Ein Drama in Livland - Jules Verne - E-Book

Ein Drama in Livland E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Klassiker der Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. In Jules Vernes "Ein Drama in Livland" geht es um einen Verbannten der auf der Fluch von Sibirien nach Livland ist, um einen brutalen Raubmord und die politischen Konflikte zwischen Baltendeutschen und Russen.

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Ein Drama in Livland

Jules Verne 

Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechzehntes Kapitel.
Impressum

Erstes Kapitel.

Über die Grenze.

 

Ein Mann… allein in finsterer Nacht. Wie ein Wolf schlich er hin zwischen den von der Kälte des langen Winters aufgetürmten Eismassen. Seine gefütterten Beinkleider, sein »Khalot« – eine Art faltenreichen Kaftans – und seine mit herabgeschlagenen Ohrwärmern versehene Mütze schützten ihn nur unzulänglich gegen den rauhen Wind. Auf Lippen und Händen hatte er schmerzhafte Risse, und die Fingerspitzen waren ihm völlig erstarrt. So schritt er hin durch die tiefe Dunkelheit unter einem Himmel, dessen niedrig dahinschwebende Wolken sich in einen Schneefall aufzulösen drohten, obgleich man jetzt – freilich unter der hohen Breite von achtundfünfzig Graden – schon in den ersten Tagen des April war. Der Wanderer verschmähte es, nur einmal auszuruhen. Nach einer Rast wäre er vielleicht nicht mehr imstande gewesen, seinen Weg fortzusetzen.

Gegen elf Uhr nachts machte der Mann aber doch Halt. Nicht weil die Füße ihm den Dienst versagt hätten oder daß er außer Atem gewesen wäre, auch nicht weil ihn etwa die Müdigkeit übermannt hätte… nein, seine leibliche und geistige Energie war noch ungebrochen, und mit kräftiger Stimme, in der sich eine warme Vaterlandsliebe ausprägte, rief er jetzt:

»Endlich! Die Grenze! Die livländische Grenze, die Grenze des Heimatlandes!«

Wie weit breitete er die Arme aus nach dem Stück Erde, das im Westen vor ihm lag! Wie festen, sichern Schrittes betrat er die weiße Fläche des Bodens, als wollte er diesem seine Fußstapfen am Anfang der letzten Wegstrecke dauernd einprägen!

Kam er doch von weit, weit, tausende Werst weit her, und das unter so vielen mutig bestandenen Gefahren, die er durch seine Intelligenz, seine Kraft und durch seine nie ermüdende Ausdauer überwunden hatte. Seit zwei Monaten auf der Flucht, wanderte er gegen Westen, durchzog dabei grenzenlose Steppen, zwang sich zu den peinlichsten Umwegen, um den Kosakenposten auszuweichen. überschritt die rauhen, gewundenen Pässe und Schluchten hoher Bergzüge und wagte sich endlich bis in die Zentralprovinzen des russischen Reiches, wo die Polizei eine so scharfe Wachsamkeit übt. Jetzt endlich, jeder Begegnung entronnen, die ihm hätte das Leben kosten können, rief er freudiger:

»Die livländische Grenze… die Grenze!«

War denn Livland für ihn das gastfreundliche Land, das Land, wohin der Abwesende nach langen Jahren zurückkehrte, wo dieser nichts mehr zu fürchten hatte, das Vaterland, das ihm Sicherheit bot, wo Freunde seiner harrten wo die Familie ihm die Arme entgegenstreckte, wo Frau und Kinder sein Eintreffen erwarteten, wenn er sich nicht die Freude vorbehalten hatte, sie zu überraschen?

Nein… auch durch dieses Land wollte er nur als Flüchtling eilen und versuchen, den nächsten Hafenplatz zu erreichen, wo er hoffte, sich, ohne Verdacht zu erregen, einschiffen zu können. In Sicherheit konnte er sich freilich erst wähnen, wenn dann die Küste Livlands unter dem Horizonte verschwunden wäre.

»Die Grenze!« hatte der Wanderer gerufen, doch was war diese Grenze, die weder ein Flußlauf oder ein Gebirgskamm, noch das Dickicht eines Waldes bezeichnete? Bestand sie nur in einer angenommenen Linie ohne ein greifbares, geographisches Merkmal?

Es handelte sich hier um die Grenzlinie, die vom eigentlichen Russischen Reiche die drei Gouvernements Esthland, Livland und Kurland, die »Baltischen Provinzen«, scheidet. An der Stelle hier teilt sie, von Norden nach Süden verlaufend, die im Winter erstarrte, im Sommer flüssige Oberfläche des Peipussees.

Wer war nun der etwa vierunddreißig Jahre alte Flüchtling, dieser Mann von hoher Gestalt, kräftigem Körperbau, breiten Schultern, von mächtiger Brust, starken Gliedern und von so entschlossener Haltung? Aus seiner über den Kopf gezogenen Kapuze quoll ein dichter, blonder Bart hervor, und wenn der Wind den Kapuzenrand etwas emporhob, konnte man zwei lebhafte Augen aufblitzen sehen, deren Blick auch die eisige Luft nicht geschwächt hatte. Ein weitfaltiger Gürtel umschloß den Leib des Mannes und bedeckte eine kleine, lederne Tasche mit seinem gesamten Gelde, das jetzt nur aus einigen Papierrubeln bestand, in einem Betrag, der die Bedürfnisse einer einigermaßen längeren Reise nicht zu decken vermochte. Vervollständigt wurde seine Ausrüstung durch einen sechsschüssigen Revolver, ein Messer in lederner Scheide, ferner durch einen Beutel, der noch einige Nahrungsmittel barg, nebst einer mit Schnaps zur Hälfte gefüllten Korbflasche, und endlich durch einen festen Stock. Beutel, Flasche und selbst die Geldtasche waren ihm aber weniger wichtig als seine Waffen, von denen er bei einem Angriffe durch Raubtiere oder durch Polizeiagenten tüchtig Gebrauch zu machen entschlossen war. Übrigens zog er nur in der Nacht weiter, immer darauf bedacht, unbeobachtet nach einem Hafen der Ostsee oder des finnischen Meerbusens zu kommen.

Bisher hatte er seine gefährliche Wanderung unbehelligt fortsetzen können, obwohl er nicht mit einem von den Militärbehörden ausgestellten »Porodojna« versehen war, dessen Vorweisung die Postenführer des moskowitischen Reiches zu verlangen verpflichtet waren. Fraglich blieb es freilich, ob ihm das noch ebenso glückte, wenn er sich dem noch strenger bewachten Küstengebiete näherte. Unzweifelhaft war ja sein Entfliehen gemeldet worden, so daß er, ob er nun den Verbrechern gegen das gemeine Recht oder den politisch Verurteilten zugehörte, gewiß mit derselben Sorgfalt gesucht, mit demselben Eifer verfolgt wurde. Ließ ihn das ihm bisher günstige Glück von der livländischen Grenze an im Stiche, so wäre das freilich ein Scheitern im Hafen gewesen.

Der gegen hundertzwanzig Werst lange und etwa sechzig breite Peipussee wird in der warmen Jahreszeit von vielen Fischern befahren, die sein fischreiches Gewässer ausbeuten. Der Schiffahrt dienen im übrigen schwerfällige Fahrzeuge, eine einfache Verbindung von kaum behauenen Baumstämmen und schlecht gehobelten Brettern, bekannt als »Struzzes«, mit denen auf den natürlichen Ausflüssen des Sees Lasten von Getreide, Flachs und Hanf nach den benachbarten Städtchen und selbst bis nach der Bucht von Riga befördert werden. Zur jetzigen Jahreszeit und unter einer Breite mit so verspätetem Frühling ist der Peipussee natürlich für Schiffe nicht fahrbar, dagegen könnte sich ein Zug Artillerie über seine, von der Kälte eines strengen Winters erhärtete Oberfläche sorglos hinbewegen. Augenblicklich bildete er nur eine weite, weiße Ebene mit kristallenen Blöcken in der Mitte und mächtigen Eisstauungen am Eingange zu mehreren Flüssen.

Das war die entsetzliche Wüstenei, die der Flüchtling sichern Schrittes durchmaß und in der er sich mühelos zurechtfand. Er kannte ja die Gegend und ging so schnell, daß er das westliche Ufer voraussichtlich noch vor Tagesanbruch erreichte.

»Es ist ja erst zwei Stunden nach Mitternacht, murmelte er für sich. Noch zwanzig Werst zurückzulegen, und da drüben wird es mir nicht schwer fallen, eine Fischerhütte, einen verlassenen Unterschlupf zu finden, wo ich bis zum Abend ausruhen kann. In diesem Lande marschier' ich ja nicht mehr aufs Geratewohl!«

Es schien, als ob er hiermit alle seine Anstrengungen vergäße, als ob das beste Vertrauen wieder in ihm erwachte. Sollte es auch das Unglück wollen, daß die Agenten seine von ihnen verlorene Fährte wieder aufspürten, so würde er ihnen doch zu entgehen wissen.

In der Befürchtung, von dem ersten Tagesscheine überrascht zu werden. ehe er den Peipussee hinter sich hätte, raffte sich der Flüchtling zu einer letzten Anstrengung auf. Gestärkt durch einen herzhaften Schluck Schnaps aus seiner Korbflasche, schlug er eine noch schnellere Gangart ein, ohne sich jemals aufzuhalten. Gegen vier Uhr morgens tauchten denn auch schon, unbestimmt zu sehen, einige magere Bäume, übereiste Fichten neben Gruppen von Birken und Ahornbäumen, vor ihm am Horizonte auf.

Dort war das feste Land… die Gefahren für ihn wurden damit aber größer. Wenn auch die livländische Grenze den Peipussee in seiner Mitte durchschneidet, so sind an ihr doch begreiflicherweise keine Zollwächter aufgestellt. Die Verwaltung hat sie nur an das westliche Ufer beordert, wo die Struzzes im Sommer anlegen.

Der Flüchtling wußte das recht gut, und es konnte ihn deshalb nicht überraschen, ein Licht unsicher erglänzen zu sehen, das in dem herrschenden Nebel wie ein gelbliches Loch erschien.

»Bewegt sich dieses Licht fort oder bleibt es an derselben Stelle?« fragte er sich und blieb neben einem der Eisblöcke stehen, die rings um ihn aufragten.

Veränderte das Licht seinen Ort, so konnte es nur das einer in der Hand getragenen Laterne sein, womit wahrscheinlich eine Zollwächterpatrouille ihren nächtlichen Gang auf dem Peipussee beleuchtete, und dann war es von Wichtigkeit, dieser nicht in den Weg zu laufen.

Blieb der Lichtschein aber an derselben Stelle, so erleuchtete er gewiß das Innere eines Wachthauses am Seeufer, denn jetzt hatten die Fischer ihre Hütten noch keinesfalls bezogen, da sie dazu auf das Tauwetter warteten, das vor der zweiten Aprilhälfte hier nicht einzutreten pflegt. Aus Vorsicht mußte der Flüchtling also nach rechts oder links ausweichen, um dem betreffenden Wachtposten nicht vor die Augen zu kommen.

Er schlug die Richtung nach links ein. Auf dieser Seite schienen, soweit das durch den beim Morgenwinde schon aufsteigenden Nebel zu beurteilen möglich war, die Bäume dichter beieinander zu stehen. Wurde er verfolgt, so fand er hier zuerst vielleicht ein Versteck und dann einen Ausweg, seine Flucht fortzusetzen.

Kaum fünfzig Schritte weitergekommen, scholl ihm von rechts her ein barsches »Wer da?« entgegen.

Dieses »Wer da?«, das mit starkem deutschen Tonfalle gerufen wurde, machte natürlich einen unheimlichen Eindruck auf den, an den es gerichtet war. Übrigens ist die deutsche Sprache hier sehr verbreitet, und wenn auch weniger unter dem Landvolke, so doch unter den Bewohnern der Städte in den baltischen Provinzen.

Der Flüchtling gab auf den Anruf keine Antwort.

Er warf sich platt auf das Eis und hatte daran sehr wohl getan. Fast augenblicklich krachte ein Schuß, und ohne seine Vorsicht hätte ihn eine Kugel wahrscheinlich mitten in die Brust getroffen. Ob er aber den Zollwächtern entgehen würde? Bemerkt hatten ihn diese ohne Zweifel, dafür sprach der Anruf und der Schuß. In dem noch dunkeln Nebel konnten diese aber glauben, einer Augentäuschung verfallen gewesen zu sein.

Das anzunehmen hatte der Flüchtling bald begründete Ursache, nach den zwischen den Männern gewechselten Worten, die er bei ihrer Annäherung erlauschte.

Sie gehörten in der Tat zu einem Wachtposten des Peipussees… arme Teufel, deren ursprünglich grüne Uniform schon mehr gelb geworden war, Leute, die gern die Hand nach einem Trinkgelde ausstrecken, so dürftig ist der Sold, den ihnen die »Tamojna«, die moskowitische Zollverwaltung, gewährt. Es waren ihrer zwei, die, auf dem Rückwege nach ihrem Posten, einen Schatten zwischen den Eisblöcken bemerkt zu haben glaubten.

»Du bist dir sicher, etwas gesehen zu haben? fragte der eine.

– Ja gewiß, antwortete der andere, einen Pascher, der sich nach Livland einschleichen wollte.

– Na, das ist diesen Winter nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein; ich glaube übrigens, der hier ist davongelaufen, da wir von ihm keine Spur gefunden haben.

– Ja, erwiderte der, der den Schuß abgegeben hatte, bei einem solchen Nebel kann man ja kaum zielen, und ich bedaure es, unsern Mann nicht zur Strecke gebracht zu haben. So ein Pascher trägt doch immer eine volle Flasche bei sich, die hätten wir als gute Kameraden redlich geteilt…

– Und nun haben wir nichts, uns den Magen zu wärmen!« setzte der andere hinzu.

Die Zollbeamten setzten jetzt, wo ihnen der Mund wässerig geworden war bei dem Gedanken, einen guten Schluck Schnaps oder Wodka zu ergattern, ihre Nachsuchungen eher noch emsiger fort, als bei dem Gedanken, einen Zollbetrüger zu fangen… doch ihre Mühe blieb vergebens.

Sobald der Flüchtling sie für genügend entfernt hielt, setzte er seinen Weg zum Ufer hin fort, und noch vor Tagesanbruch hatte er Zuflucht unter dem Strohdache einer Hütte gefunden, die drei Werst südlich von dem Wachtposten lag.

Wohl hätte es die Vorsicht gefordert, daß er diesen Tag über wach bliebe und immer scharf auslugte, um durch keine verdächtige Annäherung überrascht zu werden und noch entweichen zu können, wenn die Zollwächter etwa Nachsuchungen nach der Seite der Hütte hin unternähmen. Von Ermüdung überwältigt, konnte der sonst so ausdauernde Mann dem Schlafe aber doch nicht widerstehen. In einer Ecke ausgestreckt und in seinen Kaftan gewickelt, schlief er bald fest ein, und es war schon spät am Tage, als er wieder erwachte.

Es war gegen drei Uhr des Nachmittags. Glücklicherweise hatten die Zollwächter ihren Posten nicht verlassen und sich mit dem einzigen nächtlichen Schusse begnügt, da sie offenbar annahmen, sich getäuscht zu haben. Der Flüchtling konnte sich nur beglückwünschen, dieser ersten Gefahr nach dem Betreten seines Heimatlandes entronnen zu sein.

Nach stärkendem Schlummer kaum erwacht, mußte er seinem Bedürfnis, etwas zu essen, gerecht werden. Der geringe Inhalt seines Beutels reichte ja noch für eine oder zwei Mahlzeiten. Beim nächsten Halteplatz mußte er seinen Proviant ebenso bestimmt erneuern, wie den Inhalt seiner Korbflasche, aus der er eben die letzten Tropfen geschlürft hatte.

»Bauern haben mich ja niemals abgewiesen, sagte er für sich, und die von Livland werden einen Slawen wie sie selbst auch nicht von der Tür wegjagen.«

Er hatte ja recht, nur mußte sein Unstern ihn nicht einem Schenkwirte deutscher Abstammung zuführen, deren es in diesen Provinzen sehr viele gibt. Diese hätten einem Russen sicherlich nicht den Empfang bereitet, den der Flüchtling bei den Bauern des moskowitischen Reichs gefunden hatte.

Der Wanderer war obendrein nicht gezwungen, auf seiner Reise die Mildtätigkeit der Leute in Anspruch zu nehmen. Noch blieb ihm eine Anzahl Rubel, die seine Bedürfnisse bis zum Ende der Fahrt, wenigstens durch Livland, zu decken versprachen. Freilich, was stand ihm bevor, wenn er zu Schiffe gehen wollte?… Doch das wollte er sich später überlegen. Vorläufig war es das Wichtigste, das Ausschlaggebende, einen der Häfen, entweder am finnischen Meerbusen oder an der Ostsee, zu erreichen; diesem Ziele mußte er mit allen Kräften nachstreben.

Sobald es ihm – gegen sieben Uhr abends – dunkel genug erschien, verließ der Flüchtling, nachdem er seinen Revolver schußfertig gemacht hatte, wieder die Hütte. Der Wind war im Laufe des Tags nach Süden umgesprungen die Temperatur war auf Null Grad gestiegen, und das Schneelager, aus dem schwärzliche Spitzen herausragten, zeigte eine Neigung zu schmelzen.

Im Anblick des Landes keine Änderung. In seinem mittleren Teile wenig ansteigend, zeigt es nur im Nordwesten unbedeutende Höhen, die kaum über hundert bis hundertfünfzig Meter hinausgehen. Die langen Ebenen bieten dem Vorwärtskommen eines Fußgängers keine Schwierigkeiten, so lange nicht Tauwetter den Erdboden vorübergehend unpassierbar macht, doch vielleicht war das gerade jetzt zu befürchten. Es kam also vor allem darauf an, einen Hafen zu erreichen, und wenn das Tauwetter vorzeitig einträte, wäre das um so erwünschter, da die Schiffahrt dann desto eher eröffnet werden konnte.

Etwa vierzehn Werst liegen zwischen dem Peipussee und dem Marktflecken Ecks, den der Flüchtling gegen sechs Uhr morgens erreichte; er hütete sich aber, ihn zu berühren. Dabei wäre er Polizisten in die Hände gelaufen und hätte sich nach seinen Ausweispapieren einer Anfrage ausgesetzt, die ihn in die schlimmste Verlegenheit bringen mußte. Nein, in diesem Flecken wollte er keine Unterkunft suchen. In der Entfernung von einer Werst ging er daran vorüber und verbrachte den Tag hier in einer verfallenen Hütte, von der aus er um sechs Uhr abends weiter wanderte und dann die Richtung nach Südwesten, nach dem Embachflusse, einhielt, bei dem er nach Zurücklegung von zehn Werft eintraf… einem Flusse, dessen Wasser sich mit dem Watzjerosee an dessen nördlicher Spitze vermischt.

Von hier aus hielt es der Flüchtling, statt durch die Weidenwälder und Ahorndickichte des Ufergeländes zu dringen, für geratener, über den See hin zu wandern, dessen Tragfähigkeit noch nicht vermindert sein konnte.

Da stürzte aus hoch hinziehenden Wolken ein starker Regen herab, der die Auflösung der Schneeschicht beschleunigte. Die Anzeichen demnächstigen Tauwetters traten schon deutlich hervor. Nicht fern mehr konnte der Tag sein, wo sich die Eisdecke der Wasserläufe der Gegend in Bewegung setzte.

Der Flüchtling ging raschen Schrittes dahin, verlangte es ihn doch, vor Tagesanbruch das Ende des Sees zu erreichen. Noch fünfundzwanzig Werst zurückzulegen, eine harte Wegstrecke für einen schon ermatteten Menschen, und die längste, die er sich bisher zugemutet hatte, da sie diese Nacht zusammen fünfzig Werst – fast sieben geographische Meilen – betragen würde. So zehn Stunden der Ruhe am nächsten Tage waren dann gewiß ehrlich verdient.

Im ganzen blieb es jedoch recht bedauernswert, daß das Wetter zum Regen umgeschlagen war. Bei trockener Kälte wäre leichter und schneller zu marschieren gewesen. Auf dem glatten Eise der Embach fand der Fuß jedoch noch einen Stützpunkt, den ihm der von der Schneeschmelze kotige Weg am Ufer hin nicht mehr geboten hätte. Dumpfes Krachen und vereinzelte Sprünge deuteten aber darauf hin, daß bald Eisgang eintreten und das Schmelzen der Schollen beginnen werde. Das bereitete einem Fußgänger dann neue Hindernisse, wenn er einen Fluß überschreiten wollte, sobald er das nicht schwimmend ausführte. Alle diese Gründe waren also dazu angetan, die täglichen Wegstrecken möglichst zu vergrößern.

Das wußte der Mann recht wohl, und er entwickelte auch eine fast übermenschliche Willensstärke. Sein eng zusammengezogener Kaftan schützte ihn gegen alle Windstöße. Seine erst unlängst erworbenen guten und an den Sohlen mit tüchtigen Zwecken verstärkten Stiefel machten seine Schritte auf dem schlüpfrigen Boden sicher. In der tiefen Finsternis brauchte er sich auch nicht um den Weg zu bekümmern, denn der Embach führte ihn unmittelbar seinem Ziele zu.

Um drei Uhr morgens waren zwanzig Werst zurückgelegt. In den zwei Stunden bis zum Tagesanbruch mußte der nächste Halteplatz erreicht sein. Auch diesmal war der Wanderer nicht genötigt, sich in ein Dorf zu wagen und in einer Herberge Unterkunft zu suchen, da seine Mundvorräte noch für einen Tag ausreichten. Mochte er einen Schlupfwinkel finden, gleichgültig welcher es auch sei, wenn er ihm nur bis zum Abend Sicherheit bot. In den Wäldern, die das Nordende des Watzjero umgeben, trifft man auf Holzfällerhütten, die im Winter unbewohnt sind. Mit der wenigen Kohle, die sie meist enthalten, und mit dem Holze abgestorbener und umgestürzter Bäume kann man sich leicht ein Feuer verschaffen, das – wie man sagen darf – Leib und Seele erwärmt, ohne die Besorgnis, daß der Rauch tief in diesen weiten Einöden zum Verräter werden könnte.

Gewiß war dieser Winter recht hart gewesen, doch wie hatte er – von seiner Strenge abgesehen – das Fortkommen des Flüchtlings begünstigt, seit dieser den Boden des Russischen Reiches betreten hatte.

Doch: Der Winter ist ja, nach einem slawischen Sprichworte, der Freund der Russen, und diese halten sich seiner rauhen Freundschaft versichert.

Da wurde vom linken Ufer der Embach her ein Geheul vernehmbar, ohne Zweifel das eines Tieres, das nur wenige hundert Schritt weit entfernt sein mochte. Kam dieses näher oder trottete es sich davon? In der Dunkelheit war es zunächst nicht zu sehen.

Der Wanderer steht gespannt lauschend einen Augenblick still; jetzt galt es ihm, auf der Wacht zu sein… sich nicht überraschen zu lassen.

Das Geheul wiederholte sich mehrmals und wurde immer lauter. Von anderer Seite her schien ihm Antwort zu kommen. Ohne Zweifel strich am Ufer der Embach ein Rudel wilder Tiere umher, und es war nicht ausgeschlossen, daß diese die Anwesenheit eines Menschen schon gewittert hatten.

In diesem Augenblicke ertönte das unheimliche Konzert so kräftig, daß der Flüchtling glaubte, er müsse sofort überfallen werden.

»Das sind Wölfe, sprach er für sich, und die Rotte ist auch nicht weit von hier.«

Jetzt drohte die schlimmste Gefahr: Ausgehungert infolge eines langen, harten Winters, sind diese Bestien besonders zu fürchten. Wegen eines einzigen Wolfes braucht man sich ja nicht zu beunruhigen, wenn man nur einigermaßen kräftig ist, sein kaltes Blut bewahrt und einen tüchtigen Stock zur Hand hat. Mit einem halben Dutzend dieser Tiere ist aber schwer fertig zu werden, selbst wenn man einen Revolver im Gürtel hat, wenigstens wenn nicht alle Schüsse treffen.

Jetzt noch einen gegen Angriffe geschützten Platz zu suchen, daran war gar nicht zu denken. Die Ufer der Embach sind flach und kahl, ohne einen Baum, den einer hätte erklettern können. Die Wolfsbande konnte kaum noch fünfzig Schritte weit entfernt sein, ob sie nun selbst auf die Eisfläche übergetreten war oder von der Steppe her heranjagte.

Da blieb nun nichts anderes mehr übrig, als eiligst zu entfliehen, freilich ohne große Hoffnung, die Bestien im Laufen zu übertreffen… dann hieß es Halt machen, sich umwenden und sich gegen jeden Angriff zur Wehr setzen. Dafür entschied sich denn auch der bedrängte Mann, nur zu bald spürte er aber das Raubgesindel dicht an den Fersen.

Höchstens noch zwanzig Schritte hinter ihm heulte und bellte die Rotte. Er hielt an; durch das Dunkel schienen glänzende Punkte glühenden Kohlen gleich zu leuchten.

Das waren die Augen der Wölfe… der jämmerlich abgemagerten, durch langes Fasten desto wilder gewordenen Wölfe, die jetzt gierig auf die Beute waren, welche sie schon fast im Bereich ihrer Zähne wußten.

Der Flüchtling drehte sich um, den Revolver in der einen, den Stock in der andern Hand. Besser, er feuerte nicht, solange mit dem Stocke auszukommen war, um nicht die Aufmerksamkeit etwa in der Nähe befindlicher Grenzwächter zu erregen.

Der Mann hatte nach Befreiung seiner Arme aus den Falten des Kaftans eine Stellung zur Abwehr eingenommen. Mit dem Stocke umherschlagend, hielt er sich zunächst von den Wölfen die vom Leibe, die ihm am ärgsten zusetzten. Einen davon, der ihm schon an den Hals gesprungen war, streckte ein kräftiger Stockhieb zu Boden.

Für ein halbes Dutzend Wölfe genügte das freilich nicht, ihnen Furcht einzujagen; es waren ihrer überhaupt zu viele, einen nach dem andern abzutun, ohne vom Revolver Gebrauch zu machen. Obendrein ging der Stock nach einem wuchtigen, nach dem Kopfe eines andern Tieres geführten Schlage in seiner Hand, die ihn so erfolgreich benutzte, leider in Stücke.

Der Mann suchte sein Heil nochmals in der Flucht, blieb aber, da die Wölfe ihm nachsprangen, wieder stehen und gab nun vier Schüsse auf die Angreifer ab.

Tödlich verwundet brachen zwei der Bestien auf dem von ihrem Blute geröteten Eise zusammen; zwei Kugeln waren aber fehl gegangen, dennoch sprangen die erschreckten andern Wölfe wohl um zwanzig Schritte weit zurück.

Der Flüchtling hatte keine Zeit, den Revolver aufs neue zu laden. Die Bande kam schon wieder zurück, bereit, sich auf den Unglücklichen zu stürzen. Nachdem jener zweihundert Schritte weit entflohen war, hatten ihn die Tiere wieder eingeholt und schlugen die Zähne in die Schöße seines Kaftans; abgerissene Stücke davon hingen ihnen im Maule… er fühlte ihren glühenden Atem. Machte er einen Fehltritt, so wars um ihn geschehen. Erheben konnte er sich dann nicht wieder und wurde von den wütenden Bestien zerfleischt.

War hiermit wirklich seine letzte Stunde gekommen? Nach so vielen Mühen und Strapazen, so vielen Gefahren, nach dem Boden der Heimat zurückzukehren, und es sollte von ihm nur ein wenig Gebein darauf übrig bleiben?

Beim ersten Tagesschimmer zeigte sich endlich das Ende des Sees. Der Regen hatte aufgehört und das Land ringsumher war in leichten Dunst gehüllt. Die Wölfe stürzten sich auf ihr Opfer, das sie mit Kolbenschlägen abwehrte, während sie auf ihn einbissen und ihn mit den Tatzen packten.

Plötzlich stieß sich der Mann an eine Art Leiter… wohin diese führte, das war jetzt gleichgültig. Konnte er nur deren Sprossen erklimmen, so war es den Wölfen unmöglich, ihm nachzuklettern, und er befände sich vorläufig in Sicherheit. Die Leiter stieg ein wenig schräg vom Boden auf, doch reichte sie merkwürdigerweise nicht ganz herunter, so als ob sie aufgehängt wäre, und der Nebel verhinderte zu sehen, woran sie oben anlag.

Der Flüchtling packte die Leiterbäume und schwang sich auf die untersten Sprossen, während die Wölfe sich zum letzten Male auf ihn stürzten und ihre Spitzzähne in seine Stiefel bohrten, deren Leder dabei zerriß.

Die Leiter knarrte und krachte unter der Last des Mannes, sie schwankte bei seiner Bemühung, sie zu erklettern. Sollte sie gar umschlagen? Dann würde er dennoch zerrissen… von den Tieren verzehrt…

Doch nein: die Leiter hielt aus; er erkletterte deren oberste Sprossen mit der Gewandtheit eines Marsgastes, der die Webeleinen der Wanten ersteigt.

Oben ragte das Ende eines dicken Balkens hervor, der einer Radnabe ähnelte und worauf man rittlings sitzen konnte.

Der Mann war damit außer dem Angriffsbereich der Wölfe, die unter der Leiter umhersprangen und sich mit furchtbarem Heulen erschöpften.

 

 Zweites Kapitel.

Ein Slawe für den anderen.

 

Der Flüchtling befand sich vorläufig in Sicherheit. Wölfe können nicht ebenso klettern wie Bären, die in den livländischen Wäldern übrigens nicht weniger zahlreich vorkommen und sehr gefährlich sind. Er brauchte ja aber nicht eher hinunterzusteigen, als bis sich die Tiere zurückgezogen hatten, was jedenfalls mit Tagesanbruch geschehen würde.

Jetzt fragte er sich auch, warum denn die »Leiter« an diesem Orte angebracht war und woran sie mit ihrem oberen Ende festsaß.

Wie erwähnt, war das an einer Nabe oder einem kleinen Rade, von wo noch drei ähnliche Leitern hinausragten… in Wahrheit, zusammen die vier Flügel einer Mühle, die sich unweit von dem Abflusse der Embach aus dem See auf einem kleinen Erdhaufen erhob. Glücklicherweise war die Mühle nicht in Gang gewesen, als der Flüchtling einen ihrer Flügel erkletterte.

Freilich lag die Möglichkeit vor, daß die Mühle beim ersten Tagesschein in Betrieb gesetzt würde, wenn sich einigermaßen Wind erhob. Dann mußte es schwierig werden, sich auf ihrer sich drehenden Welle zu erhalten, und außerdem würde der Müller, wenn er seine Leinwand ausgespannt und die Mühle mit dem äußeren Hebelbaum richtig gedreht hatte, den an der Kreuzungsstelle der Flügel sitzenden Mann bemerken. Einen Abstieg konnte der Flüchtling aber trotzdem nicht wagen.

Noch schwärmten die Wölfe um den Erdhaufen und drohten mit ihrem Geheul Leute in einigen nahe liegenden Häuschen zu wecken.

Hier gab es nur einen Ausweg: ins Innere der Mühle einzudringen, sich für den Tag über zu verstecken, wenn – was sehr wahrscheinlich war – der Müller sich nicht darin aufhielt, und den Abend abzuwarten, um dann weiter zu wandern.

Der Mann schwang sich deshalb nach dem Dache hinauf und erreichte glücklich die Luke für den Hebelbaum, der schräg hinunter fast bis zur Erde verlief.

Die Mühle war, wie hierzulande allgemein, mit einer Art umgedrehter Schale, oder vielmehr mit einer Art Mütze ohne Rand bedeckt. Dieses Dach rollte auf einer Reihe von Laufrädchen im Innern, mit deren Hilfe die ganze Einrichtung leicht in die gewünschte Lage gebracht werden konnte. Hieraus geht hervor, daß das hölzerne Hauptbauwerk unbeweglich auf dem Erdboden ruhte und nicht auf einem Zapfen in der Mitte, wie die meisten Mühlen in Holland. Zwei offene, einander gegenüberstehende Türen vermittelten den Zutritt.

Durch die Luke konnte der Flüchtling trotz ihrer Enge ohne besondere Schwierigkeit und ohne Geräusch hineinschlüpfen. Im Innern lag hier eine Art Dachkammer, durch die wagrecht der Wellbaum verlief, der wieder durch ein Zahngetriebe mit der senkrechten Welle in Verbindung stand, durch die das eigentliche Mühlwerk im unteren Raume in Bewegung gesetzt wurde.

Die Stille war hier ebenso tief wie die Finsternis. Daß sich in der untern Abteilung zu dieser Stunde niemand befände, war als ziemlich gewiß anzunehmen. Eine steile, an der Plankenwand hin verlaufende Treppe führte nach diesem unteren Raume, der als Fußboden nur den Erdhaufen hatte. Die Vorsicht gebot jedoch, die Dachkammer nicht zu verlassen. Erst essen, dann schlafen, das waren die zwei dringendsten Bedürfnisse, die der Flüchtling nicht mehr lange unbefriedigt lassen konnte. Er verzehrte also den Rest seines Mundvorrates, was ihn freilich nötigte, sich im Laufe der nächsten Wanderung neuen zu beschaffen. Wo und wie… das würde sich ja finden.

Gegen sieben Uhr früh war der Nebel aufgestiegen und die Umgebung der Mühle nun bequem zu erkennen. Beim Herausbiegen aus der Luke sah man da, zur Rechten eine von der Schneeschmelze mit Tümpeln bedeckte Ebene, durch die nach Westen zu eine endlose Straße mit dicht beieinander liegenden Baumstämmen verlief, denn sie durchschnitt eine Sumpfstrecke, über der ganze Völker von Wasservögeln flatterten. Zur Linken dehnte sich der – bis auf die Mündungsstelle der Embach – noch mit Eis bedeckte See aus.

Da und dort ragten einzelne Fichten und Tannen mit düsterem Nadelschmuck auf, die dadurch in auffallendem Gegensatze zu entblätterten Ahornen und Erlen standen.

Der Flüchtling bemerkte zuerst, daß die Wölfe, deren Geheul schon seit einer Stunde verstummt war, den Platz verlassen hatten.

»Gut, murmelte er für sich hin, doch die Zollbeamten und die Polizisten sind mehr zu fürchten als dieses Raubgesindel. Je näher der Küste, desto schwieriger wird es sein, den Häschern zu entgehen… Ich falle schon fast in Schlaf, doch vorher muß ich noch untersuchen, wie es im Fall eines Alarms möglich ist, zu entfliehen.«

Der Regen hatte aufgehört, die Luftwärme war um einige Grad gestiegen und der Wind war mehr nach Westen umgeschlagen. Da er schon ziemlich lebhaft wehte, lag die Befürchtung nahe, daß der Müller seine Mühle wieder arbeiten lassen werde.

Beugte man sich zur Luke hinaus, so sah man in der Entfernung von einer halben Werst vereinzelt mehrere Häuschen mit stellenweise weißen Strohdächern, aus denen schwache Rauchwolken hervorwirbelten. Dort wohnte jedenfalls der Besitzer der Mühle, und es empfahl sich, die Häusergruppe im Auge zu behalten.

Der Flüchtling wagte sich jetzt auf die Stufen der Innentreppe und stieg nun bis zu dem Gebälk hinunter, worauf das Triebwerk ruhte. Unten standen eine Anzahl Säcke mit Getreide. Die Mühle war also nicht verlassen, sie arbeitete jedenfalls, wenn der Wind zur Drehung ihrer Flügel stark genug war, folglich konnte der Müller jetzt jeden Augenblick kommen und sie gegen den Wind einstellen.

Unter diesen Verhältnissen wäre es unklug gewesen, im untern Raum zu verweilen, und ratsamer erschien es, wieder nach dem Dachraum zu gehen und da einige Stunden Schlaf zu genießen. Unten drohte die Gefahr, überrascht zu werden. Die beiden in die Mühle führenden Türen waren nur durch einfache Fallklinken geschlossen, und jeder Beliebige, der bei etwaigem Wiedereinsetzen des Regens nach einer Zuflucht spähte, konnte in der Mühle Unterkunft suchen. Übrigens frischte auch der Wind weiter auf, und der Müller mußte sich bald einstellen.

Der Mann begab sich über die Holztreppe also wieder nach oben, wobei er einen letzten Blick durch die kleinen Öffnungen in der Wand gleiten ließ, er erreichte den Dachraum und versank hier, von Müdigkeit überwältigt, in tiefen Schlaf.

Welche Zeit mochte es sein, als er wieder erwachte?… So gegen vier Uhr. Es war heller Tag, die Mühle stand aber noch immer still.

Ein glücklicher Zufall wollte es, daß er, der Flüchtling, als er von der Kälte halb erstarrt erwachte, sich beim Ausdehnen der Glieder nur schwach bewegte, was ihn vor einer großen Gefahr bewahrte.

Er vernahm nämlich einen Austausch von Worten aus dem untern Raume, wo mehrere Personen ziemlich lebhaft miteinander sprachen. Diese waren eine halbe Stunde vor seinem Erwachen eingetreten, und er wäre zweifellos entdeckt worden, wenn sie die Dachkammer bestiegen hätten.

Der Mann hütete sich jetzt vor jeder Bewegung. Auf dem Fußboden hingestreckt, lauschte er gespannt auf das, was unter ihm gesprochen wurde.

Schon die ersten Worte verrieten ihm, wer die Leute da unten waren. Er begriff sofort, welcher Gefahr er entgangen sein würde – wenn er ihr überhaupt entging – das heißt, wenn es ihm gelang, die Mühle vor oder nach dem Weggange der Männer zu verlassen, die jetzt mit dem Müller sprachen.

Es waren das drei Polizeibeamte, ein Brigadier mit zwei seiner Untergebenen.

Jener Zeit begann die Russifizierung der Verwaltung in den baltischen Provinzen noch kaum mit der Ausschließung der dortigen germanischen Elemente zugunsten der slawischen. Hier standen noch eine Menge Polizisten deutscher Herkunft in Dienst. Unter diesen zeichnete sich der Brigadier Eck durch seinen Diensteifer aus und durch die Strenge, mit der er ebenso den Angehörigen seiner eigenen Rasse wie den Russen Livlands entgegentrat. Ein schlauer und bei seinen Vorgesetzten gut angeschriebener Patron, verfolgte er mit wahrem Feuereifer die ihm überwiesenen Kriminalfälle, setzte seinen Stolz in jeden erzielten Erfolg und ließ sich durch keinen Fehlschlag abschrecken. Bei der ihm jetzt anvertrauten wichtigen Nachforschung entwickelte er um so größere Energie, als es sich hier um das Aufgreifen eines aus Sibirien entflohenen Sträflings, eines Livländers von moskowitischer Herkunft handelte.

Während der Flüchtlingschlief, war der Müller nach der Mühle gekommen, um hier den Tag über seiner Beschäftigung nachzugehen. Gegen neun Uhr hatte er gemeint, daß der Wind kräftig genug sei, und wenn er die Flügel da in Bewegung gesetzt hätte, wäre der Schläfer gewiß beim ersten Geräusch davon erwacht. Infolge eines seinen Regens frischte der Wind aber nicht weiter auf. Der Müller stand wartend an seiner Tür, als Eck und die anderen Polizisten ihn bemerkten und in die Mühle eintraten, um von ihm einige Erkundigungen einzuziehen.

»Du weißt nichts davon, begann Eck, von einem etwa dreißig- bis fünfunddreißigjährigen Mann, der hier am Ende des Sees aufgetaucht wäre?

– Nicht das geringste, versicherte der Müller. Zur jetzigen Jahreszeit kommen im Laufe des Tages kaum zwei Personen in unseren Weiler. Handelt sich's um einen Ausländer?

– Einen Ausländer?… Nein, um einen Russen, und zwar um einen solchen aus den baltischen Provinzen.

– Ah… um einen Russen? wiederholte der Müller.

– Jawohl… um einen Schurken, den zu fangen für mich sehr wichtig ist!«

Für einen Polizeibeamten ist ein Flüchtling natürlich immer ein Schurke, ob dieser nun wegen eines politischen Vergehens oder wegen eines Verbrechens gegen das gemeine Recht verurteilt gewesen war.

»Und ihr seid ihm wohl auf den Fersen?

– Seit vierundzwanzig Stunden, wo sein Erscheinen an der livländischen Grenze gemeldet worden war…

– Ist es bekannt, wohin er will? fuhr der von Natur etwas neugierige Müller fort.

– Das liegt doch auf der Hand, erwiderte Eck. Er geht natürlich dahin wo er auf ein Schiff kommen kann, sobald das Meer eisfrei ist… jedenfalls nach Reval oder vor allem nach Riga.«

Der Brigadier wies mit Recht auf diese Stadt, das alte Kolywan der Russen, hin, einen Platz, wo der Seeverkehr des Nordens des Reiches zusammenströmt. Diese Stadt steht durch die kurländische Küstenbahn auch in unmittelbarer Verbindung mit St. Petersburg. Für einen Flüchtling war es also wichtig, sich nach Reval durchzuschlagen, das gleichzeitig ein Seebadeort ist, oder, wenn nicht Reval selbst, so doch sein Vorort Balliskly, der am Ausgange der dortigen Bucht liegt und deshalb zuerst von der Einschließung durch Eis frei wird. Bis Reval, einer der alten Hansestädte, die zu einem Drittel von Deutschen, zu zwei Dritteln von Esthländern bewohnt ist, waren es von der Mühle aus freilich noch hundertvierzig Werst, eine Strecke, die vier starke Tagesmärsche in Anspruch nahm.

»Warum denn nach Reval? bemerkte dazu der Müller. Der Spitzbube täte doch weit besser, sich Pernau zuzuwenden.«

Bis dahin hatte dieser in der Tat nur hundert Werst zurückzulegen. Was aber das doppelt so weit wie Pernau entlegene Riga betraf, schien es überflüssig, die Nachsuchungen nach dieser Richtung hin auszudehnen.

Natürlich vernahm der Flüchtling, der sich in der Dachkammer nicht rührte, den Atem anhielt und voller Spannung lauschte, die unten gewechselten Worte, woraus er für sich Nutzen zu ziehen hoffte.

»Ja freilich, Pernau ist im Auge zu behalten, antwortete der Brigadier, und die Patrouillen von Fallen haben schon Auftrag, das Land dort zu überwachen. Immerhin ist anzunehmen, daß unser Ausreißer sich nach Reval wenden werde, wo er am frühesten zu Schiffe gehen könnte.«

Das war auch die Ansicht des Majors Verder, der damals unter der Leitung des Obersten Raguenos die Polizei der Provinz Livland befehligte. Auch Eck hatte sich schon in demselben Sinne schlüssig gemacht.

Teilte der Oberst Raguenos, ein Slawe von Geburt, auch nicht die Sympathien und Antipathien des Majors Verder, der von deutscher Abkunft war, so stimmte der zweite in dieser Beziehung doch mit seinem Untergebenen, dem Brigadier Eck, vollständig überein. Einigermaßen ausgleichend und mäßigend stand über beiden aber noch der Gouverneur der baltischen Provinzen, General Gorko. Dieser hohe Beamte teilte übrigens vollständig die Absichten der Reichsregierung, die, wie schon erwähnt, darauf hinausgingen, die Verwaltung der Provinzen allmählich zu russifizieren.

Das Gespräch in der Mühle dauerte noch einige Minuten an. Der Brigadier beschrieb den Flüchtling entsprechend dem Signalement, das den verschiedenen Polizistenabteilungen des Landes übermittelt worden war: Größe übermittel, Körperbau kräftig, Alter etwa fünfunddreißig Jahre; Bart voll und stark Kleidung brauner Kaftan, wenigstens zur Zeit, wo der Gesuchte die Grenze überschritten hatte.

»Ich versichere wiederholt, äußerte dazu der Müller, daß sich ein solcher Mann… ein Russe, sagtet ihr?…

– Jawohl, ein Russe.

– Nun, ich erkläre, daß er sich in unserem Weiler nicht gezeigt hat, und ihr würdet in keinem Hause auch nur eine Spur von dem Gesuchten finden.

– Du weißt, fügte der Brigadier noch hinzu, daß jeder, der ihm Unterschlupf gewährt, Gefahr liefe, verhaftet und gleich einem Mitschuldigen behandelt zu werden.

– Das Väterchen möge uns seinen Schutz verleihen… ja, das weiß ich, und werde mich keiner solchen Gefahr aussetzen!

– Recht so, meinte der Brigadier, es ist auch klug und weise, mit dem Major Verder nichts zu tun zu haben.

– Ich werde mich schön hüten, Brigadier.«

Eck brach nun auf und bemerkte nur noch im Fortgehen, daß seine Leute und er das Land zwischen Pernau und Reval weit absuchen würden und daß die Polizeipatrouillen Befehl erhalten hätten, miteinander in Verbindung zu bleiben.

»Halt, sagte der Müller, der Wind geht ja mehr nach Südwesten um und wird auch stärker. Könnten mir eure Leute nicht ein wenig helfen, die Mühle zu drehen?… Dann brauchte ich nicht erst andere Hilfe herbeizuholen und könnte die ganze Nacht hier bleiben.«

Eck erlaubte das mit Vergnügen. Seine Polizisten gingen zur gegenüberliegenden Tür hinaus, packten an dem großen Hebelbaum an und drehten das Dach auf seinen Laufrollen, bis die Flügel richtig gegen den Wind eingestellt waren. Kaum waren diese mit Segelleinwand bezogen, da ließ die Mühle nach Einrückung des Zahnradgetriebes schon ihr regelmäßiges Tick-tack hören.

Der Brigadier und seine Leute wanderten nun in nordwestlicher Richtung hinaus.

Dem Flüchtling war von dem ganzen Gespräche nichts entgangen. Aus diesem ergab sich, daß ihn die schlimmsten Gefahren im letzten Teile seiner abenteuerlichen Fahrt bedrohten. Sein Eintreffen war hier gemeldet worden. Die Patrouillen sollten im gegenseitigen Einverständnis vorgehen, sich seiner zu bemächtigen. Erschien es nun ratsam, weiter auf Reval zu wandern?… Nein, dachte er. Besser, er ginge auf Pernau zu, das er in kürzerer Zeit erreichen könnte. Bei der jetzigen Zunahme der Temperatur konnte, in der Ostsee wie im finnischen Meerbusen, der Aufbruch des Eises sich nicht mehr lange verzögern.

Hierüber im Klaren, galt es für ihn nur noch, aus der Mühle zu entkommen, sobald die Dunkelheit die weitere Flucht ermöglichte.

Wie sollte das aber geschehen, ohne die Aufmerksamkeit des Müllers zu erregen?… Da dessen Mühle bei dem stetig gewordenen Winde arbeitete, richtete er sich hier unzweifelhaft gleich für die folgende Nacht ein. An einen Versuch, nach dem untern Raum zu gelangen und durch die eine oder andere Tür zu entweichen, war überhaupt nicht zu denken. Vielleicht war es möglich, durch die Dachluke zu schlüpfen. bis zu dem großen, zur Bewegung des Daches dienenden Hebelbaume zu kriechen und über diesen hin den Erdboden zu erreichen.

Ein gewandter kräftiger Mann konnte das wohl versuchen, obgleich sich die Flügelwelle drehte und die Gefahr nahe lag, sich in den Zähnen des Triebwerkes zu fangen. Dann war einer freilich bedroht, zermalmt zu werden, doch darauf durfte es jetzt nicht ankommen.

Noch fehlte eine Stunde, bis es finster genug wäre. Wenn der Müller nun aber vorher in den Dachraum hinauskam, sobald ihn irgend ein Umstand dazu veranlaßte… konnte der Flüchtling auch dann noch hoffen, unentdeckt zu bleiben?… Nein, gleichgültig, ob es dann noch hell oder schon dunkel war, denn im zweiten Falle würde der Müller ja eine Laterne mitbringen.