Ein Herz und eine Pflege - Rashid Hamid - E-Book
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Ein Herz und eine Pflege E-Book

Rashid Hamid

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Beschreibung

«Salam alaikum, Erwin! Wie kann ich helfen?» Rashid Hamid führt seinen Hamburger Pflegedienst mit viel Einsatz und Liebe. Die Begegnungen mit den alten Menschen zaubern ihm ein Lächeln ins Gesicht, auch wenn der Pflege-Alltag manchmal mühsam sein kann. In seinem Buch erzählt Rashid, warum er sich für diesen Job entschieden hat − und es immer wieder tun würde. Er gibt den vielen Pfleger:innen mit Migrationshintergund und ihren oft deutschen Klient:innen ein Gesicht. Alle lieben Rashid, und Rashid liebt seinen Job. «Ich lerne von meinen Patienten. Gerade, wenn sie das Leben schon fast hinter sich haben, kommt immer mal ein Spruch, der mich zum Nachdenken bringt oder mich mein Leben wieder mehr genießen lässt. Ich wache morgens auf und denke: Na, mal sehen, was der Tag heute so bringt und was alles passiert. Der Job ist abwechslungsreich, super vielseitig – man kann in Altenheimen, Pflegeheimen, auf der Intensivstation im Krankenhaus arbeiten, Leute in der ambulanten Pflege zu Hause pflegen, in der Psychiatrie oder JVA oder in der Reha arbeiten. Man kann sich weiterbilden, zum Wundexperten oder zum Pflegedienstanleiter oder sich selbstständig machen. Man spricht mit den Patienten, den Angehörigen, den Ärzten. Ich finde, man sollte zeigen, was der Beruf kann und einem alles bietet. Pflege ist wertvoll und kann wirklich viel. Er kann einen zu einem besseren Menschen machen, auch wenn das doof klingt oder übertrieben. Aber so ist es!» Rashid Hamid

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Seitenzahl: 192

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Rashid Hamid • mit Ariane Grundies

Ein Herz und eine Pflege

Vom Glück, für andere da zu sein

 

 

 

mit Ariane Grundies

Über dieses Buch

«Salam alaikum, wie kann ich helfen?»

 

Rashid Hamid führt seinen Hamburger Pflegedienst mit viel Einsatz und Liebe. Die Begegnungen mit hilfebedürftigen Menschen zaubern ihm ein Lächeln ins Gesicht. Auch wenn der Pflegealltag manchmal mühsam sein kann, Rashid würde sich immer wieder für diesen Beruf entscheiden. Hinter den vielen Wohnungen und Gesichtern stecken immer ganze Leben mit vielen traurigen und schönen Geschichten. Und auch Rashid erzählt seine Geschichte und gibt den vielen Pflegerinnen und Pflegern in Deutschland eine Stimme, für die ihre Arbeit mehr als nur ein Job ist.

Vita

Rashid Hamid wurde 1992 in Hamburg geboren, seine Eltern stammen aus Afghanistan. Nachdem er 2013 seine Ausbildung als Altenpfleger abgeschlossen und lange als Angestellter gearbeitet hat, gründete er 2021 seinen eigenen Pflegedienst und teilte erste Videos von sich und seinen Klienten unter @pflege.smile bei TikTok. Mittlerweile folgen ihm dort knapp 200000 Menschen. Rashid Hamid ist verheiratet und hat eine Tochter.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Doreen Fröhlich, Chemnitz

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Yvonne Schmedemann

ISBN 978-3-644-01737-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Vorwort

Hallo, meine Freunde! Ich schreibe ein Buch. Du schreibst ein Buch, Rashid? Was mit dir los, Digger? Im Deutschunterricht bist du doch ständig eingeschlafen. So oder so ähnlich haben ziemlich viele Leute reagiert, als sie davon hörten, was ich vorhabe. Und darum will ich jetzt als Erstes gleich mal erzählen, was mit mir los ist!

 

«Aus dir wird nichts, Rashid!» Mit diesen ermutigenden Worten drückte mir ein Lehrer mein Abschlusszeugnis in die Hand. 14 Jahre später traf ich diesen Lehrer wieder. Er war mittlerweile über 70 Jahre alt und spazierte etwas wackelig durch eine Straße im Hamburger Stadtteil Bergedorf. Ich verteilte dort vor meinem neu eröffneten Pflegedienst Flyer und drückte auch ihm einen in die Hand. «Melden Sie sich, wenn Sie Hilfe brauchen», sagte ich.

Er erkannte mich zuerst nicht und interessierte sich auch nicht für das, was ich da tat. Wahrscheinlich dachte er, ich sei ein Umzugshelfer oder wollte sein kaputtes Auto kaufen.

«Hallo, Herr Meier, ich bin’s, Rashid!», versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen.

Als er mich endlich erkannte, wollte er wohl höflich sein. «Ah, du», sagte er und warf doch einen Blick auf den Zettel. Wollte er wirklich höflich sein? Vielleicht wollte er auch nur eine Bestätigung für seine Vorhersagung, dass aus mir sowieso nichts würde!

«Du verteilst also Flyer!», sagte er.

Ich nickte. «Ja.»

Er nickte auch. Es entstand eine kleine Pause. Vögel zwitscherten in Bergedorf.

«Das ist aus mir geworden», sagte ich.

Mein ehemaliger Lehrer grinste. «Ein Flyerverteiler.»

«Ein Pfleger!», berichtigte ich ihn.

«Oh!» Er guckte fast ein bisschen erschrocken. Ich und Pfleger? Die alten, armen, wehrlosen Leute, dachte er bestimmt. Wie kann man einen wie Rashid Hamid auf die loslassen?

«Das da vorne ist mein Pflegedienst.»

«Dein Pflegedienst?», wunderte sich Herr Meier. «Ach so, da arbeitest du?!»

«Ja, da arbeite ich, zusammen mit meinen Angestellten.»

Chef? Der? Mit den Zensuren? Herr Meier guckte sich überfordert um. Nein, weit und breit war niemand da, den er hätte fragen können, ob ich ihn auf den Arm nehmen wollte. Er musste sich wohl oder übel damit abfinden, und dann sagte er etwas. Ziemlich leise, aber ich hab’s genau gehört: «Find ich gut, Rashid, dass du dich um andere kümmerst.»

Mein Pflegedienst heißt Smile, und mit einem ganz großen Smile auf dem Gesicht habe ich mich an diesem Tag auch von Herrn Meier verabschiedet.

Meine Freunde fanden es anfangs nicht so gut wie Herr Meier, dass ich mich um andere kümmern wollte, jedenfalls nicht in dieser Form. Als ich meine Ausbildung zum Pfleger anfing, fragten sie: Pfleger? Echt, Bruder? Willst du wirklich anderen den Arsch abwischen? Ja, das wollte ich. Oder sagen wir mal so, ich hatte zumindest von Anfang an kein Problem damit. Schnell habe ich gemerkt, dass ich sogar richtig Spaß dabei haben kann, anderen den Arsch abzuwischen, die das selber nicht mehr können. Und ich glaube, deshalb haben meine Patienten und Patientinnen auch eine Menge Spaß mit mir. Spaß? In einem Pflegeberuf? Das wollte mir wieder kaum einer glauben. Und so flogen mir die Vorurteile munter weiter um die Ohren. Pflegedienste, das sind doch die, die schlecht bezahlt werden, keine Anerkennung bekommen und immer nur Stress haben! Das sind die, die nicht wollen, dass andere für sie klatschen. Das ist das, was die Leute in den Medien über Pflege hören und sehen. Es wird gemeckert, gewütet und Angst und Schrecken verbreitet. Während ich anfange, dieses Buch zu schreiben, ist mal wieder das große Thema in den Zeitungen Gewalt und Demütigungen in der Pflege, weil ein älterer Herr seine pflegebedürftige Frau erstickt hat. Mal ehrlich, wer traut sich denn da noch, pflegebedürftig zu werden oder seine alten Eltern einem Pflegedienst anzuvertrauen? Ja, natürlich gibt es Dinge, die in Pflegeberufen schieflaufen, die ungerecht und extrem anstrengend sind, die verbessert werden müssen, und natürlich gibt es ein hohes Maß an Überforderung von pflegenden Angehörigen oder überlasteten Pflegern und Pflegerinnen in Altenheimen. Aber es gibt eben nicht nur diese eine Seite. Der Pflegeberuf ist und kann so viel mehr. Wenn ich in ein verdunkeltes, nach Krankheit, Hilflosigkeit oder Verzweiflung riechendes Zimmer komme, in dem jemand liegt, der aus gutem Grund nicht allerbester Laune ist, dann reiße ich die Vorhänge auf, öffne das Fenster und erlaube mir einen kleinen Scherz. Schon sieht die Welt etwas freundlicher aus. Und weil ich für kranke Leute diesen kleinen Unterschied machen kann, liebe ich meinen Beruf. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel einem das Leben schenkt, wenn man anderen den Arsch abwischt. Zum Beispiel habe ich meinen Erwin bekommen, den einige von euch auch als TikTok-Opa kennen. Erwin hätte ich ohne meinen Beruf nie kennengelernt. Er hat immer einen guten Spruch auf den Lippen. Ich habe einiges von ihm gelernt. Und nicht nur von ihm. Ich habe auch von meinen anderen Patienten und Patientinnen gelernt, von meinen Kollegen und Kolleginnen. Vor allem habe ich viel über mich selbst gelernt. Achtung, Herr Meier, ich zitiere jetzt Mahatma Gandhi. Der hat mal gesagt: «Der beste Weg, sich selbst zu finden, ist es, sich für das Wohl anderer einzusetzen.» Und Gandhi hat recht, finde ich. So kitschig das auch klingt, aber ist wirklich so: Dieser Beruf hat mir viel geschenkt und einen besseren Menschen aus mir gemacht. Was genau, warum Gandhi eigentlich recht hat, warum mit mir ziemlich viel stimmt, seit ich in der Pflege arbeite, warum Pflege geil ist und warum Lehrer wie Herr Meier sich ihr «Aus dir wird nichts» sonst wohin stecken können, das will ich euch in diesem Buch erzählen. Und natürlich auch von Muskeln, angelutschten Bonbons und dem Einhorn nachts in meinem Büro.

Erwin, Ulli und Heiko

Zuerst möchte ich euch drei meiner lieben Patienten und Patientinnen vorstellen, die in diesem Buch auch zu Wort kommen werden: Erwin, Ulli und Heiko. Bei ihnen bleibe ich öfter mal privat eine Minute länger oder auch fünf. Wir quatschen, während ich ihnen zum Beispiel beim Waschen helfe und ihnen Stützstrümpfe anziehe. Mit ihren Sprüchen und ihren Antworten auf meine Fragen bringen sie mich oft zum Lachen, aber genauso oft auch zum Nachdenken, darum habe ich mir gedacht, dass sie mich in diesem Buch ein wenig unterstützen könnten. Ich finde es schade, dass das, worüber ich mich mit meinen Patienten und Patientinnen unterhalte, meistens hinter verschlossenen Türen bleibt. Und sie finden es auch schade. Immerhin haben sie viel erlebt und dadurch eine ganz andere Sicht auf das Leben als ich zum Beispiel.

Erwin war einer meiner allerersten Patienten. Wir mochten uns vom ersten Augenblick an. Er ist inzwischen ein echter Freund geworden und auch ein Vorbild für mich. Mich beeindruckt, wie er mit seinen fast 90 Jahren noch versucht, alles so weit alleine zu schaffen und zu regeln. Er möchte, solange es geht und so gut es geht, selbstbestimmt leben. Erwin hat viel erlebt und macht sich nicht verrückt. Er ist ein Gentleman alter Schule, immer höflich, immer witzig und immer respektvoll. Ich mag, wie er die Frauen Ladys nennt und nicht Mädels, so wie andere das machen. Erwin ist offen für alles, ob es dabei um Sachen von früher oder von heute geht. Er informiert sich, fragt, wie dieses und jenes funktioniert, was dieses oder jenes bedeutet. Ich halte ihn für ziemlich weise. Wenn ich eine Frage habe, dann hat Erwin eine Antwort oder einen Rat für mich parat. Immer. Aber das Beste an Erwin ist und bleibt sein trockener Humor.

Erwin hat einen stark gekrümmten Rücken und geht mit einem Rollator. Er braucht jeden Tag Hilfe beim An- und Ausziehen der Thrombosestrümpfe. Einmal die Woche helfen wir beim Duschen und auch im Haushalt.

Erwin, die Sonne geht auf, wenn ich dich sehe.

Erwin: Dann pass mal auf, dass der Mond nicht gleich untergeht.

Ulli ist eine verrückte Nudel und in meinen Augen eine der inspirierendsten Frauen, die ich jemals in meinem Leben kennenlernen durfte. So taff und stark. Sie ist Mitte 70 und zieht an, worauf sie gerade Bock hat; mal punkig, mal rockig, mal irgendwie ganz normal. Je nach Laune. Sie ist direkt und ehrlich und hat das Herz auf dem rechten Fleck. Das ist ihr auch bei anderen Menschen wichtig. Ulli war mehr als 30 Jahre lang als Psychologin tätig und arbeitet aktuell noch ehrenamtlich, um anderen Menschen zu helfen. Und das, obwohl sie selber schwer krank ist. Sie leidet an diversen Krankheiten, darunter Nierenkrebs, Leukämie, kaputter Schilddrüse. Die Ärzte haben ihr schon vor Jahren mitgeteilt, dass sie bald sterben wird. Aber Ulli lebt. Sie begründet das mit ihrer positiven Energie. Ich hab sie gefragt, warum sie trotz ihrer Krankheiten noch weiterarbeitet und nicht müde wird, für andere da zu sein. Ihre Antwort ganz klar: «Ich möchte nicht irgendwann auf dem Sterbebett liegen und mir die Frage stellen, hab ich überhaupt gelebt, und konnte ich anderen Menschen helfen?»

Ulli braucht etwas Hilfe bei der Körperpflege und im Haushalt. Ich muss regelmäßig ihren Blutzucker messen. Aber ansonsten kümmert sie sich um fast alles selber und ist immer viel unterwegs.

Ulli, was war dein schönstes Geschenk?

Ulli: Mein schönstes Geschenk, das war mein Mann, als ich ihn kennengelernt habe.

Heiko ist so alt wie ich und ab dem Brustmuskel abwärts eigentlich wie gelähmt. Das war nicht immer so. Vor ungefähr zehn Jahren hat er seine Diagnose MS bekommen, Multiple Sklerose, eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. Davor konnte er sich ganz normal bewegen. Heiko nimmt kein Blatt vor den Mund, ist ein lustiger, witziger Typ. Ich feiere seinen Humor. Aber er ist auch ein kleiner Schlawiner, der oft versucht, bei den Frauen Eindruck zu machen. Heiko bringt sich immer auf den neuesten Stand und ist auf Social-Media-Kanälen unterwegs. Ich geh manchmal mit ihm live, und dann quatschen wir unsere Zuschauer und Zuschauerinnen gemeinsam voll.

Heiko braucht eine Vollverpflegung, da er bettlägerig ist. Wir waschen ihn, kleiden ihn an, reichen ihm das Essen. Falls er rausgehen möchte, müssen wir ihn komplett im Rollstuhl mobilisieren und dann auch wieder zurück ins Bett bringen.

Heiko, würdest du gern die Zeit zurückdrehen?

Heiko: Ja.

Warum?

Heiko: Weil ich mehr hätte machen sollen. Für mich. Jetzt sieht es übel aus.

Das wird nichts – Der moppelige, schüchterne Junge mit den afghanischen Wurzeln zockt doch nur

Ich wollte eigentlich mal Arzt werden. Oder Pilot. Träumen darf man ja. Leider träumte ich früher etwas zu viel und konnte froh sein, dass ich nicht schon ohne Pilotenausbildung flog – nämlich direkt von der Schule. Meine Zensuren waren schlecht, meine Motivation bekam in der Schule nie richtig Wind unter die Tragflächen. Die Bruchlandung schien vorprogrammiert. Falls jemand denkt, ich hätte mich schon als kleiner Junge gerne um Haustiere gekümmert, Pflanzen liebevoll gehegt und gepflegt oder Mitschüler, die eher lost auf dem Schulhof rumstanden, gefragt, ob ich ihnen irgendwie helfen kann – nein! Damals kümmerte ich mich hauptsächlich um meine PlayStation oder meinen Game Boy und pflegte nur mit meinen beiden Brüdern zu zocken. Wir sind alle drei ungefähr im gleichen Alter. Ein Bruder ist ein Jahr älter, der andere ein Jahr jünger. Wir waren immer best friends, sind es auch heute noch. Wenn schönes Wetter war, sind wir vielleicht mal rausgegangen auf den Spielplatz und haben Fußball gespielt, ansonsten haben wir unsere Zeit drinnen verbracht. Damals haben wir in Hamburg am Fischmarkt gewohnt. Die hupenden Schiffe, das Marktgeschrei am Sonntagmorgen, das war mein Kiez. Fernweh hatte ich nie. Sondern einfach nur gern meine Ruhe.

Erwin: Damals war wichtig, dass man seine Schule macht. Da war nicht wichtig, dass du mit den Nachbarskindern unterwegs warst, sondern da war wichtig: Was essen wir? Was muss besorgt werden? Fürs Rumtoben hab ich keine Zeit gehabt.

Ich war schüchtern, eher faul und ein bisschen verfressen. Sport hat mich so wenig interessiert wie gesunde Ernährung. Dementsprechend moppelig hing ich also zu Hause rum und hatte definitiv andere Sorgen in dem Alter als Erwin oder meine Eltern.

Erwin: Wir hatten Mehlklöße in der Suppe. Kartoffeln oder so was Ähnliches konnten wir uns nicht leisten. In Österreich, wo wir eine Zeit gewohnt haben, als ich Kind war, hatten wir das Glück, eine Nachbarin zu haben, die war Förstersfrau, eine Witwe, und mit der sind wir in den Wald, und dann, als die Zeit war, haben wir Pilze gesammelt. So hatten wir dann mal was zusätzlich zum Essen. Manchmal haben wir wochenlang Brennnesselgemüse gegessen.

Brennnesseln kenne ich nur als nerviges Unkraut, das auf der Haut brennt, wenn man aus Versehen reinstolpert oder von den Brüdern reingeschubst wird. Meine Fragen waren damals jedenfalls ganz andere: Warum gibt es heute nicht mein Lieblingsessen, und warum darf ich nicht an den Computer?

Auch meine Eltern haben in ihrer Jugend Krieg erlebt. Mein Vater ist in den 80ern vor dem Krieg in Afghanistan nach Hamburg geflohen, da war er ungefähr 19 Jahre alt. Über die Familie hat er dann meine Mutter kennengelernt und sie nach Deutschland geholt. Als Kind hab ich es nicht kapiert, aber später habe ich oft versucht, mir vorzustellen, wie das sein muss, von einem auf den anderen Tag aus seiner Heimat zu flüchten, weil man sonst Gefahr läuft, draufzugehen. Man landet irgendwo, wo man niemanden kennt, die Sprache nicht spricht und von ganz vorn beginnen muss. Man lässt so viel zurück, Heimat, Freunde, Erinnerungen. Und das, als er gerade mal volljährig war. Mein Vater saß als Erstes in Hamburg wieder in einer Schule, um Deutsch zu lernen. Danach hat er in verschiedenen Jobs gearbeitet und sich schließlich mit einem Taxiunternehmen selbstständig gemacht. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass sie in Afghanistan nicht alleine auf die Straße durfte und sich verschleiern musste, als sie so alt war wie ich. Und ich? Mir war das ehrlich gesagt alles ein bisschen egal. Ich war in Hamburg geboren, kannte die Sprache, durfte in die Schule gehen und Freunde haben. Andere Sorgen hatte ich nicht. Ich bin nicht gern in die Schule gegangen und habe mir dort keine Mühe gegeben, dabei lag sie mir sozusagen fast zu Füßen.

Erwin: Meine Schule war zehn Kilometer weit weg. Ich musste morgens um 6 aufstehen und bin dann zwei Stunden gelatscht. Der Bus fuhr um 12 Uhr mittags zurück, aber die Schule war erst 14 Uhr zu Ende. Ich bin dann wieder zwei Stunden zurückgelaufen. Wenn ich Glück hatte, habe ich den Milchbauern getroffen, konnte mich auf seinen Wagen setzen und ein Stück mitfahren.

Als Kind habe ich nicht weiter über meine Zukunft nachgedacht. Für meine Eltern, die sich mühsam was aufgebaut haben, um uns ein besseres Leben in Frieden zu ermöglichen, muss es schwer gewesen sein. Ihnen war es natürlich sehr wichtig, dass wir eine gute Ausbildung bekommen und uns dafür auch anstrengen. Sie sind immer zu den Elternabenden und haben versucht, uns zu unterstützen. Wir mussten es aber trotzdem alleine schaffen und waren für unser Glück selbst verantwortlich. Es gab Klassenkameraden, für die haben die Eltern die Hausaufgaben gemacht und mit ihnen gelernt und ihnen die Vorträge geschrieben. So was wäre meinen Eltern nicht eingefallen, selbst wenn sie es gekonnt hätten. Ich denke, es gibt viele Kinder mit Migrationshintergrund, da können die Eltern nicht in der Form helfen, wie andere das tun, die Deutsch als Muttersprache haben, die die gleichen Bildungswege gegangen sind und aus dem gleichen Kulturkreis stammen wie ihre Kinder.

Mein Vater war der Erste von sieben Geschwistern, die aus Afghanistan nach Deutschland gekommen sind. Sie alle haben hart dafür gearbeitet, dass sie und ihre Kinder hier zurechtkommen, aber nicht, indem sie für sie die Hausaufgaben gemacht haben, sondern indem sie ihnen vorgelebt haben, dass man sich um seine eigenen Sachen selber kümmern und dass man fleißig sein muss, wenn man sich was aufbauen und was erreichen will. Sie alle haben heute Jobs und Familien und sind stolz darauf. Ich auch.

Als ich 14 war, sind meine Eltern mit mir und meinen Geschwistern nach Bergedorf gezogen. Mein Vater hat dort ein Haus bauen lassen, weil es in der kleinen Hamburger Wohnung für fünf Leute sehr eng geworden war. Wir alle hätten stolzer nicht sein können, aber ich wollte trotzdem nicht umziehen. Ich hatte Angst davor, meine Freunde zu verlassen und irgendwo neu zu sein. Aber Bergedorf meinte es gut mit mir und hat mir gleich coole Leute in mein Leben geschickt. Ich habe schnell neue Freunde in der Klasse gefunden. Mit denen bin ich heute noch befreundet. Das sind meine Jungs. Meine Frau habe ich dort auch kennengelernt. Ich war glücklich, aber meine Zensuren wurden immer schlechter. Klassenarbeiten und Hausaufgaben haben mich nicht interessiert, nicht früher, nicht später. Mit meinen Klassenkameraden lief es umso besser. Wir waren eine bunte Truppe; Türken, Polen, Deutsche – egal woher. Im Miteinander hätten wir alle eine glatte 1 bekommen. Wieso gibt es eigentlich keine Zensuren für das Miteinanderklarkommen oder Füreinanderdasein, für Respekt und Hilfsbereitschaft? Schule soll einen doch auf das Leben vorbereiten. Ich denke, diese Eigenschaften kann man immer gut gebrauchen.

Dass Noten in Mathe, Deutsch und Englisch aber wichtig sind, habe ich dann spätestens gemerkt, als wir alle plötzlich in «die Guten» und «die Schlechten» aufgeteilt wurden. Wer darf Abitur machen, wer die Mittlere Reife und wer den Hauptschulabschluss? War ich gut? War ich schlecht? Meine Zensuren entschieden darüber. Ich habe zwar den Realschulabschluss geschafft, aber das nur mit Ach und Krach, ich war der Schlechteste in der Klasse. Das haben mir die Lehrer auch immer wieder aufs Brot geschmiert. Keiner von denen hat gesehen, dass ich zwar keine Einsen und Zweien schreibe, aber dennoch auf meine Art zielstrebig war oder zumindest sein konnte. Ich war eben ein typischer Teenager, faul und verfressen, hatte nur Bock auf meine Kumpels und Computerspiele. Keiner hat mir was zugetraut. Ich mir selber allerdings auch nicht. Außerdem hatte ich immer Angst, Fehler zu machen. Genau das war der eigentliche Fehler. Heute würde ich meinem Ich von damals sagen: «Sei nicht so scheu, hab keinen Schiss. Was soll denn schon passieren? Alles halb so schlimm.»

Erwin, was würdest du heute dem kleinen Erwin von früher mit auf den Weg geben?

Erwin: Immer die Wahrheit sagen. Das ist das Wichtigste, was es überhaupt gibt, meine ich.

Arzt oder Pilot konnte ich mit meinem Abschlusszeugnis jedenfalls vergessen. Aber auch alles andere schien unerreichbar fern. Das sah mein Lehrer Herr Meier ja auch so. «Rashid, aus dir wird nichts!» Mit einem Händedruck so fest wie seine Überzeugung gab er mir das Zeugnis in die Hand. Meine Mitschüler und Mitschülerinnen grinsten. Ich auch. So richtig ernst nahm ich das alles immer noch nicht.

Erwin, wie findest du, dass mein Lehrer damals zu mir gesagt hat: «Aus dir wird nichts.»?

Erwin: Totaler Irrsinn. Totaler Irrtum und totale Fehleinschätzung. Die Kraft, die du aufwenden kannst für deine Sachen, finde ich ganz toll!

So hatte ich am Ende der Schulzeit mein unbrauchbares Zeugnis und keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte. Wenn man mich nur oft genug gefragt hat, für was ich mich interessiere, und wenn man mir nur oft genug gesagt hat, dass ich mich doch für irgendwas interessieren musste, dann hab ich beim genauen Hinhören ganz leise das Wörtchen Anatomie in mir gehört. Aber sobald ich mich traute, es auszusprechen – «Ich interessiere mich für Anatomie, für den menschlichen Körper» –, dann haben die Leute gefeixt und gesagt: «Tja, verkackt, Alter. Für Arzt hättest du dir in der Schule mehr Mühe geben müssen! Sehr viel mehr Mühe!»

An den Beruf des Krankenpflegers hat niemand gedacht. Ich am allerwenigsten.

So landete ich in einem Vorbereitungsjahr vom Arbeitsamt, wo ich lernen sollte, Bewerbungen zu schreiben. Da hab ich ein Jahr verschwendet und mich völlig fehl am Platz gefühlt. Da waren Leute, die eher gar keinen Schulabschluss hatten. Mein Problem war ja nicht, dass ich nicht wusste, wie man eine Bewerbung schreibt. Mein Problem war, dass ich nicht wusste, wohin ich eine Bewerbung schicken sollte.

«Rashid, du musst dir langsam mal was einfallen lassen», drängelten irgendwann auch meine Eltern. Ihnen gefiel es gar nicht, dass ich so aufgeschmissen und orientierungslos war und keine Idee hatte. Ich fing also an, Praktika zu machen. Ich hab es als Kfz-Mechatroniker versucht, in der Gastro. Aber ich habe immer schnell gemerkt, dass ich da nicht hingehöre. Das war alles nicht meine Welt. Als bei einem Praktikum in der IT-Branche ein Kollege seinen Computer hochfuhr und den Monitor mit «Hi, Susanne» begrüßte, packte ich meine Sachen zusammen und machte schnell, dass ich wegkam.

Woher weiß man, womit man sehr viel seiner Lebenszeit verbringen will, wenn man sich nicht schon immer für Autos oder fürs Programmieren interessiert hat? Oder wenn man nicht schon immer gern an Holz rumgeschnitzt oder Dinge unter dem Mikroskop angesehen oder anderen Leuten was verkauft hat? Ich wollte kein Versicherungsvertreter werden, kein Erzieher, kein Bäcker, kein Handwerker, kein Lkw-Fahrer, kein Softwaretyp, kein Schreiner, kein Kapitän, kein Bürohengst – ich wusste, was ich alles nicht werden wollte. Aber was wollte ich? Da half mir der Zufall. Irgendwann erzählte ich einem Nachbarn von meinem Problem. Er arbeitete im Krankenhaus und sagte: «Mach doch mal ein Praktikum bei uns.»