Ein Goldfisch in der Grube - Lars Gebhardt - E-Book

Ein Goldfisch in der Grube E-Book

Lars Gebhardt

4,9

Beschreibung

"Da waren wieder die Fragen. Diese Fragen, die unbarmherzig in Selbstzweifel übergingen. In der Regel blieben die Fragen in den hintersten Windungen meines Gehirns verborgen, wenn ich in dieses genügend Alkohol hatte fließen lassen. Jetzt waren sie aber wieder da und führten mir die gar jämmerliche Situation, in die ich mich in den letzten Wochen zielsicher bugsiert hatte, brutal vor Augen." Wie soll man seinem Leben eine neue Richtung verleihen, wenn man die bisherige noch nicht einmal kennt. Und wie soll das gehen, wenn man vor allen Dingen gar nicht weiß, wohin einen das Leben zukünftig führen soll? Solche Fragen stellt sich der Erzähler dieses Romans und bekommt ganz unverhofft erste Antworten, als ihm durch Zufall ein Koffer voller Kokain in die Finger kommt. Dennoch streift er weiter ziellos durch das Nachtleben von Hamburg und Berlin, stets auf der Suche nach einem Sinn, der sich ihm allerdings nicht erschließen will. Dabei erlebt er so manches Abenteuer zwischen Drogenrausch, Kneipendunst, Punk Rock und unpersönlichem Sex...

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Das Buch

Wie soll man seinem Leben eine neue Richtung verleihen, wenn man die bisherige noch nicht einmal kennt. Und wie soll das gehen, wenn man vor allen Dingen gar nicht weiß, wohin einen das Leben zukünftig führen soll? Solche Fragen stellt sich der Erzähler dieses Romans und bekommt ganz unverhofft erste Antworten, als ihm durch Zufall ein Koffer voller Kokain in die Finger kommt. Dennoch streift er weiter ziellos durch das Nachtleben von Hamburg und Berlin, stets auf der Suche nach einem Sinn, der sich ihm allerdings nicht erschließen will. Dabei erlebt er so manches Abenteuer zwischen Drogenrausch, Kneipendunst, Punk Rock und unpersönlichem Sex...

Der Autor

Lars Gebhardt wurde 1973 in Unna / Westfalen geboren. Er studierte Germanistik und Medienwissenschaften in Hamburg, wo er noch heute lebt und als Fotoredakteur arbeitet. Seit seiner Jugend schreibt er für diverse Untergrund-Magazine und war in den 90er Jahren Herausgeber und Chefredakteur des "Stay Wild" Fanzines. Mit "Ein Goldfisch in der Grube" erscheint nun sein Debüt-Roman.

Die Geschichte ist den vier Wolles gewidmet.

Und natürlich Iggy Pop.

Inhaltsverzeichnis

First verse same as the frst

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Second verse same as the frst

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Third verse different from the frst

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Fourth verse same as the frst

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

First verse same as the frst

- 1 -

Da waren wieder die Fragen. Diese Fragen, die unbarmherzig in Selbstzweifel übergingen. In der Regel blieben die Fragen in den hintersten Windungen meines Gehirns verborgen, wenn ich in dieses genügend Alkohol hatte fießen lassen. Jetzt waren sie aber wieder da und führten mir die gar jämmerliche Situation, in die ich mich in den letzten Wochen zielsicher bugsiert hatte, brutal vor Augen. So sehr ich auch versuchte, diese unangenehmen Gedanken zu verdrängen, es wollte mir einfach nicht gelingen. Und über allem schwebte, wie das verdammte Damokles Schwert, ein überdimensionales Fragenzeichen.

Wie sollte ich da nur wieder herauskommen? - Warum habe ich mich soweit aus dem Fenster gelehnt? - Warum konnte ich nicht rechtzeitig die Handbremse ziehen? -Weshalb setzte mein Verstand für einige Monate voll und ganz aus? - Woher kam der Teufel, der mich in dieser Zeit ritt? - Wohin würde mich diese Schlitterpartie auf dem Glatteis des Großstadtlebens bringen? - Wann gedachte ich, auf dem Zick-Zack-Kurs des Alttages die Weichen mal wieder auf geradeaus zu stellen?

Ich saß, wie die letzten Abende zuvor, erneut im Point One und versuchte mich am dritten Bier. Das Point One war in den letzten Wochen zu so etwas wie meinem zweiten Wohnsitz geworden. Hier fühlte ich mich wohl. In der kleinen schummerigen Kiezkneipe gleich gegenüber der Bavaria Brauerei versammelten sich Nacht für Nacht, am Wochenende mehr als an den Werktagen, zahlreiche gescheiterte Existenzen, die ihr Leben nicht in den Griff kriegten und an der Anonymität dieser verdammten Großstadt langsam aber sicher zu Grunde gingen. Bei verhältnismäßig billigem Flaschenbier und klarem Schnaps ließen sich hier die Probleme des grauen Alltags für einige Zeit verdrängen und man konnte sich ungehemmt den Plattitüden der Szene hingeben. Das Ambiente war dementsprechend. Die spärliche Eichenholzeinrichtung wurde nur durch wenige rote Glühbirnen über den Tischen, einer abgedeckten Neonröhre hinterm Tresen und etwas Schwarzlicht vor dem Toilettenbereich erhellt. An den Wänden hingen einige Filmplakate aus den 50er und 60er Jahren, die von coolen jungen Helden, schnellen Autos und hübschen Frauen erzählten. Hinter mir grinste James Dean von der Wand, vor mir zog sich Betty Page bis auf die knappe schwarze Unterwäsche aus. Mit all dem hatten die Gäste nicht viel gemein.

Der Laden war treu des heutigen Sonntages mit drei weiteren Gästen nur äußerst spärlich besucht. Morgen gingen sie alle wieder ihrer Arbeit nach und kurierten sich von den alkohol- und drogenreichen zwei Tagen des Wochenendes aus, um am nächsten Freitag wieder alles über Bord zu werfen und sich erneut die Lichter auszuschießen. Fünf Tage in der Woche muss man sich zur Arbeit hinquälen, einer Tätigkeit nachgehen, die man eigentlich freiwillig nie verrichten würde, wenn man nicht das Geld so dringend benötigte. Und wozu? Nur um an den zwei Tagen des Wochenendes dieses Geld dafür auszugeben, seinen Körper auf dem Weg zum Rentenalter wieder ein Stück weiter kaputtzumachen. Alles wiederholt sich und wird zur Routine. Aber vielleicht ist eine solche Regelmäßigkeit im Alltag gar nicht mal so verkehrt. Bei mir lief seit Wochen nichts mehr rund. Was ich auch anfasste, es ging in die Hose. Warum muss ich zu den Typen gehören, bei denen in diesem riesigen Moloch von einer Stadt trotz intensivster Bemühungen nichts klappt? Der einzige bin ich sicher nicht, aber einer unter vielen. Doch gab ich mir wirklich genügend Mühe?

Ich grübelte darüber nach, wie es wohl den anderen Personen um mich herum gehen würde. Da war zum einen dieses Pärchen am Fenster. Soziologiestudenten im zwanzigsten Semester. Kaum zu glauben, aber es gibt auch zum Ende dieses Jahrtausends immer noch Menschen, die sich einen Friedenstauben-Button an die dunkelbraune Kordjacke stecken. Dass der Typ dazu auch noch ausgelatschte beigefarbene Schnabelschuhe trug, rundete das Gesamtbild, was ich mir von ihm machte, nur noch ab. Seine Angebetete hatte sich in ihrem knöchellangen Blümchenrock mit dazugehöriger weißer Bluse richtig herausgeputzt. Doch auch bei ihr stellte das gleiche Schuhwerk meine klischeebeladene und von Vorurteilen nur so überschwappende Welt wieder ins rechte Licht. Sie unterhielten sich, wie es bei Menschen dieses Typus Usus ist, angeregt und gestenreich, wobei das Gespräch mehr einem Monolog seinerseits glich, da er sie kaum zu Wort kommen ließ. Zum Glück drangen die Worte nicht bis zu mir durch, jedoch konnte ich mir genau vorstellen, worüber sie sich unterhielten. Wahrscheinlich malte er ihr gerade in allen Farben des Himmels die Vorzüge einer platonischen Freundschaft von Mann und Frau bis zur Eheschließung aus, im Hinterkopf aber permanent darüber nachdenkend, wie er sie später wohl noch fachlegen könnte. Ständig schielte sein Blick in Richtung ihres rechten Knies, welches derzeit nicht vom Rock verdeckt wurde. Aber nicht nur ich, sondern auch seine Gesprächspartnerin hatte diese Blicke bereits bemerkt, fühlte sich von diesen aber in keiner Form gestört, im Gegenteil, wohl eher geschmeichelt. Wie leicht man diese Ökotanten doch beeindrucken kann. Da muss man nur eine runde Brille tragen, etwas schlau daherreden können und ihr durch zwei, drei zufällige Blicke auf die richtigen Stellen symbolisieren, dass man sich auch von ihren optischen Reizen zu ihr hingezogen fühlt, schon werfen sie all ihre Prinzipien über Bord und lassen sich auch schon mal ans unrasiertes Muschihaar fassen. In unregelmäßigen zwei- bis dreiminütigen Abständen fngen beide kurz, aber intensiv an zu lachen, um wenige Augenblicke später durch einen auffälligen Lidschlag mit dazugehörigem Räuspern wieder die für sie nötige Ernsthaftigkeit anzunehmen. So gut gelaunt tranken die Beiden ein Glas Rotwein nach dem anderen und schienen derzeit nicht das geringste Problem zu haben. Prinzipielle Rotweintrinker sind mir seit je her suspekt. Nicht dass ich jemanden nach seinem Lieblingsgetränk aburteile, aber für solche Leute hat ein ordinäres Bier bereits etwas derart proletenhaftes an sich, dass sie ihren intellektuellen Stand alleine durch das Trinken von Rotwein vom üblichen Pöbel abgrenzen müssen. Wahrscheinlich wäre beiden auch eher nach einem kühlen, herben Bier zu Mute, als sich den Fusel runter zu zwingen, der einem im Point One als „trockener Roter“ angedreht wird.

„Kennst du schon die neue Platte von Turbonegro“, hörte ich den Kerl neben den Wirt fragen. Ich drehte mich um und sah ihn mir genauer an. Die tief eingefallenen Augen und die kränklich blasse Haut ließen stark durchzechte Nächte erahnen. Seine abgewetzte schwarze Lederjacke mit entsprechendem The-Damned-Anstecker am Kragen und die mit Klebeband zusammengehaltenen Doc Martins sorgten dafür, ihn schnell der Kategorie „gescheiterter Altpunk, der den Absprung nicht geschafft hat“ zuzuordnen. Wie bemitleidenswert ich diese Verlierertypen schon immer fand. Vor fünfzehn Jahren war er wahrscheinlich eine ziemlich große Nummer in der hiesigen Punkszene, heute aber imponiert er höchstens noch sechzehnjährigen Nachwuchsrebellen damit, dass er schon so lange dabei ist. Dass er sich in dieser Zeit aber kein Stück weiterentwickelt hat und immer noch auf dem geistigen Stand von damals geblieben ist, merkt er selbst gar nicht mehr. Vor einigen Jahren dachte ich noch, Punk würde für Rebellion stehen. Und geht Rebellion nicht stets Hand in Hand mit Erneuerung? Und steht Erneuerung nicht für Innovation? Aber wo bleibt die Innovation, wenn der Typ noch immer den gleichen gequirlten Mist von damals erzählt? Hier scheint Stagnation der Weg zu sein.

Er redete und redete ohne Punkt und Komma auf den Wirt ein, den das Vorgetragene völlig kalt zu lassen schien. Für ihn schien es wichtigeres auf der Welt zu geben als die neue Platte von Turbonegro. In aller Seelenruhe wusch er seine Gläser ab und nickte hin und wieder. Andi hieß er und war eine Seele von Mensch. Seit Jahren arbeitete er nun schon in diversen Bars auf dem Kiez und hatte mit den verschiedensten Leuten sämtlicher Couleur und Gesellschaftsschicht zu tun. Er kannte sie alle, und kaum jemand konnte ihm etwas vormachen. Sein ausgemergeltes Gesicht, in dem man allerdings stets ein verschmitztes Grinsen auszumachen glaubte, verlieh ihm eine gewisse Distanz zu seiner Umwelt. Seine mit tanzenden Skeletten und lodernden Flammen tätowierten kräftigen Oberarme zeigten außerdem eindeutig, dass man bei einer körperlichen Auseinandersetzung mit Andi auf der Hut sein sollte. In der Vergangenheit hatte ich ihn bereits zwei Mal erlebt, wie er von betrunkenen Gästen im Point One dermaßen genervt war, dass er sie kurzerhand mit roher körperlicher Gewalt in ihre Grenzen verwies. Provozieren oder auf die Palme bringen sollte man ihn daher besser nicht. Ich war mir nicht sicher, ob sich der Altpunk dessen bewusst war. Dass Andi von seinen langatmigen Ausschweifungen über Turbonegro, die ja früher viel besser waren als heute, immer mehr gelangweilt war, wurde von Augenblick zu Augenblick offensichtlicher. Dennoch ließ er den Redeschwall des Altpunks über sich ergehen und machte gute Miene zu bösem Spiel. In diesem Moment war ich mir sicher, nicht der einzige Versager in dieser Stadt zu sein. Ich trank mein Bier aus, zahlte mit meinem letzten Geld die Rechnung bei Andi und verließ das Point One. Morgen würde ich bestimmt wieder hier landen.

Ich ging die Davidstraße runter und schenkte den am linkem Gehweg stehenden Nutten nicht mal einen Blick.

„Hey Süßer, wollen wir nicht ein bisschen Spaß zusammen haben?“ Aus meiner Lethargie gerissen blieb ich stehen und schaute mir die Dame an. Jung war sie, sehr jung. Vielleicht 18 oder 19 Jahre alt. Ihr mädchenhaftes Gesicht und die zwei blonden Zöpfe, die rechts und links vom Kopf herunterbaumelten, gaben ihr ein eher kindliches und dadurch leicht naives Aussehen. Dank Britney Spears schien sich dieser Frauentyp wieder zunehmender Beliebtheit zu erfreuen. Ihre langen, schlanken Beine steckten bis weit übers Knie in Lederstiefeln und was sie weiter oben als Rock trug, würde besser unter dem Etikett Gürtel durchgehen. Die pinkfarbene Bluse war fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft und ließ mehr von ihrer für ihr Alter sehr üppigen Oberweite erkennen, als sie verdeckte.

„Mach dein Hemd zu und geh zurück zu Mami nach Hause“, knurrte ich.

„Du versoffener Arsch, verpiss dich!“ Sie spuckte in meine Richtung, traf mich jedoch nicht.

„Lern im nächsten Leben mal was Ordentliches, dann musst du solchen Typen wie mir nicht den Arsch hinhalten“, brummelte ich und ging weiter, während die junge Nutte noch hinter mir her pöbelte.

„Halt bloß das Maul. Guck dich mal an. So ein Arschloch wie du muss auch noch lehrerhaft daherlabern. Weißt du, was du bist? - Ein blöder, klugscheißender, versoffener Wichser! Hau bloß ab!“

Auf dem Hans-Albers-Platz setzte ich mich auf einen Stromkasten, zündete mir meine letzte Zigarette an und starrte vor mich hin.

Wie ich denn aussehen würde, rief mir die Nutte hinterher. Das gab mir zu denken. Wie sah ich denn aus? Als Teenager stand mir die Rolle des jungen Rebellen mit Witz und Charme recht gut zu Gesicht. Zumindest ließen sich immer wieder genügend Mädchen, wenn auch meistens nur für einen Abend, davon imponieren. Die Lederjacke erfüllte also ihren Zweck. Doch inzwischen ist sie mir ein bisschen kurz an den Ärmeln geworden. Und schwarz erscheint sie mir auch nicht mehr. Eher grau. Meine Turnschuhe gaben mir in der Schule noch einen sportlichen Anstrich. Jetzt gaben mir die durchgelaufenen Dinger eher den eines Hungerleiders. Und während ich mich so betrachtete und mein optisches Erscheinungsbild in Frage stellte, musste ich mir eingestehen, dass man sich trotz ständiger Geldknappheit im Portemonnaie hin und wieder ein neues T-Shirt zulegen kann. Dann müsste ich nicht an einem Sonntag in meinem bereits zweimal gefickten und dennoch durchlöcherten Ramones-Hemd ausgehen. Warum also klammerte ich mich daran so fest? Des guten Aussehens wegen sicherlich nicht, denn davon hatte es nichts mehr oder ließ es zumindest nicht mehr erkennen.

Warum hatte ich mich in den letzten drei Monaten nur so gehen lassen? Als ich Anfang des Jahres meine Stelle bei dieser Plattenfrma verlor, weil ich ständig krankfeierte, war mir das egal. Jetzt konnte das Leben für mich ja erst richtig losgehen. Ein wenig Geld hatte ich ja auch noch auf der Bank und dazu Leute in meinem Bekanntenkreis, welche die gleichen Prioritäten im Leben setzten wie ich. Jeden Abend hatten wir uns getroffen und systematisch einen zur Brust genommen. Wir tranken Bier und Schnaps in Unmengen und fngen an, ständig die Nase über große Kokainberge zu halten. Dermaßen aufgepeppt fühlten wir uns jeden Abend wie die Könige. Keiner konnte uns was, und wir hatten selten ein anderes Thema als uns selber zu feiern. Bis weit in den nächsten Morgen war es dann immer gegangen und regelmäßig erlitt ich einen klassischen Filmriss. Mit der Zeit wurde dieses Spiel zur Gewohnheit. Ich wachte schwer verkatert am frühen Nachmittag auf und dachte nur daran, wie und wo wir uns am Abend wieder treffen würden. Spätestens dann würde auch der Kater verschwunden sein.

Der permanente Kokainkonsum hatte auch stark an meiner physischen Verfassung genagt. Ich fühlte mich jeden Tag hundeelend und schaffte es kaum noch, ohne ein paar Biere und bestenfalls das restliche Kokain der Vornacht auf die Beine zu kommen. Über das Finanzielle machte ich mir kaum Gedanken, denn irgendwie war permanent für Drogen und Alkohol gesorgt. Und ansonsten fand ich auch immer noch jemanden, der mir Geld lieh. Da ich in diesen Augenblicken bereits zum großen Adlerfug durch Hamburgs Nachtleben abgehoben hatte, machte ich mir auch nie Gedanken darüber, wie ich das alles wieder zurückzahlen sollte.

Aber bereits meine Mutter sagte damals schon zu mir, als ich noch klein war, ich sei nicht auf den Kopf gefallen und könnte, wenn ich nur wollte, etwas ganz tolles aus mir machen. Das haftete mir fast mein Leben lang an. Mit meinen Fähigkeiten stünden mir doch alle Wege offen. Und mit genügender Intelligenz sei ich ja auch - dem Herrgott sei Dank - gesegnet worden. Also hätte man früher diese Möglichkeiten alle gehabt.

Mein Problem war jedoch, dass ich keine Ahnung hatte, was am Leben toll sein sollte. Mich reizte weder das idyllische Familienglück im trauten Eigenheim inklusive Einbauküche, Fußbodenheizung und lächelnder Ehefrau, noch wollte ich ein Aussteigerdasein auf einer Neuseeländischen Emuzuchtfarm führen. Und Wege dazwischen taten sich mir nicht auf. Zumindest keine, die einen Reiz auf mich ausüben konnten. Berufiche Karriere kam bislang gar nicht in Frage, privates Glück fand ich besser beim Feiern mit den vermeintlichen Freunden, als in Zweisamkeit mit der noch vermeintlicheren großen Liebe. Diese bürgerliche Alternative der Lebensführung erschien mir, je öfter ich darüber nachdachte, immer unattraktiver.

Im Grunde genommen jedoch dachte ich nur selten in meinem Leben darüber nach, etwas Tolles aus mir zu machen. Das Amüsement, die Frauen und vor allem der Alkohol und die Drogen hatten stets erste Priorität. Schon mit Einsetzen der Pubertät, mit ersten Pickeln und feuchten Bettlaken, fand ich Gefallen daran, mich betrunken daneben zu benehmen. So wurden die ersten Schulpartys im Bierrausch verlebt und nicht selten endeten sie kopfüber in der Toilette. Auch später, als ich es nicht scheute, für mein Wochenendvergnügen halbe Weltreisen in Kauf zu nehmen, war König Alkohol stets ein guter Weggefährte. Und so zog sich diese beliebteste aller Drogen bi heute wie ein roter Faden durch mein weiteres Leben.

Ich erinnerte mich an meine damaligen Seminare während der Ausbildung zum Bankkaufmann, wo mich selbige stets nicht im geringsten interessierten. Aber dort war ich für eine Woche in einer anderen Stadt, in einem anonymen Hotel mit mir gänzlich unbekannten Leuten. Hier konnte ich mich ausleben und später sah ich keines dieser austauschbaren Gesichter wieder. Mit vier verschiedenen Frauen auf drei Seminaren hatte ich Affären und war insgeheim auch mächtig stolz auf diese Quote. Bei einem Seminar zum Thema „Inner- und außerbetrieblicher Datenschutz“ in Dortmund gelang es mir, die mit weitem Vorsprung attraktivste Seminarteilnehmerin für meine Qualitäten als Mann zu begeistern. Ihr Name war Manu und sie stammte aus Nürnberg. Ihre in wunderbare Proportionen eingefassten Einmetersiebzig wurden durch ein dermaßen hübsches Gesicht abgerundet, dass ich mich gar nicht an ihr satt sehen konnte. Wenn sie mich anlächelte, schmolz ich regelmäßig dahin. So störte mich auch nicht ihr übertriebener fränkischer Dialekt, der mir unter normalen Umständen nach wenigen Sätzen aus ihrem Mund, gehörig auf die Nerven gegangen wäre. Doch ich war nicht mehr ganz ich selbst und lauschte ehrfürchtig ihrem manchmal kaum verständlichen Gebrabbel. Am zweiten Abend der Seminarwoche war ich mit anderen Teilnehmern in einer hotelnahen Kneipe. Darunter war auch Manu. Wir tranken alle ein paar Biere, ich rauchte draußen mit Manu einen kleinen Joint und wir kamen uns näher. Irgendwann zu fortgeschrittener Stunde firtete ich wild mit ihr, und wenig später standen wir fest in einander verbissen vor den Toiletten. Doch bevor wir den Akt gleich hier an Ort und Stelle vollzogen, überzeugte mich Manu, doch lieber in ihr Hotelzimmer zu entschwinden. Gesagt, Zeche bezahlt und getan. Kaum in ihrem Zimmer angekommen, rissen wir uns die Kleider vom Leib und felen übereinander her. Sie hatte eine phantastische Figur, wusste was sie wollte und raubte mir den letzten Verstand. Erst in den frühen Morgenstunden felen wir erschöpft nebeneinander in den Schlaf. Es war eine meiner aufregendsten Nächte. Am nächsten Tag fühlte ich mich trotz völliger Übermüdung während des Seminars wie auf dem Dach der Welt. Als ich sie am nächsten Abend auch noch bei einem Konzert in der Live-Station Arm in Arm einigen alten Freunden aus Dortmund, mit denen ich dort verabredet war, als neue Eroberung präsentierte, hatte ich auch ohne Drogen das Gefühl der König für eine Nacht zu sein. Danach hatten wir noch zwei weitere gemeinsame Nächte, bevor das Seminar zu Ende ging. Sie fuhr nach Nürnberg, ich nach Hamburg. Wir sahen uns nie wieder.

„Haste nicht mal ein paar Groschen für mich?“, riss mich ein an mir vorbeischlendernder Berber aus meinen Gedanken. Er roch nach billigem Fusel und sah aus, als hätte er in den über vierzig Jahren seines Erdendaseins noch nie eine Badewanne gesehen. In seinem ungepfegten Bart hingen diverse undefnierbare Brocken, die auf eine äußerst ungewöhnliche Ernährung schließen ließen. Er tat mir leid, rief aber dennoch kein Mitleid in mir hervor. Außerdem sah meine Finanzlage wahrscheinlich genauso erbärmlich aus wie die seine.

„Schon mal einem nackten Neger in die Tasche gefasst“, fragte ich ihn gleichgültig. Er ließ mich links liegen und führte seinen ziellosen Weg durch Hamburgs Gassen weiter fort. Ich schaute ihm nach, und meine Wehmut wuchs. So wollte ich nicht enden. Welche Ziele und Ideale hatte er wohl früher gehabt? Hatte er sie immer noch? Oder interessierten Ideale ihn überhaupt nicht mehr?

Über fünftausend Mark Schulden hatten sich in den letzten Monaten angesammelt, die Miete stand im Rückstand und sämtliche Konten waren bis zum äußersten Limit ausgeschöpft. Jetzt sollte ich bis zum Ende der Woche einen Großteil des Geldes zurückzahlen, um großem Ärger aus dem Wege zu gehen. Warum habe ich mich auch mit solchen Leuten eingelassen? Mit denen ist, vor allem wenn es um Geld geht, nicht zu spaßen. Da mein ganzes Arbeitslosengeld, und das war nicht gerade viel, für den täglichen Nebel im Gehirn ausgegeben wurde, versäumte ich es, meine Rechnungen zu bezahlen und man drohte mir, den Strom abzustellen, das Konto zu sperren und mich vor die Tür zu setzen. Um diese Rechnungen vorerst vom Tisch zu haben, lieh ich mir dreitausend Mark von Tribi und Jensen, und beglich sie. Ein Fehler, den ich mir nur schwer werde verzeihen können, denn nun ging es an die Rückzahlung.

Ich wollte unbedingt die Zahlungsfrist einhalten, denn offene Kredite bei diesen Totschlägern sind etwas noch Unangenehmeres als Wett- und Spielschulden bei entsprechenden Geschäften und Banken. Diese Frist endete jetzt aber am kommenden Freitag. Doch wie sollte ich das Geld nur beschaffen? Das wiederum wäre Tribi und Jensen wohl egal. Wie und woher sie an Geld kommen, interessiert sie nicht. Hauptsache sie bekommen es.

Da ich mir sicher war, heute Nacht in meinem verschleierten Hirn keine Lösung mehr erarbeiten zu können, verdrängte ich diese Sorge wieder. So tat ich es immer, in der Hoffnung am nächsten Tag die zündende Idee zu haben. Nur würde sich bis dahin nichts geändert haben. Ich schob das Problem so nur wieder einen Tag weiter hinaus.

Langsam setzte ich meinen Weg weiter in Richtung Bushaltestelle fort, wo mich in wenigen Minuten der letzte Nachtexpress nach Hause fahren sollte. Dort angekommen warteten bereits einige Figuren des Nachtlebens auf den Bus. Drei Halbwüchsige stammelten völlig unverständlich durcheinander. Keiner schien den anderen anzuhören oder überhaupt wahrzunehmen. Ich vermutete, dass ihr samstagnächtlicher Streifzug durch diverse Techno-Tempel der Stadt erst jetzt sein Ende fand. Mit ausreichend Ecstasy versorgt ließ sich das problemlos bewerkstelligen. Plötzlich stolperte der eine von ihnen und fel auf seinen viel zu tief hängenden Hosenboden. Ein verdutzter Blick und sein gesamter Mageninhalt der letzten Stunden übergoss seine gesamte Garderobe. Seine Weggefährten schien das nicht weiter zu kümmern, denn diese glucksten und gackerten nur vor sich hin und ließen ihren Freund ansonsten sitzen. Ich befürchtete schon, die drei gleich im Bus vor, hinter und neben mir sitzen zu haben, als der gerade noch gefallene lauthals verkündete:

„Jetzt geht’s mir wieder gut. Lasst uns also noch einen nehmen, bevor wir fahren!“ Die beiden anderen halfen ihm auf und gemeinsam schwankten sie davon. Dieser Idee schloss ich mich an und kaufte an der Nachttankstelle noch drei Dosen Bier für den Heimweg. Kurz darauf kam endlich mein Bus.

- 2 -

Montagmittag, das Aufstehen fel mir so schwer wie jeden Tag. Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren, real erlebtes von geträumtem zu differenzieren und den Kopf wieder klar zu kriegen. Ich erkannte mein eigenes Bett und schlussfolgerte daraus, es gestern Nacht also noch heim geschafft zu haben. Bloß wie? Nach wenigen Minuten und einer halben Flasche Wasser gelang es mir, den vorherigen Abend zu rekonstruieren, zumindest den grob abgesteckten Rahmen. Kaum war der Kopf einigermaßen sortiert, merkte ich mal wieder, dass im restlichen zu mir gehörenden Körper einiges im Argen lag. Mein Magen verkrampfte sich in regelmäßigen Abständen fürchterlich, mein rechter Arm schmerzte vom Handgelenk bis bald zur Schulter rauf und mein linkes Knie zeigte deutlich eine große, blutverschmierte Schürfwunde kurz oberhalb des Schienbeines. Große Verwunderung rief dieser ramponierte Zustand jedoch nicht bei mir hervor, denn es war in letzter Zeit schon bald zur Routine geworden, dass ich mich im Vollrausch mal mehr, mal weniger selbst verstümmelte. Ob nun freiwillig oder nicht, spielte eigentlich keine Rolle, genauso wenig wie die Tatsache, dass ich mich am nächsten Tag auch gar nicht mehr erinnern konnte, wie es geschah. Aber großartig besorgt darüber war ich nie. Wahrscheinlich war ich nur auf dem Weg nach Hause gestolpert und unglücklich gefallen, redete ich mir dann ein. Gefährlichere Verletzungen hatte ich bis dato ja auch noch nie davongetragen. Betrunkene haben einen guten Schutzengel, sagt man, und daran glaubte ich auch. Mir felen die bis zum Ende der Woche zu zahlenden Schulden wieder ein. Das war etwas, was mir weit größeren Kummer bereitete. Mir wurde es in der Magengegend noch mulmiger.