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"Nicht schon wieder Lappland!", sagen alle unsere Freunde, "ihr wart doch schon ein paarmal dort!" Von unseren Freunden ist zwar noch keiner in Lappland gewesen und trotzdem wissen sie genau, dass es nichts für uns ist. Ich gebe zu, dass unsere wiederholten Touren hinter den Polarkreis auch mit dem Heiligen Abend zu tun haben, denn meistens habe ich bis zum 24.12. noch kein Geschenk für meine Frau und dann fällt mir eben nur ein Gutschein für die nächste Lapplandwanderung ein, denn ich weiß genau, dass sie sich riesig darüber freut. Und dass Lappland eine unvergleichliche Wandergegend ist, das sage ich unseren Freunden auch jedes Mal, aber da rollen sie nur mit den Augen. Scharfsinnig und mit erfrischenden Beobachtungen ausgestattet, beschreibt Hatto Zeidler seinen Weg nach und durch Lappland in unterhaltsamen Episoden – von den Vorbereitungen, Erlebnissen und Überraschungen, von körperlichen und emotionalen Anstrengungen, von der Einsamkeit und der Mystik dieser Welt hinter dem Polarkreis und schließlich von einem einzigartigen Freiheitsgefühl.
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Seitenzahl: 183
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Nach Lappland hat mich meine Frau mitgenommen. Für sie ist es das Land der Mystik. Für mich hat sich allerdings schon auf der ersten Wanderung ganz Anderes gezeigt. Diese erste Wanderung war zugleich unsere Hochzeitsreise, denn die kirchliche Trauung sollte unbedingt in einer lappländischen Erdhüttenkirche stattfinden. Das sei der Gegenentwurf zum Petersdom, sagte sie, alles sei auf das Wesentliche reduziert und darauf käme es doch an.
Der ersten Wanderung folgten in den nächsten Jahren zwei weitere, alle mit ganz seltsamen Erlebnissen. Und wenn man tagelang dahinstapft, kann es sein, dass sich das ganze bisherige Leben in Erinnerung bringt.
Wir reisen gerne langsam, zu Fuß, mit Bahn, Bus und Schiff. Auf der Reise in den hohen Norden wird die Nacht immer heller, die Landschaft immer einsamer und die Menschen immer einprägsamer. Davon handelt dieses Buch.
Wer es genauer wissen will:
1. Wanderung: Von Ritsem auf dem Padjelantaleden und dem Nordkalottleden nach Sulitjelma, mit dem Bus nach Bodö und per Schiff nach Trondheim. Von dort mit der Bahn nach Båstad in Südschweden zur Tante.
2. Wanderung: Die Anreise erfolgte über Stockholm, mit der Fähre nach Finnland, im Leihwagen in den Norden und danach von Ritsem auf dem Padjelantaleden über Staloluokta nach Kvikkjokk und Jokkmokk, dem Kulturzentrum der Sami, und weiter mit dem Bus nach Murjek und per Bahn nach Båstad.
3. Wanderung: Von Abisko an der schwedischen Erzbahn auf dem Kungsleden nach Vakkotavare, mit dem Bus nach Gällivare und mit der Bahn nach Båstad.
Dr. Hatto Zeidler (*1938) ist freischaffender Bildhauer und leidenschaftlicher Wanderer. Nach seiner Bildhauerlehre im väterlichen Betrieb sowie einem Pädagogik-, Soziologie- und Kunstgeschichtestudium war er bis 1974 im Schuldienst tätig und bis 2003 Dozent an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. In den vorliegenden Geschichten hat Hatto Zeidler Erfahrungen zu Papier gebracht, die er in den letzten Jahren auf seinen Lappland-Wanderungen gemacht hat. Er berichtet von skurrilen und lustigen Erlebnissen, von Überraschungen, Anstrengungen und Begegnungen, vom Über-sich-Hinauswachsen, von Mücken, Zelten, Gletschern, Weiten, von der Einsamkeit und der Mystik dieses Erdfleckens hinterm Polarkreis, und schafft somit einen teils heiteren, teils versonnenen, aber stets unterhaltsamen Episodenroman. Hatto Zeidler lebt mit seiner Frau, der Fotografin Uta Süße-Krause, in Hohenklingen im Enzkreis.
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2016 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe
Projektmanagement & Lektorat: Julia Barisic
Korrektorat: Anja Winckler; Julia Barisic
Umschlaggestaltung: Manuela Wirtz, www.manuwirtz.de
Umschlagabbildungen:
Rucksack: IgorXIII | shutterstock.com
Skandinavisches Muster hinter Titel: to_mua_to | depositphotos.com
Holzhintergrund: kb-photodesign | bigstockphoto.com
Satz, Layout und E-Book-Konvertierung: Beatrice Hildebrand
Karten: Hatto Zeidler
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.
E-Book ISBN: 978-3-7650-2104-6
Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:
ISBN: 978-3-7650-9114-8
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Hatto Zeidler
Ein Badener in
LAPPLAND
Reisegeschichten
Im Frühjahr ist es gewesen. Genauer gesagt, im Frühjahr 2010, als ich dem Herbert begegnet bin. Ein Jahr lang vielleicht hatten wir uns nicht mehr gesehen und jetzt, als er mich erblickt, ruft er in seiner direkten Art über den ganzen Platz herüber, damit es auch ja jeder hört:
»Ja, du wåmpate Sau!
Wie schaust denn du aus?!
Ja, gibt’ s des aa?!
Mei, bist du a wåmpate Sau wordn.
Eine Trumm Wåmpm hast du umhänga!«
Freudestrahlend bei allem und lauthals und herzlich sagt er mir das, wie er eben so ist, der Herbert: direkt und herzlich. Und natürlich ist er mein Freund und dazu einer von den ganz guten.
Da war es denn schon eine Freude einerseits, das Wiedersehen nach so langer Zeit, aber das mit der »wåmpatn Sau«, das hat mich dann doch ein bisschen gewurmt irgendwie, aber anmerken habe ich mir nichts lassen. Warum auch, er hatte ja recht, der Herbert, leider, aber was soll man machen?
»Ja, hast du denn gar keine Bewegung?«, fragt er.
»Freilich habe ich Bewegung. Wo denkst du hin!
Jeden Tag gehe ich zu Fuß hinunter ins Dorf und zurück auch wieder zu Fuß. Ein Kilometer jede Strecke. Minimum!«
»Hihi, zwei Kilometer Tagesleistung! Ja, da wundert mich nichts mehr. 20 Kilometer müsstest du machen, aber nicht nur so ohne was, sondern mit Gepäck. 20 Kilometer mit 30 Kilo auf dem Buckel, das wäre das Richtige!
Und was machst du im Dorf, wenn du hinuntergegangen bist, einen Kilometer weit?
Ich kann es mir denken: Du gehst ins Wirtshaus. Schweinebraten, Knödel, Bier und alles nicht zu knapp.«
»Na ja. Na ja. Aber nachmittags gehe ich dann auch meistens noch einmal hinunter ins Dorf«, wende ich ein.
»Ja, sicher und da gehst du bestimmt ins gemütliche Café, denn da gibt es ja die gute Schwarzwälder Kirschtorte mit Sahne extra!
Dann ist das ja auch alles kein Wunder mit deiner Wåmpm!
Und die bringst du auch nicht mehr weg.
Aussichtslos.
Bei deinem Lebenswandel sowieso nicht.
Da müsstest du schon wirklich ganz hart vorgehen gegen dich. In eine Gegend müsstest du gehen, wo es keine Wirtshäuser gibt. Null-Wirtshaus-Gegend, verstehst du? Absolut Null!«
»Aber wo soll denn das sein auf unserem Planeten?
Sahara? Atacama? Namib? Gobi?
Und selbst dort gibt es Wirtshäuser, wenn ein paar Menschen da sind.«
»Nein! Du musst da hingehen, wo überhaupt keine Menschen sind. Denn wo keine Menschen sind, gibt es auch keine Wirtshäuser.
Nach Lappland müsstest du gehen. Hinter den Polarkreis. Durch Lappland müsstest du wandern. Mit Rucksack. Alles dabei für 14 Tage: Zelt, Essen, Kleidung, alles. Dann hättest du vielleicht noch eine kleine Chance.
Aber wenn du hier so weitermachst als Warmduscher und Wirtshausgeher, dann wird das nichts. Dann schleppst du sie weiterhin mit, deine Saiwåmpm!«
Standpauke hätte man früher gesagt zu einer solchen Ansprache. Aber vielleicht hat er gar nicht so unrecht, der Herbert. Meint es womöglich gut mit mir. Sicher meint er es gut. Ganz sicher.
Rät mir zwar ab vom Schweinebraten und der Schwarzwälder Kirsch, aber ich spüre irgendwie, dass er es gut meint, trotz der Beleidigungen.
Und ich weiß ja genau, dass es die anderen auch denken, wenn sie mich sehen, aber sagen tun sie nichts. Nur der Herbert, der sagt es.
Also: Ich gehe nach Lappland.
»Den Rucksack kaufst du am besten in einem Outdoorladen.«
»Was ist denn das, ein Outdoorladen?«
»Ach, das weißt du nicht?!«, sagt Uta. »Das ist ein Laden für alle Extremsportler – Survival, Eiger Nordwand, Nanga Parbat.«
»Aber ich will doch nur wandern. Ein paar Berge vielleicht, aber eher doch Flachland. Keine senkrechten Steilwände, ausgesetzte Klettersteige, keine 8 000 Meter mit Sauerstoffgerät. Einfach nur wandern, Schritt vor Schritt.«
»Trotzdem: Ohne modernen Rucksack geht das nicht, was du vorhast, wenn du dort hinterm Polarkreis unterwegs bist, fern jeder Zivilisation.
Deinen alten Rucksack, den kannst du ins Rucksackmuseum geben. Die freuen sich über so ein uraltes Stück.«
»Aber ich war doch schon überall mit diesem Rucksack, im Odenwald, im Spessart, im Schwarzwald, im Frankenwald, im Hotzenwald, im Bayerischen Wald und sogar in den Alpen.«
»Ja, genau! Aber jeden Abend bist du in einem schönen Wirtshaus angekommen oder in einer Alpenvereinshütte. Da brauchst du nicht viel mitzunehmen.
Nur, dort oben hinterm Polarkreis kommst du nirgends an. Weder Wirtshaus noch Staufner Haus noch Haus überhaupt. Auf einer Heidekrautfläche kommst du an. Weit und breit nichts. Keine Hütte, soweit das Auge reicht. Und deswegen brauchst du ja auch einen modernen Rucksack, in dem du alles mitnehmen kannst für 14 Tage ohne Zivilisation: Zelt, Isomatte, Schlafsack, Ersatzunterhosen, Ersatzsocken, Ersatzpullover, Ersatz-T-Shirts, Ersatzbatterien, Seife, Rasierer, Zahnbürste, Zahnpasta, Kamm, Plastikschuhe, mit denen man die Flüsse durchquert, Essen für 14 Tage, dazu einen Spirituskocher, denn du willst ja auch einmal etwas Warmes essen oder trinken. Da kommt schon was zusammen.«
»Also gut. Obwohl – Kamm und Rasierer?«
Outdoorladen in Metzingen.
Vanessa Häberle steht auf dem Schildchen der zierlichen Verkäuferin im Outdoorladen.
»Einen Rucksack für Lappland.«
Sie verschwindet kurz und bringt dann etwas ganz Seltsames daher. Etwas, das aussieht wie der aufgelöste Gordische Knoten.
»Soll das ein Rucksack sein? Ich sehe gar keinen!«
»Ja«, sagt das Fräulein Häberle, »das hat man heute so! Das ist auch kein Rucksack wie früher, das ist ein System.«
»Aha, ein System. Aber ich wollte doch eigentlich einen Rucksack haben und kein System.«
»Ja, wissen Sie, da hat sich viel geändert, da wird heute viel drauf- und drangeschnallt außenherum. Nur das Wichtigste und das Wasserempfindliche ist innendrin. Schauen Sie, das sind drei Etagen im Rucksack übereinander. Jede ist einzeln zu öffnen: Keller, Wohngeschoß und Dachspeicher sozusagen.«
Sie erklärt mir, was wohin gepackt wird, und seltsam, seltsam: Das Schwerste kommt obenauf.
»Das Schwerste ausgerechnet obenauf?«
»Ja, so wird das gemacht.«
Ich will mich jetzt nicht mit dem Fräulein Häberle auf eine Diskussion einlassen über Schwerpunkt und Gleichgewicht, aber dann sagt sie: »Zu diesem Rucksack gibt es ein Owners Manual. Das bekommen Sie beim Kauf gleich mit und da können Sie zu Hause alles noch mal in Ruhe nachlesen über das System.«
Jetzt bekomme ich zu dem System also auch noch ein Handbuch. Rucksackhandbuch. Das Buch zum Sack. Oder sollte man sagen: das Buch zum System?
»Schauen Sie, wir haben hier einen Demo-Rucksack«, sagt Vanessa Häberle. »Den setzen Sie jetzt auf, damit ich sehen kann, wie die anatomischen Polster eingestellt werden müssen.«
Ich erschrecke: Anatomische Polster?
»Aber ich bin doch ganz normal. Ganz normale gewöhnliche Figur. Wozu denn anatomische Polster?«
»Ja, sehen Sie: hier die Schlüsselbeinpolster und hier die Schulterblattpolster und hier die Lendenwirbelpolster und hier die Hüftpolster. Die müssen alle ganz genau auf Ihre Anatomie eingestellt sein, sonst wird das nichts. Sonst haben Sie keine Freude an dem Rucksack und an der Wanderung und an allem.
So, und jetzt stellen wir das alles an Ihrem Rucksack genau nach unserem Demo-Rucksack ein.«
»Aber sagen Sie, Fräulein Häberle, was sind denn das da für zwei Seehundsflossen unten an dem Rucksack?«
»Das wissen Sie nicht? Das sind die gepolsterten Laschen für den Hüftgurt und die sind das A und O bei den modernen Rucksack-Systemen. Sehen Sie, wenn der Hüftgurt festgezurrt ist (sie zurrt ihn fest), dann liegt die Hälfte des Rucksackgewichts nicht mehr auf den Schultern und den Bandscheiben, sondern auf den Hüften und dadurch wird die Wirbelsäule entlastet, denn Sie müssen ja schon mit 30 Kilo Marschgepäck rechnen.«
»30 Kilo?? So viel??«
»Und deshalb sind sie ja auch so eine revolutionäre Erfindung, die Hüftgurte. Und dann natürlich die Hüftgurtschnalle. An der hängt alles, sozusagen Erfolg oder Misserfolg der ganzen Wanderung. Der ganze Tragekomfort der neuen Rucksack-Systeme läuft in dieser Hüftgurtschnalle zusammen.«
»Aber ich dachte doch, diese Hüftlappenflossen wären die eigentliche Revolution.«
»Ja, klar, das schon, aber ohne Gurt und Schnalle nützen sie Ihnen gar nichts.
Die Schnalle, sehen Sie, die ist es. Die hält alles zusammen.«
Liebevoll lässt Vanessa Häberle die Schnalle einrasten. Die Hüftgurtschnalle.
»Hören Sie das Klick?
Das ist es, dieses Klick!«
»Wenn die aber dermaßen wichtig ist, dann kommt sie mir doch etwas schwächlich vor, diese kleine schwarze Kunststoffschnalle, an der alles hängen soll.«
»Ja, wissen Sie, das denkt man nur. Das sind diese heutigen hochfesten Spezialkunststoffe aus Vietnam. Die ganzen Outdoorsachen kommen aus Vietnam. Die verstehen etwas von Kunststoffen in Vietnam.«
Das lässt sie sich richtig auf der Zunge zergehen, das Wort »Vietnam«.
Der Rucksack, pardon, das Rucksack-System wird gekauft.
An der Kasse:
»Sagen Sie, Fräulein Häberle, waren Sie schon einmal in Lappland?«
»Nein!«
»Und Sie als Outdoorlerin, wo waren Sie da schon unterwegs?«
»Noch nirgends. Ich mache doch Ballett.«
»Und Rucksackwandern wenigstens? Sonntags oder so? Oben auf der Alb? Hundersingen? Gammertingen? Trochtelfingen?«
»Nein, das geht alles nicht, wenn man Ballett macht.
Wissen Sie, wegen der Wirbelsäule und den Bandscheiben.«
Na ja, denke ich, zuerst mal zu Hause das Owners Manual gründlich lesen, dann den Rucksack probeweise packen und wenn ich nicht zurechtkomme, dann schneide ich eben von dem ganzen Gurten- und Bändergewirr einiges ab, damit die Sache übersichtlicher wird. Damit das Ganze wieder aussieht wie ein richtiger Rucksack.
Nun musst du wissen, aber vielleicht weißt du es ja auch schon, nur ich wieder nicht, dass sich vieles verändert hat im Zeltbau.
Vorbei sind die Zeiten der schönen Hauszelte auf den Campingplätzen, wo man fast drin stehen konnte, wo du auch eine Vorstellung hattest, wie das Zelt aussehen könnte, wenn es aufgestellt ist, weil es eben aussieht wie ein kleines Haus aus Stoff, mit Dachfirst, mit zwei Giebelseiten, mit zwei Stützen unter dem First – eine vorne, eine hinten –, mit den vielen Spannschnüren, die das Zelt so schön straff gemacht haben und an die man immer die nassen Waschlappen gehängt hat, dass sie trocknen über Nacht und dass ja keiner über die Spannschnüre stolpert, weil er sie nicht sieht.
Aber das ist alles vorbei.
Heute hast du die Wahl zwischen Iglu, Tunnel und Geodät, aber stehen kannst du nirgends drin, denn diese Zelte sind alle nur blankes Survival, ohne jeden Luxus. Überlebenszelte. Für Extremsituationen.
Klar, dass du es da mit der Angst zu tun bekommst, denn du bist doch davon ausgegangen, dass du selbstverständlich überlebst bei dieser Wanderung. Zwar hoch im Norden aber doch harmlos irgendwie. Wenn die aber alle ein Survivalzelt haben, was ist denn dann los mit dieser Gegend? Brauchst du da ein Survivalzelt, damit du überhaupt überlebst?
Und wenn es wirklich tagelang regnet, wie sie sagen, und wenn du nicht weiterkommst im strömenden Regen, wie sie sagen, und wenn es mitten im Sommer schneit, wie sie sagen, wäre es da nicht viel besser, du hättest ein richtiges Hauszelt? Wo du fast drin stehen kannst und kannst wenigstens im Sitzen essen oder schreiben oder eben einfach nur sitzen?
Aber damit ist es nichts. Das ist im ganzen Outdoorkatalog nicht vorgesehen. Man muss als echter Outdoorler liegen bleiben, tagelang womöglich, bis der Regen aufhört oder vielleicht gar der Schnee.
Das kann ja heiter werden, denke ich, aber sagen tue ich nichts, denn ich kann seit dem Sturz vom Fahrrad bei Roßwag an der Enz schlecht bis gar nicht auf der rechten Seite liegen. Da tut mir immer gleich die Schulter weh. Aber immer nur auf der linken Seite zu liegen, tagelang womöglich, oder auf dem Rücken, das gibt mir schon zu denken. Das könnte ich nicht. Denn in diesen Outdoor-Überlebenshilfen, die sich großspurig Zelte nennen, geht gar nichts anderes als Liegen.
Liegen und warten.
Und natürlich haben sie einen Grund für ihre Kleinzelte: Gewicht minimiert, Rauminhalt minimiert, Aufbauzeit minimiert, Spannschnüre minimiert, Preis aber maximiert.
Und dann das Angebot: Iglu, Tunnel, Geodät?
Haus ist gar nicht dabei. Schon vom Wort her nicht. Und Geodät, ist das nicht ein Beruf? Vermessungsbeamter oder so? Und Tunnel? Ist das nicht eher Tiefbau?
Iglu, na ja, das kennt man von den Eskimos. »Nanuk, der Eskimo« hat der Schwarz-Weiß-Film geheißen, damals im Eberbacher Gymnasium, den uns einmal die Erdkundelehrerin gezeigt hat, und in diesem Film kam ein Iglu vor. Aber der Film war in Schülerkreisen berühmt, das hatten wir schon von den Oberklassen gehört, weil nämlich eine kurze Szene vorkam, in der man die nackten Brüste von Nanuks Frau sah. Einen ganz kurzen Augenblick lang nur, aber immerhin.
Man mag es kaum glauben, wenn man an die heutige Nackteninflation im Fernsehen denkt, aber so waren eben die Zeiten damals.
Also mit dem Iglu kann ich noch am ehesten etwas anfangen, auch, wenn er nicht aus Eis und Schnee ist wie bei Nanuk, sondern nur aus dünnem Zeltstoff.
Was du aber auch nicht weißt aus deinen Pfadfinderzeiten, ist, dass diese Trekking-Zelte oder Survival Tents zweischalig sind. Grundsätzlich zweischalig, also Innenzelt und Außenzelt.
Dann habe ich zu Hause den Rasen gemäht, schön kurz, und habe mir eine ebene Stelle ausgesucht und da ist es gar kein Problem gewesen mit dem Igluzelt. Das hat sich ganz leicht aufbauen lassen: Innenzelt, zack, zack, zack, Außenzelt zack, zack, zack. Fertig. Ganz leicht haben sie sich in den Boden drücken lassen, die neuen Heringe aus Aluminium. Genial mal wieder, diese Vietnamesen. Nähen ein Igluzelt, das du aufstellen kannst wie nichts. Einfach genial.
Es ist zwar ein extrem heißer Tag im Juli bei meinem Probeaufbau, aber ich habe mir gedacht, es ist besser hier zu Hause das Owners Manual zu lesen als dort, wo es tagelang regnet oder schneit, und mitnehmen willst du es auch nicht wegen der Gewichtsersparnis und in 43 Sprachen.
Vorn und hinten hat das Igluzelt, also das Außenzelt vom Igluzelt, eine Apsis, wie sie dazu sagen. Das ist so eine Ausweitung für den Rucksack oder die schweren Wanderschuhe oder die Essensvorräte. Aber, Apsis, war das nicht eigentlich immer so ein architektonisches Detail in einer Kirche? Mit vielen hellen Fenstern und für den Altar erfunden, dass er herausgehoben wird aus dem Kirchenbau?
Aber hier im Survival ist er für die Rucksäcke. Rucksack-Apsis. Eigentlich für den Altar erfunden, haben ihn die Survivler zum Rucksack-Altarraum umdefiniert.
Klar, es gäbe schon noch leichtere Zelte als dieses Igluzelt. Vietnamesische Spitzenmodelle. Viel leichter als dieser Iglu.
Aber für die paar Tage so viel Geld hinlegen?
Da nehmen wir doch lieber das Kilo mehr in Kauf.
Wir kaufen das Igluzelt.
Muss denn das nun wirklich sein mit dem Schlafsack?
Reicht mir nicht auch eine Decke?
Eine einfache Wolldecke oder meinetwegen eine aus diesem neuartigen, extrawarmen Kunststoffmaterial?
Federleicht und warm?
Muss es wirklich so ein umständlicher Schlafsack sein?
Aber da stoße ich im Outdoorladen auf völliges Unverständnis:
»Wo denket Sie naa!«, sagt Vanessa Häberle, und weil sie uns vom Zeltkauf her schon kennt, verfällt sie gleich in ihr tiefes Schwäbisch.
»Sie hent ja wirklich gar koi Erfahrong!
Ohne en guate Schlofsack goht nex im Outdoor!
Ond überhaupt do drobe in demm kalde Lappland! Noi, noi, was gloubet Sie, do könnet Sie au glei dehoim bleibe ohne en guate Schlofsack!«
»Aber die Lappen selbst, haben die denn Schlafsäcke?«, versuche ich nachzufragen.
»Des spielt jetzt do koi Roll. Abr wenn Sie hentr denn Polarkreis nuff wellet, dann goht des net ohne en ganz guate Schlofsack!
Sonscht verfrieret Sie noch womeeglich do drobe! Oddr?
Do send scho Leit soubr vafrore, do drobe.
Koin Schlofsack ghätt ond morgeds sen se steifgfrore dogläge ontr ihra Deck.
Ja, was moinet Sie: Minus 40 Grad!«
»Ja, also, wenn das so ist, Fräulein Häberle.«
»Ha, no!
Minus 40 Grad!
Wo denket Sie naa!
Gucket Se! Mir hen do so e günschtigs Modell.
Des kommt direkt ous Vietnam. Gucket Se!
Isch richtig günschtig ond a echte High-Tech au noo.
Gucket Se, do hemmr en, denn Schlofsack: supr kloi, supr leicht, supr warm ond supr günschtig au noo. Gucket Se, do stoht’ s uuf em Etikett: Tsching-li-bung-li-tang-li-wang. Made in Vietnam.«
»Fräulein Häberle, glauben Sie denn, dass die Vietnamesen etwas von Schlafsäcken verstehen? Und überhaupt die kleinen Vietnamesinnen, ob die schon einmal zum Wandern in Lappland gewesen sind?«
»Gar koi Frog!
Dui verstandet ebbes.
Dui wisset älles ond dui könnet au ebbes.
Ond kalt ischs dort in demm Vietnam au, oddr?
Ond gucket Se, was im Katalog drin stoht:
Größtes Volumen bei kleinstem Packmaß undminimalem Gewicht.
Des ischt ebbes. Do sottet Sie zuagreife. Do müaßet Se zuagreife. Des ischt halt a Qualität ond günschtig au no dezua. Oddr?«
»Gut, Fräulein Häberle, ich kaufe diesen Schlafsack aus Vietnam.«
Na, ja, so günstig ist er ja dann auch wieder nicht.
Aber er ist wirklich winzig, das muss man schon sagen.
Nicht viel größer als ein Knirps, nein, nicht viel größer als ein Brillenfutteral das Ganze.
Das war ein guter Kauf im Outdoorladen, denke ich auf der Heimfahrt.
Es ist eben doch ein Vorteil, wenn man sich vom Fachpersonal beraten lässt. Schließlich, wozu hat man sie denn, diese Fachleute!
Dann aber die erste Lappland-Nacht im Zelt mit meinem Schlafsackwunder aus Vietnam:
So viel Schlafsack kommt da heraus aus einem so winzigen Säckchen!
Ein Packwunder ist das und ich denke unwillkürlich an den »Geist aus der Flasche«. Da war ja auch etwas Riesiges in einem kleinen Fläschchen verpackt gewesen.
Es wird empfindlich kalt am Abend.
Und dann denke ich, das Fräulein Häberle hat recht gehabt: Ein warmer Schlafsack ist Gold wert hier oben hinterm Polarkreis.
Und dann denke ich wieder an die kleinen, klugen und flinken Vietnamesinnen, denen ich dieses Schlafsackwunder verdanke und vor dem Einschlafen überlege ich noch, was es denn heißen könnte, dieses Wort Tsching-li-bung-li-tang-li-wang. Ob es vielleicht Packwunder heißt?
Oder Geist in der Flasche?
Die Überraschung kommt am nächsten Morgen beim Einpacken.
Das Problem ist eigentlich ganz einfach:
Der Schlafsack muss in das Verpackungssäckchen zurück.
Weiter nichts. Ich packe die Schlafsäcke ein, Uta macht das Frühstück.
Aber alle meine Wickelkünste, Quetschanstrengungen, Draufsetzattacken, Pressungen helfen nichts. Ich kann machen, was ich will, ich bringe das Schlafsackwunder einfach nicht zurück in das kleine Säckchen. Nicht einmal zur Hälfte.
Jetzt habe ich mir schon zwei Fingernägel abgebrochen und einen dritten umgeknickt und dann gerate ich auch noch mit dem rechten Daumennagel beim Abrutschen in den linken Daumen hinein.
So ein blödes Pech!
Schnittverletzung.
Notapothekenbeutel.
Pflaster.
Weitere Bemühungen mit dem Schlafsack.
Vergebliche Bemühungen.
Zorn will in mir hochkommen, aber dann denke ich, es ist vielleicht ein Trick dabei.
Vielleicht müsste man nur wissen, was das geheimnisvolle Wort Tsching-li-bung-li-tang-li-wang bedeutet. Es könnte ja ein Schlüsselwort sein und man brächte den Schlafsack problemlos in das Säckchen hinein, wenn man das Wort übersetzen könnte.
Ist womöglich so was wie ein Owners Manual in Kurzform.
Owners Manual auf Vietnamesisch: Tsching-li-bung-li-tang-li-wang!