Ein Himmel für Mia - Kännie Meier - E-Book

Ein Himmel für Mia E-Book

Kännie Meier

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Beschreibung

Eigentlich findet Mia ihr Leben super: Sie hat einen Job, fühlt sich im Büro beliebt und schwärmt seit Jahren heimlich für Peter. Die Tage plätschern sachte dahin. Doch nachts, wenn sie träumt, steht sie hinter einer dicken Glaswand und schaut hinaus in die Welt. Als sie Zeugin eines Unfalls wird, beginnt die Glaswand langsam zu zersplittern: Das Opfer, Jan, spukt fortan als Geist in ihrer Wohnung. Nach und nach freunden sich die beiden an, denn Jans Humor und seine ironisch-witzigen Lebensweisheiten erweisen sich als das, was Mia braucht: Leichtigkeit, Lebensfreude und Gefühl. Doch was Mia nicht weiß: Jan ist nicht zufällig ihr Hausgeist. Er soll ihr helfen, ihren wahren Lebensweg zu finden, um selbst eine zweite Chance zu erhalten. Was zunächst vielversprechend beginnt, endet im Desaster. Zudem muss sich Mia ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen. Sie muss sich entscheiden, auf welcher Seite der Glasscheibe sie fortan stehen will. Unerwartet erhält sie dabei Hilfe von der himmlischen, aber durchaus chaotischen Ariel.

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Kännie Meier

Ein Himmel für Mia

© 2019 Kännie Meier

Auflage: 3, Erst-Erscheinungsjahr: 2019. Vorher veröffentlicht bei Amazon KDP und www.epubli.de. Titel: „Himmel? Erde. Komfortzone!“ von Maréen Elph

Autor: Kännie Meier

Umschlaggestaltung: L1graphics, www.99designs.de

Bilder für Umschlag: www.shutterstock.com, Nadia Levinskaya/shutterstock.com

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-34809-7

Hardcover:

978-3-347-34810-3

e-Book:

978-3-347-34811-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dieser Roman ist ein rein fiktives Werk mit fiktiven Charakteren. Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen zu lebenden und bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mias Welt

Der Wecker klingelt. Mia erwacht in Bauchlage, hebt den Kopf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und stellt den Ruhestörer mit einem rüden Handklatscher ab. Sie dreht sich auf den Rücken und setzt sich auf. Verschlafen gähnt sie und reibt sich über die Augen, denkt an den Traum zurück, den sie nicht deuten kann und schon seit einigen Jahren immer wieder träumt: Durch eine deckenhohe, breite Glasscheibe sieht sie hinaus auf die Menschen, die daran entlanglaufen. Jugendliche in Jeans, Männer in Anzügen, Kinder mit Schulranzen, Frauen, Männer, Pärchen. Im Traum kommt ihr jedes Mal ein Gedanke, an den sie sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnert. Wie eine Ahnung, ein merkwürdiges Gefühl, das noch einen Moment in ihrem Bauch bleibt, sich aber verflüchtigt, sobald sie die Augen aufschlägt.

Sie schlurft in die Küche und stellt die Kaffeemaschine an, die sie jeden Abend schon vorbereitet. Das ist ihr Ritual, das sie braucht, damit der Tag entspannt beginnt, und trinkt ein Glas Wasser, während der Kaffee durchläuft.

Gestern Abend war es spät geworden. Die Kollegen waren zum Feiern ausgegangen und obwohl Mia Partys hasst, hatte sie sich trotzdem angeschlossen. Denkt sie nun daran zurück, fühlt sich ihr Gesicht noch immer an, als hätte sie sich die Wangen mit Peperoniöl eingerieben. Sie waren in diesem Club gelandet, dem EX, in dem die Schönen und Hippen anzutreffen sind und in dem Mia in ihrer normalen Bürokluft aufgefallen war. Sie war nur reingekommen, weil die Kollegen die Türsteher kannten. Sich über die Getränkepreise ärgernd (fünf Euro für eine kleine Limo), war sie an einer Schar aufgetakelter Blondinen in knappen Outfits vorbeigelaufen, als sie geradewegs in jemanden hineinlief und ein Teil des Getränks auf dessen Hemd schwappte.

„Oh nein!“, hatte sie gewimmert. Nicht wegen der Limo, sondern weil sie das Kleidungsstück versaut hatte, was ihr unendlich peinlich war.

„Nicht schlimm!“, hatte der Typ kurz geantwortet und war schon längst weitergezogen, als Mia sich endlich aus ihrer Starre riss. Nur sein Rücken war noch sichtbar und der hielt auf einen besetzten Tisch zu. Die Blondinen neben ihr hatten sich schlapp gelacht und Witze über das graue Aschenputtel vor ihren Augen gemacht. Beschämt war Mia noch eine Weile geblieben, hatte sich aber so unwohl gefühlt, dass sie vor zehn Uhr den Club verließ.

Als sie später schlaflos im Bett lag, hätte sie sich selbst eine knallen können, weil sie nicht einfach zu Hause geblieben war. Normalerweise geht sie um neun ins Bett, da sie viel Schlaf braucht.

Hochbegabt ist sie demnach auch nicht, scheltet sie sich und denkt an ihre Tollpatschigkeit im EX zurück: Wie der dunkelhaarige Typ mit dem blauen, nun mit Limo verziertem Hemd an den Tisch zu seinen Kumpels lief und diese megamäßig Witze rissen. Mia hatte die Worte aufgrund der Musik nicht verstehen können, wusste aber dennoch, dass sie gemeint war, als seine Freunde ihr amüsierte Blicke zuwarfen. Der Typ selbst drehte sich noch einmal um. Er hatte ein dunkles, orientalisch aussehendes Gesicht mit nach hinten gegelten schwarzen Haaren. Mia schätzte ihn auf Anfang dreißig. Zwar trafen sich ihre Blicke, doch seiner huschte so schnell über sie hinweg, als wüsste er schon jetzt nicht mehr, wer ihn da angerempelt hatte. Mia war das recht gewesen, es war auch so schon peinlich genug.

Nun schüttelt sie die Erinnerung mühsam ab, stellt das Wasserglas auf den Tisch, nimmt sich eine Tasse aus dem Küchenschrank, schenkt sich Kaffee ein und wankt mit der Tasse in der Hand ins Bad, um sich fertig zu machen.

Eine knappe Stunde später schnappt sie sich die Kuchenform aus dem Kühlschrank und verlässt die Wohnung. Wie jeden Morgen schließt sie die Tür und dreht den Schlüssel langsam herum. Mia macht das sehr bewusst, damit sie sich nicht später während der Arbeit panisch fragt, ob sie wirklich abgeschlossen hat, die Kaffeemaschine tatsächlich aus oder das Fenster richtig zu ist. Es ist eben ein kleiner Tick, den sie selbst gar nicht mehr wahrnimmt, aber irgendwann in ihren jüngeren Jahren entwickelt hat.

Sie läuft ihre Wohnstraße entlang. Es ist noch recht früh und nur wenige Menschen sind mit ihr zusammen auf den Beinen. Nur gelegentlich ist Licht in den Fenstern der Häuser zu sehen, doch Mia ist zu sehr in ihre Gedanken versunken, als dies wahrzunehmen, und kehrt in ihren Gedanken zu ihrem kleinen Tick zurück. Erst neulich meinte Tante Helen, dass sie ihn so mit vierzehn entwickelt haben muss, aber Mia erinnert sich daran nicht. Es ist ihr auch egal. Sie weiß, dass sie eine kleine Verpeilte ist und würde dies auch als sympathisch bezeichnen, hätte ihr der letzte Freund nicht genau deshalb die Beziehung gekündigt. „Also echt, Mia!“, hatte er ihr während eines Streits mal vorgeworfen. „Du bist so verpeilt, grübelst ständig, denkst über alles so sehr nach, dass dein Kopf eigentlich schon längst geplatzt sein müsste. Und dann diese rosarote Brille! Hätte ich eine Träumerin gewollt, hätte ich mir die online bestellt.“ Und nur wenige Wochen später, nachdem er ihr eine letzte Nachricht geschrieben hatte, war er auch schon verschwunden gewesen und hatte die wenigen Habseligkeiten, die er in ihrer damaligen Studentenbude deponiert hatte, mitgenommen. Sechs Jahre war das jetzt her; sechs Jahre, in denen Mia sich immer wieder gefragt hat, was sie falsch gemacht hatte und warum er nicht geblieben war, obwohl sie so ist, wie sie nun einmal ist.

Tante Helen hatte nur empört geprustet, als Mia deshalb mal in Tränen ausgebrochen war. Sie hatten an Helens kleinem Küchentisch gesessen und Tee getrunken. Das Blumenmuster der Plastiktischdecke hatte sich in Mias Gedächtnis gebrannt.

„Lass den Blödmann ruhig ziehen“, hatte Helen seelenruhig erklärt und an ihrer Zigarette gezogen. Mia hatte die Teetasse in ihren Händen gedreht und ihre Tante angesehen, die rauchend am Küchentisch vor ihr saß. Ihre Gedanken waren etwas abgewichen. Obwohl ihr elend zumute gewesen war, hatte sie sich gefragt, ob sie ihre Tante jemals ohne den Glimmstängel gesehen hatte oder die schon damit geboren worden war.

„Aber ich habe ihn doch geliebt“, hatte Mia geheult und sich die Tränen von der Wange gewischt. Wie ein Häufchen Elend hatte sie am Küchentisch gesessen. Es muss wirklich sehr kurz nach der Trennung gewesen sein und die Verletzung war noch frisch.

Helen hatte sie nachdenklich angesehen, leicht gegrunzt, als unterdrücke sie einen Wortschwall, und ihr tröstend die Hand auf die Schulter gelegt. „Vielleicht lässt du lieber etwas Gras drüber wachsen und wir sprechen in einem Jahr nochmal.“

„Warum denn in einem Jahr?“, hatte Mia gefragt und sich lautstark geschnäuzt. Ihre Nase war zugeschwollen und ihre Augen waren verquollen gewesen.

„Weil die Gefühle vorbei sind und das Nachdenken erst dann beginnt.“

Denkt Mia an diese Zeit zurück, weiß sie immer noch nicht, was ihre Tante gemeint hat. Über Alex hatten sie jedenfalls nie wieder gesprochen und auch das Nachdenken hatte bei ihr nicht eingesetzt. Bis heute trauert sie ihm hinterher, behält das aber lieber für sich. Könnte sonst komisch wirken; so verträumt eben.

Sie reißt sich aus ihren Gedanken und schaut stolz auf die Kuchenform auf ihren Knien, als sie schon längst in der Bahn sitzt. Fast schon wie ein Roboter war sie eingestiegen und hatte sich einen Sitzplatz ergattert. Sie freut sich schon auf die Gesichter ihrer Kollegen. Mia backt häufig und gerne Kuchen nach Rezept, erfindet aber auch eigene Kreationen, die sie für sich im Computer festhält und liebevoll gestaltet, obwohl sie niemand je zu Gesicht bekommt. Insgeheim träumt sie davon, ein Buch mit Backrezepten zu schreiben, findet aber nie Zeit dazu, aber egal, Hobby ist schließlich Hobby.

Im Büro angekommen, stellt sie den Kuchen in den Kühlschrank, geht zu ihrem Arbeitsplatz, schaltet den PC ein und schreibt die übliche Rundmail: „Kuchen für alle! Lasst es euch schmecken! Eure Mia“

Sie hatte abends nach der Arbeit noch schnell gebacken. Nichts Besonderes, zumindest aus ihrer Sicht, sondern ihre Spezialität der schnellen Kuchen. Wenn sie in der Küche steht, die Zutaten zusammenmischt und die Kuchenform befüllt, kann am Tag alles passiert sein, durch das Backen beruhigt sie sich und fährt innerlich runter. Selten backt sie für die Familie. Nicht, weil sie nicht will, sondern weil sie niemanden hat außer ihrer Tante Helen, die nicht wirklich offen für Süßes ist. Aber Mia braucht das Backen, so wie andere Sport, und backt auch nach der Arbeit noch. Zum Glück hatte sie alle Zutaten im Haus. Beim letzten Mal, vor einer Woche, war sie noch schnell in den Supermarkt gesprungen, hatte den Einkaufswagen routiniert gefüllt – bei Backutensilien braucht die versierte Mia keinerlei Einkaufszettel – und war weitergerast, um schnell zu bezahlen. Richtig schwungvoll war sie um die Ecke gerauscht und hatte kurzerhand einen Typ mit Käppi umgenietet. Der arme Kerl, der zwar sehr sportlich und durchtrainiert in seinem T-Shirt unter der Jacke aussah, war trotzdem armselig zu Boden gegangen. Oh je, wenn ich schon mal jemanden flachlege, dann aber auch richtig, hatte sie selbstironisch gedacht und nicht darauf geachtet, dass ihr Mund die Worte in ihrem Kopf nicht bereitwillig nachplapperte. Als ihr bewusst wurde, was sie soeben gesagt hatte, färbten sich ihre Wangen puterrot und sie starrte vor lauter Peinlichkeit auf den Boden. Aber der Typ hatte nur gelacht, war aufgestanden und hatte sich den Schmutz von der Hose geklopft. Erst hatte sie kaum gewagt, ihm in die Augen zu schauen, dann aber doch den Blick gehoben und gesehen, wie seine Hände auf die Jeans schlugen.

„Tschuldigung, tut mir echt leid!“, hatte sie gestammelt.

„Nicht schlimm!“, antwortete er und ging weiter.

So schnell sie konnte, war sie geflüchtet, hatte sich hektisch an der Kasse nach einem roten Käppi umgesehen und in Turbogeschwindigkeit gezahlt. Seitdem ist sie nie wieder in diesen Supermarkt gegangen und nimmt lieber einen Umweg in Kauf, um woanders einzukaufen. In den folgenden Tagen jedoch spielte ihr Kopf die Szene immer wieder durch. Mia wurde dabei stetig forscher und selbstbewusster und inszenierte sich selbst als frech-kokette Heldin einer zwischen Brotabteilung und Tamponregal beginnenden Lovestory: „Oh je, wenn ich schon mal jemanden flachlege, dann aber auch richtig!“, sagt die Heldin ihres Kopfkinos zu dem smarten Typen auf dem Boden. In der Realität hatte sie sich noch nicht einmal getraut, in sein Gesicht zu schauen, weshalb sie dieses nun mit den Gesichtszügen ihres Kollegen Peter versieht. Nur die Haarfarbe muss sie fantasievoll umdenken und verpasst den eigentlich unter dem Käppi hervorlugenden fast schwarzen Haaren kurzerhand eine dunkelblonde Matte.

Die mutige Kopfkino-Mia schaut den attraktiven Mann geradewegs in die Augen und wundert sich so gar nicht, dass er ihr zu Füßen liegt. Der schaut zu ihr hoch, unfähig, den Blick jemals wieder abzuwenden.

„Ich bin übrigens emanzipiert“, lacht sie ihn an und hält ihm die Hand hin, „habe aber trotzdem nichts dagegen, wenn du mir zu Füßen liegst.“

Okay, wahrscheinlich träumt sie sich nicht immer die wortwitzigsten Sätze zusammen, aber in der Fantasie kommt alles gut an, und so kopfträumte sie in den nächsten Tagen weiter.

Mia liebt es zu träumen. So sehr, dass sie vor zwei Wochen beinahe von einem Fahrer im Sportwagen, einer Luxusmarke, angefahren wurde. In Gedanken versunken, war sie bei Rot über die Fußgängerampel gelaufen. Der Sportwagenmann war bereits um die Ecke geschossen, konnte aber im letzten Moment noch in die Eisen steigen. Direkt vor seiner Motorhaube hatte sie gestanden, während ihre Kinnlade vor lauter Schock gefühlt bis zum Boden fiel, so offenmündig glotzte sie den Typen mit den dunklen Haaren und lässiger Sonnenbrille an. Eine schwarze Baumwollmütze bedeckte die Haare, ein Schal verdeckte zudem die Kinnpartie des Mannes, der wohl unbedingt im Dezember trotz Sonnenscheins, aber kalten Temperaturen, mit offenem Verdeck fahren musste.

Mia war beiseite gerückt, um dem Fahrer auf der Straße Platz zu machen. „Entschuldigung!“, hatte sie gerufen, denn es war eindeutig ihr Fehler gewesen.

„Nicht schlimm!“, hatte er zurückgerufen. Und dann: „Ist dir was passiert?“

Sie hatte mit dem Kopf geschüttelt, weshalb er ihr zum Abschied zunickte, Gas gab und röhrend davonbrauste.

Als sie Helen davon erzählte, hatte die nur gesagt: „Vielleicht war das ein Zeichen.“

„Hä?“, hatte Mia gefragt.

In all den Jahren hatte Helen sie noch nie zurechtgewiesen und gesagt „Das heißt ‚Wie bitte!’“, doch Mia korrigierte sich von allein: „Wie bitte?“, wiederholte sie, als hätte Helen sie tatsächlich kritisiert.

„Na ja, vielleicht war’s ja wirklich ein Zeichen“, erwiderte Helen und staubwischte ihre Figuren auf der Fensterbank.

Mia sah ihr erstaunt zu. „Tante, hat dir Miranda einen Floh in den Kopf gesetzt?“

„Nein, sie hat mir keinen Floh ins Ohr gesetzt, aber dir täte etwas Spiritualität schon gut. Es gibt mehr als nur Himmel und Erde.“

Mia hatte nur gelacht. Sie kannte Miranda seit Kindertagen, hatte sich aber immer schnell aus dem Staub gemacht, wenn die von Aura, Seelenverwandtschaft und Engelwesen anfing. Warum Helen und Miranda Freundinnen sind, kann Mia nicht so ganz nachvollziehen. Ihre Tante hat eine schroffe, pragmatische Art, die in Widerspruch zu Mirandas esoterischer Lebenseinstellung steht.

Doch beide interessieren sich für Dinge jenseits des Tellerrands, was vermutlich das Bindeglied ihrer Freundschaft ist.

Denkt Mia an ihre Kindheit zurück, erinnert sie sich nur an die Zeit bei Helen, die begann, als sie dreizehn war. Sie erinnert sich an die regelmäßigen Frauenrunden, die an Helens Küchentisch stattfanden und Karten- und Kaffeesatzlesen beinhalteten. Ihre Tante hat bis heute eine merkwürdige Liebe zu kitschigen Engelsfiguren, die sie in der ganzen Wohnung verteilt. Mia hat die Figuren noch nie leiden können, was wohl auch daran liegt, dass sie diese früher hatte staubwischen müssen.

An die Zeit vor Helen erinnert sie sich nicht.

Mia arbeitet bei einem Produktionsunternehmen für Wellnessbedarf, der Werner & Rotloff GmbH. Ihre Abteilung besteht eigentlich aus mehreren Bereichen: Die Buchhaltung, das Controlling und das Marketing, geleitet von Dr. Werner. Fast immer ist sie morgens die Erste im Büro. Sie braucht die Ruhe vor dem Sturm, bevor die Kollegen eintrudeln, das Telefon ständig klingelt, Dr. Werner irgendwelche betriebswirtschaftlichen Auswertungen mal eben schnell sofort haben muss und, und, und. Sie mag ihren Job, die Kollegen, den Arbeitsplatz und arbeitet nun schon seit drei Jahren hier. Ursprünglich hatte sie sich als Controllerin beworben. Im Vorstellungsgespräch stellte sich jedoch heraus, dass nur ein Tag zuvor die zuständige Buchhalterin gekündigt hatte, weshalb ihr dieser Posten als temporärer Ersatz angeboten worden war. Dr. Werner ist sehr zufrieden mit ihr, sagt er zumindest, weshalb Mia seither die Buchhalterin macht, aber für die nächste freie Stelle im Controlling bereits vorgemerkt ist. Hat ihr Dr. Werner hoch und heilig versprochen.

Seufzend begutachtet sie den Ordner mit den vielen Eingangsrechnungen auf ihrem Tisch, die sie heute alle buchen muss. Den Ordner hat wie üblich einer der Kollegen aus der Produktion abends noch schnell auf ihren Tisch gelegt, nachdem die Wareneingänge abgehakt worden waren. Mia muss sich beeilen, um rechtzeitig fertig zu werden, da Dr. Werner immer dringend auf die Zahlen wartet.

Sie ist schon mitten in der Arbeit, als nach und nach die Kollegen an ihrem Zimmer vorbeilaufen und sich die Büros füllen. Mia Meisenheim – Buchhaltung steht auf ihrem Türschild und darüber: Vorzimmer Dr. Werner.

„Morgen, Mia“, hört sie ihre Kollegin, Rita, rufen und ihr Kopf schnellt hoch. „Guten Morgen“, ruft sie schnell und lächelt, doch Rita ist längst vorbei.

Der Aufzug klingelt und die Türen öffnen sich. Absätze klackern über den Marmorboden und Mia schaut erneut auf: Jasmin läuft vorbei, oder auch „Jade“, wie sie lieber genannt wird. Warum, das weiß eigentlich niemand, doch innerhalb der Belegschaft hat sich dieser englisch ausgesprochene Spitzname längst durchgesetzt.

„Guten Morgen, Jade“, ruft Mia und das Klackern stoppt.

Jade steckt den Kopf zur Tür hinein. „Ach, Entschuldigung. Ich war so in Gedanken“, lächelt sie und geht weiter.

Mia lächelt zurück und konzentriert sich wieder auf ihre Arbeit, als sie aus der Küche einen Schrei hört: „Kuchen!“ Das war Peter und ihr Herz pocht etwas schneller. Mehrere Stimmen fallen in seinen Aufschrei ein und die Kollegen laufen in die Küche, um sich ein Stück zu holen. Mia kann ein Lächeln nicht unterdrücken, denn erst neulich hatte Dr. Werner gescherzt, sie würde die Abteilung mit ihren vielen Backkreationen mästen. „Schmeckt wirklich super“, hört sie Peter sagen. Mia, die soeben mit einem Rotstift eine Kontierung auf den Beleg schreibt, verzieht die letzte Zahl etwas. Ihre Hand zittert leicht, als sie hochblickt und Peter im Türrahmen stehen sieht: dunkelblonde Haare, blaue Augen, einen Kopf größer als sie und bekennender Sportler – und Single. Vor allem Single! Er ist dreiunddreißig Jahre alt, also nur fünf Jahre älter als sie.

„Ich frage mich ernsthaft, wie du das auf nüchternen Magen essen kannst“, antwortet sie scherzhaft, woraufhin er sein umwerfendes Lächeln zeigt, das beinahe ihr Herz aussetzen lässt. Und ihre Ohren, denn seine Antwort dringt nur wie durch Watte zu ihr durch.

„Geht alles“, lächelt er und zwinkert ihr zu.

Jade erscheint hinter ihm im Türrahmen. Mit einem verschmitzten Lächeln schaut sie von Mia zu Peter. „Er ist eine wandelnde Fettverbrennung“, sagt sie und wirft ihre langen Haare zurück. Lachend erwidert er: „Gute Gene, würde ich eher sagen.“ Er stopft sich einen weiteren Bissen rein, zwinkert Mia erneut zu und geht an der Glaswand entlang zu seinem Büro.

Jade schaut ihm nach, zusammen mit Mia, dann schauen sie sich gegenseitig an. „Er wird sich heimlich wieder die meisten Stücke nehmen“, seufzt Jade und kommt klackernd ins Zimmer gelaufen. Sie setzt sich vor Mia mit einer Pobacke auf den Schreibtisch.

„Deine Haare sind heute so schön. Hast du eine neue Spülung?“, fragt sie und nimmt prüfend eine von Mias dunkelbraunen Strähnen in die Hand.

Mia schüttelt den Kopf. „Nein, alles wie immer.“

„Ich beneide dich um deine Naturhaarfarbe. Ungefärbte Haare sind echt selten.“

„Ja, ich kann mich einfach nicht mit Chemie auf dem Kopf anfreunden. Aber das ist ja glücklicherweise eine Geschmacksfrage“, antwortet Mia und betrachtet Jades tiefschwarzes Haar.

Die Kollegin lächelt sie mit weißen Zähnen an, die sich von ihrer gebräunten Haut deutlich absetzen, und zwinkert ihr mit den kunstvoll geschminkten Augen zu, deren Lidstrich ohne Makel ist. Jade ist die Büroschönheit und Fashionista. Auch heute sieht sie wieder toll aus in ihrem schwarzen engen Bürokleid, das ihre schlanke Taille betont; die seidigen, glatten Haare fließen bis über ihre Schulterblätter. Mia selbst hat eine normal-schlanke Figur, die jedoch mit Jades engelhafter Taille nicht mithalten kann. Schon seit einiger Zeit kursiert im Flur das Gerücht, die Kollegin hätte sich eigens dafür die unteren Rippen entfernen lassen, doch Mia schert sich nicht darum, ob der Flurfunk stimmt.

„Kannst du mir einen Gefallen tun, Mia?“, fragt Jade und beißt sich leicht auf die Unterlippe. Ihr ist die Verlegenheit anzumerken.

„Klar, was ist?“

„Du weißt ja, wie Dr. Werner ist“, setzt Jade an.

„Oh ja!“, lacht Mia und zeigt auf den Ordner auf ihrem Tisch.

„Alles heute?“ Entsetzt-ungläubig zieht Jade die Augenbrauen hoch.

„Nee“, verneint Mia. „Heute wäre der ganze Tag, also würde ich eher Jetzt sagen, da er bestimmt spätestens um zwölf danach fragt.“

„Um Himmels willen!“, platzt es aus Jade heraus.

Mia nickt. „Aber das kenne ich ja schon.“

Nun nickt auch Jade.

„Was willst du denn?“, fragt Mia.

„Nichts Besonderes. Es geht nur um diese Controlling-Auswertung, die du die letzten Male erstellt hast. Du bist da so viel schneller als ich und ich brauche sie für das Meeting um zwei.“

Mia zögert, denn dann hätte sie keine Pause, nicht, wenn sie heute früher gehen will. „Ich weiß nicht, aber ich muss zuerst die Eingangsrechnungen buchen.“

„Ich weiß, ich würde dich auch nicht darum bitten, aber es ist dringend“, unterbricht Jade. „Kannst du die Zahlen noch einmal zusammenstellen? Für das nächste Mal setzen wir uns in Ruhe zusammen und du erklärst mir alles, ja?“ Mit flehenden Augen legt sie ihr die Hand auf den Arm.

Mia zögert einen Moment, dann nickt sie. Die Kollegen im Controlling haben immer so schrecklich viel zu tun.

„Klar“, antwortet sie und Jades Gesicht hellt sich auf vor Freude. „Du bist ein Schatz! Und so hilfsbereit. Hoffentlich kommst du auch bald in unser Team“, strahlt sie, steht auf und klackert aus dem Raum.

Mia freut sich über das Kompliment und macht sich motiviert an die Arbeit. Bis zwei, allerhöchstens drei, dürfte es zu schaffen sein, wenn sie sich nur schnell etwas aus der Kantine holt und nebenbei isst. Ja, sie weiß, wie Dr. Werner ist, und hat deshalb vollstes Verständnis.

„Willst du noch Kaffee haben?“, fragt Helen und schenkt schon in Mias Tasse ein, die auf dem Wohnzimmertisch steht. Zwar schüttelt Mia den Kopf, sagt aber nichts. Es ist der Geburtstag ihrer Tante und sie hat auch dafür einen Kuchen gebacken. Sie mag es, bei ihrer Tante zu sein und auf dem alten Sofa zu sitzen, während Helen gegenüber in ihrem Sessel sitzt. Die Möbel sind alt, doch Mia vermitteln sie Geborgenheit.

„Gehen wir gleich noch auf den Friedhof?“, fragt Helen und schaut ihre Nichte prüfend an. Mia nickt und lächelt, obwohl ihr nicht danach zumute ist. „Wir können den auch ausfallen lassen. Ist ja schließlich dein Geburtstag.“

Aber Helen winkt nur ab und zündet sich eine Zigarette an. Mia schaut sie strafend an. „Ich bin zu alt zum Aufhören“, antwortet sie mit ihrer kratzigen Stimme, ohne dass Mia gefragt hätte. „Außerdem ist es egal.“

„Aber Rauchen ist ungesund!“, beharrt Mia.

„Ich meinte zwar meinen Geburtstag, aber egal. Und was heißt ungesund? Ich lebe seit gut dreißig Jahren damit und bisher ist mir der Arm noch nicht abgefallen.“

„Das wäre ja auch eher die Lunge.“

Helen lacht. „Auch die hängt noch richtig.“

„Trotzdem!“, sagt Mia und trinkt einen Schluck Kaffee. „Seitdem du auf diesem Veganer-Trip bist, bist du richtig unentspannt. Die Diät bekommt dir nicht“, kontert Helen.

„Wieso das denn? Ich bin doch gar keine Veganerin.“ Mit dem Zeigefinger drückt Mia nacheinander Kuchenkrümel auf dem mit Blümchen umrandeten Teller platt, um auch die noch zu essen.

„Wäre aber möglich, so wie du argumentierst. Ist bei euch jungen Leuten ja der neueste Trend.“

„Helen!“, straft Mia mit einem Lachen. „Du bist unmöglich.“

Ihre Tante lacht ebenfalls. „So kennst du mich.“

„Allerdings! Aber ich möchte bloß nicht, dass du an Lungenkrebs stirbst.“

„Keine Sorge, ich erfreue mich bester Gesundheit und werde dich noch richtig lange nerven“, erwidert Helen und legt die Hand auf Mias Arm.

„Das hoffe ich.“ Mia nimmt ihre Hand und drückt sie. Nach einem Moment zieht Helen sie weg. „Nun lass doch mal die Gefühlsduselei. Sag mir mal lieber, warum du heute so abgehetzt hier angekommen bist.“ Helen stopft die Zigarette in den Aschenbecher, steht auf und räumt den Tisch ab.

Mia hilft ihr und erzählt: „Auf der Arbeit war ziemlich viel los.“

Mit den Tellern und Tassen in der Hand wechseln sie in die Küche und stellen alles auf der Küchenzeile ab. Nacheinander räumt Helen alles in die Spülmaschine.

„Hast du in den letzten Tagen wieder Überstunden gemacht?“

„Nein, aber ich musste mich heute so beeilen, damit ich schon früher gehen kann. Ich musste noch einen Sonderauftrag fürs Controlling erledigen.“

Die Spülmaschine schließend, runzelt Helen die Stirn, erwidert zunächst aber nichts. Gemeinsam gehen sie zur Tür und nehmen ihre Jacken von der Garderobe. Mia setzt sich noch eine Mütze auf und schlingt einen Schal um ihren Hals.

„Hat er dir denn mittlerweile gesagt, wann du befördert wirst?“, nimmt Helen den Faden wieder auf. Mia windet sich etwas, weil ihre Tante schon wieder darauf zu sprechen kommt. „In der Buchhaltung ist viel los. Dr. Werner hat noch keinen Ersatz.“

Sie verlassen die Wohnung und Helen zieht die Haustür zu. Zu Fuß gehen sie zum Friedhof und unterhalten sich dabei weiter. Der Himmel ist grau, die Luft ist kalt. So langsam verschwindet das Tageslicht.

„Sagt er das nicht schon seit drei Jahren? Sucht er überhaupt richtig?“, hakt Helen nach und zündet sich die nächste Kippe an, was ihr einen tadelnden Blick Mias einbringt.

„Lenk mal nicht vom Thema ab!“, tadelt ihre Tante zurück und fügt hinzu: „Hat er eine Anzeige geschaltet?“

„Das macht man heute nicht mehr so, Tante Helen.“

„Du sollst mich doch nicht Tante nennen, und ich weiß, das läuft alles über das Internet. Gibt es denn da eine Anzeige?“

Als sie um die nächste Ecke biegen, sieht Mia schon den Eingang des Friedhofs. Unwohlsein breitet sich in ihr aus; es graut ihr vor dem, was gleich kommt. „Ich habe keine Ahnung. Die Stelle ist, glaube ich, im Intranet ausgeschrieben.“

„Und was soll das bringen? Bisher hat sich doch auch keiner intern gemeldet.“

Mia seufzt und hält Helen das Tor zum Friedhof auf. „Müssen wir jetzt darüber sprechen?“, fragt sie, läuft neben ihrer Tante an den Gräbern entlang und vermeidet jeden Blick darauf.

„Ich will nur nicht, dass sie dich ausnutzen. Du kannst doch viel mehr, hattest super Noten im Studium.“ Helen merkt, wie sehr sich Mia vor einer Antwort windet und seufzt nun selbst: Es ist ihr Leben und sie muss selbst entscheiden.

Vor einem Doppelgrab bleiben sie stehen. Auf dem schlichten Grabstein stehen die Namen von Mias Eltern und ein Datum im Juli fünfzehn Jahre zuvor. Mia war dreizehn, als sie starben. Heute wäre auch der Geburtstag ihrer Mutter, Helens Zwillingsschwester.

„Willst du beten?“, fragt Helen und drückt die Zigarette an einem Baum aus.

Mia schüttelt mit dem Kopf. „Ich wünschte, sie wären noch hier“, sagt sie.

Prüfend wirft ihr Helen von der Seite einen Blick zu, aber Mia weint nicht, sondern betrachtet nachdenklich den Grabstein. Dann legt Helen den Arm um ihre Nichte. „Deine Eltern sind nun im Himmel, beschützt von Engeln, und dort geht’s ihnen gut, Mia. Aber du lebst, mach etwas draus.“ Unauffällig rückt Mia einen kleinen Schritt ab, doch Helen hält sie weiterhin mit einer Armeslänge Entfernung fest. Sorgenvoll schaut sie ihre Nichte an. Mia nickt, um das Gespräch und den Besuch auf dem Friedhof zu beenden.

Gemeinsam wenden sie sich um und wandern den Weg zurück, den sie gekommen sind. Mia schaut stur geradeaus zum Friedhofstor.

„Es gibt keinen Himmel“, murmelt sie, bevor sie den Friedhof verlassen.

Der Wecker klingelt. Mia hebt den Kopf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht, seufzt, gibt dem Wecker einen rüden Handklatscher und steht auf. Im Schlafanzug wankt sie in die Küche, macht sich Kaffee, dann schlurft sie ins Bad, macht sich fertig, isst noch schnell im Stehen ein Brot und verlässt das Haus.

Der Vormittag vergeht wie im Flug. Dr. Werner braucht dringend die Tagesauswertung und Mia hält sich ran, die Zahlen in den Computer zu hacken. Sie ist so vertieft, dass sie nicht merkt, wie Peter reinkommt, im Türrahmen verharrt und sie lächelnd beobachtet. Langsam breitet sich der Geruch seines Aftershaves in ihrem kleinen Vorzimmerbüro aus, in dem bis vor einem Jahr ebenfalls die Sekretärin saß, als es die noch gab. Aushilfsweise hat Mia einen Teil ihrer Aufgaben übernommen, bis Dr. Werner auch für sie Ersatz findet. Das Radio läuft leise im Hintergrund und eine männliche Samtstimme setzt mit Herzschmerz singend ein.

„Die fleißige Mia“, sagt Peter sanft und lächelt sie an. Wie bei einem Zeitsprung steht er plötzlich direkt vor ihr.

Mia zuckt zusammen und ihr Kopf schnellt hoch. „Hast du mich erschreckt.“ Sie fasst sich ans Herz, das in ihrem Brustkorb hämmert.

„Neben dir könnte auch eine Bombe explodieren“, erwidert er sanft.

„Äh, ja.“ Mehr fällt ihr auf die Schnelle nicht ein, aber das ist immer so, wenn Peter in ihrer Nähe ist. Heute trägt er ein helles Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine Jeans. Seine Haare hat er so frisiert, als wären sie unordentlich, dabei liegt jedes Haar wie abgemessen. Er fährt morgens mit dem Auto zur Arbeit, obwohl er auch das Fahrrad nehmen könnte. Da der Fahrtwind aber seine Frisur ruinieren würde, lässt er es lieber. Das kam letzte Woche raus, als sie das Abteilungsmeeting hatten und er mit Dr. Werner scherzte. Denn der kommt morgens mit einem rosafarbenen Fahrradhelm (seine kleine Tochter will, dass er auch einen trägt) in die Tiefgarage geradelt, wodurch die grauen Haare angepappt am Kopf kleben, während Peters Haare nicht annähernd außer Form geraten oder sogar durcheinander sind. Mia hatte es total süß gefunden, wie der Kollege so ironisch von sich erzählte, und hat sich gleich noch ein bisschen mehr verknallt.

Der Schmusesänger leidet noch immer singend. Für den Bruchteil einer Sekunde vermischt sich Mias Wahrnehmung mit einem Tagtraum: sie und Peter allein im Raum, der Schmusesänger singend im Radio. Wie bei einer romantischen Filmszene zerrt Peter sie an sich und gesteht ihr seine Liebe.

Das Scharren des Stuhles auf dem Marmorboden reißt sie jäh aus ihrem Traum: Peter zieht den Stuhl vor ihrem Schreibtisch zurecht und lässt sich wenig galant dort hineinplumpsen. Das Lederkissen des Stuhls pupst ein wenig Luft raus, bevor es unter ihm nachgibt. Sein Aftershave weht erneut zu ihr hinüber, wie ein Lockruf für die Sinne, und sie atmet tief ein und aus.

Ein kleines rosa Plüschschwein, das Mia bei Arbeitsantritt von Helen als Glücksbringer bekommen hatte, erregt seine Aufmerksamkeit. „Ist das ein echtes Plüschtier oder hat es eine eigenhändig von Dr. Werner eingebaute Überwachungskamera?“, fragt Peter völlig ernst.

Mia lacht. „Nee, ist echt.“

„Obwohl ich es mir super vorstellen kann, wie der alte Raffzahn das arme Schweinchen massakriert, um eine Spionagekamera einzubauen. Aber ich glaube, ich muss mir erst Sorgen machen, wenn auch auf meinem Tisch ein mysteriöses Stofftier auftaucht.“

Mia lacht noch mehr und Peter kommt jetzt erst recht in Fahrt. „Da setze ich mich nichtsahnend mit der Kaffeetasse in der Hand hin und spüre diesen eisigen Blick auf mir, den Blick des Plüschmonsters.“ Er untermalt seine Anekdote gestenreich und Mia lacht sich schlapp.

„Was muss ich da hören? Gelächter?“ Jade steht in der Tür und betrachtet die beiden liebevoll lächelnd. Sie kommt näher und ihre Schuhe klackern auf dem Boden. „Umschwärmst du wieder Mia, weil sie dir bei der Budgetplanung helfen soll?“, scherzt Jade.

„Hast du dich auf Zehenspitzen herangepirscht, um uns in Ruhe zu belauschen?“, kontert Peter zurück und Jade bricht in Lachen aus.

„Mein Lieber, du bist nicht mehr zu überhören, wenn du in deinen charmanten Schleimmodus verfällst.“

„Du hingegen schon!“, lacht Peter. „Und das, obwohl du Absätze trägst, die eigentlich richtige Schlaglöcher im Marmorboden verursachen müssten.“

Mia sitzt dabei und lacht mit, während die beiden sich gegenseitig aufs Korn nehmen.

Jade legt ihm die Hand auf die Schulter und fährt mit den Fingerspitzen seinen Arm ein Stück herunter.

Mia vergeht das Lachen.

„Denkst du an das Meeting gleich? In einer halben Stunde?“, haucht Jade.

„Ja, mein Engel“, lacht Peter ironisch und Jade wendet sich zum Gehen.

„Ich brauche noch deine Zahlen“, ruft sie im Hinausgehen, ohne sich noch einmal umzusehen.

Peter zieht eine lustige Grimasse, während er ihr nachsieht und sie wiegenden Schrittes an der Glaswand entlang in Richtung Kaffeeküche stöckelt. Nachdem Jade außer Sichtweite verschwindet, setzt er sich auf und beugt sich über den Tisch zu Mia hinüber. „Aber ich wollte dich tatsächlich etwas fragen“, sagt er und lächelt verlegen.

Mias Herz schlägt schneller.

„Hast du eigentlich heute Abend schon was vor?“

Noch immer erklärt Schmusimann singend seine Liebe. Mia ist es für einen Wimpernschlag lang so, als würde das Lied ein zweites Mal im Radio spielen, so lange dauert der für sie romantische Moment. Sie fühlt, wie ihre Knie weich werden, und nickt stumm, weil sie hofft, er wolle mit ihr etwas trinken gehen und sie am liebsten schon jetzt ‚Ja‘ schreien will.

Er versteht ihr Nicken falsch und zieht entschuldigend die Augenbrauen hoch. „Oh, okay. Das wusste ich nicht.“

„Äh, nein! Ich meine, nein!“, sagt Mia schnell und Peter atmet erleichtert aus.

„Also hättest du ein bisschen Zeit für mich übrig?“ Er schaut ihr tief in die Augen.

Herzschmerzboy singt über Augen, neben denen selbst die Sterne in ihrem hellsten Schein verblassen. Mia nickt so schnell, dass sie auch gut eine tausend Watt-Batterie gefressen haben könnte. In ihrem Kopf sieht sie, wie sie beide, zunächst schüchtern, zusammen Essen gehen und die Kerze auf dem Tisch warmes Licht spendet, während der Abend vergeht, sie miteinander lachen und er zaghaft ihre Hand berührt.

„Das ist echt super. Ich erstatte dir auch die Kosten“, sagt er und steht auf.

Wie bei einer ausgeleierten Kassette bricht der Schmusiherzmann irritiert ab. Auch Mia ist verwirrt.

„Welche Kosten?“

„Für den Kuchen? Ich hab doch morgen Geburtstag und du backst doch immer für mich mit.“

Mias Herz verlangsamt sich und ihr Gesicht fühlt sich heiß an. „Ähm, klar, genau daran habe ich auch gedacht“, antwortet sie, obwohl es nicht stimmt. Natürlich kennt sie seinen Geburtstag auswendig, aber als er gerade so vor ihr saß, hat sie an alles gedacht, nur daran nicht.

„Schokolade, wie immer?“, fragt sie, um sich aus der Situation zu retten.

Von der Tür aus wirft er ihr einen Handkuss zu und zwinkert. „Wie immer! Du bist mein Schatz!“ Mit diesen Worten rauscht er aus dem Zimmer und lässt Mia zurück, die beobachtet, wie er in die Küche verschwindet.

Sie seufzt. Dann muss sie nach der Arbeit noch einkaufen gehen, denn dieses Mal hat sie nicht alle Zutaten im Haus.

Mia packt die gekauften Lebensmittel ein und verlässt den Supermarkt. Sie mag es, die Papiertüte so zu halten, wie es die Hauptdarsteller in den amerikanischen Filmen machen. Außerdem findet sie Plastik unheimlich, weil sie die Konsistenz und das Gefühl an den Händen nicht mag. In Gedanken sieht sie sich schon in der Küche stehen: Zutaten zusammenrühren, Kuchen in den Ofen schieben, die Dekoration, Peters aufleuchtendes Gesicht, wenn er ihre neueste Kreation sieht, die sie nur für ihn backen wird.

Die Fußgängerampel schaltet auf Grün, als sie näher kommt und Mia läuft über die Straße. Als sie auf der anderen Seite ankommt, leuchtet das grüne Männchen immer noch, während sie sich vorstellt, wie sie die Dekorosen zur Verzierung auf den Kuchen klebt. Eine Männerstimme weht zu ihr hinüber, der Mia keine Beachtung schenkt. Sie ist tief versunken in ihren Tagtraum: Sie überreicht Peter den Kuchen, die Kollegen klatschen begeistert und haben sich um sie herum versammelt. Staunend sehen sie Mia und Peter dabei zu, wie sie sich küssen, während die Wunderkerzen auf dem Kuchen Funken schlagen.

Die Männerstimme durchbricht ihre Vision: „Wir werden diese Kampagne nicht so gestalten, das ist mein letztes Wort. Meinetwegen kann er mir auch wieder mit Konsequenzen drohen, ist mir aber egal! Ich habe die kreative Leitung“, frontal klatscht Mia in den Mann hinein. Einen Augenblick lang bleiben sie beide verwirrt stehen. Erschrocken starrt sie auf seinen Brustkorb: Er trägt einen Anzug, ein Sakko und darunter ein Shirt mit V-Ausschnitt, wodurch ein paar Brusthaare sichtbar sind, sein Aftershave umweht sie. Schüchtern wandert ihr Blick vom Brusthaar, nein, vom V-Ausschnitt, hoch zu seinem Hals, zu seinem Kinn. Dunkelbraune Augen schauen sie an. Für einen Moment passiert nichts. Er hält sein Handy noch halb am Ohr, als er wieder hineinspricht: „Warte mal kurz.“ Er legt es sich auf die Brust und rückt einen Schritt von ihr weg. „Alles in Ordnung? Sorry, ich war total in das Gespräch vertieft.“

„Ich auch“, sagt Mia schnell.

Der Fremde zieht die Augenbrauen hoch, schaut sie lächelnd an und nimmt sie beim Wort: „Ach, tatsächlich? Wie bei einer Telefon-Konferenz?“

Mia lächelt zurück. „Nein, ich meine, ach, ist ja auch egal. Ich muss mich entschuldigen, ich wollte dich nicht einfach so anbumsen.“ Ihn freundlich anschauend, merkt sie gar nicht, was sie soeben gesagt hat; typisch für Mia.

Der Fremde erwidert zunächst nichts, doch dann bricht er in Lachen aus.

Die Fußgängerampel hinter ihnen schaltet auf Rot.

„Nicht schlimm, jederzeit gerne wieder“, sagt er schließlich.

Aus dem Handy hört Mia eine gedämpfte Stimme: „Jan, bist du noch da? Mann, ich hab nicht den ganzen Abend Zeit.“

Jan hebt das Handy wieder ans Ohr, schaut Mia einen Moment lang noch an und geht dann über die Straße. „Ja, ich wurde nur kurz angebumst“, sagt er noch.

Mia weiß nicht, warum, aber sie schaut ihm über die Schulter nach. Sie sieht das rote Fußgängerzeichen und will noch eine Warnung rufen, als auch schon das Auto um die Ecke prescht und Jan anfährt. Er wird auf die Motorhaube geschleudert, rutscht dort ab und knallt auf den Asphalt. Geschockt steht Mia regungslos auf der anderen Seite der Straße, die Zeit steht still. Der Fahrer des Wagens gibt Gas und haut mit quietschenden Reifen ab, doch Mia blickt zu spät hoch und erkennt das Kennzeichen nicht mehr. Jan stöhnt auf, sie lässt die Einkaufstüte fallen und rennt zu ihm.

„Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott“, murmelt sie aufgebracht, als sie bei ihm ankommt und sich über ihn beugt.

Er schaut sie an. „So gut war ich jetzt auch nicht“, sagt er schwach, weshalb sie ihn fast nicht versteht.

„Was?“, fragt Mia nur und vergisst ganz, sich selbst zu korrigieren. „Wir brauchen einen Krankenwagen!“ Sie fummelt ihr Handy aus ihrer Handtasche heraus und tippt mit zitternden Fingern darauf herum. Es geht nicht an und ihr fällt ein, dass sie es mal wieder nicht aufgeladen hat. Sie könnte sich selbst eine verpassen, als Jan ihr seins hinhält. „Probier es mal damit.“

„Oh ja, danke.“ Mia nimmt sein Handy, beendet einfach das Gespräch am anderen Ende der Leitung, aus der immer wieder die Stimme tönt: „Jan? Hey, Jan!“ Sie wählt den Notruf.

„Ist es kaputt?“

Mia schaut Jan verwirrt an, weiß nicht, was er meint.

„Das Handy“, fügt er hinzu.

„Notrufzentrale? Was kann ich für Sie tun?“, schallt es aus dem Handy.

Mia schüttelt den Kopf. Unschlüssig wirft sie einen Blick darauf. Sie ist zwar keine Expertin, aber auch sie erkennt, dass es eins der teuersten Geräte auf dem Markt ist, und die Kollegen in ihrem Büro wochenlang der ersten Auslieferung entgegenfieberten.

„Hallo? Hier ist die Notrufzentrale.“

Erleichtert lächelt er. „Gott sei Dank! Da ist mein ganzes Leben drauf. Nur die PIN ist scheiße – 6666.“

Er schaut in den Himmel.

Mia ist mit der Situation irgendwie überfordert. Er murmelt vor sich hin, doch sie achtet nicht darauf.

„Hallo?“, bellt es aus dem Handy.

Mia löst sich aus ihrer Starre.

„Ein Unfall, wir brauchen einen Krankenwagen an der Ecke Scheidweg und Altgasse. Vor dem Park“, spricht sie mit zitternder Stimme in das Handy. Sie beobachtet Jan, der nach oben schaut. Er sieht blass aus, obwohl er ein südländisch aussehender Typ ist.

Er murmelt: „6666.“

Plötzlich ist ihr, als würde sie beobachtet. Hastig schaut sie sich nach Smombies um, die den Unfall lieber mit ihrem bescheuerten Smartphone aufnehmen, anstatt zu helfen. Ihr Blick fällt auf einen Baum im gegenüberliegenden Park, doch da ist niemand. Jan stöhnt auf.

„Es wird alles wieder gut!“, flüstert sie und fragt sich, ob sie mehr mit ihm oder sich selbst spricht.

Die Frau von der Notrufzentrale sagt, ein Krankenwagen sei auf dem Weg. Mia beendet das Gespräch und legt das Handy ohne darüber nachzudenken in ihre Tasche. Sie streicht Jan eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Es wird alles wieder gut!“, flüstert sie ein weiteres Mal.

Er murmelt erneut: „6666.“ Sein Gesicht wird leer, seine Augen schauen auf einen Punkt irgendwo in der Ferne.

Geisterspuk

Mia braucht drei Anläufe, um ihre Haustür aufzusperren. Ihre Hände zittern so sehr, dass sie den Schlüssel immer wieder fallen lässt. Als sie in ihre kleine Wohnung tritt, stellt sie die Einkäufe auf dem Boden ab, wankt ins Schlafzimmer und lässt sich aufs Bett fallen. Sie denkt noch, dass sie nur einen Moment liegen möchte, als sie auch schon vor lauter Erschöpfung einschläft. Sie träumt von Jan, wie er in seinem braunen Anzug auf der Straße liegt und nicht mehr reagiert. Wie der Krankenwagen angerast kommt und sie mit panischer Stimme nachfragt, in welches Krankenhaus er gebracht würde, aber die Rettungssanitäter nicht antworten und davonfahren. Mia bleibt alleine zurück und schaut dem Krankenwagen nach, als sie sich umdreht und sich abrupt in einem großen Raum wiederfindet. Was mache ich denn hier?, fragt sie sich noch, als sie einen Schritt nach vorne macht und mit der Stirn gegen eine deckenhohe, breite Glasscheibe knallt, in der sich der Raum hinter ihr täuschend echt spiegelt.

Ihr Herz pocht wild und sie fasst sich mit der Hand an den Kopf. Vor der Glasscheibe laufen wieder so viele Menschen vorbei, dennoch beachtet sie niemand, wie sie durch das Fenster zu ihnen hinaussieht. Hinter sich hört sie Peters Stimme: „Ich erstatte dir auch die Kosten.“

Mia fährt herum. Ihre Kollegen sitzen an dem ovalen Tisch aus dem Besprechungszimmer und starren sie an, vor allem Peter. Vor der Glasscheibe bleibt jemand stehen. Mia spürt diese Person eher, als dass sie sie sieht, und hört eine flüsternde Stimme: „Mia, Mia, Mia.“ Sie ist hin- und hergerissen, als Peter sagt: „Ich habe doch morgen Geburtstag.“

Mia schreckt hoch. „Oh nein“, nuschelt sie und stürzt aus dem Bett. Ihr Wecker zeigt ein Uhr nachts an. Sie schnappt sich die Einkäufe und hastet in die Küche, um schnell den Kuchen zu backen.

„Ja, guten Tag. Mein Name ist Mia Meisenheim. Ich möchte gerne wissen, ob ein junger Mann, so um die Mitte dreißig, gestern Abend bei Ihnen eingeliefert wurde. Ein Autounfall. Nein, ich bin keine Verwandte, aber wurde er eingeliefert und wie geht es ihm? Ach, das dürfen Sie mir nicht sagen? Wurde er denn eingeliefert? Gut, keine Einlieferung, danke, vielen Dank“, spricht Mia leise in den Hörer hinein und legt auf.

In ihrer Stadt gibt es mehrere Krankenhäuser und bis auf zwei hat sie alle abtelefoniert. Obwohl sie ihn nicht kennt, sorgt sie sich um Jan. Langsam sollten die Kollegen im Büro eintrudeln, doch Mia graut es auf einmal vor dem ganzen Geschnatter und dem Sturm auf den Kuchen. Zu ihrer Verwunderung ist er richtig gut gelungen, aber sie fühlt sich so müde und abgekämpft, dass er ihr fast schon egal ist. Heute Morgen, als sie im Bad stand, hatte sie sogar überlegt, sich krankzumelden, wollte Peter jedoch nicht hängen lassen. Schließlich hatte sie ihm den Kuchen versprochen.

Die Aufzugtür klingelt und Absätze klackern. Jade läuft an der Glaswand entlang durch den Flur. Sie wirft einen kurzen Blick auf Mia, schaut wieder weg und läuft an der offenen Tür vorbei.

„Guten Morgen“, sagt Mia, lauter als sonst. Warum, weiß sie auch nicht.

Lächelnd steckt Jade den Kopf zur Tür hinein. „Ach ja, sorry, ich war ganz in Gedanken.“ Sie klackert weiter durch den Gang auf ihr Büro zu. Wieder klingelt die Aufzugtür. Eine Traube von Kollegen strömt in den Empfangsbereich. Ungewöhnlicherweise ist Dr. Werner darunter, der sonst nie vor zehn Uhr auftaucht. Peter macht soeben einen Witz und alle lachen laut auf. Durch die Glaswand sieht Mia die Kollegen vor dem Empfangstresen stehen und findet sie alle auf einmal so albern. Sie fasst sich an den Kopf; sie muss wirklich total fertig sein, wenn sie so denkt.

Dr. Werner scherzt lautstark zurück und hat dieses Mal selbst die Lacher auf seiner Seite. Er löst sich von der Traube, in deren Mitte Peter den Office-Comedian gibt, und läuft durch den Flur auf das Vorzimmer zu. Gibt es diese Berufsbezeichnung überhaupt – Office-Comedian?, fragt sich Mia.

„Guten Morgen, Mia“, sagt er und legt die Hand auf die Türklinke zu seinem Büro.

Mia hört nicht zu. Sie beobachtet, wie sich um Peter ein Kreis aus klatschenden Kollegen bildet, weil der seine Lambada-Fähigkeiten als Solo-Tänzer zum Besten gibt. Obwohl sie das Radio gar nicht eingeschaltet hat, ist ihr, als ob sie die Musik zum Tanz hört, die in ihrer Kindheit so beliebt war. Wie die Wahrnehmung doch funktioniert, denkt sie und fragt sich zeitgleich, mit welchem Spruch die Hebamme nach der Geburt den kleinen Peter wohl in die Arme seiner Eltern gelegt hatte. Herzlichen Glückwunsch, es ist ein OffCom!?

Noch in Gedanken versunken, schaut sie zur Seite und erschrickt sichtlich, als sie Dr. Werners fragenden Blick sieht. Ihr ist gar nicht aufgefallen, dass er noch dort steht und auf ihre Antwort wartet. „Entschuldigung, Dr. Werner. Guten Morgen, natürlich, guten Morgen.“

„Ich habe gehört, Sie mästen uns heute wieder? Erfreulich, sehr erfreulich“, lächelt er und öffnet gleichzeitig die Tür zu seinem Büro, um einzutreten.

Mia steht auf und nimmt ihren dunkelgrünen Parka vom Kleiderständer, der an der Wand neben ihrem Bürotisch steht. „Dr. Werner, mir geht es überhaupt nicht gut und“, setzt sie an, wird jedoch unterbrochen.

„Gut, dass Sie so früh hier sind. Wir haben heute um eins das Meeting und brauchen dringend den neuesten Bericht. Jade hat mir bereits gesagt, dass Sie Zeit haben, sich darum zu kümmern. Können Sie mir den Bericht gegen zwölf vorab zeigen?“, entgegnet er, ohne auf ihre Worte einzugehen. Mia kennt das schon: Manchmal hört er nicht richtig zu. Chef eben.

„Nein, kann ich nicht, ich, ähm–“, entgegnet Mia schnell.

Dr. Werner schaut sie irritiert an, eigentlich steht er schon halb in seinem Zimmer.

Mia wird verlegen und rot. „Ich meine, ich fühle mich nicht so gut“, antwortet sie schwach und fühlt sich schuldig im Sinne der Anklage, weil sie es nicht mag zu flunkern. Auch wenn es wie heute eine Notlüge ist.

„Na, Sie haben doch wohl nicht auch die Grippe, Mia.“

„Nein, nein, bestimmt nicht.“

„Prima, dann um zwölf, ja?“ Damit lächelt er kurz, wendet sich um und verschwindet in seinem Büro. Mia betrachtet seine Bürotür, die hinter ihm ins Schloss gefallen ist. Nur wenige Sekunden später leuchtet sein Telefonlämpchen auf ihrem Apparat auf.

„Na, super“, murmelt sie und hängt den Parka wieder auf. Sie lässt sich in den Stuhl vor dem PC sinken und betrachtet unschlüssig die Maus. Erneut schwappt Gelächter aus dem Empfangsbereich zu ihr hinüber. Durch die Glaswand beobachtet sie die Kollegen, die zusammenstehen und scherzen. Noch immer ist Peter der Hahn im Korb, denn die Kolleginnen lachen besonders laut. Darunter ist auch die Neue aus der Marketingabteilung. Mia ist sich nicht sicher, aber sie heißt wohl Ariel und steht nun inmitten der Gruppe. Während die anderen weiblichen Anwesenden noch lauter lachen als sonst, die Haare nach hinten schleudern und Peter Schmacht-Blicke zuwerfen, schaut Ariel ihn nur besonnen lächelnd an. Macht sie irgendwie sympathisch, findet Mia, und beobachtet sie noch eingehender. Auf einmal schnellt Ariels Blick zu ihr hinüber. Ihre Augen treffen sich und Mias Wangen gehen gefühlt in Flammen auf. Abrupt schaut sie weg. Wie peinlich, denkt sie. Bisher hatte sie der Neuen nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt und ist nun von deren Art, ungewollt „anders“ zu wirken, überrascht. „Du bist doch bescheuert“, murmelt sie zu sich selbst, als in Angesicht der vielen Kolleginnen um ihn herum, Eifersucht in ihr aufsteigt und sich ihr Traumgehirn aktiviert. So hat es Tante Helen früher immer genannt, wenn sie mit offenen Augen gänzlich abwesend war. „Hast du wieder dein Traumgehirn an?“, pflegte sie zu fragen und verwies damit auf Mias Tagträumerei, die sich regelmäßig selbständig machte.

Wie heute auch: Mia läuft auf die Traube von Kollegen zu, in deren Mitte Peter steht und wie in Zeitlupe gestenreich Witze erzählt. Die Kolleginnen lachen, streichen sich die Haare aus dem Gesicht und werfen ihm Blicke aus großen, begeisterten Augen zu. Je näher Mia kommt, desto mehr Kollegen nehmen sie wahr, verstummen und bilden eine Gasse, um sie durchzulassen. Selbstbewusst rückt sie bis zu Peter vor, der weiterhin den OffCom macht. Seine Verehrerinnen verstummen irritiert und werfen Mia missmutige Blicke zu, weshalb Peter sich zu ihr umdreht. „Mia!“, flüstert er.

„Herzlichen Glückwunsch, Peter“, antwortet sie, und die Welt gehört ihnen beiden.

„Peter, ich hätte da noch eine Frage“, winselt die süße Anna und wirft Augenpfeile in Richtung Mias, die diese gekonnt ignoriert.

„Nein!“, sagt Peter ohne hinzusehen, die Handinnenseite abwehrend zu Anna gerichtet, und kommt auf Mia zu. Sein ganzes Augenmerk ist nur auf sie gerichtet. Dringlich küsst er sie vor allen Leuten, fährt mit seiner Hand durch ihre Haare. Mit beiden Händen umfasst er ihr Gesicht. „Mia, das Telefon klingelt.“Mia runzelt die Stirn. „Das Telefon klingelt? “, wiederholt sie, als ihr klar wird, dass es immer noch klingelt.

Erschrocken schaut Mia zum Display. „Verdammt“, murmelt sie und hebt schnell den Hörer ab. „Ja, Herr Dr. Werner?“

„Warum dauerte das so lange? Träumen Sie etwa? Na, egal. Mia, mir fällt gerade ein, dass ich nächste Woche in das Werk nach Hamburg fahren muss. Das Übliche, ja?“ Er legt auf.

„Äh, ja“, sagt Mia, obwohl er es schon gar nicht mehr hört.

Mit der Maus klickt sie sich auf die Seite für die Flüge und die Website des Hotels, in dem er immer absteigt. Nervös beobachtet sie aus dem Augenwinkel, wie sich die Kollegentraube am Empfang auflöst und Peter in der Küche verschwindet. Mia klickt weiter. Mit einer Tasse Kaffee und zwei Stücken Kuchen auf dem Teller läuft Peter an der Glaswand entlang und an ihr vorbei.

„Guten Morgen, Peter“, ruft Mia schnell und fügt hinzu: „Herzlichen Glückwunsch!“ Sie steht schon einmal auf, um ihm die Hand zu geben – vielleicht umarmt er sie ja vor lauter Freude – aber Peter bleibt nur kurz im Flur vor ihrer offenen Bürotür stehen. „Danke“, sagt er, zwinkert ihr zu und balanciert die volle Tasse in sein Büro. Enttäuscht bleibt Mia zurück und lässt den Arm wieder sinken, als plötzlich Ariel vor ihr steht.

„Ich habe einen Termin“, sagt sie. „Du bist Mira, nicht wahr?“

„Nein, ich heiße Mia.“ Unsicher schaut sie sich um, weil Ariel vor ihr steht und erwartungsvoll grinst.

„Bei wem?“, fragt Mia schließlich nach.

„Dr. Werner?“

„Ähm, ja, dann geh ruhig durch“, antwortet Mia.

„Muss ich mich nicht im Vorzimmer anmelden?“

„Nee, ich bin die Buchhaltung.“

„Tatsächlich?“, fragt Ariel seelenruhig und schaut Mia geradewegs in die Augen. Mia lässt sich auf ihren Stuhl hinabsinken. Ariel verwirrt sie. „Ja, wieso?“

„Ach, nur so“, sagt Ariel, lächelt, wendet sich um und klopft an Dr. Werners Bürotür.

„Ja?“, hört Mia es von innen herausschallen. Ariel tritt ein und schließt die Tür.

„Was die hier wohl will?“, fragt sich Mia leise, als ihr die Reisebuchung wieder einfällt und sie sich schnell an die Arbeit macht. Bis mittags arbeitet sie, ohne auch nur einmal aufzustehen, um zur Toilette zu gehen, was sie auch nicht muss, da sie es ja noch nicht einmal schafft, Wasser zu trinken. Schließlich hat sie die Aufgaben durch, sogar vor der gewünschten Uhrzeit, und ist bereits um elf Uhr fertig. Sie druckt den Bericht aus, bindet ihn und klopft bei Dr. Werner an.

„Ja?“, bellt es wieder von innen hinaus. Mit den Augen auf dem Bericht tritt Mia ein und erschrickt, als ihr Ariel vom Stuhl vor Dr. Werners Schreibtisch entgegenstrahlt. Ist sie immer noch hier?

„Ähm, hier ist der Bericht, Dr. Werner“, sagt sie und reicht ihm die Unterlagen, während Ariel sie weiterhin freundlich mustert. Mia schaut sie an, so nach dem Motto „Ist irgendwas?“, aber Ariel schüttelt kaum merklich den Kopf und lächelt weiter.

„Ah, prima! Danke, Mia. Sie können jetzt gehen“, antwortet er bloß.

Mia dreht sich um und schließt die Tür. Als sie zu ihrem Arbeitsplatz zurückkommt, zuckt sie zusammen: Der Bildschirm spielt verrückt, das Mousepad liegt über der Maus und ihre Funktastatur liegt auf ihrem Stuhl. Mia schaut sich um, ob jemand in der Nähe ist, sieht aber niemanden.

„Seeeehr witzig!“, murmelt sie genervt und richtet ihren Arbeitsplatz. Eine halbe Stunde später treten Dr. Werner und Ariel aus dem Chefzimmer. Sie schütteln sich die Hände.

„Schön, dass Sie das Team künftig verstärken, Ariel. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit“, sagt Dr. Werner und kehrt in sein Büro zurück.

Ariel lächelt ihm nach. Alarmiert schaut Mia hoch. Ariel spürt ihren Blick. „Eine Vakanz im Controlling“, erklärt sie an Mia gewandt.

„Da gibt es keine freien Stellen“, erwidert Mia im Brustton der Überzeugung, denn das hatte ihr Dr. Werner erst letzte Woche noch gesagt.

Ariel zuckt mit den Schultern. „Doch, wurde per Rundmail im Haus veröffentlicht.“ Sie dreht sich um und lässt Mia verwirrt zurück.

„Ich muss sie gelöscht haben“, murmelt sie wenig überzeugt und beginnt sogleich, ihr Postfach zu durchsuchen. Ein leiser Vibrationsalarm breitet sich im Raum aus: Brrrr, Brrrr, Brrrr. Hektisch kramt Mia in ihrer Tasche und sucht ihr Handy, als ihr auffällt, dass sie noch das fremde Handy hat, dessen Display erleuchtet ist. Sie zieht es aus der Tasche und starrt es ungläubig an. „Er“, steht auf dem Display und dahinter ein kleines Teufelchen als Profilbild. Sie drückt auf den grünen Button und nimmt das Gespräch an. Einen Moment zu lange lauscht sie in die Stille hinein.

„Hättest du zumindest die Güte, dich für deinen Vater anständig zu melden?“, fragt eine männliche Stimme kühl und fügt hinzu: „Guten Tag, Jan von Immendorf. Hier ist dein Vater, Herbert von Immendorf. Fällt jetzt der Groschen?“

„Hallo“, sagt sie unsicher in die Stille hinein.

„Wer ist da?“, fragt die Stimme zurück, doch bevor Mia antworten kann, erklingt sie erneut gemischt mit einem resignierten Seufzen: „Sagen Sie nichts: Eine seiner neuen Flammen. Können Sie mir meinen Sohn geben, falls er schon wach ist? Angezogen ist nicht nötig.“

„Ähm“, antwortet Mia und holt Luft für die nächsten Worte.

„’Ähm’ ist wohl kaum eine ausreichende Antwort. Sind Sie der deutschen Sprache mächtig?“, fragt die Stimme kühl.

„Ähm, nein. Was ich meine, ist: Ich kann Ihnen Ihren Sohn nicht geben.“

Die Stimme seufzt wieder, dann legt der Mann grußlos auf.

Verdutzt hält Mia das Handy vom Ohr weg und schaut auf das Display. „Was war das denn?“ Dann kommt ihr ein Einfall: Sie ruft im PC eine Suchmaschine auf und tippt dort „Jan von Immendorf“ ein. Eine Sekunde später sieht sie den jungen Mann von gestern Abend als Suchergebnis auf zahlreichen Bildern im Internet. Mia murmelt vor sich hin, während sie die gefundenen Treffer überfliegt: „Rechtsanwaltsfamilie, alteingesessen, Herbert von Immendorf, Ira von Immendorf, mit den drei Kindern Tim, Meike und Jan, alle um die dreißig. Jan von Immendorf, Leiter der Marketingabteilung und kreativer Kopf bei GimmeX.“

Schnell ruft sie die Homepage der Firma auf und wechselt in die Rubrik „Team“: Jan schaut sie von einem Schwarz-Weiß-Bild an.

„Süßer Typ. Dein Freund?“

Mia fährt herum. Jade hat sich unbemerkt neben sie gestellt. Wie macht sie das nur immer mit den Hacken, fragt sich Mia.

„Ach, das ist ja Jan von Immendorf. Dann wohl kaum“, fügt Jade hinzu und begutachtet Mias verständnislosen Blick: „Du bist nicht sein Typ.“ Ärger schwappt durch Mia hindurch, als ob ein Teil von ihr es besser wüsste und protestieren will. Woher will Jade das denn wissen? Stattdessen fragt sie: „Was möchtest du denn?“ Sie minimiert schnell den Browser.

„Schade, er war vorletzte Woche hier. Macht unsere neue Werbekampagne. Und du warst bei der Reinigung und hast deine neue Flamme verpasst“, antwortet Jade und lächelt verschmitzt, was Mia verunsichert, da sie es nicht deuten kann. Vorsichtshalber antwortet sie nicht. Irgendwie ist sie heute so richtig genervt und wenig sie selbst.

„Hier sind ein paar Zahlen für den Controlling-Bericht. Ich dachte, ich gebe dir die noch schnell, bevor die Besprechung gleich losgeht.“ Jade legt ihr eine Klarsichthülle gefüllt mit Blättern voller Zahlen auf den Tisch und macht sich auf, den Raum zu verlassen.

„Aber der Bericht ist fertig. Die Zahlen lagen doch schon vor, oder?!“ Mia kann es kaum glauben. Nicht auch noch das, denkt sie.

Jade bleibt in der Tür stehen und lächelt freundlich mit dem Mund, ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht. „Hat sich noch etwas geändert, schöne Mittagspause“, lacht sie und stöckelt in Richtung Aufzug.