, wie es drinnen aussieht.“

Mama schließt auf.

Sie stehen in der Küche, einem niedrigen, ziemlich dunklen Raum. Die kleinen Fenster lassen nur wenig Licht herein.

„Ganz schön kühl hier.“

„Und dunkel“, sagt Mama und sieht sich suchend um. „Schalt mal das Licht an.“

Der Lichtschalter ist gleich neben der Tür. Laura dreht ihn nach links und rechts. Aber es bleibt dunkel.

„Die haben sicher den. Strom abgeschaltet, weil die Rechnungen lange nicht bezahlt wurden.“ Mama zieht die Vorhänge auf und öffnet die Fenster, um Licht und Wärme reinzulassen. „Das fängt ja wunderbar an.“

Sie sehen sich um. Rechts neben der Eingangstür stehen ein Küchenschrank und die Spüle. Auf der anderen Seite ein Elektro- und ein Kohleherd. In der Mitte des Raumes ein Tisch und drei Stühle.

„Antiquitäten sind das nicht gerade. Wahrscheinlich Nachkriegszeit.“

Mama beginnt die Briefe, die auf dem Tisch liegen, durchzusehen. „Rechnungen, Mahnungen und Werbung.“

„Wie kommen die auf den Küchentisch?“ Laura sieht Mama fragend an.

„Kümmern wir uns später drum.“

Dann gehen sie durch einen kleinen Flur ins nächste Zimmer. Darin stehen ein hoher dunkler Schrank mit Glastüren, ein kleiner Tisch, eine Couch, ein Sessel und ein alter Fernseher.

Auf dem Fensterbrett entdecken sie ein Telefon. Laura nimmt den Hörer ab.

„Auch abgestellt, Mama!“

Sie geht zum Schrank und sieht sich die Fotos an, die vor den Weingläsern stehen. Auf einem sitzen zwei alte Frauen im Garten.

„Ob sie eine von ihnen ist?“

Neugierig sieht Mama sich die Fotos an. „Wahrscheinlich, aber welche? Na, das werden wir noch herausfinden.“

Sie kommen ins nächste Zimmer. Ein großes, altmodisches Ehebett und ein riesiger Kleiderschrank nehmen fast den ganzen Raum ein. Mama öffnet eine Schranktür. Dahinter liegen Handtücher, Bettwäsche, Tischwäsche, Taschentücher und vieles mehr.

„Wären wir beide nur halb so ordentlich, würden wir viel Zeit sparen“, seufzt Mama.

„Und Papa weniger meckern“, ergänzt Laura.

Mama setzt sich aufs Bett. „Kein Licht. Kein Telefon, aber ein großes bequemes Bett. Wenigstens um unsere Nachtruhe brauchen wir uns nicht zu sorgen.“

Beim Rundgang durch das Haus stoßen sie noch auf ein winziges Bad und eine Holztreppe, die nach oben führt.

Unter dem Dach sind zwei kleine Kammern. In einer steht ein Wäscheständer. In der anderen ein altes Bett, eine kleine Kommode und eine Stehlampe. An den Wänden sind Wasserflecken. Es riecht ein bisschen muffig hier oben.

Laura öffnet das Fenster und beugt sich hinaus. Sie sieht, wie zwei Katzen versuchen, auf der Wiese hinter dem Haus Schmetterlinge zu fangen.

Auf einmal ist sie ganz begeistert. „Hier oben, das wird mein Reich.“

„Müssen wir alles sehen und mit Papa bereden“, gibt Mama zu bedenken.

„Nee, Mama, hier oben ziehe ich ein. Ganz allein. In die eine Kammer muss Papa mir einen Sternenhimmel malen, in die andere hänge ich viele Poster. Und die blaugelbe Decke aus Griechenland, die lege ich über das Bett. Dann sieht es nicht mehr so altmodisch hier aus.“

Plötzlich steckt Laura voller Pläne.

Sie holen Koffer und Kartons aus dem Auto, stellen sie in die Küche. Beide sind hungrig. Mama nimmt eine Büchse Suppe heraus, sucht im Schrank einen Topf, lässt Wasser rein und stellt den Topf auf den Herd. Da fällt ihr ein, dass sie keinen Strom haben. Aber es gibt ja noch den Kohleherd.

„Draußen sind dreißig Grad im Schatten, und wir müssen Feuer machen, um uns eine Büchse zu wärmen.“

„Kannst du denn heizen?“, will Laura wissen.

„Ich kann grillen. Da werde ich auch so einen Kohleherd ankriegen. Fragt sich nur womit?“ Mama sieht sich um.

„Vielleicht gibt es im Schuppen Brennholz", sagt Laura.

Sie gehen hinaus. Auf der Bank unter den drei alten Linden sitzt nun der Junge mit der Baseballmütze und grinst. Laura tut so, als ob sie ihn nicht bemerkt, und geht mit ihrer Mutter zum Schuppen. Er ist verschlossen.

„Der Schlüssel liegt rechts über der Tür!“, ruft der Junge.

„Danke“, sagt Mama, nimmt ihn und schließt auf.

„Ist ja sehr interessant, woher weißt du denn, wo unser Schlüssel liegt?“, sagt Laura schnippisch.

„Hier weiß jeder, wo der andere seine Schlüssel versteckt.“ Er legt sich auf die Bank, tut so, als ob er gelangweilt in den Himmel guckt, beobachtet aber gespannt, was auf dem Nachbargrundstück passiert.

„Wichtigtuer“, zischt Laura ihm im Vorbeigehen zu, bevor Mama und sie mit dem Korb voller Holz wieder im Haus verschwinden. Laura sieht zu, wie ihre Mutter versucht, den Herd zu heizen. Schon nach kurzer Zeit beginnt es in der Küche so zu qualmen, dass beide hustend rauslaufen.

„Ein Misthaus ist das! Nicht mal 'ne Büchse kann man sich hier warm machen. Und wie immer, wenn man ihn braucht, ist dein Vater nicht da!“, sagt sie wütend zu Laura.

„Kann ich doch nichts dafür! Wer sagt dir überhaupt, dass Papa heizen kann? Der dreht zu Hause auch nur am Thermostat.“ Die beiden stehen ziemlich hilflos da.

Mama findet ihre Fassung zuerst wieder. „Wir werden diesen blöden Ofen schon in den Griff bekommen. Und morgen sorgen wir dafür, dass der Strom wieder angestellt wird.“

Als sie Laura mit sich ins Haus ziehen will, sieht sie, wie die alte Frau von nebenan aus ihrem Haus gelaufen kommt und winkt. Mama und Laura gehen ihr entgegen,

„Nun hab’ ich nicht mal mitgekriegt, dass Sie gekommen sind. Ehrlich gesagt, ich hab’ auch nicht mehr damit gerechnet. Josefa ist ja schon seit einem halben Jahr tot.“

Sie bekreuzigt sich. „Der Junge hat mir gesagt, dass Sie da sind. Willkommen, ich bin Frau Pützer.“

„Angenehm. Ira und Laura Madaus aus Potsdam.“ Mama entschuldigt sich, dass sie im Augenblick etwas hektisch ist und ins Haus zurück muss, da sie mit dem Ofen auf Kriegsfuß steht.

Frau Pützer lacht. „Das hat keinen Sinn. Der Kamin muss erst geräumt werden. Er ist voller Zweige und Gras. Das haben die Dohlen reingeworfen, als sie im Frühjahr ihr Nest auf dem Schornstein bauten.“

Mama stöhnt: „Wir sind noch keine zwei Stunden hier, und ich bin jetzt schon mit den Nerven am Ende. Das fängt ja gut an.“

Frau Pützer versucht sie zu trösten. „Dann kommen Sie jetzt erst mal mit zu mir und ruhen sich ein bisschen aus.“

Wenig später sitzen sie in Frau Pützers Küche. Es ist alles sehr gemütlich. Die alte Frau gießt Kaffee ein, stellt Kuchen und Kekse auf den Tisch.

Laura beobachtet sie dabei. Ihre schlohweißen Haare sind geflochten und zu einem Dutt gesteckt. Viele Falten haben sich in ihr schmales, von der Sonne gebräuntes Gesicht gegraben. Sie ist klein und sehr schlank. Laura würde gern wissen, wie alt sie ist, traut sich aber nicht zu fragen. Sie sieht sich in der Küche um. Gleich neben der Tür hängt ein großes Bild in einem verschnörkelten Rahmen. Es zeigt einen Sonnenaufgang am Meer. Auch bei Frau Pützer steht neben dem Elektroherd ein Kohleofen. Neben der Spüle ein großes altes Küchenbüfett. An seinen Türen kleben viele Fotos.

Eines kommt Laura bekannt vor. Es zeigt zwei alte Frauen, die im Garten sitzen. Eine von ihnen ist Frau Pützer. Laura springt auf. „Dasselbe Foto wie bei uns drüben. Ist sie das?“ Sie zeigt auf die andere alte Frau.

„Das ist Josefa. Das Foto wurde vor einigen Jahren, an ihrem 85. Geburtstag, gemacht. Damals war sie noch gesund. Eine halbe Flasche Kirschlikör haben wir getrunken.“

„So hat also meine Uroma ausgesehen.“ Laura kann sich nicht von dem Foto trennen.

„Deine Urgroßtante, die Cousine deiner Uroma“, verbessert Mama sie.

„Ist doch egal. Sie müssen uns von ihr erzählen, Frau Pützer, bitte.“

„Du kannst mich ruhig Oma Therese nennen, das tun alle hier.“

„Hast du Josefa lange gekannt, Oma Therese?“ Laura lässt nicht locker.

„Solange ich denken kann.“ Oma Thereses Gedanken schweifen zurück in ihre Kindheit.