Ein Held in der Buttermilch - Ulrich Bunjes - E-Book

Ein Held in der Buttermilch E-Book

Ulrich Bunjes

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Beschreibung

"Kannst du trockene Spaghetti in zwei Teile brechen?", fragte er lächelnd, um das Mittagspausengespräch in Gang zu bringen. "So, indem man es an beiden Enden biegt?" "Einen von diesen Dingern nennt man Spaghetto, nicht Spaghetti", erwiderte sie trocken. "Du hast in der Schule nicht aufgepasst, oder?" Ein Band mit Kurzgeschichten und Gedichten, über die Tücken des Alltags und die Widersprüche in Freundschaften und Paarbeziehungen.

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Schreiben ist schreiben. Wer handeln will und kann, der hat, wenige Ausnahmen abgerechnet, nicht Zeit noch Lust zu schreiben. Und wenn die Sachen so recht in die Feder treten, so pflegen sie aus dem Menschen heraus zu sein. Und der dagegen meint, wenn sie auf dem Papier stehen, so hätte er sie. Auch kann auf dem Papier dies und das aussehen, als wenn's was wäre, und ist doch nur ein gewöhnlich Backwerck.

Matthias Claudius (1740-1815), aus dem "Wandsbeker Boten"

Inhalt

Ein Held in der Buttermilch

Ein Missverständnis am Meer

Irgendwas ist immer

Jack

Morgen ist Schluss

Von den zwölf Arten des Schweigens

Kalender-Geschichte

Nur ein paar Schritte

Spaghetti brechen

Poetry Slam

Der Steuerprüfer

Kaffeeriecher

Sag mal, Digga

Geburtstag vergessen!

Hand in Hand

Heute ist Weltfahrradtag

Anmerkungen

Ein Held in der Buttermilch

In Norddeutschland gibt es eine merkwürdige, heutzutage ziemlich rätselhafte Redewendung, die man als Kind manchmal hört. Auf Hochdeutsch übersetzt heißt sie: „Du bist der Held in der Buttermilch, wenn die Klöße draußen sind.“

Also ein lächerlicher Held, der zwischen allen Stühlen sitzt.

Einer der größten Kämpfer dieser speziellen Art, den es in unserem kleinen Dorf in Dithmarschen je gegeben hatte, war wohl Leo Detleffsen. Ihm gelang es mit geradezu heldenhafter Anstrengung, sich zwischen wirklich alle Stühle zu setzen.

Leo war von Statur eher klein und schmächtig, aber dabei gar nicht mal so schlecht anzuschauen. Er hatte lebhafte, listige Augen — und immer schwarze Fingernägel, denn er arbeitete seit einigen Monaten als Geselle in der Werkstatt des hiesigen Landmaschinenhändlers. Nun suchte er „eine Frau fürs Leben“. Wie man so sagt. Immer nur für Holstein Kiel oder — wie die meisten anderen im Dorf — für den Heider SV zu schwärmen, reicht ja nicht aus.

Die erste Freundin verließ ihn kurz vor Abschluss der Berufsschule, was wir alle verstanden, denn sie musste nach Husum umziehen. Leo war vorübergehend geknickt, aber im Dorfkrug redeten wir ihm gut zu, dass es ja nur besser werden könne. Mein Freund Thorsten sagte damals zu ihm: „Die einzige Frau, auf die du wirklich hören solltest, ist die Stimme aus dem Navi.“ Und Sebastian zitierte schnell noch den alten Spruch: „Die Frau ist die einzige Beute, die ihrem Jäger auflauert.” Also richtig aufbauende Sachen. Trotzdem brauchte Leo einige Zeit, um wieder auf Touren zu kommen.

Damit begann allerdings auch das Verhängnis. Denn einerseits himmelte er, wie wir alle wussten, die junge Witwe von Hinnerk Lebuda an. Frau Lebuda, mit ihrem geerbten Grundbesitz und ihrer freundlichen Art eine „gute Partie“, wie alle im Dorf fanden, wollte leider nichts vom kleinen Leo wissen. Ihr stand wohl der Sinn nach Besserem, sie hatte einen untadeligen Ruf zu verlieren und musste sich nach dem Unfalltod ihres Mannes erst einmal ein wenig sammeln. Aber Leo ließ nicht locker. Immer wieder lud er sie erfolglos zu Wanderausflügen oder zu einer Fahrt ins Kino nach Hamburg ein. Im Dorfkrug mussten wir uns dann immer wieder anhören, wie frustriert er war. Wo er doch so ein toller Mann sei. Sogar die Eintrittskarte zu einem Rockfestival wollte er ihr schenken, aber sie lehnte ab. Die Tickets für das Festival hätten je achtzig Euro gekostet, berichtete Leo uns am nächsten Tag; wen er denn nun mitnehmen solle? Von uns meldete sich niemand. Wir hatten schon Karten.

Andererseits war er zur gleichen Zeit schwer von „Fräulein“ Großenroth beeindruckt, das hat er uns selbst erzählt. Sabine Großenroth bediente in der Bäckerei. Sie war damals achtzehn oder neunzehn, blond, recht präsentabel und passte nach unserer Auffassung damit exakt in Leos Beuteschema — allerdings auch in das Beuteschema von uns anderen. Wir hatten alle schon versucht, sie zu einem Date zu überreden. Immer vergeblich, deshalb war sie für uns nur: „das Fräulein“.

Leo war jedoch hartnäckiger als wir alle. Jedes Mal, wenn er aus der Bäckerei kam, war sein Gesicht eindeutig rötlicher als vorher bei seinem Eintreten in den Laden. In diesen Wochen konnten wir zusehen, wie Leo wegen des ständigen Kaufs — und nachfolgenden Verzehrs — von Brot und Kuchen in unüblichen Mengen ein wenig in die Breite ging.

Leos Problem war, dass er sich nie richtig entscheiden konnte und dass er im direkten Zusammentreffen mit schönen Frauen sofort die Waffen streckte. Einer von uns war dabei, als sich an der Ladentheke zwischen Leo und „Fräulein“ Großenroth der folgende, richtig spannende Dialog entwickelte:

„Moin, Herr Detleffsen, schön dich zu sehen. Was darf‘s denn sein?“

Pause.

„Weiß nicht. Ein Brötchen? Oder… zwei?“

Das war’s. Leo bezahlte seine ein Euro zwanzig und verließ die Bäckerei, hochrot im Gesicht. Abends im Dorfkrug konnten wir uns vor Lachen gar nicht wieder einkriegen. Der Spruch: „Ein Brötchen – oder zwei?“ sollte im Dorf noch Jahre später, als Leo schon lange zu VW nach Wolfsburg abgehauen war, für enorme Heiterkeit sorgen.

Aber irgendwann muss er sich wohl ein Herz gefasst und gegenüber Sabine Großenroth einen ganzen Satz formuliert haben. Jedenfalls kam er mit ihr eines Abends in den Krug, und sie setzten sich abseits von uns an einen der kleinen Tische. Wir beobachteten mit großem Interesse den Fortgang der Angelegenheit, bekamen aber wegen des allgemeinen Lärms nichts mit, außer, dass er ein Bier, sie aber nur Cola light trank.

Das wiederholte sich einige Tage lang, ohne dass Entscheidendes passierte.

Und dann hörte es einfach auf. Keiner von beiden ließ sich mehr im Dorfkrug blicken. Als wenn nichts gewesen wäre, bediente Fräulein Großenroth wie immer in der Bäckerei, und Leo konnte man mit seinen dreckigen Fingernägeln im Overall in der Werkstatt unter den Mähdreschern liegen sehen.

Erst später erfuhren wir gerüchteweise, welches Drama sich wegen Leos Unachtsamkeit abgespielt hatte. Er hatte vergessen, dass auch die Witwen von Großbauern ab und zu Brot kaufen müssen. Zwischen Frau Lebuda und „Fräulein“ Großenroth hatte sich eines Tages wohl ein Gespräch ergeben, das Leos Absichten sehr zuwiderlief. Wir konnten nur spekulieren, welche Informationen über ihren gemeinsamen Verehrer zwischen den Frauen ausgetauscht wurden. Jedenfalls sprachen beide von da an kein Wort mehr mit ihm.

Und da erwähnte jemand abends im Dorfkrug das mit der Buttermilch. Alle lachten, wobei niemand genau sagen konnte, welche Art von Klößen genau gemeint war. Vor allem aber fühlten wir alle ein wenig Mitleid mit Leo.

Ein Missverständnis am Meer

Durch das breite Panoramafenster hatte sie einen atemberaubenden Blick auf das Meer. Zu dieser Tageszeit war das Wasser grau, nicht blau, und kleine, dramatische weiße Kammwellen rollten auf das Hotel zu. Durch das Glas konnte sie die Möwen schreien hören, die das kühle Wetter nicht wahrnahmen und deshalb den Strand ganz für sich allein hatten.

Sie lächelte und wandte sich ihrem Frühstück zu. Das Fenster nun in ihrem Rücken, begann sie den Tag zu planen. Das berühmte Resort war fast leer, in dem riesigen Gebäude befanden sich vielleicht zehn andere Gäste, die das verlängerte Wochenende ausnutzten. Der Schönheits- und Wellness-Service war auf ein absolutes Minimum reduziert worden, was ihr gut gefiel – keine urbane Zerstreuung, die sie von der rauen Natur draußen und den Wörtern ablenkte, von denen sie hoffte, dass sie sich in ihrem Kopf bilden würden. Wörter, die sich zu Sätzen zusammenfinden würden. Sätze, die zu Absätzen und schließlich zu einer echten Geschichte gerinnen könnten. Ein Nordseehotel in der Nebensaison ist dafür der ideale Ort, dachte sie.

Nach dem Frühstück machte sie einen Strandspaziergang und fühlte sich fast augenblicklich wiederbelebt, innerlich jubelnd. Allein in dieser wilden Umgebung zu sein, vermittelte ihr den Eindruck, ein unmaßgebliches Atom in einem großen Ganzen zu sein, ein unbedeutendes Nichts, von den Elementen herumgeschleudert. Genau dieses Gefühl der Leere würde ihr helfen, ihre innersten Gedanken anzuzapfen, die ursprüngliche Quelle von Sinn und Verständnis zu befreien. Sie ließ das Mittagessen ausfallen und genoss noch ein bisschen länger das Bewusstsein ihrer Existenz.

Noch immer spürte sie die angenehme Wirkung der Wintersonne auf ihrem Gesicht, als sie zum Abendessen das Hotelrestaurant betrat. Der Platz am Panoramafenster sei noch frei, sagte ihr der auf diskrete Weise gutaussehende Kellner, kein Problem. Das heutige Menü werde gleich serviert werden; ob sie einen Aperitif möchte?

Die Nacht senkte sich über das Meer, das ihr jetzt ruhiger vorkam als beim Frühstück. Vielleicht war es auch nur das verblassende Licht, das sanft die weiter entfernten Wellen bedeckte. Gedankenverloren wandte sie sich vom Fenster ab und fand die Vorspeise bereits lautlos serviert vor ihr stehen.

Als sie das Hauptgericht halb aufgegessen hatte, schob sie den Teller nach links und schlug ihr rotes Notizbuch auf. Was hatte sie am Strand so tief berührt – der endlose Horizont? Die großen weißen Vögel, die sich bedenkenlos in das windgepeitschte Wasser stürzten? Der Sand, der sich so schnell verfärbt hatte? Sie brachte einzelne Worte zu Papier und formulierte ein paar Sätze, um die magischen Momente festzuhalten. Material für ein längeres Stück, das zu einem späteren Zeitpunkt fertiggestellt werden könnte. Ja, sie würde Kaffee nehmen, sagte sie dem Kellner.

Am Freitagmorgen nahm sie sich kaum Zeit zu frühstücken. Raus in die Wildnis, in die Natur, um das Gefühl tiefer Glückseligkeit erneut wachzurufen. Sie ahnte, dass sie bald die harte Schale literarischer Konventionen durchbrechen könnte, wenn sie mehr Zeit an diesem Ort verbringen würde, umgeben von nichts als roher Energie.

Beim Mittagessen bemerkte sie denselben Kellner wie am Abend zuvor, sehr attraktiv in seinem enganliegenden Smoking, der sich ruhig und taktvoll um sie kümmerte. Ein Aperitif zum Mittagessen, warum nicht? Sie dankte ihm anmutig und versuchte, ihn nicht zu bedeutungsschwer anzusehen. Stattdessen warf sie einen Blick auf die beiden älteren Paare, die ein paar Meter von ihr entfernt saßen. Gott sei Dank würde es viele Jahre dauern, bis sie deren Alter erreichte.

Das Essen war noch nicht einmal beendet, als sie ein wenig Platz auf dem Tisch freimachte und ihr Notizbuch öffnete. Die Protagonisten müssten einige Zeit zusammen am Meer verbringen, ja, das hätte das dramatische Potenzial, die Geschichte zu tragen, wenn man es mit grundlegenderen Einsichten in die Funktionsweise des Herzens koppelte. Vielleicht ein guter Ausgangspunkt. Sie konzentrierte sich auf das Schreiben und füllte zwei weitere Seiten mit Notizen, die linke für die männliche, die rechte für die weibliche Figur.

Als der Kellner herüberkam, blickte sie auf und bemerkte, dass er — sobald er in ihrer unmittelbaren Nähe war — es vermied, sie direkt anzusehen. Stattdessen hielt er den Blick tief auf den Tisch gerichtet. Wie süß, dachte sie, wie herrlich schüchtern und respektvoll. Sie hätte gern einen Kaffee, danke. Er lächelte, und sie fragte sich, ob sie etwas Unpassendes gesagt hatte.

Im Laufe des Nachmittags gewannen die beiden Romanfiguren an Tiefe. Der Himmel war bedeckt, und sie zog es vor, in ihrem Hotelzimmer zu bleiben. Sie fühlte, dass sie auf dem richtigen Weg war; die Geschichte begann, in ihrem Kopf wahr zu werden. Bis sie dem Verlag etwas präsentieren konnte, war es noch ein langer Weg, aber selbst der weiteste Weg… Sie mahnte sich, besser auf Klischees zu achten.

Die Zeit des Abendessens kam, und sie ging ohne wirklichen Appetit ins Restaurant hinunter. Der Kellner begrüßte sie mit einem offenen Lächeln und