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Der Band versammelt Kurzgeschichten und Gedichte des Speyerer Autors, die 2024 für Lesungen und Schreibwerkstätten entstanden sind. Sie entwickeln sich aus historischen Begebenheiten oder wenden sich den Merkwürdigkeiten unseres Alltags zu.
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Seitenzahl: 99
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"Noch nie haben Menschen etwas aus den Erfahrungenanderer gelernt, schon gar nicht aus denen früherer Generationen."
Carl Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir (1966)
Alles ist offen
Ein schlimmer Fall
Noahs Frau
Zeitlos
1372
Alles Süden
Denkmal
Die Wiederkehr der Botanisiertrommel
Herr Heidelbär
Jetzt
Schipka-Pass
Blauer Himmel
Der Zwerg
Die Frau gegenüber
Für Renia
Die Wunschliste
Im Holz
Nicht fair
Treppe zu den Sternen
Dreimal 255
Anmerkungen
Wenn im Winter
die Türen der Cafés Bars Kaschemmen
schon am Abend
verriegelt vernagelt
abweisend abwehrend
versperrt waren
dann sieht man im Sommer:
alles ist offen.
Wenn noch vor Wochen
beim Spaziergang im Viertel
die Fenster der Nachbarn
verschlossen verrammelt
verdunkelt verschattet
erschienen
dann sieht man im Frühling:
alles ist offen.
Wenn noch vor Jahren
im Gespräch der Familie
die Gesundheit der anderen
viel schlechter prekärer
bedrohter bedrängter
erschien als die eigne
dann sieht man im Alter:
alles ist offen.
Wenn alle bei Wahlen
beim Klima bei Kaufhof
bei Bahnen in Zukunft
das Schlimmste erwarten
nur Krisen und Klemmen
nur Drängen und Dulden
dann soll man sich sagen:
alles ist offen.
Wenn am Tresen der Kneipe
zwei Menschen
bei Wein Spritz und Hugo
nur Nettes sich sagen
lächelnd und lachend
schmunzelnd und schmusend
dann darf man vermuten:
alles ist offen.
Was hatte er verbrochen, dass er — als erwachsener Mann, mitten im Leben stehend — beim Anblick von Blumen jedes Mal panisch wurde? Weshalb bekam er Schweißhände und Herzklopfen, wenn er in der Zeitung auch nur das Bild einer Gladiole erblickte? Warum atmete er schneller, sobald er das Gelb eines winzigen Löwenzahns sah? Aus welchem Grund trocknete sein Mund aus, sobald die Rede auf eine Nelke kam? Und wieso spürte er Übelkeit und Schwindelgefühl in sich aufsteigen, wenn er auf der anderen Straßenseite einen Blumenladen wahrnahm?
Er wusste es nicht zu sagen. Es blieb ihm ein Rätsel. Ein Handicap, das ihm das Leben schwermachte. Blumen waren allgegenwärtig: abgebildet in jeder Illustrierten, im Restaurant auf jedem Tisch, an jeder Hotelrezeption, auf allen Friedhöfen. Der Gedanke an die blumengeschmückten Dörfer an der Weinstraße erfüllte ihn mit Beklemmung, ja mit tiefem Schrecken. Es machte auch keinen Unterschied, ob es sich um natürliche oder künstliche Blumen handelte. Rot, gelb, weiß — für ihn bedeutete jede Blüte ein furchtbares Erlebnis. Dabei sagte er sich, dass die Dekoration mit Blumen wahrscheinlich gut gemeint war. Für ihn nicht, für ihn waren sie weder gut gemeint noch gut.
Ein schwerer Fall von Anthophobie, sagten die Ärzte. Das Wort half ihm allerdings nur wenig. Gar nicht so rar, wie man denken könnte, sagte die Frau von der Krankenkasse, und kommt auch selten allein. Abhilfe ist prinzipiell möglich, meinte der Psychotherapeut, den ihm ein Freund empfohlen hatte.
Der erste Fehler unterlief ihm im Alter von fünfzehn Jahren, als er Erika kennenlernte. Es konnte nicht gut gehen. Sobald er nach mehreren Wochen des anonymen Anhimmelns endlich ihren Namen erfuhr, war es aus und vorbei. Als sie sich einander vorstellten, wäre er beinahe ohnmächtig geworden, wofür er damals seine akute Verliebtheit verantwortlich gemacht hatte. Heute wusste er es besser.
Dann kam die Sache mit Margarete, mit der er zusammen das Abitur ablegte. Im Klassenraum lag zwischen ihnen eine Distanz von zehn Metern oder mehr, das konnte er aushalten. Aber beim Rein- und Rausgehen bekam er jedes Mal Atemnot. Lange Zeit kam er nicht darauf, warum.
Iris und Rosemarie begegnete er häufig während des Studiums, denn sie hatten dieselben Vorlesungen belegt wie er. Es waren schlimme Momente. Er konnte sich kaum auf den Stoff konzentrieren, so sehr beschäftigte ihn die Aufgabe, seinen Puls unter Kontrolle zu halten und nicht zusammenzubrechen. Um eine Begegnung mit den beiden Frauen zu vermeiden, machte er es sich zur Gewohnheit, bevor der Professor geendet hatte aus dem Hörsaal zu fliehen.
Seine Studentenkneipe trug den schönen Namen „Zum schiefen Stiefel“. Sicheres Terrain, dachte er lange. Bis die adrette Bedienung ihn eines Abends ansprach: „Ich heiße Flora, und du?“ Aus, Ende. Er konnte damals nicht einmal mehr sein Bier austrinken und suchte sich fortan eine neue Weinstube.
Nach Abschluss seiner Studien fand er sofort eine Anstellung in einer Fabrik namens „Spomenka“, in der Büroartikel aller Art hergestellt wurden. Die Arbeit befriedigte ihn und er machte sich keine weiteren Gedanken. Er hatte alle Mühe, einer neuen Kollegin aus dem Weg zu gehen, die Heiderose hieß.
Trotzdem war die Wahl seines Arbeitgebers der zweite große Fehler in seinem Leben, denn irgendwann erzählte man ihm, dass die Fabrik „Vergissmeinnicht“ hieß, nur eben auf Kroatisch. Er kündigte sofort, sobald er sich von seinem Schwächeanfall einigermaßen erholt hatte.
Danach musste er lange nach einer neuen Stelle suchen, denn eine Position bei der Schreibmaschinenmarke „Erika“, die man ihm anbot, kam ebenso wenig in Frage wie die Mitarbeit in der Vertriebsniederlassung der Champagnermarke „Fleur de Lys“. Monatelang blieb er arbeitslos und ernährte sich von seinen Ersparnissen.
Der Therapeut, den er in seiner anthophobischen Not aufsuchte, hieß Jeremiah Nitzan. Bei ihm fühlte er sich gut aufgehoben. Zusammen mit Nitzan stieg er mühsam in die Tiefen seiner Lebensgeschichte hinab, besprach ausführlich seine Kindheitstraumata, das Verhältnis zu seinen Eltern, die Beziehung zu seiner großen Schwester und die Auseinandersetzungen mit seinem kleinen Bruder, um endlich an die Ursache seiner Krankheit zu kommen.
„Ihre Schwester hieß…?“ fragte ihn der Therapeut eines Tages.
„Sie wurde Poppy genannt“, erwiderte er.
„Nicht gut“, kam es sofort von Nitzan, der dabei heftig die Stirn runzelte, „gar nicht gut.“
Zunächst konnte er sich keinen Reim auf diese Bemerkung machen, aber dann konsultierte er das Internet. Und bei dieser Gelegenheit fand er dort auch die Information, dass der Nachname seines Therapeuten aus dem Hebräischen kam und so viel wie „Blüte“ bedeutete. Er blieb ab sofort zu Hause.
Im Privaten lief es nicht gut für ihn. In der neuen Weinstube lernte er schnell eine Hazel kennen, aber daraus wurde natürlich nichts. Olivia, die sich an seiner neuen Arbeitsstelle — einem Sanitärgroßhandel mit dem unschuldigen Namen „Bleibjohann und Söhne“ — durchaus für ihn interessierte, kam auch nicht in Frage, ebenso wenig wie in den Wochen darauf die Kneipenbekanntschaften Hortense, Jasmin und Dalia. Mit der hübschen Finnin Vuokko hätte es etwas werden können, aber das wäre sein dritter Fehler geworden. Arglos erzählte sie ihm nämlich eines Abends, wie sehr ihre Eltern die Windröschen vor dem Haus geliebt hatten; auf diese Weise sei sie zu ihrem Namen gekommen.
Und so verheiratete er sich kurze Zeit später stattdessen mit Sophia. Das war eine weise Entscheidung, denn irgendwie musste er ja weiterleben. Blumen kamen dem jungen Paar nie ins Haus, zur Hochzeit nicht und auch nicht in den Jahren danach.
Man kann sich seine Nachbarn in der Regel nicht aussuchen, sondern muss irgendwie mit ihnen auskommen. Aber manchmal ist der Nachbar einfach zu nahe. Mein nächster Hausbewohner — seine Tür ist auf dem gleichen Stockwerk drei Meter von der meinen entfernt — heißt Norbert und raubt mir nicht selten den letzten Nerv.
Neulich klingelte er und erklärte mir auf dem kalten Hausflur ohne weitere Einleitung, mit vor Aufregung glänzenden Augen: „Ist das nicht bemerkenswert? Dass man so viel von dem Archebauer Noah weiß, aber nur so wenig von seiner Frau? Hast du dir das schon einmal überlegt?“
War der Mann übergeschnappt?
„Ich finde das äußerst seltsam“, setzte Norbert seinen Gedanken unbeirrt fort, „in der Schöpfungsgeschichte werden lang und breit die Bauanleitungen wiedergegeben. Dreihundert Ellen lang, fünfzig breit, dreißig hoch, der Eingang an der Seite, drei Stockwerke, alles mit Pech abgedichtet. Fertig ist die Arche.“
„Ja, danke“ sagte ich und machte Anstalten, die Tür zu schließen. Wo er das jetzt wieder aufgeschnappt hatte. Aber er war nicht zu bremsen.
„Und dann die Passagierliste — Noah selbst, und seine Söhne, die er gezeugt hatte, als er fünfhundert Jahre alt war. Dann die Frauen seiner Söhne. Und seine Frau — wenigstens die hätte man doch beim Namen nennen können, finde ich.“ Norbert machte ein bekümmertes Gesicht. “Bei allem, was sie durchmachen musste. Mehr als vierzig Tage lang nur Wasser sehen, für alle kochen und Wäsche waschen. Und ständig das ganze Tiergewese um sie herum, mit Schlangen und Würmern und Löwen und Tigern. Echt anstrengend, oder?“
An welcher Stelle hatte er meine Aufmerksamkeit geweckt? War es der Zeugungsakt in so hohem Alter? Ich konnte mich nicht bremsen und sagte, „Am bemerkenswertesten findest du wahrscheinlich, dass man mit fünfhundert noch Vater werden kann … Dürfte objektiv mühsam gewesen sein, das muss ich zugeben.“
„Ich finde es jedenfalls erstaunlich,“ spann Henrik ungerührt seinen Gedanken weiter. „Wenn ich so darüber nachdenke, lässt es die Autoren der Bibel nicht gut aussehen, dass sie wiederholt die Namen seiner Söhne nennen, aber nie den Namen seiner Frau. Ohne die hätte es die Söhne doch gar nicht gegeben.“
Norbert der Schlaumeier.
„Die arme Frau“, fuhr er fort, „wie sie wohl geheißen hat? Hat nicht jeder das Recht auf einen Namen?“, sagt er verträumt, „vielleicht hieß sie Sarah oder Lara oder Ruth oder Deborah …“
„Oder Bathseba oder Tamara oder Tabata — ist dir klar, wie lächerlich du klingst?“, fuhr ich dazwischen. „Ich habe für solches Klein-Klein weder Lust noch Zeit. Wo du das wieder her hast …“ Ich machte einen neuerlichen Versuch, die Wohnungstür zu schließen.
Norbert stellte einen Fuß dazwischen. „Nimm das nicht auf die leichte Schulter“, sagte er mit Nachdruck und einer Hand fest auf meinem Türgriff, „ich finde das erstaunlich, äußerst erstaunlich. Immerhin geht es um Noah bzw. seine Frau!“
„Entspann dich,“ sagte ich, um die Situation zu entschärfen, „ich hab’s nicht so mit der Bibel.“
„Deine Sache“, erwiderte er ungerührt, „aber nachdenken wird man wird doch noch dürfen.“ Er schien jetzt enttäuscht und war vielleicht sogar bereit, mich in Ruhe zu lassen. Aber dann fiel ihm noch etwas ein.
„Es gibt noch andere Frauen in der Bibel, die keine Namen haben, hast du das gewusst? Scheint eine Macke der Autoren zu sein. Finde ich einfach erstaunlich.“ Er ließ die Tür los und wandte sich zum Gehen. Die Enttäuschung über mein unverhohlenes Desinteresse war ihm anzumerken.
Dabei war es nicht das erste Mal, dass ich seine Spinnereien nicht richtig würdigte. Einmal hatte er versucht, mir weiszumachen, dass man im Leben umso erfolgreicher sei, je heftiger man von der Schule geflogen war; als Beispiele nannte er Humphrey Bogart und Salvador Dali. Bei anderer Gelegenheit hatte er mir voller Begeisterung berichtet, dass er demnächst an einem Rasenmäherrennen teilnehmen werde, was für ihn wohl eine Vorstufe zu olympischen Ehren darstellte. Ich habe mir nie vorzustellen vermocht, woher er seine obskuren Erkenntnisse hatte.
Zum Abschied hob er eine Hand und winkte mir zu. Seine Bewegung ließ mich an einen Priester denken. Unsere Türen fielen gleichzeitig ins Schloss.
Manchmal wünsche ich mir andere, wesentlich simpler gestrickte Nachbarn. Dann wäre das Leben erstaunlich einfach.
Er ist froh, dass er an diesem Wochenende Zeit hat. Natürlich muss man damit verantwortungsvoll umgehen, die Zeit nicht verplempern, nicht in den Tag hinein leben. So protestantisch ist er dann doch noch. Nach dem Ausflug zum ehemaligen Bergwerk müsste er mal nachsehen, woher das schöne Wort „verplempern“ kommt.
Bald nachdem er die Autobahn erreicht hat, kommt das Fördergerüst der einst weltgrößten Steinkohlenzeche in Sicht. Es ragt vierbeinig und rostbraun fünfzig Meter hoch in den Himmel über der Ruhr. Eine majestätische, elegante, luftige Konstruktion, die ihn von Weitem an den Eiffelturm erinnert.
Er bucht sich am Eingang der riesigen Anlage eine Tour, weil er neugierig ist und vom Bergbau praktisch nichts versteht.
Zur angegebenen Uhrzeit schart der Tourleiter die kleine Gruppe um sich, überprüft die weißen Handgelenkbändchen, die bei der Buchung übergeben wurden, und stellt sich vor. Die Begrüßung ist launig und schafft sofort eine gute Stimmung.
Als erstes werden die Besucher zum etwas abseitsstehenden Modell der Zeche geführt. Dort