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Italo Svevo

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Beschreibung

Italo Svevo war ein italienischer Schriftsteller. Svevo gilt als führender italienischer Romanautor des 20. Jahrhunderts. In Italien wird Svevo mittlerweile als einer der größten Schriftsteller gefeiert, den Italiens klassische Moderne hervorgebracht hat. Seine Helden scheitern am wirklichen Leben, dies aber auf eine beklemmende oder komische Weise, die Svevos Lektüre interessant macht. In Hamburg wird jährlich der mit 15.000 EUR dotierte Italo-Svevo-Preis verliehen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Italo Svevo

Ein gelungener Scherz und andere Novellen

Aus dem Italienischen übertragen vonKarl Hellwig

Müller & I. KiepenheuerGmbH. Verlag Potsdam

Alle Rechte vorbehalten

1932

Druck der Offizin Haag-Drugulin AG. Leipzig

 

 

Vorwort

Italo Svevo oder Ettore Schmitz, wie er im bürgerlichen Leben hieß, wurde am 19. Dezember 1861 in Triest geboren. Seine Vorfahren waren Deutsche, doch hatte sein Vater, wie auch sein Großvater, der als österreichischer Beamter in Treviso lebte, eine Italienerin geheiratet. Als Ettore zwölf Jahre alt war, wurde er mit seinen Brüdern auf eine Schule in der Nähe Würzburgs geschickt, wo er fünf Jahre blieb. Bald beherrschte er die deutsche Sprache so vollkommen, daß er die Klassiker ohne Mühe zu lesen vermochte. Seine Lieblingsschriftsteller waren Jean Paul und Schopenhauer. Die Eindrücke dieser Jugendjahre waren so nachhaltig, daß Svevo noch kurz vor seinem Tode Deutschland das Land nannte, dem stets seine ganze Liebe gegolten habe. Wie sehr der Dichter, der wohl der Sprache und politischen Überzeugung nach Italiener, seiner geistigen Struktur nach aber Deutscher war, sich deutschem Geiste verpflichtet fühlte, bewies er, als er sein ursprüngliches Pseudonym Ettore Samigli aufgab und sich bedeutungsvoll Italo Svevo, den »italienischen Schwaben« nannte.

Nach seiner Rückkehr aus Deutschland besuchte Ettore zwei Jahre lang die Handelshochschule in Triest und übernahm dann, durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage seines Vaters gezwungen, die bescheidene Stellung eines kleinen Bankangestellten. In seinem ersten Roman »Una Vita«, der 1893 erschien, hat der Dichter mit autobiographischer Treue sein damaliges Leben geschildert. Er hatte gehofft, sich durch literarische Erfolge von einer Tätigkeit freizumachen, die ihm als Beruf aufgedrängt worden war, zu der er sich aber in keiner Weise berufen fühlte. Seine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Als auch sein zweiter Roman »Senilità«, der sechs Jahre später erschien, das eisige Schweigen, mit dem man das erste Werk empfangen hatte, nicht zu brechen vermochte, zog der Dichter sich von dem literarischen Markt zurück, auf dem niemand seiner begehrte. Er war so erbittert, daß er keinen weiteren Versuch unternahm, eine Anerkennung zu erzwingen, die ihm, wie er wohl wußte, zu Unrecht versagt blieb. Er beschränkte sich daher in den folgenden Jahren fast ganz auf seine geschäftliche Tätigkeit, von der er seit seiner Heirat mit Livia Veneziani, durch die er Teilhaber und bald der eigentliche Leiter eines angesehenen Handelshauses wurde, völlig in Anspruch genommen war. Und fast war er froh darüber, daß ihm nun kaum noch eine freie Stunde blieb, in der er literarischen Neigungen hätte nachgehen können, denn, wenn er auch nur einen einzigen Satz schrieb, wurde er, wie er später gern erzählte, sofort zerstreut und weniger geschickt zu geschäftlicher Tätigkeit. »Da ich aber wohl fühlte,« sagte er einmal, »daß ich mich irgendwie künstlerisch betätigen mußte, widmete ich die wenigen freien Stunden, die mir blieben, dem Studium der Violine, um nur ja nicht ein drittes Mal der Literatur zu verfallen. Daß die Kur nicht glückte, weiß man ja, und manchmal sinne ich darüber nach, was mich wohl trieb, in einem Alter von zweiundsechzig Jahren noch einmal nach einem Verleger auf die Suche zugehen.« Es wird Ettore nicht anders ergangen sein als Mario Samigli, dem Helden seiner Novelle » Ein gelungener Scherz«. Denn auch er hatte wohl, »obgleich doch wirklich nicht mehr jung an Jahren, den Glauben noch immer nicht verloren, daß er vom Schicksal zum Ruhme ausersehen wäre«.

Immerhin vergingen vierundzwanzig lange Jahre in stiller Reifung, aber ohne jede Produktivität. Und vielleicht hätte er nie den Weg zur Literatur zurückgefunden, wären nicht zwei Momente von entscheidender Bedeutung zusammengetroffen. Das erste war die Bekanntschaft mit den Werken Sigmund Freuds, die er zunächst nur las, um sich selber ein Urteil darüber zu bilden, ob die psychoanalytische Methode geeignet sein könnte, einem Freunde die erhoffte Heilung zu bringen. Wie es ihm dabei erging, erzählt der Dichter in seinen Aufzeichnungen zu einem Vortrage, den er zu halten gedachte, aber nie gehalten hat (» Parole non dette«, abgedruckt in der Zeitschrift »Il Convegno« vom 25. April 1931): »Ich lernte die Psychoanalyse im Jahre 1910 kennen. Einer meiner Freunde, der nervös erkrankt war, fuhr nach Wien, um sich psychoanalytisch behandeln zu lassen. Daß dadurch meine Aufmerksamkeit auf die Psychoanalyse gelenkt wurde, war das einzige erfreuliche Ergebnis dieser Kur. Mein Freund ließ sich zwei Jahre lang psychoanalytisch behandeln und kehrte schließlich nahezu völlig gebrochen zurück. War er schon vorher willenlos gewesen, so war er es nun erst recht. Da er nämlich die Gewißheit erlangt zu haben glaubte, daß es keine Rettung für ihn gäbe, wurde sein Leiden nur um so hartnäckiger ... Als Behandlungsmethode war die Psychoanalyse für mich ohne jedes Interesse. Ich war gesund, oder wenn ich krank war, liebte ich meine Krankheit vielleicht so sehr, daß ich gewillt war, sie für mich zu behalten und mit allen Kräften gegen jedermann zu verteidigen. Jedenfalls gab ein Freudianer, dem ich mich anvertraute, meiner Antipathie gegen den Stil seines Meisters diese Deutung. Das primitive Tier, das auch in mir stecke, meinte er, bisse wütend um sich, um seine Krankheit vor jedem Eingriff zu schützen. Aber die Psychoanalyse ließ mich fortan nicht mehr los. Es wurde ihr freilich nicht schwer, mich festzuhalten, da mein Geist von nichts anderem gefesselt war.« Bald war Svevos Geist von der neuen Welt, die sich ihm auftat, und die er in seinem Roman » Senilità« schon zu einer Zeit vorausgeahnt hatte, da noch niemand etwas von Freud wußte, so gefesselt, daß er nicht eher Ruhe fand, als bis er sich mit der Psychoanalyse dichterisch auseinandergesetzt hatte.

Das zweite Moment, das Svevo zur Literatur zurückführte, war ganz anderer Art. Als Ettore Schmitz sich im Jahre 1906 aus geschäftlichen Rücksichten entschloß, englischen Unterricht zu nehmen, führte ihn der Zufall zu James Joyce, der, von niemand gekannt, als Sprachlehrer in Triest lebte. Der englische Dichter, der schon damals seinen Weg klar vor Augen sah, spürte in dem Roman » Senilità« einen verwandten Geist und riet dem Verfasser, sein resigniertes Schweigen zu brechen. Es vergingen aber noch weitere zwölf Jahre, ehe Ettore Schmitz, durch den Weltkrieg zu geschäftlicher Untätigkeit gezwungen, Zeit und Muße fand, sich ein Buch von der Seele zu schreiben, das ihn die langen Jahre des Schweigens bewegt und zur Gestaltung gedrängt hatte. Endlich, im Jahre 1923, erschien der dritte Roman: » La Coscienza di Zeno.« Aber auch dieses Werk brachte dem Dichter zunächst nur neue Enttäuschungen. In den bereits erwähnten Aufzeichnungen sagt Svevo: »Nun muß ich gestehen, daß ich, wie alle, die publizieren, auf einen Erfolg gehofft hatte. Als mein Buch aber erschien, fand ich statt des erhofften Widerhalls eine tiefe Kirchhofsstille. Wenn ich heute davon spreche, kann ich lachen, und ich hätte vielleicht auch damals gelacht, wenn ich jünger gewesen wäre. Da das aber leider nicht der Fall war, litt ich dermaßen unter meinem Mißerfolg, daß ich den Satz prägte: Alten Leuten ist die Beschäftigung mit der Schriftstellerei nicht zuträglich. Ich war es gewiß schon gewohnt, keine Beachtung zu finden, aber diesen neuen Mißerfolg ertrug ich nicht, weil er mir den Appetit und den Schlaf raubte.«

Diesmal aber war Svevo nicht gewillt, die unverdiente Nichtbeachtung mit Stillschweigen hinzunehmen. Da er keine Zeit mehr hatte, auf den Ruhm zu warten, beschloß er, aus der bisher geübten Zurückhaltung herauszutreten und seinen Roman an James Joyce zu schicken, der inzwischen, zu internationaler Berühmtheit gelangt, nach Paris übergesiedelt war. Und Joyce enttäuschte das in ihn gesetzte Vertrauen nicht. Mit dem Erscheinen des von ihm inspirierten Aufsatzes von Valéry Larbaud im Februarheft 1926 des »Navire d'Argent«, das gleichzeitig Proben aus den beiden Hauptromanen Svevos brachte, erwachte das Interesse der gebildeten Welt, und nun erwachte endlich auch das Nationalbewußtsein der Italiener, die einen ihrer größten Dichter so völlig verkannt hatten.

Spät war der Ruhm gekommen, und der Dichter wußte ihn heiter lächelnd und ohne Überhebung zu tragen. Er versuchte nun nachzuholen, was er in der langen Periode der Unproduktivität versäumt hatte. Aber nur zwei Jahre des Schaffens waren ihm noch vergönnt. Am 13. September 1928 erlag er den Folgen eines Automobilunfalls.

Außer den drei großen Romanen, von denen bisher nur » Zeno Cosini« deutsch vorliegt (in der Übertragung von Piero Rismondo, 2. Auflage 1930), hat Italo Svevo ein Schauspiel » Un Marito«, einige kleinere Schriften und eine Reihe von Novellen hinterlassen. Die Novelle » Ein gelungener Scherz« (Una Burla Riuscita) erschien ebenso wie » Feuriger Wein« (Vino Generoso) im Jahre 1926, die Fabel » Die Mutter« (La Madre) 1910. Die Skizze » Kleine Geheimnisse« (Piccoli Segreti) wurde aus dem unveröffentlichten italienischen Manuskript übertragen.

Man hat Italo Svevo mit Joyce und Proust verglichen, man hat Flaubert, Balzac und Dostojewski seine Paten genannt, wir können getrost Jean Paul, Schopenhauer und Sigmund Freud hinzugesellen – sein Ruhm wird dadurch nicht geschmälert. Bewundernswert bleibt der Mut, mit dem Svevo in seinen Werken, die doch so ganz autobiographischen Charakters sind, die Sonde bis in die letzten Tiefen des Bewußtseins führt, die Gedanken, Träume, Zweifel, guten Vorsätze, Hemmungen, Krankheiten und Feigheiten seiner Helden analysiert und die geheimsten Falten der menschlichen Seele bloßlegt. Italo Svevos Bücher sind wie die Früchte vom Baume der Erkenntnis, und wer davon ißt, dessen Augen werden auf getan. Er sieht, daß er nackend ist, und beginnt sich seiner Nacktheit zu schämen.

Karl Hellwig

 

 

 

 

 

Ein gelungener Scherz

I

Der Schriftsteller Mario Samigli war fast sechzig Jahre alt. Vor vierzig Jahren hatte er einen Roman veröffentlicht, den man wohl mit Recht hätte tot nennen dürfen, wenn sterben könnte, was nie gelebt hat. Mario indessen erfreute sich trotz seiner weißen Haare noch immer eines beschaulichen Daseins, soweit ihm sein Beruf die Zeit dazu ließ. In seiner bescheidenen Stellung hatte er freilich keinen Anlaß, über zuviel Arbeit zu klagen, und sein Einkommen war zwar nicht bedeutend aber doch sicher. Ein solches Leben ist gesund, und es wird noch gesünder, wenn es von einem so schönen Traum begleitet und gewürzt wird wie das Marios. Er hatte nämlich, obgleich doch wirklich nicht mehr jung an Jahren, den Glauben noch immer nicht verloren, daß er vom Schicksal zum Ruhme ausersehen wäre. Nicht etwa, weil er meinte, etwas Besonderes geleistet zu haben, auch nicht, weil er hoffte, noch etwas Besonderes leisten zu können, sondern nur deshalb, weil ein gewisser Mangel an Entschlossenheit ihm jede Auflehnung gegen sein Geschick verwehrte und ihn hinderte, eine Überzeugung mühsam wieder zu zerstören, die er sich vor so vielen Jahren gebildet hatte. Und so erwies es sich, daß auch die Macht des Schicksals ihre Grenzen hat. Das Leben hatte Mario wohl diesen oder jenen Knochen brechen können, die wichtigsten Organe aber waren unversehrt geblieben: die Achtung vor sich selbst und auch ein wenig Achtung vor den Mitmenschen, von denen der Ruhm doch letzten Endes abhängig ist. Und so begleitete ihn auf seinem Lebenswege stets ein Gefühl innerer Zufriedenheit.

Wenige Menschen nur ahnten etwas von Marios Einbildung, denn er wußte sie mit jener fast unbewußten Schlauheit des Träumers zu verheimlichen, die ihm hilft, seinen Traum vor dem Zusammenprall mit der harten Alltäglichkeit zu bewahren. Manchmal freilich ließ er doch etwas von seinen Träumen durchsickern, und dann bestärkte ihn, wer ihm wohlgesinnt war, in dieser unschuldigen Anmaßung, während die andern wohl lachten, wenn sie Mario über tote oder lebende Autoren mit entschiedenen Worten urteilen oder gar sich selber den Wegbereiter einer neuen Zeit nennen hörten, ihre Heiterkeit aber zügelten, sobald sie ihn erröten sahen. Denn auch ein Sechzigjähriger kann wohl noch erröten, wenn er ein Schriftsteller ist, und wenn es ihm wie dem armen Mario ergeht. Aber auch das Lachen ist gesund und keine schlechte Sache. So waren denn alle ganz zufrieden: Mario, seine Freunde und selbst seine Feinde.

Mario schrieb nur äußerst wenig, ja, lange Zeit hatte er mit dem Schriftsteller nichts weiter gemein als die Feder und das immer weißbleibende Papier, das aufnahmebereit auf seinem Schreibtisch lag. Diese Jahre waren die glücklichsten seines Lebens. Sie waren reich an schönen Träumen und frei von jeder beschwerlichen Mühewaltung. Sie waren wie eine zweite fröhliche Kindheit und köstlicher selbst als die Reifezeit des glücklicheren Schriftstellers, der, von dem Worte mehr gefördert als gehemmt, alles zu Papier zu bringen weiß und dann einer leeren Schale gleicht, während er noch immer glaubt, eine schmackhafte Frucht zu sein.

Dieser glückliche Zustand konnte nur so lange Bestand haben, wie es bei dem bloßen Bemühen blieb, ihn aufzugeben, und Mario bemühte sich ständig, wenngleich er keine allzu gewaltsamen Anstrengungen machte. Zu seinem Glück gelang es ihm aber nie, einen Weg zu finden, der ihn in das Ungewisse geführt hätte. Noch einmal etwa einen Roman zu schreiben wie in seinen jungen Jahren, als er noch das Leben jener Leute bewunderte, die an Besitz und Rang so hoch über ihm standen, daß er nur mit Hilfe eines Fernrohrs zu ihnen emporzublicken vermochte, wäre ein unmögliches Unterfangen gewesen. Zwar liebte er seinen Roman noch immer, denn dazu bedurfte es ja keiner besonderen Anstrengung, und er schien ihm ebenso lebensfähig wie alles auf dieser Welt, das vorgibt, einen Anfang und ein Ende zu haben. Wenn er sich aber aufs neue daranmachen wollte, jenen Schattengestalten durch die Macht des Wortes ein papiernes Leben einzuhauchen, empfand er einen heilsamen Schauder. Die volle, wenngleich unbewußte Reife seiner sechzig Jahre verbot ihm ein derartiges Werk. Das Leben gewöhnlicher Sterblicher aber zu beschreiben, etwa das eigene, das vorbildlich tugendhaft und in seiner schlichten und stillen Selbstbescheidung nicht ohne Größe war – das kam ihm nicht in den Sinn. Denn dazu fehlte ihm die technische Sicherheit und die Liebe zum Gegenstande. Gewiß war dieser Mangel richtiger Selbsteinschätzung bedauerlich, aber man weiß ja, daß er sich bei denen häufig findet, die niemals auf den Höhen des Lebens wandeln durften. Schließlich interessierten ihn die Menschen – mochten sie auf den Höhen oder in den Niederungen des Lebens wandeln – überhaupt nicht mehr. Jedenfalls glaubte er, sein Interesse hätte sich von ihnen abgewandt, um sich nun ganz den Tieren zuzuwenden. Er begann also Fabeln zu schreiben, und so entstanden in seinen Mußestunden kleine, leblose Geschöpfe seiner Phantasie, die freilich eher einbalsamierten Mumien als mit Verwesungsgeruch behafteten Leichen glichen. Kindlich wie er war – nicht etwa wegen seines Alters, denn er war es immer gewesen –, hatte er an diesen Fabeln seine Freude, und er erblickte in ihnen einen neuen Anfang, eine gute Übung, eine Vervollkommnung und fühlte sich jünger und glücklicher denn je.

Anfangs wiederholte er den Fehler seiner Jugendarbeit. Denn er schrieb von Tieren, die er wenig kannte, und seine Fabeln erdröhnten von dem Gebrüll des Löwen und dem Trompetengeschmetter des Elefanten. Dann wurde er menschlicher, wenn man so sagen darf, und nun schrieb er von Tieren, die er zu kennen glaubte. So lieferte ihm die Fliege eine stattliche Anzahl von Fabeln und zeigte sich auf diese Weise nützlicher, als man glauben sollte. In einer seiner Fabeln bewunderte er die Schnelligkeit dieses Zweiflüglers, die wahrhaft vergeudet ist, da sie weder dazu dient, die Beute zu erjagen noch sich selber vor Schaden zu bewahren. Die Moral dieser Geschichte legte er einer Schildkröte in den Mund. In einer anderen Fabel lobte er die Fliege, weil sie die schmutzigen Dinge vernichtet, die sie so liebt. In einer dritten wunderte er sich darüber, daß die Fliege, das augenreichste aller Tiere, so unvollkommen sieht. In einer vierten endlich ließ er einen Mann, der eine lästige Fliege zerquetscht hatte, zu der Ermordeten sagen: »Ich habe dir eine Wohltat erwiesen, denn siehe, nun bist du keine Fliege mehr.« – Auf diese Weise war es nicht schwer, täglich bis zum Morgenkaffee eine neue Fabel fertig zu haben. Der Krieg mußte kommen, um ihn zu lehren, daß die Fabel ein Ausdruck seiner eigenen Seele werden konnte. Da erwachte die Mumie aus ihrer Starre und wurde ein wesentlicher Bestandteil seines Lebens.

Beim Ausbruch des italienischen Krieges fürchtete Mario, daß die kaiserliche und königliche Polizei in Triest nichts Eiligeres zu tun haben könnte, als ihm, einem der wenigen italienischen Schriftsteller, die in der Stadt geblieben waren, den Prozeß zu machen, der vielleicht damit enden würde, ihn an den Galgen zu bringen. Dieser Gedanke war voller Schrecken, barg aber zugleich eine süße Hoffnung, so daß er bald frohlockte, bald vor Angst erblich.

Er stellte sich vor, daß seine Richter – ein ganzes Kriegsgericht, das sich aus Vertretern aller militärischen Rangstufen vom General abwärts zusammensetzte – verpflichtet wären, seinen Roman zu lesen, und, wenn sie über ihn ein Urteil fällen wollten, aufmerksam zu studieren. Dann würde zweifellos ein etwas schmerzlicher Augenblick kommen. Aber wenn das Kriegsgericht nicht aus lauter Barbaren bestand, war wohl zu hoffen, daß man ihm, zum Dank für die genußreichen Stunden der Lektüre, das Leben schenken würde. Deshalb schrieb er fleißig, solange der Krieg dauerte, und er schwebte immer zwischen Furcht und Hoffnung wie ein Schriftsteller, der weiß, daß er ein Publikum hat, das auf sein Wort wartet, um darüber zu Gericht zu sitzen. Aber er war vorsichtig genug, nur Fabeln zu schreiben, deren Sinn nicht eindeutig war, und zwischen Furcht und Hoffnung erwachten seine kleinen Mumien aus ihrer Todesstarre zu wirklichem Leben. Sicher hätte das Kriegsgericht ihn nicht leicht verurteilen können, weil er etwa die Fabel von dem starken Riesen schrieb, der auf sumpfigem Boden gegen Tiere kämpfte, die leichter waren als er, bis er, immer siegend, in dem Boden versank, der ihn nicht tragen konnte. Wer hätte wohl beweisen wollen, daß Deutschland gemeint war? Und weshalb mußte unbedingt Deutschland mit dem Löwen gemeint sein, der immer siegte, weil er sich nicht zu weit von seiner großen, schönen Höhle entfernte, bis man eines Tages entdeckte, daß die große, schöne Höhle sich ganz vortrefflich dazu eignete, ihn auszuräuchern?

So gewöhnte sich Mario daran, alles, was er erlebte und fühlte, in das Gewand der Fabel zu kleiden. Diese Entwicklung seiner literarischen Fähigkeiten verdankte er der Polizei, die indessen von den einheimischen Schriftstellern nicht die geringste Notiz nahm. Solange der Krieg dauerte, blieb Mario daher unbehelligt, was ihn zwar beruhigte, zugleich aber auch ein wenig enttäuschte.

Einen weiteren Fortschritt machte Mario insofern, als er sich nun geeignetere Helden für seine Fabeln aussuchte: nicht mehr Elefanten, die in fernen, unbekannten Ländern lebten, nicht mehr Fliegen, die mit ausdruckslosen Augen in die Welt blickten, sondern die kleinen Sperlinge, die er in seinem Hofe mit Brotkrumen fütterte – was zu jener Zeit in Triest eine unerhörte Verschwendung war. Täglich pflegte er eine Weile ihrem Treiben zuzuschauen, und dieser Teil des Tages war der schönste, weil er so ganz von Poesie erfüllt war – wie vielleicht nicht einmal die Fabeln, die ihm doch ihre Entstehung verdankten. Er war in seine kleinen Freunde so verliebt, daß er sie am liebsten abgeküßt hätte. Wenn er sie des Abends auf den Dächern der Nachbarhäuser und auf dem verkümmerten Bäumchen des Hofes zwitschern hörte, dachte er, daß sie sich nun, bevor sie das Köpfchen zum Schlafe auf den Rücken legten, erzählten, was sie am Tage erlebt hatten. Des Morgens dasselbe lebhafte und melodische Geplauder. Dann erzählten sie sich wohl, was sie in der langen Nacht geträumt hatten. Wie er selber, kannten auch sie ein doppeltes Erleben: das des wirklichen Lebens und das der Träume. Sie waren doch schließlich Tiere, in deren Köpfchen Gedanken wohnen konnten. Dazu waren sie hübsch gezeichnet und sehr drollig in ihren Bewegungen. Sie waren so schwach, daß sie einem leid tun konnten, dafür aber hatten sie Flügel, um die man sie beneiden mußte. Es waren ungemein lebendige Tiere. Die Fabel freilich blieb noch immer eine kleine Mumie, die in Axiomen und Theorien erstarrte. Aber man konnte sie nun doch wenigstens mit einem Lächeln schreiben.

Marios Leben war reich an solchem Lächeln. Eines Tages schrieb er:

»Mein Hof ist klein, aber wenn man Übung hat, könnte man dort zehn Kilogramm Brot täglich verfüttern.« Solche Träume kann nur ein Dichter träumen. Wie hätte man in jener Zeit wohl zehn Kilogramm Brot für die Vöglein beschaffen sollen, da sie doch keine Brotkarten bekamen? An einem andern Tage schrieb er: »Jeden Abend bricht auf dem kleinen Kastanienbaum in meinem Hofe der Krieg aus, wenn die Sperlinge den besten Platz für die Nacht suchen. Ich wünschte, ich könnte einmal Frieden stiften. Das wäre von guter Vorbedeutung für die Zukunft der Menschheit.«

Mario schenkte den armen Sperlingen so viele Gedanken, daß er ihre Schwäche darüber vergaß. Sein Bruder Giulio aber, der mit ihm zusammen wohnte, und der behauptete, seine literarischen Arbeiten zu lieben, liebte sie doch nicht genügend, um auch die Vögel in seine Liebe mit einzuschließen. Er meinte, es fehle ihnen an Ausdruck. Aber Mario erklärte, sie wären selber ein Ausdruck der Natur, eine Ergänzung dessen, das unbewegt liege oder sich auf dem Boden fortbewege, eine Ergänzung, die darüber schwebe, wie der Akzent über dem Worte, wie das Ausdruckszeichen über der Notenschrift.

Sie sind der heiterste Ausdruck der Natur: denn selbst die Furcht erscheint bei den Vögeln nicht so verächtlich wie bei den Menschen. Nicht etwa, weil sie sich hinter ihrem Federkleide verbürge, nein, sie tritt ganz offen zutage, aber sie ändert nichts an dem anmutigen Zusammenspiel ihrer Organe. Ihr kleines Gehirn scheint dabei gänzlich unbeteiligt. Das Auge oder Ohr fängt das Alarmzeichen auf und gibt es unmittelbar an die Flügel weiter. Ist das nicht etwas Wunderbares? Ein Gehirn ohne Furcht in einem Organismus auf der Flucht! Eins der Tierchen meldet Alarm, und alle fliehen, jedoch als sprächen sie: »Ein guter Anlaß, Furcht zu haben!«

Sie kennen kein Zögern. Es ist ja so einfach zu fliehen, wenn man Flügel hat. Und ihr Flug ist so unerhört sicher. Erst im letzten Augenblick weichen sie Hindernissen aus und schlüpfen durch das engmaschigste Gewirr von Baumzweigen, ohne sich aufzuhalten oder sich zu verletzen. Zu denken beginnen sie erst, wenn sie schon weit sind, und dann erst schauen sie sich um und suchen zu ergründen, weshalb sie eigentlich geflohen sind. Anmutig neigen sie das Köpfchen nach rechts und nach links und warten geduldig, bis sie ruhig nach dem Orte zurückkehren können, von dem sie geflohen sind! Wenn sie bei jeder Flucht Angst hätten, lebten sie schon längst nicht mehr. Und Mario hatte sie im Verdacht, daß sie sich absichtlich so viel Aufregung machten. Sie könnten doch in aller Ruhe das Brot verzehren, das man ihnen schenkt, und statt dessen schließen sie die verschmitzten Äuglein und sind überzeugt, daß jeder Bissen erstohlen ist. Das erst macht ihnen das trockene Brot richtig schmackhaft. Als echte Diebe essen sie das Brot niemals dort, wo es ihnen hingeworfen wird, und dort zanken sie sich auch nie, denn das wäre gefährlich. Der Streit um die Krümchen bricht erst aus, wenn sie sich nach der Flucht an einer andern Stelle wieder zusammenfinden.

Aus all diesen Beobachtungen entstand fast von selber eine Fabel:

Ein freigebiger Mann hatte viele Jahre lang den Vöglein jeden Tag Brot geschenkt, und er war überzeugt, daß ihr Herz für ihn voller Dankbarkeit schlüge. Er hatte keine Augen im Kopfe, denn sonst hätte er bemerkt, daß die Vöglein ihn für einen Dummkopf hielten, weil sie ihm so viele Jahre lang das Brot hatten stehlen können, ohne daß es ihm gelungen wäre, auch nur eines von ihnen zu fangen.

Es scheint unmöglich, daß ein Mann wie Mario, der immer heiter war, eine solche Fabel schreiben konnte. So war er also nur nach außen hin heiter? Wie hätte er sonst dem heitersten Ausdruck der Natur so viel Bösartigkeit und Ungerechtigkeit anhängen können? Das hieß ja, ihn völlig zerstören! Mir scheint auch, daß Mario die Menschen schwer beleidigte, als er den Gefiederten eine solche Undankbarkeit andichtete, denn wenn schon die Vöglein, die doch nicht sprechen können, dergleichen Reden führen, wie würden sich dann wohl erst die Menschen ausdrücken, die mit einer langen Zunge begnadet sind?

Und alle seine kleinen Fabeln waren im Grunde tief traurig. Während des Krieges kamen nur sehr wenige Pferde durch Triest, und diese wenigen wurden ausschließlich mit Heu gefüttert. Daher fehlten auf der Straße jene schmackhaften Körner, die bei der Verdauung unversehrt bleiben. Und Mario fragte in einer Fabel seine kleinen Freunde: »Seid ihr verzweifelt?« – »Nein,« antworteten die Vöglein, »aber weniger zahlreich.«