Fluchtweg Eifel - Katharina Schubert - E-Book

Fluchtweg Eifel E-Book

Katharina Schubert

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Beschreibung

Die Eifel an der Grenze zu Belgien – fast nichts deutet heute noch darauf hin, dass dies einmal ein scharf bewachtes Gebiet war. „Ziemlich uninteressant“, meint Felix. Sein Onkel, bei dem er die Ferien verbringt, will ausgerechnet in dieser trostlosen Gegend einen Film über Flüchtlinge drehen. Ob er Lust habe, an den Vorarbeiten teilzunehmen, fragt er. Felix ist nicht sonderlich begeistert. Und dann werden es doch spannende Ferien. Das Buch erzählt von Flüchtlingen und Fluchthelfern zur Zeit des Faschismus; davon wie ein Dokumentarfilm entsteht. Und von Felix’ Ferien. Für Leser ab 11 Jahre. Und für alle, die die aktuelle Diskussion um Grenzen, Asyl und wiederaufkeimenden Rassismus bewegt. INHALT: „... was soll hier schon passiert sein?“ „... an Juden darf kein Vieh verkauft werden.“ „... einen halben Koffer Platz.“ „... ich kam mit zwanzig Juden im Schlepptau.“ „... zu Hause wäre er jetzt allein.“ „... plötzlich kam er nicht mehr.“ „... hier gibt es nichts zu löschen.“ „... jetzt nur nicht schlappmachen.“ „... Befehl ist Befehl.“ „... ich bin heute noch stolz auf unseren Vater.“ „... vom Fernsehen sind Sie; das ist etwas anderes.“ „... war schon gruslig, das mit anzusehen.“ „... es ist zum Verrücktwerden.“ „... wie sollen wir ihr Grab finden?“ „... das Weinen dieser Mutter habe ich mein Leben lang nicht vergessen.“ „... da war so viel Hoffnung in ihren Augen.“ „... allein wären sie hier verloren gewesen.“ „... wenn Menschen vergessen, was Erbarmen heißt.“ Nachwort Kartenskizze

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Impressum

Katharina Schubert

Fluchtweg Eifel

Spurensuche an einer kaum beachteten Grenze

ISBN 978-3-86394-011-9 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1992 im Gertraud Middelhauve Verlag GmbH & Co. KG, Köln und Zürich.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Fotos: Dietrich Schubert

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Die Fluchtgeschichten, die in diesem Buch erzählt werden, sind alle so passiert. Allerdings wurden einige Namen auf Wunsch der Betroffenen geändert.

„... was soll hier schon passiert sein?“

Die Grenze

Die Eifel. Eine raue Landschaft

Gerade, wie mit dem Lineal gezogen, verläuft die Straße. „Wir fahren direkt auf der Grenze spazieren“, sagt Dietrich am Steuer seines Geländewagens. „Links ist Deutschland, rechts Belgien.“

„Grenzen, wen interessieren die heute schon?“ Felix jedenfalls nicht. Er sitzt neben seinem Onkel im Wagen und beguckt sich die Kühe, die auf ihren Wiesen stehen und wiederkäuen. Hier in der Eifel, wo Felix seine Herbstferien verbringt, sind sogar die Zollhäuschen leer. Nie hat ihn jemand nach seinem Kinderpass gefragt. Trotzdem trägt er ihn immer bei sich, in der Jackentasche. Für alle Fälle.

„Bei uns in Berlin gab es früher eine richtige Grenze. Dicke Betonmauern um die ganze Stadt. Stacheldraht. Und bewaffnete Grenzer, die immer unfreundlich waren, auch wenn man einen gültigen Pass hatte.

Und hier: Kühe, sonst nichts.“

Nein, das imponiert Felix nicht.

„Stimmt schon“, meint sein Onkel.

Für ihn ist es trotzdem wichtig, viel über diese Grenze und das Leben der Leute hier zu erfahren.

Als Vorbereitung für einen Film. Dietrich ist nämlich Filmemacher von Beruf.

„Wird es endlich mal ein Krimi? Mit Gangstern, Verfolgungsjagden und schnellen Autos?“

„Nein“, sagt Dietrich. „Ein Dokumentarfilm.“

Felix ist enttäuscht.

„Aber ein spannender, das hoffe ich jedenfalls“, fügt der Onkel tröstend hinzu.

„Wenigstens etwas.“

„Interessiert es dich, worum es in dem Film gehen wird?“

„Nicht besonders. Was soll hier schon passiert sein. Vielleicht ist mal ’ne Kuh über die Grenze gelaufen, und der Bauer hat sie gesucht. Wenn du schon angefangen hättest, den Film zu drehen, dann wäre das Team hier, und ich könnte euch helfen.“

„Kannst du so auch.“

„Wir fahren direkt auf der Grenze spazieren.“

„... an Juden darf kein Vieh verkauft werden.“

Die ersten Recherchen

Der Geländewagen von Onkel Dietrich

Als sie auf den Bauernhof fahren, kommt ihnen ein kläffender Hund entgegen.

„Freundliche Begrüßung.“ Felix bleibt vorsichtshalber erst einmal im Auto sitzen. Er guckt sich um.

Neben einer großen Kastanie, die nur noch wenige Blätter hat, steht ein altes Fachwerkhaus mit kleinen Fenstern und einer Holztür. Der Putz bröckelt. An der Giebelseite sind die Überreste eines Backofens zu erkennen. Dicht daneben ein großes, neues Haus. Fenster, die viel Licht reinlassen. Schmiedeeisernes Balkongeländer. Glastür mit Messingklinke. Gepflegte Blumenbeete neben der Eingangstür.

Auf der anderen Seite ist ein großer Stall. Davor stehen zwei Traktoren, Pflug, Egge und Miststreuer. Daneben ein großer Misthaufen.

Ein alter Mann mit einem großen, schwarzen Hut guckt aus der Stalltür.

Der Kläffer beruhigt sich. Dietrich und der alte Mann begrüßen sich herzlich. Man spürt, dass sie sich kennen und mögen.

Der Bauer bittet um Entschuldigung. Die Kuh Frieda hat heute Morgen gekalbt. Da ist er spät dran.

Er schiebt Felix in den Stall und führt ihn an den Kühen vorbei zum Kälbchen.

„Bah, stinkt das hier!“, stöhnt der und hält sich die Nase zu. Wer den ganzen Dreck wegmachen muss, will Felix wissen.

„Mein Sohn und ich. Zweimal am Tag, musste ich schon, als ich so alt war wie du.“

Felix ist froh, ein Stadtkind zu sein.

Sie sitzen im Wohnzimmer des neuen Hauses.

Durch das Fenster sieht Felix das kleine Fachwerkhaus, das ihm besser gefällt. Der Bauer hat ihm erzählt, dass er früher dort gelebt hat. Zuerst mit den Eltern, Großeltern und Geschwistern. Später dann mit seiner eigenen Familie.

Eng ist es da gewesen. Kein Platz für Badezimmer und Toilette. Erst als seine Kinder groß waren, haben sie das neue Haus gebaut. In dem alten wohnt nur noch der Hund.

Auf dem Tisch stehen Kekse und Limo, ein Rekorder und Kassetten. Felix muss darauf achten, dass sie rechtzeitig gewechselt werden. Ein bisschen kommt er sich wie ein Reporter vor.

Der Bauer erzählt von einem Erlebnis aus dem Jahr 1937. Siebzehn Jahre alt war er damals, der junge Leonard.

Die Kinder auf dem Land mussten ihren Eltern von klein auf bei der Arbeit helfen. Im Stall und auf dem Feld.

Einmal in der Woche standen alle um vier Uhr morgens auf, versorgten das Vieh und frühstückten.

Dann machte sich der Vater mit Leonard, dem Bruder und zwei Ochsen zu Fuß auf den Weg in die zwölf Kilometer entfernte Kleinstadt. Dort war Viehmarkt.

Auf dem Marktplatz Riesengetümmel: Kühe, Ochsen, Pferde, Schafe, Hühner, Kaninchen. Alles, was es an Viehzeug gab, konnte man hier kaufen.

Menschen aus der ganzen Eifel trafen sich; Bauern, viele mit ihren Söhnen.

Dazwischen Männer mit großen, schwarzen Hüten und langen, schwarzen Mänteln. Viehhändler, die von Bauer zu Bauer gingen, ein Schwätzchen hielten und dabei die Tiere begutachteten. Frauen und Mädchen sah man hier nicht. Die mussten Haus und Hof versorgen. Hausarbeit war damals Frauensache.

Als Felix das hört, fällt ihm seine Cousine ein. Wenn er die bittet, den Tisch abzuräumen, sagt sie schnippisch: „Ich bin doch nicht dein Dienstmädchen.“

Auf dem Viehmarkt gab es auch Polizisten, die für Ordnung sorgten. Nach einem guten Geschäft kam es schon mal vor, dass jemand ein Glas zu viel trank und randalierte.

Seit einiger Zeit liefen hier auch Männer in Ledermänteln herum. Die waren von der Geheimen Staatspolizei. Sie hatten ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen, den Mantelkragen hochgeschlagen und beobachteten mit finsterer Miene, wie die Leute Geschäfte miteinander machten.

Aus einigen Häusern rund um den Marktplatz hingen lange Hakenkreuzfahnen.

Leonards Vater kam mit einem Viehhändler ins Geschäft, der beide Ochsen kaufen wollte.

Der Bauer nannte den Kaufpreis,

Der Händler rief entsetzt: „Viel zu teuer!“, und nannte einen weitaus niedrigeren Betrag.

Da rief Leonards Vater: „Unmöglich, das ist viel zu wenig!“

Der Händler ging zum nächsten Bauern. Kam wieder. Erhöhte sein Angebot. Leonards Vater war das immer noch zu niedrig. Doch langsam kamen sie sich näher und einigten sich irgendwo in der Mitte. Per Handschlag besiegelten die Männer ihr Geschäft.

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Bahnhof, um die Ochsen zu verladen.

Dort kontrollierte ein Bahnbeamter die Papiere. Als er sah, dass alles seine Richtigkeit hatte, stempelte er sie ab und schloss die Tür des Waggons, in dem die Ochsen auf die Reise gehen sollten.

Plötzlich kamen zwei Männer über die Schienen gelaufen. Noch völlig außer Atem, begannen sie zu toben. Die Ochsen müssten sofort wieder ausgeladen werden. Der Handel wäre ungültig, weil der Viehhändler Jude sei. Und an Juden dürfe in Deutschland kein Vieh mehr verkauft werden. Der Bauer und seine Söhne hätten sich strafbar gemacht.

Nun bewies der Bahnbeamte denen im Ledermantel, dass auch er eine Amtsperson war.

Er zeigte ihnen die abgestempelten Papiere. „Ihnen ist eindeutig zu entnehmen, dass die Fracht rechtmäßig bezahlt wurde. Deshalb werden die Ochsen auch ordnungsgemäß mit der Bahn transportiert. So sind nun einmal die Vorschriften. Es sei denn, einer der anwesenden Herren kann beweisen, dass es sich bei den Ochsen um Diebesgut handelt.“

Streng guckte er in die Runde und entdeckte dabei erstaunt, dass einer fehlte: der Viehhändler. Der war in einem unbeobachteten Augenblick zwischen den Waggons verschwunden.

Die Gestapoleute drohten: „Das hat ein Nachspiel!“

Vater und Söhne sollten mitkommen. Sie wollten ihre Personalien feststellen und die drei fotografieren lassen. Die Fotos sollten dann am nächsten Markttag an das Schwarze Brett geheftet werden.

»Als abschreckendes Beispiel für die, die immer noch nicht begriffen haben, dass es in Deutschland verboten ist, an Juden zu verkaufen!“, brüllt der eine.

Mit gebeugten Köpfen liefen die drei hinter den Gestapomännern her. Ihnen war mulmig zumute. Plötzlich gab der Vater den Söhnen ein Zeichen. So schnell sie konnten, liefen sie in verschiedene Richtungen auseinander und versteckten sich zwischen den Waggons, die auf den Abstellgleisen standen.

Das Herz klopfte Leonard bis zum Hals. Doch die Überraschung war geglückt.

Aus ihren Verstecken sahen sie, wie die Gestapoleute ihre Suche schließlich abbrachen.

Wenige Wochen später, die Familie hatte gerade das Vieh gefüttert und kam aus dem Stall, stand plötzlich der jüdische Viehhändler im Hof und zog den Bauern beiseite.

Die Männer kannten sich seit vielen Jahren. Schon ihre Väter hatten Geschäfte miteinander gemacht.

Nun wollte sich der jüdische Viehhändler von Leonards Vater verabschieden. Die Nazis hatten ihm inzwischen alles weggenommen. Seine Angehörigen waren eines Morgens von der Gestapo abgeholt und auf einen LKW geladen worden. Niemand wusste, wohin man sie gebracht hatte. Hier in Deutschland fürchtete er um sein Leben. Er wollte nach Belgien, besaß aber keine gültigen Papiere mehr. Da der Viehhändler sich gut in der Gegend auskannte, war es für ihn jedoch kein Problem, unbemerkt über die Grenze zu kommen.

Andere jüdische Flüchtlinge dagegen waren auf die Hilfe der Leute in den Grenzdörfern angewiesen.

Dietrich fragt den Bauern, ob er Leute kennt, die den Juden damals geholfen haben, über die Grenze zu kommen.

„Die Leute hier reden nicht gern über jene Jahre.“

„Dann wird es Zeit, dass sie damit anfangen.“ Dietrich lässt nicht locker.

Nach einigem Zögern gibt der alte Mann ihnen den Rat, ein paar Dörfer weiterzufahren und den alten Mocks zu suchen.

„Irgendwo in der Nähe der Kirche wohnt der jetzt. Aber sagt bitte nicht, dass ich euch diesen Tipp gegeben habe.“

Dietrich und Felix versprechen es und verabschieden sich.

Onkel Dietrich ist Filmemacher

„... einen halben Koffer Platz.“

David Brodsky

Wieder fahren sie auf der Straße, die gleichzeitig die Grenze ist.

Jetzt sieht Felix nicht mehr gelangweilt aus dem Fenster. Noch immer stehen die Kühe auf den Wiesen und gucken den Autos hinterher.

„Seit ein paar Wochen haben wir einen jüdischen Jungen in unserer Klasse, David Brodsky. Vor zwei Jahren ist er mit seinen Eltern und der kleinen Schwester von Russland nach Israel ausgewandert, weil die Juden in der ehemaligen Sowjetunion schlecht behandelt wurden. Sie mussten fast alles zu Hause lassen, konnten nur zwei Koffer mitnehmen.

>Einen halben Koffer Platz hab’ ich gehabt<, sagt David, wenn ihm einfällt, was er alles zurücklassen musste. Von Israel ist die Familie dann nach Berlin gekommen. Und jetzt wollen die deutschen Behörden, dass die Brodskys wieder nach Israel zurückgehen. Die Familie will aber in Deutschland bleiben. Unsere Lehrerin und wir wollen das auch. David spricht zwar noch nicht so gut Deutsch, macht aber für die halbe Klasse Matheaufgaben und ist der beste Mittelstürmer der ganzen Schule.“

„... ich kam mit zwanzig Juden im Schlepptau.“

Der alte Mocks

Panzersperren aus dem Zweiten Weltkrieg

Vom Beifahrersitz beobachtet Felix, wie sein Onkel auf die Eingangstür eines kleinen Hauses zugeht. Er klingelt. Nichts geschieht. Er klingelt noch einmal. Endlich öffnet sich die Tür einen Spalt. Ein alter Mann mit Brille guckt heraus.