Ein Grundeinkommen für alle? - Yannick Vanderborght - E-Book

Ein Grundeinkommen für alle? E-Book

Yannick Vanderborght

4,6

Beschreibung

Wer über die Zukunft des Sozialstaates nachdenkt, kommt an der Idee eines allgemeinen Grundeinkommens nicht vorbei. Danach würde jeder Bürger und jede Bürgerin, vom Arbeitslosen bis zur Topmanagerin, regelmäßig einen festen Betrag erhalten, der durch andere Einkommensarten aufgestockt werden kann. Heiß umstritten, aber keineswegs neu ist dieser Gedanke. Yannick Vanderborght und Philippe Van Parijs schildern knapp und eingängig die wichtigsten historischen Stationen der Idee sowie Versuche ihrer Umsetzung in verschiedenen Ländern. Sie diskutieren unterschiedliche Modelle zu Zahlungsweise, Höhe und Finanzierung eines Grundeinkommens und bieten einen Überblick über die Interessen sozialer Gruppen und politischer Parteien. In einem ausführlichen Nachwort geht Claus Offe auf die spezielle Situation in Deutschland ein. Für die aktuellen Debatten über die soziale Sicherung liefert der Band unverzichtbare Informationen und Argumente.

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LESEPROBE

Van Parijs, Philippe; Vanderborght, Yannick

Ein Grundeinkommen für alle?

Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags

LESEPROBE

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2005. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40185-0

|5|Für Rebecca, Jonathan, Benjamin, Sarah, Nils und Tim in der Hoffnung, dieses Buch möge dazu beitragen, dass die Welt, in der sie leben werden, gerechter wird.

|11|Einleitung

Brasilia, Präsidentenpalast, 8. Januar 2004. Von den Saalwänden lächeln fröhliche Gesichter jeden Alters und jeder Rasse. Dazwischen der Slogan: »Grundeinkommen für alle«. In der allgemeinen Hektik der TV-Teams bringen sich die Minister in Pose. Der brasilianische Staatspräsident betritt in Begleitung seiner Gattin und des Regierungschefs die Bühne. Zwanzig Minuten später, nach zwei offiziellen Ansprachen, erhebt sich Luiz Inácio Lula da Silva unter dem Beifall der Versammelten und unterzeichnet das Gesetz zur Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens für alle Brasilianer. Zwar ist dieses Basiseinkommen dem Gesetzestext zufolge zuerst den Bedürftigsten zugedacht und die schrittweise Ausdehnung auf die gesamte Bevölkerung an haushaltpolitische Rahmenbedingungen gekoppelt. Trotzdem zeigt diese Maßnahme, die ausgerechnet in einem Land verabschiedet wurde, wo man sie am wenigsten erwartet hätte, wie ein Gedanke, der noch vor kurzem als versponnen abgetan wurde, zu einem Bezugspunkt und Antrieb für die politisch Handelnden werden und zur Gestaltung der Wirklichkeit beitragen kann.

Wer heute in Europa oder in anderen Teilen der Welt über die Zukunft der Sozialversicherung nachdenkt, kommt an dem Gedanken eines Grundeinkommens nicht vorbei, d.h. an der Idee, allen Bürgern eine Basisleistung auszuzahlen, die an keinerlei weitere Bedingungen geknüpft und mit jeder Form eines zusätzlichen Einkommens kumulierbar ist.

Dieser überaus simple Gedanke, der zum ersten Mal im ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert worden war und 1981 ohne großes Aufsehen und wie nebenbei in Alaska in die Praxis umgesetzt wurde, hat eine erstaunliche Geschichte in Theorie und Politik hinter sich. Seit Mitte der achtziger Jahre steht er im Mittelpunkt einer immer |12|gehaltvolleren Debatte, die unterdessen auch auf andere Kontinente übergesprungen ist. Im Laufe der Zeit wurde diese Idee von Befürwortern verfochten, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Im rechten wie im linken Lager ließen sich wütende Gegenstimmen vernehmen. Sowohl die Befürworter als auch die Gegner dieser Idee sahen sich jedoch dazu veranlasst, komplexe und kohärente Argumentationen zu entwickeln, die sich mit der Funktionsweise unserer Wirtschaft auseinander setzen und jene Werte im Kern berühren, auf denen unsere Gesellschaft aufbaut.

Manchen gilt das allgemeine Grundeinkommen als wichtigstes Heilmittel gegen zahlreiche Übel wie vor allem Armut und Arbeitslosigkeit. Andere jedoch sehen darin nichts weiter als ein abstruses Trugbild, das wirtschaftlich nicht umzusetzen und ethisch äußerst fragwürdig ist. Egal ob man es jedoch begrüßt oder verteufelt, wer auch immer sich angesichts der vielschichtigen »Krise«, mit denen der Sozialstaat konfrontiert ist, sich um eine Neukonzeption seiner Aufgaben bemüht, wer auch immer nach Mitteln und Wegen sucht, wie sich wirtschaftliche Sicherheit neu gestalten lässt, um sich den Herausforderungen der Globalisierung stellen zu können, wer auch immer nach einer radikalen und innovativen Alternative zum Neoliberalismus strebt, muss sich zwangsläufig mit diesem Konzept auseinander setzen.

Das vorliegende Buch will in erster Linie dazu beizutragen, dass die Debatte über diese umstrittene Idee möglichst sachlich und wohl informiert geführt werden kann. Im ersten Kapitel wird die Vorgeschichte und die Geschichte dieses Gedankens von Thomas Morus bis zur Sozialhilfe, von Thomas Spence bis zum BIEN (Basic Income European Network) nachgezeichnet. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den verschiedenen Facetten des allgemeinen Grundeinkommens, untersucht die unterschiedlichen Varianten und erklärt die Bezüge zu verwandten Ideen. In Kapitel III geht es um die zentralen Argumente für und gegen das allgemeine Grundeinkommen und damit um eine Zusammenfassung einer breiten Debatte, deren wirtschaftliche, soziologische und philosophische Aspekte eng miteinander zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund wird dann im abschließenden vierten Kapitel der Frage nachgegangen, ob und inwiefern dieses Vorhaben politisch überhaupt umsetzbar ist.

|13|Als Autoren des Buches wollen wir gar nicht so tun, als wären wir neutral. Wir finden es wichtig, zu einer gehaltvollen Debatte um den Gedanken eines allgemeinen Grundeinkommens beizutragen, weil wir der Überzeugung sind, dass er in eine Richtung weist, auf die unsere Systeme der sozialen Sicherung sich zubewegen sollten. Andererseits ist das Buch auch nicht als ein Plädoyer zu verstehen. Indem wir hier einen strukturierten und dokumentierten Einblick in eine facettenreiche, oft unübersichtliche und manchmal emotional geführte Debatte geben, wollen wir dem Leser eine solide Wissensbasis bieten, mit der er sich seine eigene Meinung bilden kann, und gleichzeitig zahlreiche Missverständnisse ausräumen, die zu nutzlosen Blockaden führen, und Illusionen zerstören, die nur übertriebene Hoffnungen nähren.

Allgemeines Grund- und garantiertes Mindesteinkommen

Ein gesetzliches, garantiertes Mindesteinkommen, für das das 1988 in Frankreich eingeführte Wiedereingliederungsgeld (RMI – revenu minimum d’insertion) eine besonders umfassende Variante darstellt, weist mehrere Gemeinsamkeiten mit dem Grundeinkommen auf: Sozialhilfeleistungen dieser Art und Grundeinkommen werden

als Geldleistung,

regelmäßig ,

vom Staat

und ohne vorausgegangene Beitragsleistungen

ausgezahlt.

Unterschiede zu dem Grundeinkommen bestehen jedoch in drei wichtigen Punkten: Die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen sind

ausschließlich den Ärmsten vorbehalten (Bedürftigkeitsprüfung),

berücksichtigen die familiäre Situation der Anspruchsberechtigten und

sind an deren Arbeitsbereitschaft gekoppelt.

Auf das allgemeine Grundeinkommen haben demgegenüber

alle Bürger unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage (keinerlei Bedürftigkeitsprüfung),

individuell

und ohne irgendeine Form der Gegenleistung Anspruch.

Das Fehlen einer Bedürftigkeitsprüfung beinhaltet natürlich die Möglichkeit, parallel anderweitig Einkünfte zu beziehen, setzt diese aber nicht voraus (vgl. II.4).

|14|I. Eine Neue Idee?

Unter »allgemeinem Grundeinkommen« verstehen wir hier ein Einkommen, das von einem politischen Gemeinwesen an alle seine Mitglieder ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Gegenleistung individuell ausgezahlt wird. Der Gedanke eines Grundeinkommens, auf den zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten verschiedene Menschen unabhängig voneinander gekommen sind, wurde mit einer Vielzahl an Begriffen bezeichnet, die zumeist entweder aus der Verbindung von einem Substantiv – »Einkommen«, »Leistung«, »Dividende«, »Prämie«, »Lohn« – und einem Adjektiv bzw. einer attributiven Ergänzung – »universell«, »allgemein«, »garantiert«, »national«; »de base«, »state«, »de cittadinanza« – oder, je nach Sprache, aus einer Zusammensetzung – »borgerløn«, »basisinkomen«, »demogrant« – bestehen.

Das »allgemeine Grundeinkommen« und seine Synonyme

Dividende territorial (Joseph Charlier, Belgien, 1894)

State bonus (Dennis Milner, Großbritannien, 1918)

National Dividend (C.H. Douglas, Großbritannien, 1932)

Basisinkomen (Jan Tinbergen, Niederlande, 1934)

Social dividend (George D.H. Cole, Großbritannien, 1935)

Basic income (George D.H. Cole, Großbritannien, 1953)

Demogrant (James Tobin, Vereinigte Staaten, 1967)

Borgerløn (Niels Meyer et al., Dänemark, 1978)

Allocation universelle (Collectif Charles Fourier, Belgien, 1984)

Bürgergeld (Joachim Mitschke, Deutschland, 1985)

Reddito di cittadinanza (CGIL, Italien, 1988)

Revenu d’existence (Henri Guitton, Frankreich, 1988)

Dividende universel (Christine Boutin, Frankreich, 2003)

|15|Jeder einzelne dieser Begriffe hat Vor-, aber auch Nachteile. Der französische Ausdruck allocation universelle ist insofern interessant, als er eine Analogie zu dem allgemeinen Wahlrecht (frz. suffrage universel) herstellt. Andererseits suggeriert das Adjektiv universel allerdings auch die Notwendigkeit einer weltweiten Umsetzung. In der internationalen Diskussion ist der Begriff »Grundeinkommen« (engl. basic income) vorherrschend, der auf eine für alle identische Basisleistung verweist, zu denen noch Einkünfte aus anderen Quellen ohne Abstriche hinzukommen können. Der Nachteil besteht hier jedoch darin, dass er einen notwendigen Zusammenhang mit Grundbedürfnissen suggeriert.

Die Wahl eines treffenden Begriffs ist durchaus nicht nebensächlich, insofern er einen gewissen Einfluss auf die politische Umsetzbarkeit hat. In erster Linie geht es jedoch darum, die zugrunde liegende Idee so exakt wie möglich zu beschreiben und sie vor allem genauestens gegen bereits bestehende Sicherungsleistungen abzugrenzen. Zwar lässt sich der Gedanke eines garantierten Mindesteinkommens bis zu Morus und Vives im frühen 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Die spezifische Form eines Mindesteinkommens, wie es das allgemeine Grundeinkommen darstellt, trat dagegen erst Mitte des 19. Jahrhunderts kurz in Erscheinung und wurde erstmals im Anschluss an den ersten Weltkrieg Gegenstand einer wirklichen Debatte, die allerdings nur von kurzer Dauer war.

1. Vorläufer

Öffentliche Fürsorge: Von Morus und Vives bis zu den Poor Laws

Bis ins 16. Jahrhundert liegt die Armenhilfe in Europa in der Hand privater, bisweilen von religiösen Gemeinschaften getragener Wohlfahrtsleistungen auf kommunaler Ebene. Das Subsistenzniveau ist dabei nicht gesichert, und der Begriff eines Mindesteinkommens selbst unbekannt. Erstmals findet sich in dem 1516 in Leuwen veröffentlichten Werk Utopia von Thomas Morus (1478–1535) der Vorschlag einer Einkommensgarantie: Der Reisende Raphael empfiehlt sie mit großer Eloquenz dem Erzbischof von Canterbury als ein zur |16|Bekämpfung der Kriminalität weitaus effizienteres Mittel als die Todesstrafe.

Die erste detaillierte Argumentation zugunsten eines garantierten Mindesteinkommens verdanken wir allerdings einem Freund von Thomas Morus, nämlich dem Humanisten jüdisch-katalanischer Herkunft und Lehrer in Leuwen, Johannes Ludovicus Vives (1492– 1540). In De Subventione Pauperum (1526), einer den Bürgermeistern und Schöffen der Stadt Brügge gewidmeten Schrift, liefert er eine Begründung, warum die städtischen Behörden die Armenfürsorge übernehmen sollten. Vives zufolge basiere ein solches öffentliches Fürsorgewesen immer noch auf einer christlich-jüdischen Pflicht zur Nächstenliebe und würde mithin ausschließlich durch freiwillig gezahlte Almosen finanziert werden. Diese öffentliche Fürsorge wäre jedoch viel effizienter als die private Armenhilfe, weil sie die Hilfsleistungen gezielt den wirklich Bedürftigen zukommen lasse und im Gegenzug legitimerweise ohne Weiteres an eine Arbeitsleistung gekoppelt werden könne: »Kein Bedürftiger, der aufgrund seines Alters und seiner Gesundheit arbeiten kann, darf untätig bleiben.«

In den darauf folgenden Jahrzehnten beschließen verschiedene Stadtverwaltungen in Europa mehr oder weniger rudimentäre Fürsorgeleistungen zugunsten der Bedürftigen, die sich an diesem Modell orientieren. Mit einer Verordnung Karls V. werden 1531 beispielsweise verschiedene, auf lokaler Ebene getroffene Maßnahmen auf das gesamte Gebiet der Niederlande ausgeweitet. In Schottland (1579) und später in England (1601) tritt eine Armengesetzgebung (Poor Laws) in Kraft. Damit werden die Stadtverwaltungen dazu verpflichtet, sich der Mittellosen anzunehmen und sie mit Sachleistungen (Nahrungsmitteln) zu versorgen, und all jene, die dazu im Stande sind, dazu gezwungen, als Gegenleistung gegebenenfalls in eigens dafür errichteten Arbeitshäusern (workhouses) zu arbeiten. Angesichts der Furcht, die durch die Hungersnot bedingten Aufstände könnten schließlich in eine Revolution münden, werden die Poor Laws zu einer Form von Armenhilfe ausgeweitet (das System Speenhamland), die den modernen Mindeststandards, wie beispielsweise der Sozialhilfe, ähneln.

|17|Das garantierte Mindesteinkommen in Speenhamland

Im Mai 1795 begründete die Stadtverwaltung des südenglischen Speen eine Armenhilfe in Form einer Barauszahlung, auf die alle im Stadtgebiet wohnhaften Bedürftigen Anspruch hatten. Angesichts der Brotaufstände und einer drohenden Hungersnot zwangen die Friedensrichter die Gemeinden durch den Erlass einer Verordnung zur Auszahlung einer Beihilfe für Not leidende Arbeiter, durch die ein minimales Einkommensniveau erreicht wurde, das die Haushaltsstärke berücksichtigte und an den Getreidepreis gekoppelt war. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten waren die Anspruchsberechtigten dazu angehalten »selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen«. Dieses unter der Bezeichnung »Speenhamland-System« bekannte Gesetz wurde schrittweise auf andere Kommunen ausgedehnt.

Über die Folgen für Armut, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum entbrannte sogleich eine intensive Debatte, die bis heute anhält (vgl. Block/Somers 2001). Manche, wie Thomas Malthus (1766–1834), dessen Essay on the Principle of Population (1789) aus dieser Zeit stammt, forderten die Rücknahme jeder Form der Armengesetzgebung: Eine Ausweitung der öffentlichen Hilfsleistung habe nämlich lediglich zur Folge, dass die Armen weniger arbeiten und sparen, dass sie früher heiraten und mehr Kinder in die Welt setzen und dass der Preis der von ihnen konsumierten Güter steige, so dass letztlich nur das Realeinkommen sinke. Andere, wie Karl Polanyi (1886–1964) in einem berühmten Kapitel aus The Great Transformation (1944), sehen darin jedoch ein ganz zentrales Moment im Prozess der Anpassung der gesellschaftlichen Institutionen an die ungeahnten Herausforderungen der Industriellen Revolution. Das heftig umstrittene Speenhamland-System wurde allerdings 1834 endgültig wieder abgeschafft. Die Poor Laws traten im Anschluss daran wieder in Kraft und die workhouses öffneten wieder ihre Pforten.

Sozialversicherung: Von Condorcet bis zum Bismarckschen Sozialstaat

Im 19. Jahrhundert machte sich im Zuge der Industriellen Revolution und der baldigen Überforderung der traditionellen Solidarbeziehungen ein immer dringlicheres Bedürfnis nach Formen der sozialen Sicherung breit, die über den begrenzten Rahmen der Armenhilfe hinausweisen. Um den Forderungen der sozialistischen Arbeiterbewegung den Boden zu entziehen, entwickelt Reichskanzler Otto von Bismarck ab 1883 das erste allgemeine, für alle Arbeiter geltende Pflichtversicherungssystem, dessen Grundgedanke erstmalig von Condorcet (1745–1794) in seinem Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (1795) formuliert worden war.

|18|In diesem »Bismarckschen« bzw. »konservativ-korporatistischen« Modell (Esping-Andersen 1990), wie es später genannt wurde, das in weiten Teilen Kontinentaleuropas übernommen wurde, ist die soziale Absicherung eng an die Arbeit und an den Arbeitnehmerstatus gebunden. Durch Pflichtbeiträge, die vom Arbeitslohn einbehalten werden, lassen sich somit zumindest partiell die Einkünfte der Arbeiter und ihrer Familien absichern, falls sie von einem der zahlreichen Risiken – Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Alter und Tod des Ernährers – getroffen werden sollten. Seit Bismarck haben sich die sozialen Sicherungssysteme grundlegend gewandelt. Sie wirken jetzt nicht mehr nur in gesellschaftlichen Randbereichen, sondern werden nach und nach zu einem der Haupttätigkeitsfelder der öffentlichen Hand. Es ist die Geburtsstunde des Sozialstaates, in dem das Versicherungsprinzip an die Stelle der Fürsorgeleistungen in gesellschaftlichen Randbereichen tritt, ohne diese jedoch völlig überflüssig zu machen.

Ein erneuertes Sozialleistungssystem: Von Beveridge zur Sozialhilfe

In einem Sozialversicherungssystem sind faktisch all jene ausgeschlossen, die sich nicht in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis befinden: Die Solidarität gilt hier nur unter Arbeitnehmern. Durch die Einrichtung eines Sozialversicherungssystems erübrigt sich also nicht einfach die Frage nach einem Mindesteinkommen, die im Anschluss an den berühmten, unter der Leitung William Beveridges verfassten Bericht über Social Insurance and Allied Services (1942) erneut in den Blickpunkt rückt. Mit dem National Assistance Act legte Großbritannien den Grundstein zu einem wirklichen Mindesteinkommen, das allen Haushalten ohne zeitliche Beschränkung und auf einem zur Bestreitung des Lebensunterhaltes hinreichenden Niveau zusteht und das die staatlichen Sozialleistungen, bestehend aus Kindergeld und Leistungsansprüchen bei Krankheit, Invalidität, unfreiwilliger Arbeitslosigkeit und im Alter, ergänzt.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden ähnliche, mehr oder weniger allgemeine und mehr oder weniger großzügige Maßnahmen in anderen Teilen Europas verabschiedet, weil man auch hier |19|nach und nach erkennt, dass ein ausschließlich versicherungsbasiertes System nicht ausreicht. Als erste bauen die skandinavischen Länder verschiedene Formen der sozialen Hilfsleistungen zu landesweiten Programmen der Einkommenssicherung aus. Die Niederlande und Belgien folgen 1963 bzw. 1974. In der Bundesrepublik Deutschland gibt das Bundessozialhilfegesetz (1961) den allgemeinen Rechtsrahmen vor, wobei jedoch die Umsetzung allein den Gemeinden obliegt. Dadurch entstehen – allerdings relativ geringe – Ungleichheiten bei der Interpretation der Anspruchsberechtigung und der Leistungsbemessung. In Frankreich wird die öffentliche Debatte um die Einrichtung eines garantierten Mindesteinkommens im Zusammenhang mit der verspäteten Schaffung (1988) einer ehrgeizigen, landesweit geltenden Sozialhilfe, dem so genannten Revenu minimum d’insertion (RMI – Mindesteinkommen zur Eingliederung), mit besonderer Schärfe geführt.

Einkommenssicherungssysteme finden sich zudem in allen kanadischen Provinzen sowie im gesamten Bundesstaat Australien. In den Vereinigten Staaten jedoch gibt es keinerlei Programm mit einem derartigen Allgemeinheitsanspruch. Die Aid to Families with Dependent Children (AFDC) wurde 1935 zur Unterstützung armer Familien geschaffen. Mit ihrer Umbenennung 1996 in Temporary Assistance to Needy Families (TANF) wurde die Leistungsdauer dieses Programms beschränkt, wobei bei der Finanzierung ein bundesstaatlicher Grundbetrag mit einer weitgehenden Autonomie der Staaten hinsichtlich der einzelnen Ausgabenposten (Auszahlung einer Leistungspauschale, Kinderbetreuung, Transportmittelzuschüsse usw.) einhergeht. Darüber hinaus stellt das Programm der so genannten Food Stamps, das 1964 im Rahmen des unter Lyndon B. Johnson geführten War on Poverty verabschiedet wurde, erwerbsfähigen Erwachsenen unter haushaltspolitischem Vorbehalt Nahrungsmittelgutscheine zur Verfügung, die beim beteiligten Einzelhandel eingelöst werden können.

Wenn auch diese unterschiedlichen Hilfsleistungen in ihren konkreten Ausprägungen stark voneinander abwichen, bildeten sie für die Ärmsten ein unterstes Sicherungsnetz, das ihnen eine minimale Grundsicherung garantierte. Verworfen werden hier jedoch meistens, ganz in der Tradition der Speener Friedensrichter, eine Auszahlung in Sachleistungen und Zwangsarbeit, die mit der ursprünglichen Auffassung |20|sozialer Fürsorge verbunden sind, wie sie für Vives, die Poor Law oder auch die heutigen Verfechter eines workfare, d.h. eines aktivierenden Sozialstaates mit starken Zwangsmaßnahmen (vgl. IV.2), charakteristisch ist. Mit dieser Konzeption gemeinsam ist ihnen jedoch das Grundprinzip der Fürsorge – Hilfe für Bürger, die unfreiwillig in Not geraten – und die drei damit stets einhergehenden Bedingungen: Berücksichtigung der familiären Situation, Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitsbereitschaft.

Die sozialen Mindeststandards in Europa (EU 15)

In dieser Tabelle finden sich lediglich die allgemeinen, auf nationaler Ebene geregelten Hilfsleistungen, die jedoch in (manchmal stark) dezentralisierter Form verwaltet werden. In mehreren Fällen wurden sowohl die Bezeichnung als auch die Voraussetzungen für die Bewilligung des Mindesteinkommens im Laufe der Jahre erheblich modifiziert. Darüber hinaus haben manche Staaten, denen es an einer nationalen Gesetzgebung fehlt, relativ homogene Hilfsprogramme eingerichtet. Das gilt etwa für Spanien, wo alle autonomen Regionen nach und nach Sozialleistungen verabschiedet haben, die sich untereinander durchaus ähneln.

|21|2. Vordenker

Thomas Paines allgemeine Ausstattung

Keine dieser drei Bedingungen ist an den Vorschlag geknüpft, den Thomas Paine (1737–1809), eine der Leitfiguren der Französischen und Amerikanischen Revolution, in einem kleinen Band mit dem Titel Agrarische Gerechtigkeit der französischen Revolutionsregierung vorgelegt hatte. Paines Vorschlag, der sich weder auf den Gedanken einer Sozialversicherung noch auf die Idee einer sozialen Fürsorgeleistung reduzieren lässt, besteht vielmehr darin, jedem Mann und jeder Frau beim Eintritt ins Erwachsenenalter einen bescheidenen Pauschalbetrag und später eine kleine Rente auszuzahlen. In seinen Augen hat dies weniger etwas mit Barmherzigkeit oder Solidarität zu tun, als dass es einem Gerechtigkeitserfordernis entspricht: Paine zufolge wird durch eine gleichmäßige Verteilung der Erträge der Erde unter allen Bürgern lediglich ein abstrakter Gedanke konkretisiert, der sich bis zu dem holländischen Humanisten Hugo Grotius und seinem Buch Vom Recht des Krieges und des Friedens (De jure belli ac pacis, 1625) zurückverfolgen lässt und dem zufolge die Erde der gesamten Menschheit gehört.

Agrargerechtigkeit nach Thomas Paine

Paines Vorschlag lautet, »allen Bürgern mit ihrem 21. Geburtstag aus einem nationalen Fonds einen Betrag von 15 Pfund Sterling als Entschädigung für die naturrechtlichen Ansprüche, die ihnen durch das System des Grundeigentums verloren gegangen sind, auszuzahlen. Darüber hinaus sollen alle Bürger, die bereits ihr 50. Lebensjahr erreicht haben, und all jene, die es noch erreichen werden, bis an ihr Lebensende jährlich eine Summe von zehn Pfund Sterling erhalten.« Diese Leistungen kommen allen Bürgern, »ob arm oder reich«, zugute, weil »alle Personen darauf gleichermaßen ein Anrecht besitzen, ungeachtet ihres selbst erarbeiteten, ererbten oder anderweitig geschaffenen Vermögens« (Paine 1796).

Für dieselbe Idee werden später noch andere Autoren mit zum Teil davon abweichenden Begründungen eintreten. 1829 beispielsweise macht der Vorsitzende der kurzlebigen Workingmen’s Party, Thomas Skidmore (1790–1832), den Vorschlag, den Wert des Grundbesitzes der im Laufe eines Jahres verstorbenen Bürger zu gleichen Teilen |22|zwischen all jenen aufzuteilen, die in demselben Jahr das Erwachsenenalter erreichen. In vergleichbarer Weise wirbt der französische Philosoph François Huet (1814–1869) dafür, dass bei individuellem Vermögen nach einem persönlichen Leistungsanteil und einem ererbten Anteil unterschieden werden solle. Über den persönlich erarbeiteten Anteil möge man frei verfügen, während der ererbte Anteil nach dem Tode der Gemeinschaft zufallen und zur Finanzierung einer Grundleistung beitragen solle, die allen jungen Bürgern in gleicher Höhe zustehe (Huet 1853).

Nach langer Unterbrechung wurde dieser Gedanke einer einmaligen Zahlung von den beiden an der Yale Law School (USA) lehrenden Professoren Bruce Ackerman und Anne Alstott (1999) wieder aufgegriffen: Ihrem Vorschlag zufolge sollte jeder einzelne Schüler nach Abschluss der Sekundarstufe Anspruch haben auf eine über die Erbschaft- und Vermögensteuer finanzierte Zahlung in Höhe von 80.000 Dollar, die in vier Raten gekoppelt mit einem allgemeinen Rentenanspruch erfolgen soll.

Der utopische Sozialismus von Spence, Charlier, Mill

Der Umstand, dass der Boden allen zu gleichen Teilen gehöre, rechtfertigt Paine zufolge den Anspruch aller auf eine einmalige Geldzuweisung. Eine kontinuierliche Transferleistung sieht dagegen wohl als erster Paines Zeitgenosse, der Lehrer und Anhänger radikaler Ideen Thomas Spence (1750–1814), gerechtfertigt. Seine in London veröffentlichte Streitschrift mit dem Titel Die Rechte der Kinder (Spence 1797) beginnt mit einer Kritik an der Agrarian Justice von Thomas Paine, weil dieser darin auf der Basis einer grundlegenden Erkenntnis lediglich ein »abscheulich-opportunistisches Kompromissgebäude« errichte. Im Anschluss daran formuliert er einen Vorschlag, den er nach eigenem Bekunden schon seit seiner Jugend vertrete. Demnach solle jede Gemeinde die Nutzungsrechte all ihrer Immobilien meistbietend versteigern. Die dadurch erzielten Einnahmen sowie die Regierungssteuern sollten sodann dazu genutzt werden, die öffentlichen Gemeindeausgaben, darunter auch zum Bau und zur Instandhaltung der Gebäude, zu decken, und der verbleibende |23|Überschuss vierteljährlich zu gleichen Teilen unter allen Einwohnern verteilt werden, um so deren Grundversorgung zu sichern. Der Plan von Spence wird noch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den Kreisen der radikalen Sozialreformer Englands diskutiert, gerät dann jedoch in Vergessenheit.

Die Verteilung des Einnahme-Überschusses nach Thomas Spence

»Und was die überschüssigen Einnahmen nach Abzug aller öffentlichen Ausgaben betrifft, so sollen diese gerecht und in gleicher Höhe unter allen lebenden Seelen der Gemeinde verteilt werden, egal ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts, verheiratet oder unverheiratet, ehelich oder unehelich, einen Tag alt oder schon im vorgerücktesten Alter sind. Es soll keinerlei Unterscheidung zwischen den Familien wohlhabender Bauern und Händler […] und den Familien von Arbeitern und armen Handwerkern gemacht werden […]. Jedem Familienvorstand wird ein voller und gleicher Anteil für jede unter seinem Dach lebende Person zugewiesen.

Man kann durchaus davon ausgehen, dass sich dieser Überschuss, der jedem einzelnen Gemeindemitglied am ersten Tag jedes dritten Monats ausgezahlt werden sollte, auf zwei Drittel der Pachtzahlungen beläuft. Unabhängig von seiner Höhe ist dieser Anteil an den überschüssigen Einnahmen ein unveräußerliches Recht jedes Menschen in einer zivilisierten Gesellschaft und entspricht den natürlichen Komponenten des allen gemeinsamen Eigentums, die ihnen allerdings vorenthalten bleiben, weil sie zu Zwecken der Landwirtschaft oder der Weiterverarbeitung verpachtet werden.« (Spence 1797: 87).

In Frankreich erklärte etwa zur selben Zeit der exzentrische Vielschreiber Charles Fourier (1772–1837), einer der radikalen, von Marx abfällig als utopischen Sozialisten bezeichneten Visionäre, dass in einer zivilisierten Ordnung jeder Mensch insofern ein Anrecht auf »ein Mindestmaß an lebensnotwendiger Grundversorgung« besitze, als die Grundrechte des freien Jagens, Fischens, Sammelns und Weidens verletzt worden seien. Die Forderung nach einer bedingungslosen Einkommensgarantie findet sich bereits in seiner Lettre au Grand-Juge (1803). Sie wird allerdings erst in La fausse industrie (1836) genauer ausgeführt. Dabei versteht es sich für Fourier von selbst, dass die Armen für diese Ausgleichszahlung keinerlei Gegenleistung zu liefern haben und dass diese ganz offensichtlich ausschließlich den Armen – in Form von Naturalien – zustehe.

|24|Die Grundversorgung nach Charles Fourier

»Das allererste Recht, das Recht, die Früchte der Natur zu ernten, die Gaben der Natur zu nutzen, die Freiheit zu jagen, zu sammeln, das Weideland zu nutzen, entspricht einem Recht auf Nahrung, dem Recht zu essen, wenn man hungrig ist. In den zivilisierten Gesellschaften stellen die Philosophen dieses Recht in Abrede, Jesus Christus jedoch gewährt es mit folgenden Worten: […]. Damit bekräftigt Jesus das Recht, sich das Notwendige zu besorgen, wenn man hungrig ist. Und dieses Recht verpflichtet die Gesellschaft dazu, die Grundversorgung des Volkes zu gewährleisten: Da dieses erste Naturrecht – das Recht des Jagens, des Fischens, des Sammelns, des Weidens – in der Zivilisation verloren gegangen ist, muss diese für eine Entschädigung sorgen« (Fourier 1836: 491).

Wenn es bei dem Fourier-Schüler Victor Considérant (1808–1893) heißt, man solle »dem Volk eine Mindestversorgung zugestehen« (Considérant 1845), so scheint dieser damit einen Schritt in Richtung eines allgemeinen Grundeinkommens im engeren Sinne zu vollziehen. Den ersten detaillierten Vorschlag zu einer solchen Leistung macht allerdings auf dem europäischen Kontinent der Fourier nahe stehende Belgier Joseph Charlier (1816–1896). Zu einem Zeitpunkt, da Marx und Engels in Brüssel gerade ihre Arbeit am Manifest der Kommunistischen Partei beenden, publiziert Charlier dort eine sehr ehrgeizige Lösung des Sozialproblems (Charlier 1848). Ähnlich wie Paine, Spence und Fourier betont Charlier in seinem Werk, dass alle Menschen zur Sicherung ihrer Grundversorgung ein Nutzungsrecht an den von der Vorsehung geschaffenen natürlichen Ressourcen haben. Insofern verstößt in seinen Augen der private Grundbesitz gegen Gerechtigkeitsprinzipien, weswegen der Staat auch langfristig der einzige Eigentümer von Grund und Boden werden sollte. Als Sozialreformer stellt Charlier jedoch die bestehenden Besitzansprüche nicht in Frage und spricht sich vielmehr für ein Übergangsregime aus, das den Grundeigentümern eine »Rente auf Lebenszeit« bewilligt und allen anderen, d.h. der großen Mehrheit, die keinerlei Boden besitzt, ein bedingungsloses »garantiertes Mindesteinkommen«, das vierteljährlich oder auch monatlich ausbezahlt werden solle und das er später (Charlier 1894) als »Bodendividende« bezeichnet. Zur Bestimmung der Höhe dieses »garantierten Mindesteinkommens« schlägt er einen Berechnungsmodus vor, der auf einer Schätzung der Grundrente beruht.

|25|Das garantierte Mindesteinkommen nach Joseph Charlier

Joseph Charlier sieht durchaus die Gefahr, dass sein »garantiertes Mindesteinkommen« als »Einladung zum Nichtstun« missverstanden werden könnte, weil damit die Arbeit nicht länger überlebenswichtig sei. Die Beschränkungen, die sich aus der von ihm angeführten Rechtfertigung ergeben, verringern allerdings dieses Risiko erheblich: »Die Müßiggänger müssen sich dann eben mit dem Lebensnotwendigen zufrieden geben. Die Pflicht der Gesellschaft besteht allein darin, dafür zu sorgen, dass jeder Einzelne in den Genuss jener Elemente kommt, die die Natur ihm zur Verfügung stellt, ohne dass anderen damit geschadet wird« (Charlier 1894: 56).

Die Schriften Joseph Charliers wurden kaum gelesen und gerieten bald in Vergessenheit. Nicht einmal ein Jahr nach Erscheinen seiner Lösung des Sozialproblems veröffentlichte ein anderer Bewunderer Fouriers, der englische Ökonom und Philosoph John Stuart Mill (1806– 1873), einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts, seine Grundzüge der politischen Ökonomie in zweiter Auflage. Darin setzt er sich ausführlich mit dem System Fouriers auseinander, das »von allen Formen des Sozialismus die am besten ausgearbeitete Variante« darstelle, und interpretiert es unmissverständlich als eine Rechtfertigung dafür, dass jeder, ob arbeitsfähig oder nicht, ein Anrecht auf eine Grundversorgung habe.

Unabhängig von der Traditionslinie, die bei Charles Fourier ihren Ausgang nimmt, taucht der Gedanke, alle hätten gleichermaßen ein Anrecht auf den Gebrauch der natürlichen Ressourcen, in den folgenden Jahrzehnten immer mal wieder auf. Er findet sich beispielsweise in den ersten Abhandlungen des Soziologen Herbert Spencer, im Zusammenhang mit dem Plädoyer des amerikanischen Sozialreformers Henry George zugunsten einer »Einheitssteuer« oder auch in den normativen Schriften eines der Begründer der mathematischen Wirtschaftswissenschaften, des Franzosen Léon Walras (Vallentyne/Steiner 2000a). Zumeist wird diese Idee jedoch nicht so sehr dadurch konkretisiert, dass jeder Einzelne eine Transferleistung in Form einer Barauszahlung bekäme, sondern durch die Finanzierung öffentlicher Ausgaben zugunsten der Gemeinschaft. Bei den »Linkslibertären« (Vallentyne/Steiner 2002b) findet man darüber hinaus einen engen Zusammenhang zwischen dem Eigentum an natürlichen Ressourcen und dem allgemeinen Grundeinkommen (vgl. III.4).

|26|3. Erste Debatten

Von der kämpferischen Parole zur akademischen Anerkennung: England in der Zwischenkriegszeit

Vereinzelte, zumeist kaum wahrgenommene Hinweise in der Fachliteratur machen jedoch noch keine öffentliche Debatte im eigentlichen Sinne aus. Erst 1918 kommt es in Großbritannien im Anschluss an den Ersten Weltkrieg zu einer Episode, die Züge einer solchen Debatte trägt. In Roads to Freedom (1918) plädiert und argumentiert der Philosoph, Nobelpreisträger und antikonformistische politische Denker Bertrand Russell (1872–1970) für ein Gesellschaftsmodell, das die Vorteile des Sozialismus und des Anarchismus miteinander verbindet und zudem ein Sozialeinkommen für alle, »ob sie arbeiten oder nicht«, einschließt, mit dem sich die Grundbedürfnisse befriedigen lassen.

Im selben Jahr erscheint ein kurzes Pamphlet des jungen Ingenieurs Dennis Milner (1892–1956) und seiner Frau Mabel mit dem Titel Scheme for a State Bonus, in dem diese sich für die Einführung eines bedingungslosen, wöchentlich an alle Einwohner Großbritanniens auszuzahlenden Einkommens aussprechen. Diese »Staatsprämie« (state bonus) ist an das Bruttoinlandsprodukt gebunden und soll die Lösung der im Nachkriegs-Europa besonders dringlichen Armenfrage ermöglichen. Jeder Einzelne habe ein moralisches Anrecht auf ein Existenzminimum: Es folgt, dass Arbeit als Voraussetzung ebenso entfällt wie die Vorenthaltung von Leistungen im Falle der Nichterfüllung dieser Voraussetzungen. Über diese Forderung, die in einem wenig später veröffentlichten Buch (Milner 1920) näher ausgeführt und von einer kurzlebigen State Bonus League unterstützt wurde, debattierte die britische Labour Party angeregt auf einem Parteitag im Jahre 1920. Letztlich sprach sich die Partei ein Jahr später jedoch dagegen aus, woraufhin Milner sich anderen Betätigungsfeldern zuwandte und schließlich in die Vereinigten Staaten auswanderte.

Kurze Zeit später fürchtet der Engländer Clifford H. (genannt »Major«) Douglas (1879–1952), von Beruf ebenfalls Ingenieur, angesichts der Produktivität der britischen Nachkriegsindustrie die Gefahr einer Überproduktion. Wie sollte nämlich eine nach vier Jahren Krieg verarmte Bevölkerung in reicher Zahl vorhandene Güter konsumieren|27|, während doch die Banken nur zögerlich Kredite bewilligen und die Kaufkraft nur langsam wächst? Um dieses Problem zu lösen, forderte Douglas (1924) in einer Reihe von oft überaus konfusen Konferenzen und Schriften die Einrichtung von Mechanismen zur Bewilligung von »Sozialkrediten«, zu denen u.a. auch eine monatliche »Nationaldividende« für alle Familien zählte (Van Trier 1995). Dieser Sozialkreditbewegung waren unterschiedliche Erfolge beschieden. In Großbritannien konnte sie beispielsweise nie recht Fuß fassen, während sie in Kanada zahlreiche Anhänger fand. Von 1935 bis 1971 regierte dort sogar eine Social Credit Party, die allerdings recht bald Abschied von dem Gedanken einer Nationaldividende nahm, die Provinz Alberta.

Parallel dazu stieß diese Idee auch in Intellektuellenkreisen im Umfeld der britischen Labour Party, darunter auch bei dem Ökonomen und ersten Lehrstuhlinhaber für politische Theorie in Oxford, George D.H. Cole (1889–1959), zunehmend auf Zuspruch. In mehreren Veröffentlichungen (Cole 1929; 1935; 1953) trat dieser immer entschiedener für eine – wie er sie als erster nannte – »Sozialdividende« (Cole 1935) ein. In seiner Präsentation von J.S. Mill im Rahmen seiner History of Socialist Thought (1953) prägte er zur Bezeichnung des allgemeinen Grundeinkommens offensichtlich auch als erster den englischen Begriff des basic income, der sich dann international durchsetzen sollte. Derselbe Begriff findet sich allerdings bereits 1934 auf Niederländisch (basisinkomen) bei dem ersten Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften (1969), Jan Tinbergen.

Von seiner Outline of an Economic Policy for a Labour Government (1935) bis hin zu den Veröffentlichungen aus seinen letzten Lebensjahren (Meade 1989; 1993; 1995), in denen er für eine »Agathotopie« wirbt, in der ein partnerschaftliches Miteinander zwischen Kapital und Arbeit sowie eine staatlich finanzierte Sozialdividende sowohl das Problem der Arbeitslosigkeit als auch die Frage der Armut lösen sollen, spricht sich mit dem Nobelpreisträger James Meade (1907– 1995) ein anderer, politisch weniger aktivistischer Oxforder Ökonom, der allerdings höheres wissenschaftliches Ansehen genießt, mit noch größerem Nachdruck für eine »Sozialdividende« aus. Dieselbe, leicht abgewandelte Idee bildete zudem den Kerngedanken des »neuen Gesellschaftsvertrages« der liberalen Politikerin Lady Juliet Rhys-Williams |28|(1943). Schließlich sollte sich in Großbritannien jedoch der konkurrierende Plan des ebenfalls liberalen Politikers William Beveridge (1942) durchsetzen, der dann auch in anderen Teilen Europas aufgegriffen wurde und das allgemeine Grundeinkommen mehrere Jahrzehnte lang aus der öffentlichen Debatte Großbritanniens verdrängte.

Währenddessen stößt man – wie etwa in Popper Lynkeus’ (1912) Allgemeine[r] Nährpflicht, in der Umverteilungsbewegung Jacques Duboins (1932) oder der föderalistischen Bewegung eines Alexandre Marc (1972) – auf dem europäischen Kontinent zwar auf Ideen, die einem allgemeinen Grundeinkommen für jeden einzelnen Bürger ähneln. Wie in den Schriften des sozialistischen amerikanischen Romanciers Edward Bellamy (1888) ist diese Forderung jedoch an einen umfangreichen sozialen Pflichtdienst gekoppelt, so dass sie eher mit einem Einheitslohn denn mit einem allgemeinen Grundeinkommen zu vergleichen ist.

Ein kurzes Strohfeuer: Die Vereinigten Staaten in den sechziger Jahren

Eine wirkliche Debatte um das allgemeine Grundeinkommen entbrennt während der gesellschaftlichen Turbulenzen im Amerika der 1960er Jahre, als die Bürgerrechtsbewegung ihren Höhepunkt erreichte. Sie entspringt drei unterschiedlichen Quellen. Zum einen befürwortet der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman in Kapitalismus und Freiheit (1962), einem für ein breites Publikum verfassten Buch, das nach und nach zu einem internationalen Bestseller wird, eine radikale Umgestaltung des amerikanischen Sozialstaates durch die Einführung einer »Negativsteuer«. Der Begriff, der ursprünglich auf den französischen Ökonomen Antoine Augustin Cournot (1838) zurückgeht und später von dem britischen Wirtschaftswissenschaftler Abba Lerner (1944) aufgegriffen wurde, bezeichnet bei Friedman ein auszahlbares, pauschales Steuerguthaben im Rahmen einer linearen Einkommensbesteuerung. Eine auszahlbare Steuergutschrift in Höhe einer Summe »G« besteht in einem linearen Steuernachlass bis zur Höhe »G« für alle Steuerzahler, deren Steuerschuld mindestens bei »G« liegt, und für alle anderen in einer |29|Steuerentlastung und einer Steuertransferleistung in Höhe der Differenz zwischen »G« und der jeweiligen Steuerschuld (vgl. II.4). Friedman zufolge könne damit das undurchdringliche Regelungsdickicht des bestehenden Systems sozialer Sicherung gelichtet werden.

Die Negativsteuer nach Cournot, Lerner und Friedman

1838: »Der Begriff Prämie, eine Erfindung der modernen Zeit, ist das Gegenteil einer Steuer: In der Sprache der Algebra handelt es sich um eine Negativsteuer.« Antoine Augustin Cournot (1801–1877), Begründer der mathematischen Nationalökonomie.

1944: »Die Einführung einer Negativsteuer […] bedeutet, dass die Regierung ihren Bürgern Geld gibt, anstatt es ihnen zu nehmen. Das kann in Form von sozialen Hilfsleistungen, Pensionen, Prämien oder gar in Gestalt einer Sozialdividende geschehen, wenn damit der globale Konsum gesteigert werden soll.«

Abba Lerner (1903–1982), ein George D.H. Cole und James Meade nahe stehender Theoretiker des Marktsozialismus in einem von Milton Friedman 1947 rezensierten Buch.

1962: »Erstens: […] Das Programm sollte dazu eingerichtet sein, Menschen als Menschen zu helfen und nicht als Mitglieder bestimmter Berufsgruppen […]. Zweitens sollte das Programm zwar auf dem Markt funktionieren, dabei jedoch soweit irgend möglich den Markt nicht stören und seine Funktionsweise nicht beeinträchtigen. […] Die Maßnahme, die sich aus rein technischen Gründen anbietet, ist eine negative Einkommensteuer.«

Milton Friedman (1912), neoliberaler Vordenker und Nobelpreisträger (1976).

Darüber hinaus vertritt Robert Theobald (1929–1999), unterstützt von seinem Ad Hoc Committee on the Triple Revolution, zu dem sich eine Reihe von mehr oder weniger »alternativen« Intellektuellen zusammengeschlossen hatte, in mehreren Veröffentlichungen (Theobald 1963; 1967) eine etwas weniger präzise Forderung nach einem garantierten Mindesteinkommen. Sie basiert letztlich auf der Überzeugung, dass die Automatisierung der Produktionsprozesse die Erwerbsarbeit langfristig überflüssig mache und dass ein ohne Gegenleistung gewährter, staatlich umverteilter Sozialtransfer für die Aufrechterhaltung des Konsums unerlässlich ist.

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4. Jüngere Entwicklungen

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|37|II. Eine Vielfältige Idee?

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1. Ein Einkommen,…

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2. …, das von einem politischen Gemeinwesen …

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3. … an alle seine Mitglieder individuell …

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4. … ohne Bedürftigkeitsprüfung …

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|59|5. … und ohne Gegenleistung ausgezahlt wird

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6. Drei zentrale Unterschiede

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|64|III. Eine gerechte Idee?

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1. Ein Effizientes Mittel im Kampf gegen die Armut

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2. Ein Effizientes Mittel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit?

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|81|3. Ein optimales Instrument

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4. Gerechtigkeitserfordernis?

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|99|IV. Eine Idee für die Zukunft?

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Arbeitnehmer

Auch wenn die Gewerkschaften in einigen Industrieländern stark an Repräsentationskraft verloren haben, sind Arbeitnehmervertretungen überall weiterhin ein wichtiger Akteur bei der Reform des Sozialstaates. Nicht selten sind sie direkt an der Verwaltung der Arbeitslosen und Rentenversicherungssysteme beteiligt. Sie sitzen in einflussreichen Beratungsorganen und beeinflussen die politische Entscheidungsfindung durch ihre Repräsentanten, über die sie ihre Interessen vertreten. In einer Reihe von Fällen könnte sich die gewerkschaftliche Position zum allgemeinen Grundeinkommen als entscheidend für die politische Zukunft dieser Idee erweisen.

Auf den ersten Blick sind die Aussichten nicht sonderlich Erfolg versprechend. Die meisten Gewerkschaften scheinen die Idee überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen, und jene Arbeitnehmerorganisationen |101|, die sich zumindest zu einer Stellungnahme bereitfinden, können ihr offensichtlich nichts abgewinnen. 1985 etwa kritisierte der wichtigste Gewerkschaftsbund Belgiens, die Confédération des syndicats chrétiens (CSC), die »naiven Vorstellungen« der Anhänger dieser Idee und zeigte sich besorgt angesichts der »ideologischen Manöver«, die sich dahinter verbergen und »denen sich die Gewerkschaftsbewegung früher oder später wird stellen müssen«. Im Jahre 1986 verabschiedete die kanadische Gewerkschaft CLC-CTC auf ihrem Gewerkschaftstag einen ähnlichen Antrag, mit dem dem »neoliberalen« Geist des Vorschlags zur Einführung einer Negativsteuer eine Absage erteilt wurde. Dabei wurde ausdrücklich an die Rolle Milton Friedmans während der Debatte in Nordamerika erinnert. Im Laufe der folgenden Jahre ist der Tenor der offiziellen oder persönlichen Stellungnahmen der führenden Gewerkschaftsvertreter in fast allen Ländern gleich. 1999 etwa bringt Michel Jalmain, Generalsekretär für Beschäftigungsfragen der Confédération française démocratique du travail|102|(CFDT), seine große Skepsis gegenüber einer – wie er es nennt – »allgemeinen Fürsorgeleistung« zum Ausdruck. Seiner Meinung nach laufe eine solche Maßnahme nämlich darauf hinaus, dass auf Kosten der Allgemeinheit lediglich Unternehmen subventioniert würden, die atypische, unsichere und schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse anbieten.

|100|1. Gesellschaftliche Kräfte

|100|Warum die Gewerkschaften dem allgemeinen Grundeinkommen skeptisch gegenüberstehen

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2. Politische Organisationen

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|114|3. Vielversprechende Übergangsmaßnahmen

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|124|4. Unbegangene Pfade

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|129|Schlussbemerkung

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|131|Nachwort: Armut, Arbeitsmarkt und Autonomie

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|151|Literatur

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|165|Sach- und Personenregister

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