Ein blindes Pferd darf man nicht belügen - Katharina Schubert - E-Book

Ein blindes Pferd darf man nicht belügen E-Book

Katharina Schubert

4,9

Beschreibung

Das Leben in der Eifel ist hart für die Bauern im frühen 20. Jahrhundert. Auch der Junge Hubert muss neben der Schule auf dem kleinen elterlichen Hof mithelfen, der die vielköpfige Familie nur knapp ernährt. Am liebsten fährt er mit Großvater Johann auf dem Hundewagen. Als sie für die tote Großmutter einen Baum pflanzen, kann Hubert sich nicht vorstellen, dass er selbst einmal ein alter Mann mit Enkeln sein wird. Doch wir können es nachlesen, Huberts Leben in dem Dorf Kambach, das keineswegs fernab des Weltgeschehens liegt und das Hubert während fast eines Jahrhunderts nur dreimal verlässt ... INHALT: Kindheit Bäume für die Toten Schule, zack, zack „Das gehört sich nicht für ein Mädchen“ Heuernte 1914 Was Krieg ist ... Doktor Salomon Soldatenschicksale Zacke Aufregung in Kambach Nachkriegsalltag Ein heißer Sommer Schmuggel Trügerische Ruhe im Kambach Abschied von Großvater Johann Hochzeit mit Brautjungfern Lehrjahre Trauriger Geburtstag Arbeiten wie ein Mann Annas Unglück Nur wer säuft, ist ein Kerl Hungernde Millionäre Die erste Liebe Kinozauber Wieder daheim Liebe mit Hindernissen Arbeit 1929: für die einen zu viel, für die anderen zu wenig Eine eigene Familie Aller Anfang ist schwer Nazis in Kambach Pogromnacht Krieg Heimkehr Bomben auf Kambach Frieden Eine neue Kirche Die Kinder werden flügge Mark und Pfennig Die Töchter werden erwachsen Schnee und kein Ende Es geht voran - aber wohin? Wie die Welt nach Kambach kam Sophie Anna Mariechen Abschied von Agathe Klinkhammer Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder … Besuch aus Amerika Aufs Altenteil Alt zu werden ist nicht schwer … Weihnachten in New York Die Städter kommen Clara

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Impressum

Katharina Schubert

Ein blindes Pferd darf man nicht belügen

Roman

ISBN 978-3-86394-015-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1997 im tabu Verlag, München.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Kindheit

Bäume für die Toten

„Mach Platz, Hubertchen.“ Großvater Johann schob den Jungen zur Seite. Mit einem Spaten lockerte er den Boden um einen kleinen Baum, der dem Kind bis zur Nasenspitze reichte. Obwohl er noch keine Blätter hatte, wusste Hubert, dass es eine Buche war.

Geschickt hob der Großvater das Bäumchen aus der Erde. „So, jetzt kannst du mit anfassen.“

Sie wollten es für die verstorbene Großmutter vor ihrem Haus einpflanzen. So war es Brauch.

Zusammen trugen sie die junge Buche zum Waldweg. Dort warteten Fritz und Bello, Großvaters Bernhardiner. Sie waren vor einen vierrädrigen Karren gespannt. Als sie Großvater und Enkel kommen sahen, begannen sie zu wedeln.

„Willst du zurückfahren?“, fragte der Großvater.

Was für eine Frage! Hubert strahlte.

Sie luden das Bäumchen auf. Dann setzte sich Hubert auf den Platz, auf dem Großvater sonst saß, und los ging die Fahrt. Es war ein schöner Frühlingstag im April des Jahres 1914.

Die Sonne hatte schon richtig Kraft. Bald würden die Bäume wieder in vollem Grün stehen.

Hubert schien es, als ob Eichen, Buchen und Tannen links und rechts des Weges nur so an ihnen vorbeifliegen würden.

Auch den Hunden machte es Spaß. Sie liefen von ganz allein. Er musste sie nicht antreiben.

„Brav, brav“, lobte er sie. Großvater Johann saß neben ihm und rauchte seine Pfeife. Hubert spürte, wie er ihn beobachtete. Aber er kannte sich aus mit Hunden, obwohl er erst sechs Jahre alt war. Das hatte er vom Großvater gelernt.

Solange Hubert denken konnte, fuhr der Großvater morgens mit seinem Hundekarren vom Hof. Er kaufte bei den Bauern in der Umgebung Eier, Butter, im Sommer auch Obst und Gemüse und verkaufte alles auf dem Markt in der Kreisstadt wieder. Oder er fuhr zu den Arbeitern, die die Eisenbahnstrecke bauten. Das waren vielleicht verrückte Kerle. Große, starke Männer mit dunklen Augen und vielen Tätowierungen auf ihren Armen, Viele kamen aus Kroatien, einem fernen Land. Sie vermissten ihre Familien und fühlten sich fremd in dieser Gegend. Wenn Hubert den Großvater begleitete, freuten sie sich. Sie zeigten ihm, wie man Schienen verlegte, und versprachen, dass auch hier bald eine Dampflok fahren würde.

Inzwischen fuhr die Dampflok auf den Schienen, aber Hubert konnte den Großvater nicht mehr auf seinen Touren begleiten. Seit Ostern ging er nämlich zur Schule. Doch daran wollte er im Augenblick nicht denken.

Vor ihnen lag Kambach. Als sie auf die holprige Dorfstraße bogen, nickte der Großvater dem Enkel augenzwinkernd zu.

Hubert steifte sich auf das Brett. „Schneller, schneller!“' Die Hunde legten sich ins Zeug. Aus allen Ecken des Dorfes kamen Kinder angerannt. Sie liefen neben dem Karren her und feuerten die Hunde an. An der alten Linde wurden Fritz und Bello langsamer. Dann bogen sie rechts ab. Beide kannten den Weg zum Hof genau.

Vor dem kleinen Haus mit seinem schiefen Dach, den winzigen Fenstern und der bröckelnden Lehmfassade stand Paula, Huberts jüngste Schwester, und popelte. „Es ist gemein, dass ich nicht mitdurfte", beklagte sie sich, ohne den Finger aus der Nase zu nehmen.

„Gib den Hunden Wasser“, lenkte Großvater Johann sie ab. Während er und Hubert die Hunde ausspannten, lief Paula zu einem Eimer, der vor dem Stall stand, und kippte Wasser in einen großen flachen Holznapf. Sofort rannten Fritz und Bello zu ihr und tranken. Paula konnte man kaum noch sehen. Sie war nicht viel größer als die beiden.

Im Stall muhten Frida und Erna, die beiden Kühe. Sie warteten darauf, gemolken zu werden.

Außerdem besaß die Familie Theisen noch drei Schweine, ein halbes Dutzend Hühner und Kaninchen sowie zwei Ochsen, aber die waren mit dem Vater unterwegs.

Im Winter schliefen die Bernhardiner im Kuhstall. Großvater Johann mochte das nicht. Hunde, die nach Kuhmist rochen! Aber da er sie nie festband, schafften sie es immer wieder, ihn zu überlisten.

Hubert ging zum Großvater, um ihm beim Einpflanzen der Buche zu helfen. Aber der war schon fertig und trat die Erde gerade fest.

„Buchen werden groß und alt. Man darf sie nicht zu dicht ans Haus pflanzen. Sonst nehmen sie einem später das Licht.“ Er lächelte. „Irgendwann wirst du mit deinen Enkelkindern unter dieser Buche spielen.“

Dieser kleine Baum sollte mal so groß werden wie die Buchen im Wald? Und Hubert ein Großvater mit Pfeife im Mund und Enkeln? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Er holte Wasser und goss das Bäumchen.

Großvater Johann stand, auf den Spaten gestützt, daneben. Seine Gedanken waren weit weg.

„Sei nicht traurig, Großvater. Bald wirst du die Großmutter wieder sehen. Der Herr Pastor hat es versprochen“, sagte Hubert und drückte seine Hand. Er erinnerte sich noch gut an jenen eisigen Februarabend. Großvater Johann, Huberts Vater und seine großen Brüder Wilhelm und Franz hatten am Küchentisch Karten gespielt. Seine Mutter und die älteren Schwestern versorgten das Vieh im Stall. Hubert und Paula saßen mit der Großmutter neben dem Ofen. Sie strickte Strümpfe und erzählte ihnen Geschichten.

Hubert liebte diese langen Winterabende in der engen, warmen Küche. Und ganz besonders liebte er Großmutters spannende Geistergeschichten, bei denen Paula sich immer gruselte.

Plötzlich stöhnte die Großmutter. Die Stricknadeln fielen ihr aus der Hand. Sie schnappte nach Luft und stürzte zu Boden. Mit offenen Augen lag sie da und starrte gegen die Decke. Ein dünner Blutfaden rann aus ihrem Mund. Paula schrie so laut, dass Mutter und Schwestern sofort aus dem Stall gelaufen kamen. Als sie die Großmutter sahen, fingen sie zu weinen an.

Großvater saß wie gebannt auf seinem Stuhl. Plötzlich legte er seine Pfeife auf den Tisch, stand auf und kniete sich ruhig neben die Großmutter. Er schloss ihre Augen, streichelte ihr Gesicht und küsste ihre Stirn. „Du warst mir eine gute Frau, Therese. Ich danke dir.“

Dann begann er zu beten.

Die Großmutter war tot.

Immer, wenn einer der Alten gestorben war, wurde ein Baum für ihn gepflanzt. Weil etwas bleiben sollte von ihm. Meist nahmen die Menschen eine Buche oder Eiche, weil die so groß und alt wurden. Großvater Johann hatte das schon von seinem Großvater gelernt.

Im Laufe der Jahre war so ein Eichen- und Buchengürtel um das Dorf herumgewachsen, der die Häuser im Winter vor den eisigen Stürmen schützte. Die Früchte wurden an das Vieh verfüttert. Wenn das Brennholz im Winter nicht reichte, wurde auch mal ein Baum gefällt. Doch immer wieder wurden neue gepflanzt. Nur wenige pflanzten die Bäume in ihre Gärten, weil sie dort zu viel Platz wegnahmen. Der aber wurde gebraucht, um Gemüse anzubauen. Denn im Dorf lebten alle von dem, was sie für sich und ihre Tiere anbauten und ernteten. Fehlte ihnen etwas, tauschten sie beim Krämer Blume im Nachbarort Gieberg: Eier gegen Salz, Butter gegen Hosenknöpfe, Kartoffeln gegen Petroleum.

Huberts Vater wollte deshalb nicht, dass die Buche in den Garten kam und stritt darüber mit Großvater Johann. Der ließ sich nicht beirren. „Solange ich lebe, will ich bei jedem Blick aus dem Fenster an meine Therese denken. Die Buche kommt in den Garten, sobald der Frost aus dem Boden ist.“

Der Vater murrte, wagte aber nicht, sich gegen den Großvater durchzusetzen.

Hubert freute sich heimlich jedes Mal, wenn sein Vater dem Großvater gehorchen musste. Seine Geschwister und er mussten immer das tun, was ihr Vater sagte. Gehorchten sie nicht, gab es Schläge.

„Genug Wasser, Hubertchen“, sagte Großvater Johann. Der Enkel sah von der kleinen Buche in den Himmel und stellte sich vor, wie die Großmutter ihm von oben zusah. Er war ganz sicher, dass sie stolz auf ihn war.

Schule, zack, zack

„Aufstehen, Kinder!" Wie jeden Morgen konnten die Kinder ihre Mutter schon auf der Treppe hören. Draußen wurde es hell. Kambach erwachte aus seinem Schlaf. Man hörte das Klappern der Milchkannen. Irgendwo krähte ein Hahn. Hunde bellten.

In der Dachkammer blieb alles ruhig. Wilhelm und Franz, die in dem Bett neben dem Fenster schliefen, begannen zu schnarchen. Berta und Auguste-Viktoria, die Zwillingsschwestern im Bett nebenan, zogen sich die gemeinsame Zudecke über den Kopf. Im Bett an der Tür kuschelten Paula und Hubert sich eng aneinander.

Die Mutter ging von Bett zu Bett, zog den Kindern die Decken weg und gab den Kleinen einen Klaps auf den Po. „Beeilt euch! Wir sind spät dran.“ Dann verließ sie die Kammer. „Von wegen spät dran“, stöhnte Wilhelm, stand auf und guckte aus dem kleinen Fenster. „Halb fünf, höchstens.“ Dann zog er Franz und die Schwestern aus dem Bett. Die Großen nahmen ihre Sachen und gingen nach unten, um sich anzuziehen. Die Kammer war so klein, dass die Geschwister nur „portionsweise“ darin stehen konnten. Franz und Wilhelm halfen ihrem Vater, das Vieh zu füttern und die Ochsen einzuspannen. Berta und die Mutter molken die Kühe. Auguste-Viktoria war für das Frühstück und die jüngeren Geschwister zuständig.

Doch Paula und Hubert waren schon zum Großvater gelaufen und sahen zu, wie er die Hunde versorgte. Paula setzte sich auf Bellos Rücken und versuchte, auf ihm zu reiten.

„Wie oft habe ich dir schon gesagt, Tiere sind kein Spielzeug“, schimpfte Großvater Johann. Aber Bello lief bereits schwanzwedelnd mit seiner Reiterin auf die Dorfstraße. „Nimmst du mich mit, Großvater?“, fragte Hubert.

„Von wegen“, ertönte eine Stimme von hinten, und Auguste-Viktorias Arm zog ihn zur Pumpe. „Für die nächsten Jahre heißt es Schule, zack, zack! Jetzt aber erst mal Waschen.“ Geschickt drückte sie den kurz geschorenen Kopf des Bruders unter die Pumpe und ließ eiskaltes Wasser darüber laufen.

„Hör auf, es ist kalt“, brüllte Hubert.

„Hab dich nicht so, du Memme.“ Sie ließ nicht mit sich handeln und pumpte so lange, wie sie es für richtig hielt. Dann rubbelte sie den mageren, zitternden Jungen trocken und half ihm beim Anziehen. Jeden Morgen schwor Hubert Rache.

Gegen halb sechs saß die Familie in der Küche am Frühstückstisch. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“ Großvater Johann bekreuzigte sich.

„Amen“, murmelten die anderen und bekreuzigten sich ebenfalls.

Großvater Johann und der Vater tranken Malzkaffee und aßen jeder ein Wurstbrot. Die Kinder bekamen Milch und Marmeladenbrote. Die Mutter stand am Küchenschrank und packte einen Korb mit Proviant. Der Vater und Wilhelm würden zwei Tage mit dem Ochsenkarren unterwegs sein. Sie wollten Holz nach Aachen transportieren und von dort Garne zur Weberei Lenzen in die Kreisstadt bringen. „Ihr habt es gut. Wir müssen in die Schule“, stöhnte Franz. Er war dreizehn, hatte breite Schultern und sein Bart begann schon zu sprießen.

„Nicht mehr lange, dann kommst du mit uns", versuchte Wilhelm den Bruder zu trösten.

Hubert versuchte sich auszurechnen, wie lange es noch dauern würde, bis er mit dem Vater auf Fahrt gehen könnte. Aber ihn verließ schnell der Mut. Schließlich ging er erst seit ein paar Wochen in die Schule.

„Zacke“ betrat den Klassenraum. Die Kinder standen auf und nahmen Haltung an. Die Hände wie die Soldaten an der Hosennaht, den Blick nach vorn gerichtet, riefen sie: „Guten Morgen, Herr Lehrer!“

Der Lehrer hieß eigentlich Herr Brentano. Aber alle nannten ihn nur „Zacke“, weil er fast jeden Satz mit „zack, zack!“ beendete. Auch heute schritt er wieder wie ein General die Reihen ab und guckte dem einen oder anderen in die Ohren.

Kambach und Gieberg hatten zusammen nur eine Schule und einen Lehrer. Und der unterrichtete alle Kinder, von der ersten bis zur achten Klasse, in einem Raum.

„Setzen, zack, zack!“, ertönte das Kommando. „Auguste-Viktoria, du kontrollierst die Hausaufgaben der Klassen eins und zwei. Drei und vier schreiben eine Rechenarbeit. Fünf und sechs malen einen Soldaten. Sieben und acht schreiben auf ihre Tafeln, warum das deutsche Volk seinen Kaiser so liebt. Und nun los, zack, zack!“

Er schrieb die Rechenaufgaben an die Tafel und setzte sich ans Pult, direkt unter das Bild des Kaisers.

„Ihr wisst, ich kenne alle Tricks.“ Er achtete streng darauf, dass niemand abschrieb.

Früher war es Zackes größter Traum gewesen, einmal in der Armee des Kaisers dienen zu dürfen. Wie sehr hatte er sich darum bemüht. Doch die hatte ihn wegen seiner kaputten Kniescheibe nicht genommen. Völlig überflüssig war er sich auf dieser Welt vorgekommen. Am liebsten hätte er sich erschossen. Doch sein Onkel, ein preußischer Beamter, überzeugte ihn davon, dass man dem Kaiser auf verschiedene Art dienen könne. So wurde Zacke Lehrer und ließ sich aus Preußens Hauptstadt in die Provinz versetzen. Die Leute in der Eifel waren dafür bekannt, dass der liebe Gott ihnen mehr bedeutete als der Kaiser. Und das wollte Zacke ändern. Er hatte viele Bücher über die siegreichen Schlachten deutscher Armeen gelesen, war Fachmann für Militärstrategien und spielte alle wichtigen Schlachten der Vergangenheit mit den größeren Jungen nach. Das tat er mit so viel Begeisterung, dass einige aus dem Dorf nicht wie ihre Väter und Großväter Bauern, sondern lieber Soldaten werden wollten. „Die Hausaufgaben sind in Ordnung, was sollen die Kleinen jetzt tun, Herr Lehrer?“, fragte Auguste-Viktoria.

„Ich kümmere mich selbst darum. Mal du deinen Soldaten, zack, zack!" Er stand auf, ging an die Tafel.

„Die erste Klasse schreibt eine Reihe mit schönen geraden N.“ Er malte ein großes N an die Tafel.

„Die zweite Klasse schreibt fünfmal: Ich liebe mein deutsches Vaterland!“ Dann ging er zu den Kleinen und sah zu, wie sie die Buchstaben auf ihre Schiefertafeln kritzelten. Für die Großen war dies das Zeichen, nun doch voneinander abschreiben zu können. Und Hubert bewunderte, wie geschickt sie sich dabei anstellten.

„Das gehört sich nicht für ein Mädchen“

„Mach, dass du rauskommst, du verdorbenes Luder! Dir werde ich schon beibringen, was sich gehört.“

Der Vater schlug Auguste-Viktoria so heftig, dass ihre Nase zu bluten begann. Sie schrie und versuchte, die Hände schützend vor das Gesicht zu halten.

Paula drückte sich ängstlich an Berta und weinte. Die anderen sahen schweigend zu. Sie wussten genau, würden sie sich einmischen und den Vater bitten aufzuhören, bekämen sie selbst Ohrfeigen.

Der Vater und Wilhelm hatten Auguste-Viktoria und Anton Jenniches, einen fünfzehnjährigen Jungen aus dem Nachbardorf, erwischt, als sie allein hinter dem Heuschober im Gras saßen und Händchen hielten. Die ersten Ohrfeigen hatte Auguste-Viktoria gleich dort bezogen. „Mach den Stall sauber, füttere das Vieh, melk die Kühe! Und zwar allein!“, herrschte der Vater sie an. Dann schubste er die Tochter auf den Hof.

Niemand wagte etwas zu sagen.

Als der Vater sich endlich an den Tisch setzte, fragte Berta, ob sie der Schwester helfen dürfe, wenn sie auf ihr Essen verzichte.

„Du bleibst sitzen und isst jetzt!“, schrie er und spießte sich Bratkartoffeln auf die Gabel. Aber allmählich beruhigte er sich und fing ein Gespräch an.

„Du solltest dich auch auf Ochsen umstellen. Großvater.“ Der alte Mann winkte ab. „Was ich brauche, verdiene ich immer noch mit den Hunden. Und wer weiß, was kommt. In der Stadt reden viele von Krieg.“ Großvater Johann zog an seiner Pfeife,

„Quatsch. Die Städter bilden sich immer ein, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, nur weil sie manchmal Zeitung lesen. Wichtigtuer sind das. Hätten wir ein Ochsengespann mehr, könnten Wilhelm und du auch fahren, wenn ich mit dem anderen Gespann auf dem Feld arbeite. Wir könnten mehr Geld verdienen. Und das ist bitter nötig, bei den vielen Mäulern, die ich zu stopfen habe.“ Der Vater wurde wieder wütend.

Großvater Johann blieb ruhig. „Macht ihr Jungen, was ihr wollt. Ich fahre weiter mit den Hunden. Bisher hatten wir immer genug zu essen.“

„Bisher, Vater. Aber die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. In Gieberg haben sie sogar schon Pferdegespanne. Und die sind viel schneller als wir mit den Ochsen.“

„Sollen sie.“ Der Großvater ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Wütend stand der Vater auf und verließ Türen knallend die Küche.

Alle stocherten in ihrem Essen herum. Paula nutzte diesen Augenblick, nahm eine Scheibe Brot vom Tisch und ließ sie unauffällig in ihrer Schürzentasche verschwinden. Auguste-Viktoria würde nicht hungrig zu Bett gehen müssen.

Heuernte 1914

Die Stunde zwischen Nacht und Tag. Die Sonne begann den Himmel rot zu färben. Auf den Wiesen standen die Männer im Morgennebel und mähten Gras. Feucht ließ es sich am besten schneiden. „Sss, sss, sss“, hörte man das gleichmäßige Singen der Sensen. Es war schon der zweite Schnitt in diesem Sommer. Das Wetter war gut, und alle waren froh darüber. Sie würden genug Heu einfahren und so das Vieh über den Winter bringen. Anders als im letzten Jahr. Da mussten viele Tiere notgeschlachtet werden. Schon im Februar hatten die meisten Bauern nicht mehr genug Futter gehabt.

Seit vier Uhr arbeiteten die Männer. Auch Großvater Johann, Vater, Wilhelm und Franz. Um sechs Uhr brachten die Mutter, Auguste-Viktoria und Berta ihnen das Frühstück. Dann nahmen sie einen Holzrechen und begannen das gemähte Gras zu wenden, damit es gleichmäßig in der Sonne trocknen konnte.

Jeder im Dorf, der arbeiten konnte, half in diesen Tagen. Die Frauen brachten ihre Babys mit und legten sie an den Rand der Wiese. Wenn sie schrien, wurden sie gleich an Ort und Stelle gestillt und dann wieder abgelegt. Man durfte keine Zeit verlieren. Sogar die Gottesdienste und Schulferien richteten sich nach der Heuernte. Das war anders als in der Stadt. Im Dorf wussten auch Lehrer und Pfarrer: Nur wer genug Futter für sein Vieh einfahren kann, bekommt die Tiere im Winter satt. Nur so hatte man Milch, konnte Butter daraus machen und besaß etwas zum Verkaufen oder Tauschen.

Hubert und Paula sollten nachkommen, sobald sie die Johannisbeeren im Garten gepflückt hatten. Die Mutter wollte Marmelade für den Winter kochen.

„Hubertchen!“, schrie Paula plötzlich.

Fritz und Bello kläfften und knurrten. Auf der Straße tauchte ein eigenartiges Gefährt auf. Zwischen zwei Speichenrädern saß ein junger Mann. Mit den Händen hielt er sich an einer Stange fest. Mit den Füßen trat er auf zwei Klötze, sodass die Räder sich bewegten. Sein schwarzer Umhang flatterte im Wind.

„Ist das der Teufel?“, fragte Paula ängstlich.

„Das ist Satan!“ Hubert machte es Spaß, seine Schwester zu ängstigen. Als sie schreiend ins Haus laufen wollte, hielt er sie fest. „Nein, du Dumme, das ist ein Mann auf dem Fahrrad." In der Kreisstadt hatte er so etwas schon gesehen.

Als der Mann anhalten wollte, drohte er umzukippen.

„Die anderen sind im Heu“, rief Hubert ihm zu.

„Danke!“ Er konnte die Balance gerade noch wieder finden und fuhr weiter.

August Schneider, so hieß der Mann, kam jeden Sommer nach Kambach, früher allerdings zu Fuß. Auf dem Rücken trug er ein Holzstativ, ein schwarzes Tuch und einen Holzkasten, den er später auf das Stativ stellte.

August Schneider war Fotograf. Hubert kannte ihn. In der Kreisstadt lief er oft auf dem Viehmarkt umher und fotografierte Mensch und Tier. Er schrieb auch für die Zeitung. Aber in Kambach halte niemand Geld, um sich eine Zeitung zu kaufen. Hier traf man August Schneider zur Erntezeit. Dann zog er über die Dörfer und fotografierte die Menschen vor ihren Häusern oder bei der Arbeit. Denen, die fünfzig Pfennig bezahlen konnten, brachte er später das Foto vorbei.

Huberts Familie besaß schon ein Bild. Herr Schneider hatte es vor einem Jahr aufgenommen, als Großmutter Therese noch lebte. Es hing in der Küche.

Plötzlich schlugen Fritz und Bello wieder an.

Zacke kam mit lautem Hurrageschrei auf den Hof gelaufen und rief: „Hubert, spann die Hunde ein.“

„Das darf ich nicht ohne den Großvater, Herr Lehrer.“

„Doch, ich verantworte es. Spann die Hunde ein, wir haben Großes zu verkünden.“

Das ließ sich Hubert nicht zweimal sagen.

„Los, Soldaten, lauft fürs Vaterland.“ Zacke stieg auf.

„Halt, ich will auch mit", jammerte Paula.

Der Lehrer zog sie auf den Wagen, dann ging die Post ab. Die Hunde rasten los. Paula hielt sich ängstlich an ihrem Bruder fest. Zacke stand hinten, winkte mit den Armen und brüllte: „Hurra, hurra! Hoch lebe unser Kaiser!“ Doch das Dorf war menschenleer.

Als sie die Wiese erreichten, bremste Hubert so stark, dass der Lehrer vom Wagen fiel. Die Kinder grinsten.

„Um Gottes willen, was ist passiert?“, fragte die Mutter. „Beruhigen Sie sich! Wir haben großartige Nachrichten.“ Bevor ihm jemand helfen konnte, hatte Zacke sich wieder hochgerappelt und den Staub aus den Kleidern geklopft. Mit ausgestreckten Armen ging er auf den Vater und Großvater Johann zu. „Wir haben Krieg! Deutschland hat Russland und Frankreich den Krieg erklärt. Ist das nicht wunderbar! Es ist Krieg! Ich gratuliere!“ Er schüttelte jedem die Hand, umarmte Wilhelm, Franz und den Fotografen. „Ihr werdet tapfere Soldaten sein! Ich gratuliere!“

„Woher wissen Sie. dass es Krieg gibt?“, fragte die Mutter, Sie schien sich nicht zu freuen.

Herr Blume aus dem Nachbardorf hatte dem Lehrer die Nachricht eben gebracht.

„Hubert, mein kleiner Soldat, lass uns weiterfahren und den Bauern, den Wöchnerinnen und Kranken die gute Nachricht verkünden.“

Hubert sah Großvater Johann an. Der nickte.

„Gleich, Herr Lehrer, gleich“, sagte der Fotograf. Zuerst wollte er noch sein Foto machen.

„Aber sicher. So viel Zeit muss sein, auch an diesem historischen Augusttag.“ Zacke beobachtete, wie die Familie sich zum Gruppenfoto aufstellte.

„So, jetzt bitte recht freundlich“, rief August Schneider. Doch alle waren noch zu sehr mit Zackes Nachricht beschäftigt und guckten eher nachdenklich in den Kasten. Hubert versuchte sich vorzustellen, was das sei, Krieg. Wirklich das, was die großen Jungen nachmittags immer auf dem Schulhof spielten?

Was Krieg ist ...

,Achtung!“ Der Pastor bat die Mitglieder des Kirchenchors um Aufmerksamkeit. Dann fingen alle an, ein Loblied auf den Kaiser zu singen.

Zacke stand mit den übrigen Dorfbewohnern am Straßenrand. Als das erste Pferdefuhrwerk, das eine Kanone zog, sich dem Ort näherte, gab er den anderen ein Zeichen. „Hurra, hurra, hurra!“, schrien die Menschen. Dann marschierten die ersten Soldaten vorbei, Pickelhaube auf dem Kopf, das Gewehr mit Bajonett auf dem Rücken. Die Mädchen warfen den Soldaten Blumensträuße zu. Die Jungen versuchten im Gleichschritt nebenher zu marschieren. „Gott schütze euch, ihr tapferen Soldaten!“ Der Pastor segnete die Vorbeimarschierenden. Als die Dorfbewohner Hermann Theisen und David Blume in ihren Uniformen erkannten, klatschten und schrien sie noch lauter.

„Wir sind stolz auf euch, Hermann Theisen und David Blume“, jubelte Zacke. Er hatte Tränen in den Augen - vor Glück, diesen Augenblick erleben zu dürfen, und vor Kummer, nicht selbst mit ins Feld ziehen zu können.

„Stillgestanden!“ Ein Offizier ging auf Hermann Theisen und David Blume zu. „Rühren und zwei Minuten Abschied nehmen!“ Die Kinder liefen zum Vater. Er nahm Paula und Hubert auf den Arm. „Hört auf die Mutter!“ Dann umarmte er Wilhelm und Franz. Berta und Auguste-Viktoria steckten dem Vater Blumen ans Bajonett und küssten ihn zaghaft auf die Wange. Die Mutter weinte, und auch Großvater Johann hatte Tränen in den Augen, als er sich von seinem Sohn verabschiedete.

„Komm gesund wieder, Hermann“, bat die Mutter.

„Bestimmt,“ Hermann Theisen umarmte seine Frau ein letztes Mal. Dann rückte er ins Glied zurück.

„Im Gleichschritt, marsch!“, ertönte das Kommando. Die Soldaten zogen weiter.

„Nur noch wenige Kilometer, dann werden sie die belgische Grenze überschreiten und zum ersten Mal Feindberührung haben“, sagte der Lehrer.

Die Zuschauer am Straßenrand jubelten, lachten und winkten. Nur die Mutter weinte. Das verstand Hubert überhaupt nicht. Frau Blume kam zu ihr. „Es wird schon nicht so schlimm werden. Weihnachten sind sie bestimmt wieder zu Hause.“

Doch sie sollte sich irren.

Fast ein Jahr war der Vater nun schon im Krieg.

Zacke zeigte seinen Schülern jeden Morgen eine Landkarte. Überall dort, wohin die deutschen Soldaten in Europa vorgedrungen waren, steckten schwarz-rot-goldene Fähnchen. „Endlich geht es Frankreich an den Kragen. Jeder Stoß ein Franzos!“, rief Zacke.

Und die Klasse brüllte im Chor: „Was schert uns Russe und Franzos, Schuss wider Schuss und Stoß wider Stoß.“

Hubert konnte sich immer noch nicht richtig vorstellen, was Krieg eigentlich war. Für die Kinder hatte sich ja wenig geändert. Sicher, sie mussten zu Hause, auf dem Hof noch mehr helfen als vorher. Doch das ging ja allen so. Die Mutter war oft traurig und weinte viel. Die anderen Kinder erzählten dasselbe von ihren Müttern. Zacke wies sie täglich darauf hin. dass auch sie nun kleine tapfere Soldaten seien, die ihren Dienst gewissenhaft an der Heimatfront zu erfüllen hätten. Huberts Bruder Franz und Egidius, ein Nachbarjunge, hatten die Schule vorzeitig verlassen dürfen, weil ihre Väter an der Front waren.

Nach dem Unterricht lief Hubert zu seiner Schwester Paula. Sie hütete die Kühe. Damals gab es noch keine Zäune. Das Vieh musste bewacht werden, und das war Aufgabe der Kinder. Die Geschwister aßen ihre Butterbrote, dann machte Hubert Hausaufgaben. Paula beobachtete, wie er Buchstaben und Zahlen auf seine Schiefertafel krakelte. Sie wollte alles ganz genau wissen. Warum das i ein Pünktchen über dem Strich habe und das ü zwei. So lernte sie lesen und schreiben, bevor sie in die Schule kam, Hubert berichtete auch ausführlich vom siegreichen Kampf der Soldaten.

„Hat Zacke vom Vater gesprochen?“, fragte Paula. „Natürlich“, log er und erzählte, wie der Vater tapfer, die Fahne in der Hand, vor den anderen Soldaten hermarschierte, wie er den Feind aus dem Hinterhalt lockte und ihn vom Baum schoss.

„Wie sieht so ein Feind aus?“, wollte Paula wissen.

Hubert dachte nach. „Na eben wie ein Franzose.“

„Aber wie sieht ein Franzose aus?“

Das wusste Hubert auch nicht. Allerdings war er sicher, dass jeder Franzose böse aussah.

Als Paula und Hubert die Kühe nach Hause in den Stall getrieben hatten, erlebten sie eine Überraschung.

„Wascht euch! Der Braten ist gleich fertig“, sagte die Mutter.

„Braten?“

„Ja, es gibt Kaninchen.“

Fleisch gab es sonst nur sonntags oder an Feiertagen. Heute war aber Dienstag. Die Mutter hatte sich eine saubere Schürze umgebunden, und seit langer Zeit war sie wieder einmal fröhlich.

Die Kinder wollten wissen, warum es Kaninchenbraten gab. „Wenn alle am Tisch sitzen, erfahrt ihr es.“

Endlich kamen auch Großvater Johann, Franz und Wilhelm.

„Beeilt euch, es gibt Fleisch“, rief Paula.

„Das passt gut“, sagte der Großvater.

Nun wunderten sich die Kinder noch mehr. Als endlich alle um den Tisch versammelt waren, zog die Mutter einen Brief aus der Schürzentasche und hielt ihn hoch.

„Vater hat geschrieben“, schrien alle durcheinander.

„Aber der kann doch gar nicht schreiben“, staunte Paula und begann mal wieder zu popeln. Doch niemand bemerkte es in der Aufregung. Dann hörten alle mucksmäuschenstill zu.

„Meine Lieben.!

Ich hoffe, ihr seid gesund. Meine Kameraden und ich liegen vor Verdun, einem kleinen Ort in Frankreich. Mein Kamerad David Blume sitzt neben mir und bringt meine Gedanken zu Papier.“

„Ach so.“ Paula lehnte sich an.

„Sei endlich still, sonst setzt es was", zischte Auguste-Viktoria die kleine Schwester an.

Die Mutter las weiter: „Auf dem Weg hierher haben wir verbrannte und zerstörte Felder gesehen. Die Orte, die wir durchquerten, waren menschenleer, die Häuser zerstört. Wir hörten die zurückgelassenen Kühe vor Schmerzen schreien, weil sie nicht gemolken wurden. Meine Gedanken sind oft bei euch. Habt ihr die Kartoffeln geerntet und eingemietet? Ist die Wintersaat im Boden? Lieber Vater, ich bin so froh zu wissen, dass du meiner Frau zur Seite stehst. Und ich erwarte von euch Kindern, dass ihr den Anweisungen des Großvaters folgt. Auch ihr, Wilhelm und Franz.

Auguste-Viktoria und Berta, benehmt euch wie anständige Mädchen, helft der Mutter und geht nicht ohne Wilhelm oder Großvater ins Nachbardorf.“

„Warum denn nicht?“, wollte Paula wissen. „Das ist doch nicht so weit, ich geh doch auch allein.“

Berta hielt ihr den Mund zu.

„Liebe Frau, sorge dich nicht um mich. Mit Gottes Hilfe werde ich gesund nach Hause zurückkehren.

Betet für meine Kameraden und für mich. Ich denke voller Liebe an euch. Euer Hermann und Vater. “

Die Mutter hatte Tränen in den Augen, als sie den Brief auf den Tisch legte.

„Gib ihn mir, ich möchte ihn auch noch einmal lesen“, bat Auguste-Viktoria.

„Ich auch“, sagte Berta,

„Betet für meine Kameraden und für mich, hat der Vater geschrieben“, sagte Großvater Johann ruhig, aber streng und faltete die Hände. Die Kinder taten es ihm nach, und einige Minuten herrschte Stille. Dann ließen sich alle das Kaninchen schmecken.

„Darf ich aufstehen und den Hunden die Knochen bringen?“, fragte Hubert. Die Mutter nickte.

Doch der Großvater bat den Enkel, sitzen zu bleiben. Auch er zog einen Umschlag aus der Tasche.

„Noch ein Brief?“, fragte Paula erstaunt.

Der Großvater schüttelte den Kopf und nahm zwei Fotos aus dem Umschlag.

„Das sind ja wir bei der Heuernte“, staunte Paula. Großvater Johann hatte beide Fotos von August Schneider, dem Fotografen, bekommen. Eines sollten sie dem Vater an die Front schicken.

„Schade, dass wir kein Papier haben, sonst könnten wir dem Vater auch schreiben“, sagte Auguste-Viktoria.

Aber der Großvater hatte auch daran gedacht und Briefpapier bei Frau Blume gekauft.

Berta räumte den Tisch ab. Auguste-Viktoria holte Tinte und Federhalter. Dann schrieben sie dem Vater, was in der Zwischenzeit zu Hause passiert war.

Doktor Salomon

Januar 1916. Das zweite Weihnachtsfest ohne den Vater lag hinter ihnen. Albert Braun, der Nachbar, hatte zur Beerdigung seines Vaters Sonderurlaub bekommen. Auch andere Männer waren in der Zwischenzeit auf Urlaub in Kambach gewesen. Aber keiner hatte so begeistert von Heldentaten berichtet, wie Zacke das jeden Morgen in der Schule tat. Im Gegenteil, wenn die Kinder die Soldaten nach dem Krieg fragten, hieß es: „Lass mich in Ruhe.“

Völlig verwirrt war Hubert dann an jenem Tag, als er sah, wie Albert Braun sich weinend von seiner Frau verabschiedete, weil er an die Front zurückmusste. Dass die Frauen bei vielen Gelegenheiten heulten, daran hatte er sich gewöhnt. Aber für einen Mann gehörte es sich nicht zu weinen, das hatten die Großen ihm beigebracht. Hubert war sicher, dass sein Vater niemals weinen würde. Ganz sicher nicht, wenn er zum Ruhme seines Vaterlandes wieder in den Krieg ziehen durfte.

Inzwischen stand in Kambach auch niemand mehr an der Straße und jubelte, wenn ein Soldat aus dem Dorf zurück an die Front musste.

Hubert rannte zu den anderen Kindern und balgte sich mit ihnen im Schnee. Dann sah er, wie Paula Bello aus dem Stall holte. Sie band ihm eine Leine um, befestigte am anderen Ende ein Brett und stellte sich darauf. Bello zog sie durch den Schnee.

„Los. Bello! Lauf!“ Begeistert feuerte Paula den Hund an. Der fiel in seinen Zockelgalopp.

„Paula, pass auf“, rief Hubert. „Großvater wird schimpfen.“

.Ach was.“ Sie lachte. „Er ist im Stall, und Bello petzt nicht.“ Vergnügt ließ sie sich ziehen.

Plötzlich geriet sie ins Straucheln. „Pass auf“, brüllte Lisbeth. Aber es war schon zu spät. Paula konnte sich nicht mehr halten. Sie flog im hohen Bogen gegen einen Baum und dann in den Schnee. Aufgeregt rannten die Kinder zu ihr. Da lag sie. kreidebleich. Unter ihrem Kopftuch rann Blut hervor. Bello war stehen geblieben und beschnüffelte sie winselnd.

„Ist sie tot?“, fragte Margaretha.

„Nein, lieber Gott, lass sie nicht tot sein“, bat Hubert.

Die Mutter kam angelaufen, kniete sich neben Paula, fühlte ihren Puls, streichelte das Gesicht und legte das Ohr an ihren Mund. „Sie atmet, Gott sei Dank.“ Dann trug sie die Tochter nach Hause und legte sie auf den Küchentisch. Sie war immer noch bewusstlos.

„Holt Doktor Salomon!“, bat die Mutter.

„Nein, pack das Kind warm ein. Ich fahre mit ihr zum Doktor“, sagte Großvater Johann.

Wilhelm wollte die Ochsen einspannen. Doch Großvater Johami hielt ihn zurück. „Die Ochsen sind zu langsam. Außerdem könnten sie sich auf dem gefrorenen Boden leicht ein Bein brechen.“

„Dann komme ich mit“, sagte Wilhelm.

„Nein“, erwiderte Großvater Johann. „Wir beide und das Kind auf dem Schlitten, dann sind die Hunde zu langsam. Hubert, zieh dich dick an, du kommst mit.“

Er ging, um die Hunde vor den Schlitten zu spannen. Die Mutter und Wilhelm wickelten Paula vorsichtig in eine Decke und packten noch einen Schafspelz um sie. Auch Hubert wurde zu einem warmen Paket geschnürt und auf den Schlitten gesetzt. „Pass auf, damit sie unterwegs nicht runterfällt“, rief die Mutter ängstlich.