Rettet Dornpunzel! - Kännie Meier - E-Book + Hörbuch

Rettet Dornpunzel! E-Book und Hörbuch

Kännie Meier

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Beschreibung

Prinz Dimo Löwenbart ist mit seinen dreiunddreißig Jahren noch immer nicht im Leben angekommen. Statt pflichtbewusst die Königsausbildung zu absolvieren, hängt er lieber auf Partys ab, sieht Heldenaufgaben als ein antiquiertes Überbleibsel längst vergangener Ruhmeszeiten an und macht vor allem durch skandalöse Schockzeilen im Klatschwort auf sich aufmerksam. Wie sein Vater, der König, DAS findet, muss wohl nicht näher erläutert werden! In dieser "Idylle" ereilt Dimos Vater der Hilferuf des unbekannten Königs Dornpunzel: Die Entführer seiner Tochter, Rösi, haben sich nach zehn Jahren erneut mit einer kryptischen Nachricht gemeldet. Sehr zu Dimos Leidwesen beschließt sein Vater kurzerhand, ihn (ausgerechnet IHN) für die Rettung der Prinzessin einzuspannen. Doch die Heldenaufgabe erweist sich alles andere als einfach, denn die liebliche Prinzessin entpuppt sich als scharfzüngige Kratzbürste, die sogar Drachen durch bloße Worte vom Himmel keifen könnte. Dimo ahnt nicht, dass er ungewollt Teil eines perfiden Plans geworden ist: Sein machthungriger Cousin, Grindelieb, hat die Heldenaufgabe nur inszeniert, um selbst an die Krone zu kommen. Bevor Dimo sich versieht, steht er vor dem Wendepunkt seines Lebens: Schafft er die Heldenaufgabe? Will er König sein oder lieber Skandalprinz? Fragen über Fragen… #prinzwiderwillen #wahrehelden #schwarzerhumor #schockzeilen #schulterklopfer #machtgezicke #findemichs #dasgoldenewagenrad #mittelalterboys #drachengeschichten #achtung:kannspurenvonironieenthalten

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Seitenzahl: 518

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Zeit:13 Std. 6 min

Sprecher:Erik Borner
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Kännie Meier

Rettet Dornpunzel!

Prinz wider Willen

© 2020 Kännie Meier

Auflage: 8, Erscheinungsjahr: 2020, Erstveröffentlichung bei

www.epubli.de

Autor: Kännie Meier

Umschlaggestaltung: L1graphics, www.99designs.de

Bilder für Umschlag: www.shutterstock.com,

Duda Vasilii/shutterstock.com, Yuliya Nazaryan/shutterstock.com, urfin/shutterstock.com, Olesia Misty/shutterstock.com, shaineast/shutterstock.com

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-34740-3

Hardcover:

978-3-347-34741-0

e-Book:

978-3-347-34742-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dieser Roman ist ein rein fiktives Werk mit fiktiven Charakteren. Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen zu lebenden und bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig. Dieses Werk erhebt keinen Anspruch darauf, historisch und zeitlich korrekt zu sein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist einmal …

… im prächtigen Königreich Löwenbart. An einem schönen, warmen Sommertag fallen Sonnenstrahlen sanft hinab in eine Waldlichtung. Die Vögel zwitschern fröhlich, ein Reh frisst zufrieden Gras. Die uralten und mächtigen Bäume umsäumen beständig die Lichtung.

Ein wenig entfernt, in einem kleinen Tal am Rande des Wäldchens, verharrt merkwürdig einsam eine verlassene und heruntergekommene Waldhütte auf einer saftigen Wiese. Moos wächst auf ihrem Dach, die Holzfassade ist marode und vom Wetter gezeichnet. Das Innere wirkt wie durcheinandergefegt: Umgestoßene Stühle, das Fenster zerborsten, in der Luft wabert aufgewühlter Dreck gemischt mit Staub. Inmitten des Chaos liegen sie auf dem kalten Boden: Der Prinz und die Prinzessin nah beieinander; ihre Fingerspitzen berühren sich leicht, als hätten sie im letzten Moment noch versucht, mit den Händen nach einander zu greifen; wenige Schritte weiter weg der getreue Freund. Das Gesicht des Prinzen ist schmutzverschmiert, seine Haut aschfahl und das Haar staubig. Weder er noch seine Begleiter bewegen sich; unendliche Stille lastet über der verwilderten Behausung.

Was bisher geschah

Vor einigen Tagen war die Welt für Dimo noch in Ordnung. Friedlich schlummernd lag er im Bett, als sein Vater, König Edhard Löwenbart, in der Einfahrt vor dem Schloss ungeduldig im Morgengrauen auf ihn wartete. Ärgerlich palaverte er die Hausfassade an, als könnte die etwas dafür. „Wo bleibt er denn?“, wetterte Edhard, während Dimo leise vor sich hin schnarchte. „Er weiß doch, dass heute die Jagd stattfindet.“ Der Kutscher zuckte unschlüssig mit den Schultern. Nach all den Jahren im Dienste der Familie Löwenbart hatte er gelernt, besser nichts zu sagen. Jeder wusste, dass das Verhältnis zwischen Edhard und Dimo nicht das Beste war, was sicherlich auch an Dimos Einstellung zur Arbeit lag. Der Prinz verbrachte schon sein dreiunddreißigstes Lebensjahr auf Erden, kümmerte sich aber kaum um das Prinzenamt und der damit einhergehenden Verantwortung. Stattdessen verbrachte er lieber seine Zeit damit, abzuhängen, spät aufzustehen und den Vater auf die Palme zu bringen, wenn es die denn im Königreich gegeben hätte; es schien, als wäre ihm alles egal. Und ja, natürlich wusste Dimo von der heutigen Jagd, zumindest wusste er es gestern noch, doch jetzt, so mitten im Tiefschlaf, war es ihm eben entfallen. Denn es war spät geworden letzte Nacht, im „Adelig“.

Wie eigentlich jeden Abend war Dimo ausgegangen und hatte sich dort mit seinen Bekannten getroffen. Da das Adelig ein Treffpunkt für die löwenbartsche Schickeria war, war es eine Selbstverständlichkeit für die zahlreichen Fast-Speed-Maler zu posieren und die Fragen der Reporter der hiesigen Klatschpresse, dem Klatschwort, zu beantworten. Vor den Schreiberlingen drückte er sich regelmäßig; vor den Malern kam er aber selten drumherum. Dies war nicht dem Umstand geschuldet, dass er sich für nicht bildwirksam genug hielt, sondern, dass das Posieren für eine Momentaufnahme mindestens fünf Minuten an Zeit und Dutzende Ermahnungen des Malers beinhaltete.

„Bitte nicht bewegen und Pose halten, Prinz Dimo“, hatte der längst zig Mal gesagt, weshalb Dimo weiter grinste, obwohl er schon den Muskelkater in den Mundwinkeln spürte.

„Hoffentlich sind die bald fertig“, raunte er Mizo, seinem besten Kumpel seit Kindertagen, zu und verdrehte die Augen. Prinz Dimo Löwenbart und der Sohn des Stallknechts, Mizo Klompenberg, waren schon seit jeher wie Brüder. Obwohl sie aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammten, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Als Antwort lachte Mizo leise und ersparte sich einen Kommentar, den Dimo durch das Geschrei der anwesenden Klatschpresse sowieso nicht verstanden hätte.

„Majestät, Majestät!“

„Prinz Dimo, schau hierher!“

„Hallo, nur einen Blick hierhin!“

„Nur eine kurze Frage: Wie oft wechselst du Unterhosen und Frauen?“

Dimo war richtig begehrt bei den Schreiberlingen, füllte er doch unabsichtlich immerzu das mittelalterliche Klatschwort mit interessanten Geschichten und Skandalen. Als beliebter Junggeselle des Königreiches liebte das Volk, das an dieser Stelle fast ausschließlich aus jungen Damen und deren heiratsinteressierten Müttern bestand, das Geschreibsel über den attraktiven Thronfolger. Von athletisch-muskulöser Statur, mit dunkelbraunen Augen und Haaren, die sich leicht lockten, verbreitete er ein wahrhaft niedliches Flair auf die Damenwelt. Ohne es zu forcieren, existierten unzählige Bilder von ihm und seinem Dackelblick, den wiederum die Mitglieder der Schreibzunft abgöttisch liebten, weil er sich so gut verkaufte. Absichtlich legte er diese Visage natürlich nicht auf; er sah eben manchmal einfach so aus.

Dimo verfolgte sich selbst im Klatschwort nur selten, er interessierte sich nicht für Rumgetratsche und lebte von einem in den nächsten Tag hinein. War er nicht auf den roten Teppichen des Königreiches anzutreffen, trieb er Sport oder machte sich von seinen königlichen Pflichten rar, verschaffte sich eine „Auszeit“, wie er es nannte. An manchen Tagen war er deshalb wie vom Erdboden verschluckt. Das machte Edhard, der ihn nur zu gern für irgendwelche Termine einplante, wahnsinnig, da sich Dimo zu diesem Geheimnis nichts entlocken ließ und der Vater aufgrund dessen den schlimmsten, wie ein Damoklesschwert über sie schwebenden, Skandal von allen möglichen Skandalen vermutete. Bis auf Mizo wusste niemand Details und der hielt eisern die Klappe, selbst wenn ihm Edhard halbherzig Konsequenzen androhte.

Diese hätte der König natürlich niemals wahrgemacht. Mizo gehörte zu Dimo, obwohl Edhard ihre Freundschaft nicht so nachvollziehen konnte, aber es stichelte ihn schon das eine oder andere Mal, dass der Sohn des Stallburschen so gar keine Angst zeigte, wenn er ihm drohte, ihn und seinen Vater, Friedwart, aus dem Schloss zu jagen. Mizo blieb stets höflich - und nichtssagend.

„Miso, Miso, leg mal den Arm um Dimo“, forderte ihn einer der Maler auf, woraufhin Mizo dem nachkam. Hektisch kritzelte der Maler auf das Pergament, um seine Zeichnung schnellstmöglich zu vervollständigen.

„Lass mal sehen“, unterbrach Dimo ihn und ließ sich das Bild vor die Nase halten. Zufrieden nickte er es ab: „Passt. Aber das nächste Mal sagst du Mizo mit Z, mein Bruder ist schließlich keine Suppe.“

Mizo lachte auf: „Vergiss es, Dimo. Wie ich tatsächlich heiße, hat er beim nächsten Mal eh schon wieder vergessen.“ Er boxte ihn leicht in die Seite und Dimo stimmte lachend zu. Er und Mizo machten sich regelmäßig über die Schreibzunft lustig, vor allem über den nervigen Reporter des Goldenen Wagenrads, Waldemar Schnüffelmann. Den Typ hatte Dimo echt gefressen. Der malte nicht nur unheimlich schlecht, sondern kritzelte auch noch unsagbar viel Mist über ihn. Deshalb rastete Edhard wiederum regelmäßig aus und brachte Dimo in Erklärungsnot, obwohl der eigentlich gar nichts gemacht hatte. Heute hatte Dimo den Wichtigtuer noch nicht gesehen, war aber auch nicht sonderlich scharf darauf.

„Ich habe jetzt genug“, sagte der Prinz und wandte sich ungeachtet der Proteste der Reporter in Richtung des Eingangs, der von Menschen belagert wurde.

Zwischenzeitlich waren weitere prächtige und prollige Kutschen angekommen und füllten den Hof vor dem Klub. Die Reichen, Schönen und Wichtigen des Königreiches hielten sich überall auf: Schwätzchen vor dem Eingang, rauchen auf dem Hof, posieren für die Maler … Es war nicht leicht, sich den Weg in das Gebäude selbst zu bahnen, da Dimo es ablehnte, von den Leibwächtern des Hofes begleitet und beschützt zu werden. Mit Schaudern erinnerte er sich an eines der letzten Bilder, das vom Goldenen Wagenrad etliche Male gedruckt und ausgeschlachtet worden war: Er, begleitet von den in dunkler Kleidung, mit Wams, Sonnenbrillen, Schwertern und schulterlangen Haaren aufgepimpten Leibwächtern, bei einem öffentlichen Charity-Event, einer Gutzweckveranstaltung. So, wie das Bild ausgesehen hatte, war Dimo ein abgehalfterter Typ nach einer durchzechten Nacht, der noch richtig besoffen am nächsten Morgen, ohne den leichtesten Anschein von Anstand zu zeigen, einen Kindergarten eröffnete und sich dabei fachmännisch abschirmen ließ, weil ihm der Zweck dahinter eigentlich ziemlich egal war. Dimo mochte gar nicht daran denken, wie Edhard die Suppe beim Essen wieder ausgespuckt hatte, als er zufällig das Bild in der Zeitung sah. Noch weniger gern erinnerte er sich an den folgenden Monolog, der mal wieder entbrannt war und sein Leben, seine Moral und ihn selbst in Unehren brachte. Obwohl er den Kindergarten gar nicht betrunken betreten hatte, war die gute Tat dennoch in Vergessenheit geraten und der vermeintliche Skandal lebte bis zum heutigen Tage fort.

Doch jetzt, während er sich den Weg in den Klub bahnte, vermochte er nicht daran zu denken. Immer wieder musste er Hände schütteln, kurz Schönwettergespräch abhalten oder für ein Selfie mit irgendwem aus der Schickeria posieren, was dann hektisch vom leibeigenen Fast-Speed-Maler des befreundeten Adels so fachmännisch wie ein Hochglanzfoto auf Papier festgehalten wurde. Edhard lehnte so einen Schnickschnack ab – hofeigene Fast-Speed-Maler zu beschäftigen – worin sich Vater und Sohn tatsächlich mal einig waren. Auch Dimo konnte sich nicht vorstellen, auf jedem Empfang von einem Selfiemaler begleitet zu werden. Doch letztlich gelang es ihm, sich loszueisen und, zusammen mit Mizo und weiteren Kumpels, das Gebäude zu betreten.

Innen angekommen, empfing sie im Konzertsaal gedämmtes Licht, wild tanzende Menschen und laute Musik. Soeben spielte eine Gruppe von Minnesängern, die ganz Löwenbart und die anderen Königreiche mit ihren Auftritten in riesigen Stadien unsicher machten: „Die Mittelalter Boys.“ Aus Dimos Sicht eine bloße Horde von wellighaarigen Männern, die davon lebten, sinnreiche Texte wie „Ich liebe dich und du liebst mich“ zu singen und just in diesem Moment mit offenen Hemden auf nackter, enthaarter Brust und kreisenden Hüften auf der Bühne tanzend von liebreizenden Oberkörperbedeckungen der Damen beinahe totgeworfen zu werden. Die Mädels vor der Bühne kreischten abtrünnig, während Dimo und seine Kumpels auf den Getränkeausschank, auch neulöwenbartisch „Bar“ genannt, zuliefen. Dabei kam ihm diese eine Frau entgegen, deren Namen er sich zwar nie merken konnte, aber trotzdem für attraktiv hielt – nicht den Namen, aber zumindest die Frau. Und da war sie wieder, die kleine Augenliebe zwischen ihnen beiden: Seit Jahren schon versuchte sie, bei ihm zu landen. Obwohl er vermutete, dass sie weniger Interesse an ihm selbst, der Person, hatte, als dem Thronerben, ging er dennoch gelegentlich darauf ein und tauschte den einen oder anderen Blick mit ihr aus. Sie lächelte ihn an, er lächelte zurück und zwinkerte. Das war es. Anschließend hielt er weiter auf den Flüssigtresen zu.

Es war voll hier und zu seinem Erstaunen sah er eine Gruppe junger Mädchen auf der Tanzfläche, die maximal fünfzehn sein konnten. Sie tanzten wild zur Musik und sangen den Liedtext mit, wie zu Hause vor dem Spiegel mit der Haarbürste. Dimo stupste Mizo an, der gerade Getränke bestellte. „Wie kommen so junge Hühner hier rein?“ Mizo wandte sich um und Dimo nickte in Richtung der Mädchen.

„Schlafen mit dem Barkeeper“, erwiderte Mizo achselzuckend. Dimo grinste; er kannte seinen Bruder gut genug, um den ironischen Scherz hinter dessen Worten zu verstehen.

Eines der Mädchen, eine Dunkelblonde, tanzte und sang besonders wild, als ihr Augenmerk zufällig auf ihm landete. Sie stockte und glotzte ihn ungläubig an. Plötzlich fing sie an zu kreischen und zeigte hysterisch in seine Richtung, wodurch auch ihre Begleiterinnen auf ihn aufmerksam wurden und in das Gekreische einstimmten. Mit eingehakten Armen quetschten sie sich durch die Tanzenden auf den Ausschank zu, wie eine lebende Walze, und es wäre nicht verwunderlich gewesen, wären dabei so einige auf dem Boden niedergewalzte Opfer vor Schreck keuchend zurückgeblieben.

Oh nein, dachte Dimo, als die Mädchengruppe auch schon vor ihm stand. Das Mädchen mit den dunkelblonden Haaren fächerte sich Luft zu. Ihr Kopf war rot, als sie heiser fragte: „Kann ich ein Autogramm haben, bitte?“

„Na klar, wer bist du?“ Dimo schaute sie amüsiert an, aber auch etwas ängstlich, da ihr Gesicht mittlerweile so hochrot war, dass er Angst hatte, sie würde gleich umkippen. Doch sie strahlte ihn an und fächerte sich noch schneller Luft zu. „Gruupie“, antwortete sie und reichte ihm einen Kohlestift. Er konnte das Lachen nicht unterdrücken.

„Nee, nicht was, sondern wer bist du?“

„Ja, Gruupie“, antwortete das Mädchen erneut, seinen Wortwitz nicht verstehend. Dimo tauschte mit Mizo einen Blick aus und grinste.

„Wo soll ich unterschreiben?“, fragte er, da sie ihm zwar einen Kohlestift überreicht hatte, aber weder Papier oder irgendetwas Ähnliches bereithielt. Beschwingt riss sich das junge Liebchen die Bluse auf und zeigte auf ihren Brustansatz. War Dimo jetzt schockiert, entrüstet und so sehr vor den Kopf gestoßen, dass er sich schamhaft die Augen zuhalten wollte? Aber nicht doch. Da ihm sogar erwachsene Frauen wollene Schlüpfer zuschoben, war ein leicht entblößter Brustansatz nun wirklich nicht aufsehenerregend. Selbst wenn er Situationen wie diese nicht ausnutzte, schließlich war Gruupie in seinen Augen ein kleines Mädchen, amüsierten sie ihn dennoch ungemein. Ohne mit der Wimper zu zucken, tunkte er den Kohlestift in das Wasser einer Blumenvase auf dem Tresen, unterschrieb und reichte ihr den Stift zurück. Sie nahm ihn an, wobei sich ihre Fingerspitzen versehentlich zart berührten. Gruupie bekam kaum Luft, als sie von ihren Freundinnen unter den Armen gepackt und auf die Tanzfläche gezogen wurde. „Habt ihr gesehen? Er hat mich berührt! Er LIEBT mich!!“, kreischte sie hyperventilierend, während sie sich nur mühsam wegziehen ließ.

Dimo schmunzelte noch immer und nahm sein Getränk vom Tresen. Er setzte das Glas an und beobachtete besonnen die tanzende Menge, als eine regungslose Gestalt rechts im Blickfeld seine Aufmerksamkeit fesselte. Er ließ das Glas wieder sinken, den Blick fest auf die Gestalt gerichtet, und stupste Mizo an. „Da ist ER!“

ER, Waldemar Schnüffelmann, stand, umringt von Tanzenden wie ein Fels in der Brandung, auf der Tanzfläche und beobachtete das Objekt seiner journalistischen Begierde: Dimo. Die rechte Hand flog nur so über das Pergamentpapier, das er auf ein kleines Brett gespannt hatte, und mit der anderen Hand vor sich hielt. Immer wieder hob und senkte er den Blick, imitiert von seinem Assistenten, ein kleines braunes Äffchen, das stets wie angewachsen auf seiner Schulter saß. Als sich ihre Augen trafen, hob Dimo das Glas zum Gruß an, trank daraus und zeigte mit der anderen Hand den Mittelfinger. Waldemars Stift fror auf dem Papier ein; seine Augen formten sich zu Schlitzen. Dann lächelte er listig, zeichnete einen finalen Strich und lief in etwas Entfernung an Dimo vorbei auf den Ausgang zu, ohne den Blickkontakt abreißen zu lassen. Provozierend hielt Dimo diesen fest.

„Glückwunsch, morgen bist du wieder in aller Munde“, sagte Mizo sachlich, als der Rücken des Klatschschreiberlings letztmalig im Türrahmen zu sehen war, bevor er, wie verschluckt, außer Sichtweite verschwand.

„Ist mir egal“, antwortete Dimo betont gelangweilt und drehte sich um. „Der Pöbel ist weg, jetzt wird gefeiert.“

Mit der Handfläche klatschte er auf den Tresen des Ausschanks, um neue Getränke zu ordern. Gemeinsam mit Mizo und seinen Freunden stieß er auf den Abend an.

Nachdem Edhard am Morgen nach Dimos Partynacht dann doch alleine zur Jagd gegangen war, saß er beim Frühstück und schlürfte eine Tasse Kaffee, während er in der Zeitung las. Tilla, seine Gemahlin, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, warf ihm beizeiten gequälte Blicke zu, wenn das Schlürfen zu laut wurde, sagte aber nichts. Sie war ein geduldiger Mensch.

Jeden Morgen blätterte Edhard einen Stapel Zeitungen nacheinander durch. Hatte er die eine fertig und las die letzten Zeilen, nahm er auch schon die nächste zur Hand, um übergangslos weiterzulesen. Manchmal legte er eine Zeitung auf den Tisch, nahm die nächste und legte sie auf die erste und hielt beide gleichzeitig hoch. Er merkte das gar nicht und machte es unbewusst. Erst neulich, als Tilla realisierte, dass er ihr nicht zuhörte, hatte sie die Zeitung heruntergedrückt, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber statt seines Gesichts strahlte sie nur das Titelblatt der nächsten Zeitschrift an und Edhard setzte den Artikel gefesselt fort.

An diesem Morgen hingegen war sie selbst in ein Buch vertieft und legte dieses nur nieder, um sich erneut Kaffee einzuschenken. Nur durch Zufall fiel ihr Blick auf das Goldene Wagenrad, das als nächste Lesegelegenheit vor ihm auf dem Tisch ruhte. Ihr stockte der Atem beim Anblick der Headline, einer wahren Schockzeile. Das Blatt war bekannt für seine reißerischen, aber effektiven Einzeiler.

„König Schmalzahn hat die Steuern erhöht“, äußerte Edhard da gedankenverloren, legte die Zeitung beiseite und setzte die Kaffeetasse an die Lippen. Direkt vor seiner Nase lag das Goldene Wagenrad. Er nahm es in die Hand und fuchtelte damit herum, während er weitersprach und die Stirn in Falten legte. „Das wird noch böse enden, das sag ich dir.“ Seine Augen ruhten noch auf Tilla, als sein Körper schon wieder in Lesehaltung verfiel. „Ja, das glaube ich auch“, fuhr sie schnell dazwischen, um ihn abzulenken. „Aber wie genau hat er die Erhöhung begründet?“

Er griff nach der vorherigen Zeitung. „Irgendwelche Lebenshaltungskosten, die angestiegen sind, warte mal.“ In der Zeitung blätternd, legte er sie auf das Goldene Wagenrad und verdeckte damit das Titelblatt. Erleichtert stieß Tilla die Luft aus den Lungen; die Gefahr schien gebannt.

„Ah, hier, die Kosten für seine Privataudienzen und Kutschenfahrten haben sich erhöht. Das wird noch böse enden, das sag ich dir. Die Bürger werden sich irgendwann gegen seine Luxuslust wehren.“ Eine Antwort blieb Tilla erspart: Alfons, der Butler, klopfte und betrat das Esszimmer.

„König Edhard, hier habe ich den magischen Spiegel der Madame Auxel, wie von dir gewünscht.“

„Aaaah, das ist gut.“ Erfreut rieb Edhard sich die Hände und erhob sich aus dem Stuhl. „Das wird Dimo freuen“, sagte er, nahm den Spiegel an sich, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ den Raum. Tilla lächelte ihm hinterher, bis die Tür mit einem leichten Klick ins Schloss fiel, dann verflog es. Schnell nahm sie das Goldene Wagenrad an sich und warf es in den Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte. Alfons tat so, als hätte er es nicht gesehen, obwohl die ganze Dienerschaft die neueste Schockzeile über den Prinzen schon längst verschlungen hatte.

Frohen Mutes machte sich Edhard in sein Arbeitszimmer auf, doch als er die Tür beschwingt aufriss, erstarb auch sein Lächeln auf den Lippen. Aus dem mittelgroßen Raum, mit königlichem Stil versehenen Büromöbeln in edler Optik, gähnte ihm das pure Nichts entgegen. Zur Wahrung der Fassung atmete er tief ein und aus. Das Zimmer war leer. Und dass, obwohl er hier mit Dimo verabredet war. Schon die zweite Verabredung, die der Sohn platzen ließ – an einem Morgen, wohlgemerkt. Entschlossen drehte Edhard sich wieder um und ging durch einen langen Gang in die Große Halle hinein, dann die breite Treppe hoch, bog links ab und stampfte immer lauter durch einen langen Flur, an dessen Wänden zahlreiche Gemälde seiner Ahnen hingen, auf Dimos Gemächer zu. Diese waren in dem Teil des Schlosses untergebracht, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich und nur für die königliche Familie vorbehalten waren: dem kompletten ersten Stock.

Noch zu Zeiten der Ahnen hauste die königliche Familie in einem zugigen, kaum beheizbaren, mittelalterlichen Schloss mit nackten, grauen Wänden, bis es Dimos Großvater, Eckbert, zu bunt wurde. Dementsprechend beschloss besagter Eckbert, das Schloss einfach Schloss sein zu lassen und lieber ein Haus wie ein Schloss bauen zu lassen, das wesentlich mehr Komfort bieten sollte: mit weißverputzten Wänden voller Gemälde, selbstbrennenden Fackeln, prunkvollen Kaminen in den Räumen und vor allem mit warmen Teppichen in allen Gemächern.

Das Erdgeschoss hingegen wurde unter anderem für öffentliche Zwecke entworfen. Trat der Besucher durch das große Eingangstor, fand er sich in der Großen Halle wieder, die zu seiner rechten Hand einen langen Gang aufwies. Dieser führte zum königlichen Empfangssaal sowie zu weiteren zahlreichen Räumlichkeiten, wie Edhards privatem Arbeitszimmer, dem Esszimmer sowie einem dezent-elegant eingerichteten Wohnzimmer, das gelegentlich auch zu kleineren Empfangszwecken genutzt wurde.

Links von der großen Treppe war ein weiterer, enger Flur, überdacht von einer Balustrade im ersten Stock. Dieser Flur ermöglichte den Zutritt zum Kaminzimmer, das Edhard und Tilla gerne abends nutzten, insbesondere im Winter, um in Ruhe und in Wärme zu lesen.

Folgte der Besucher jedoch neugierig der großen Treppe, erklomm die mit rotem Teppich ausgelegten marmornen Stufen, befand er sich auch schon in den privaten Räumlichkeiten der königlichen Familie. Tagsüber war es kaum möglich, diese Stufen zu betreten, ohne von Wachen zurückgehalten zu werden. Doch außerhalb der Besucherzeiten, wenn das Schloss für Bürger nicht geöffnet war, konnte der erste Stock unbehelligt betreten werden.

Noch zu Eckberts Zeiten wurde der linke Teil nicht bewohnt und war demnach gar nicht erst ausgebaut worden. Es hatte Dimo Jahre der Überzeugungsarbeit gekostet, seinem Vater die Erlaubnis abzuringen, diese Räumlichkeiten für sich herrichten zu dürfen. Edhard hatte befürchtet, ihn dadurch nicht mehr genug kontrollieren zu können, womit er letztlich, zumindest aus seiner Sicht, recht hatte. Aber Dimo hatte bitterlich um seine Privatsphäre gekämpft und nur knapp drei Jahre zuvor endlich gewonnen. Als Sprössling der königlichen Familie war es ihm nicht erlaubt, gänzlich auszuziehen; so stand es in der Löwenbarter Grundordnung, einer Art Gesetz sowohl für die Königsfamilie als auch für die Bewohner des Königreiches.

„Die königlichen Mauern werden irgendwann über mir zusammenbrechen“, spottete Dimo gern und häufig und wäre manches Mal lieber im Kerker gewesen, als eingesperrt inmitten der prunkvollen Wände, in einem Hausschloss, in dem jeder Raum viel zu groß war. Selbst arme Pferdeknechte durften von zu Hause ausziehen und hatten mehr Lebensfreiheiten als er, der privilegierte Königssohn. Doch Edhard pflegte solche Kommentare elegant zu überhören, genauso wie Dimos Bitte, nicht unangemeldet in seinem Schlafzimmer zu erscheinen, in dem er nun nichtsahnend schlummerte.

Das Bett war mit dem Kopf zur Wand positioniert, so dass Dimo zu seiner rechten Hand aus dem Fenster, das er im Sommer nachts gerne offenließ, und zu seiner linken Hand auf die Tür schauen konnte. Diese wurde auch schon von Edhard lautstark aufgestoßen, wodurch das Türblatt geräuschvoll gegen die Wand donnerte. Sodann brüllte Edhard los: „Wieso bist du nicht beim Termin?“ Vor lauter Schreck fiel Dimo auf der anderen Seite des Raumes aus dem Bett. Verschlafen schaute er über die Matratze hinweg zum Türrahmen, in dem sein Vater mit wütendem Gesichtsausdruck auf eine Reaktion wartete. Wenig beeindruckt und seufzend, hievte Dimo sich vom Boden hoch und erhob sich, wobei die Decke herunterfiel und er nackt im Raum stand. „Was?“, brachte er nuschelnd und gleichzeitig gähnend heraus.

Zur Antwort verdrehte Edhard die Augen, lief zum Bett und warf dem Sohn ein Kissen zu. „Bedeck’ dich zumindest damit.“ Müde begutachtete Dimo dieses und winkte ab: Wenn sein Vater ohne anzuklopfen hineinkam, musste er auch mit den nackten Tatsachen leben. Wieder verdrehte Edhard nur die Augen, erwiderte aber nichts und hielt ihm stattdessen den Spiegel hin. „Wir hatten eine Vereinbarung. Einen Termin. Schon das zweite Mal heute Morgen“, presste Edhard abgehackt und schnaubend hervor.

„Ach ja, Verzeihung. Habe ich vergessen“, gähnte Dimo, warf einen desinteressierten Blick auf den hingehaltenen Spiegel, und stemmte die Hände in die Hüften.

„Eher verschlafen“, korrigierte Edhard, woraufhin Dimo nickte. „Entschuldigung, ich wollte total pünktlich sein, um, um, na, um das eben zu machen, das eine, du weißt schon, aber mein Wecker hat versagt“, antwortete der Prinz, ging um das Bett herum und öffnete seinen Kleiderschrank.

„Es gibt Menschen, die haben eine gut funktionierende innere Uhr und stehen stets pünktlich auf.“ Edhard konnte nicht umhin, eine kleine Spitze vom Stapel zu lassen. Als Dimo nach seinen Klamotten griff und begann, sich anzuziehen, fügte Edhard hinzu: „Aber du hast recht. Der Fuchs hat den Hahn geholt, deshalb konnte er nicht krähen.“

„Der Fuchs konnte nicht krähen?“, fragte Dimo in einer Stimme, die klang, als wäre er zu müde, um zu verstehen, verbarg damit aber nur den Schalk hinter seinen Worten, während er sich ein weißes Hemd über den Kopf zog.

„Der Hahn“, korrigierte Edhard und ergänzte leicht irritiert: „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen.“

„Mitnichten“, antwortete Dimo gelassen. „Ich treibe zwar Kraftsport, aber das ist selbst mir zu schwer.“ Empört zog Edhard sowohl Luft als auch Bauch ein. Zwar hatte er sich damit abgefunden, dass manche Verhaltensweisen Dimos weder ihm noch seiner verstorbenen Gattin zugeordnet werden konnten, aber dessen unverblümte Ausdrucksweise schockierte ihn deshalb nicht weniger. Genauso wie die Tatsache, dass sein Sohn so gar nicht den Willen zeigte, den Königsberuf zu erlernen und Verantwortung zu übernehmen. Er war in Dimos Alter schon längst Vater und nebenbei noch voll berufstätig gewesen, aber die Jugend heute … Schrecklich! Edhard äußerte diese Worte nicht laut, schüttelte aber trotzdem vielsagend den Kopf.

Während Dimo sich weiter anzog, schnell die Zähne putzte und das Gesicht mit Wasser wusch, tippte Edhard mit dem Zeigefinger auf den Spiegel. Sofort veränderte sich die Oberfläche und zeigte Annoncen in dem Portal „Findemich“ an: „Suche dir eine Prinzessin“, prangerte dick und fett auf dem Spiegel. Er trat näher an Dimo heran, der sich soeben vor dem Wandspiegel das kurze, dunkle Haar kämmte. „Hier, ich will, dass du dir das hier ansiehst.“ Erwartungsvoll hielt er seinem Sohn den magischen Spiegel hin, der soeben begann, sich zu rasieren. „Willst du den Bart nicht mal wachsen lassen?“, fügte Edhard kritisierend hinzu, als Dimo auch schon wenig überzeugt den Spiegel nahm. Mit gerunzelter Stirn wischte er stetig mit dem Finger nach links und murmelte ein „Nein“ nach dem Nächsten.

„Nö, ich habe gestern erst ein Wachsbad genommen“, antwortete Dimo trocken, während er genervt immer schneller wischte.

„Du hast was?“, fragte sein Vater stirnrunzelnd, denn die neuerdings modernen Verhaltensweisen der Jugend leuchteten ihm so gar nicht ein.

„Ein Wachsbad genommen, zur Enthaarung“, wiederholte Dimo ruhig. „Ein Vollbart passt dazu optisch nicht.“ Natürlich stimmte das mit dem Wachsbad nicht. Dimo sah sich als Mann an, der weder Bart-, Bein-, Brust- oder Augenbrauenhaare jemals zupfen würde, aber das wusste sein Vater ja nicht. Der war noch vom alten Schlag und fing mit dem heutigen Männerbild nur wenig an. Dimo hingegen ging mit der Mode, die vorsah, sich nur alle paar Tage zu rasieren; am Kinn, wohlgemerkt. Nach Edhards Weltbild jedoch wurde sich gemäß den Ahnen nicht rasiert – der Familienname kam ja nicht von irgendwoher – sondern maximal der schon gut sichtbare Bartwuchs minimal gestutzt. Weitere Frisuren im unteren Bereich des Gesichts gab es nun einmal nicht. Dimo sah das anders. Denn er bevorzugte den lässigen Stil, doch das verstand sein Vater einfach nicht. Wie so vieles andere auch, wie ihm heute ein weiteres Mal verdeutlicht wurde.

Lustlos fingerte Dimo nun auf dem Spiegel herum. „Dafür sollte ich aufstehen?“, fragte er vorsichtshalber mal nach.

Überzeugt nickte Edhard ihm zu. „Es ist an der Zeit, dass du erwachsen wirst. Löwenbart braucht einen Erben und einen würdigen Nachfolger.“

„Jetzt?“, fragte Dimo nach. Der Tag fing ja super an, dachte er für sich und ließ gelangweilt den Spiegel sinken.

„Kann das nicht Grindelieb machen? Ich meine, er ist bestimmt froh, wenn er überhaupt mal eine abbekommt“, bemerkte er trocken und hielt seinem Vater abschließend den Spiegel wieder hin, der diesen jedoch mit einer Handbewegung ablehnte und Dimos letzte Bemerkung überging.

„Ich will, dass du dir eine Ehegattin suchst und verantwortungsbewusst wirst. Du lebst in einer Zeit, in der Männer nun mal Männer sind und klare Rollen und Aufgaben haben.“

Die Diskussion kannte Dimo schon auswendig. „Du gehst nicht mit der Zeit, Papa. Die Menschen sind keine Marionetten; es gibt keine allgemein gültige Rolle. Weder für Männer noch für sonst irgendwen, dafür sind Menschen einfach viel zu individuell.“

„Unsinn“, schoss Edhard dagegen. „Hätte Gott das vorgesehen, hätte er Adam direkt mit Haardutt auf dem Kopf geschaffen.“

„Kommt vielleicht noch“, entgegnete Dimo und ließ den Spiegel noch etwas tiefer sinken.

„Blödsinn! Und nun schau sie dir an“, antwortete Edhard nun leicht ungeduldig und hob den Spiegel in Dimos Hand wieder hoch. Sich neben den Sohn stellend, schaute er mit ihm zusammen auf die Oberfläche hinab. Eine wunderschöne Prinzessin schaute auf dem Bild schräg von unten zu ihnen hoch. Ihre Gesichtszüge und Haut ebenmäßig fein, wie bei einer Porzellanpuppe. Lange dunkle Wimpern umsäumten die Augen, der Mund war zu einem verheißungsvollen Kuss geformt.

„Na, die ist doch mal was“, sagte Edhard beeindruckt und nickte Dimo überzeugt zu. Der zog nur ein belustigtes Gesicht.

„Wer soll das sein – Prinzessin Entenschnute? Wenn sie weiterhin so guckt, wird sie im Altersheim auch noch so aussehen, weil sich die Gesichtsmuskeln nicht mehr zurückbilden.“ Er konnte sich beileibe nicht vorstellen, dreißig Jahre und länger mit einer Frau zu verbringen, die solch inhaltslosen Fratzen für attraktiv hielt.

Um Fassung ringend, warf Edhard nur kurz einen Blick an die Zimmerdecke. „Also gut, was ist mit ihr?“ Er wischte auf dem Spiegel nach links, um die nächste Kandidatin anzeigen zu lassen. Die hatte schwarzes, glänzendes Haar, Haut so weiß wie Milch und Lippen so rot wie reife Kirschen: Eine richtige Schnitte, weshalb Edhard leise pfeifend die Luft einzog.

„Ja, die wäre wirklich was“, antwortete Dimo und nahm den Spiegel mit beiden Händen, um einen besseren Blick zu erhaschen. Edhard konnte es nicht fassen und fragte nur ungläubig zurück: „Wirklich?“ Er war schon drauf und dran, schreiend aus dem Zimmer zu eilen, um Tilla von dem Wunder zu berichten, als Dimo hinzufügte: „Wenn ich Interesse daran hätte, in einer Gruft zu leben.“

Nicht auf Anhieb verstand Edhard und fragte nach: „Wieso das denn?“

„Na, die ist eine wandelnde Lichtallergie, siehst du doch.“ Vollends von der Sinnlosigkeit der Brautschau überzeugt, reichte Dimo den Spiegel wieder zurück.

Doch Edhard ließ nicht so leicht locker: „Ist doch famos. Dann musst du ihr nur galant den Sonnenschirm halten und sie nicht mit deinem Mundwerk beglücken.“ Er schob den Spiegel wieder in Dimos Hand, der den Impuls unterdrückte, die Augen zu verdrehen.

„Papa, so bleich, wie sie aussieht, pennt sie nachts in einem Sarg und steht nur bei Vollmond auf, um ein bisschen Blut zu tanken.“

„Auch gut, dann hast du keine hohen Lebensmittelkosten.“

„Dafür aber einen fetten Rabatt für den Kauf von Sonnenschirmen, oder was? Schau mal hier“, Dimo zeigte zum Rand des Portals, „das ist schon die Werbung dafür. Persönliche Empfehlungen aufgrund deines Suchverhaltens. Vergiss es, ohne mich.“

Einen Moment lang passierte nichts. Mit offenem Mund starrte Edhard seinen Sohn an. Dann schnauzte er zurück: „Dir ist doch nicht zu helfen! Das wollen wir doch mal sehen.“ Sauer wischte er nach links. „Hier, die ist doch wirklich hübsch“, brüllte Edhard schon fast und langsam die Nerven verlierend. Er schaute zwar nicht auf das Bild, fand aber trotzdem, dass er recht hatte.

Seufzend betrachtete Dimo das Bild der nächsten Prinzessin, die sich R#si nannte, genauer: Blond, intensiv-blaue Augen, freundliches und ungekünsteltes Lächeln. Er stockte, sein Zeigefinger hing in der Luft, denn die Blonde hatte was. Aber er spürte die Erwartungshaltung seines Vaters so überdeutlich auf seinen Schultern lastend, ohne, dass der auch nur ein Wort sagen musste. Allein schon deshalb wischte er fast schon trotzig nach links und strich ihr Antlitz aus seiner Erinnerung. Er wollte sich nicht verkuppeln lassen, bereute es aber dennoch im selben Moment. Dimo öffnete den Mund, um einen flotten Spruch mit einem Hauch von Bedauern hinterherzuschieben („Leider keine dabei, sorry“), als ihm der Vater schon ins gedachte Wort fiel: „Ich rede mit Tilla. So geht das nicht, wir müssen einen Ball für dich geben.“

Und damit rauschte der König aus dem Zimmer und ließ den verdutzten Dimo mit dem Spiegel zurück. Wieder seufzte er und pfefferte das Ding einfach aus dem Fenster, wo es an einem Baum zerbarst. Die Scherben fielen zu Boden und mit ihnen seine Erinnerung an das Bild der R#si.

Am Abend ging Dimo wieder aus. Dieses Mal aber nicht ins Adelig, sondern in seine Lieblingstaverne „Schnabeltasse“, in der er sich zum Kartenspielen verabredet hatte. Als er das überfüllte Etablissement betrat, sah er zwar seine Kumpels am Tisch sitzen, aber nicht Mizo, was ihn wunderte, da er eigentlich sehr pünktlich war. Normalerweise fuhren sie zusammen vom Schloss weg, da Mizo und sein Vater Friedwart, der Stallknecht und Mädchen für alles, auch auf dem Schlossgelände wohnten. Dieses Mal hatte Mizo ihn jedoch vorausgeschickt, weil er vorher noch etwas zu erledigen hatte.

„Hey, Leute.“ Dimo trat an den Tisch heran und begrüßte seine Freunde mit Handschlag. „Habt ihr Mizo gesehen?“

„Ich bin hier“, sagte dieser hinter Dimos Rücken, weshalb sie sich alle umdrehten. Er war eben erst gekommen.

„Mist, was ist denn mit dir passiert?“

Mizos Haare waren unordentlich und seine Wange war gerötet, als ob er damit an einer Wand entlang gerieben hätte. Besorgt trat Dimo näher und begutachtete den Freund.

„Ach, nichts Besonderes. Nur so ein paar Idioten, die mir die ganze Kohle abgenommen haben und dann getürmt sind.“ Mizo machte zwar einen auf lässig, aber Dimo kannte ihn gut genug, um ihm die Ruhe nicht abzunehmen. „Das ist ja unglaublich. Wie sahen die denn aus? Komm, lass uns das melden gehen.“

„Nein, lass gut sein.“ Mizo hielt Dimo am Ärmel fest und zog ihn wieder zurück. Nur widerwillig ließ der sich überzeugen. „Aber die Halunken müssen doch gefasst werden“, erwiderte Dimo. Die Tür der Taverne öffnete sich und kalte Luft wehte hinein. Davon abgelenkt, schaute er zum Eingang, wo ein reicher Bürger namens Monete zusammen mit seinen Männern die Schnabeltasse betrat. Dimo verzog das Gesicht: Monete war ein stadtbekannter Kleinganove, der nur wegen seines Reichtums bei den Löwenbartern geduldet wurde und ständig einen auf dicke Hose machte. Monete prahlte oft mit seinen Besitztümern, insbesondere bei den Damen, die ihn dann aber doch abblitzen ließen. Obwohl Dimo selbst zur löwenbartschen Schickeria gehörte, mochte er dennoch ein solch dekadentes Verhalten nicht und nahm es gelegentlich zum Anlass, den Ganoven durch den Kakao zu ziehen.

Wie neulich, als er, Mizo und die Jungs an einer Haltestelle für die Buskutsche gewartet hatten. Natürlich verfügte Dimo, als Spross der Königsfamilie, über einen ganzen Kutschenpark im Schloss, doch da er nicht wollte, dass sein Vater zu viel Einblick in seine nächtlichen Aktivitäten erhielt, verzichtete er lieber darauf und nahm die Buskutsche. Aber das jetzt nur am Rande: Sie hatten nach einer durchzechten Nacht im Adelig dort gewartet und sich über irgendeinen Witz scheckig gelacht, als eine luxuriöse und protzige Kutsche schnurstracks auf sie zugesteuert kam. Schon längst hatte Dimo das Emblem eines des teuersten Kutschenbauers erkannt und auch das erkaufte Familienwappen auf der Seite war ihm geläufig gewesen.

Die getönten Scheiben des Gefährts waren hinuntergefahren und Monete hatte zu ihnen hinausgesehen. Der Gauner war ein kleiner, dicklicher Typ, der seine dunklen Haare als Bob trug. Gerne trug er auch ein Wams, aus dem die Brusthaare hervorquollen und in die sich eine Goldkette hinein schmiegte, deren Anhänger aus goldenen Großbuchstaben bestand: MONETE. Schon die Art, wie Monete geschaut hatte, deutete darauf hin, dass er auf ein Wortgefecht aus gewesen war, das ihm Dimo nur zu gern lieferte.

„Ah, Prinz Heißsporn und Gefolge bei der üblichen Abendgestaltung. Ja, ja, Herr Prinz lebt in einer Seifenblase aus Luxus und Partysausen“, hatte der kleine Halunke auch schon das Duell mit einem süffisanten Unterton gestartet. Dimo zeigte auf die Kutschentür. „Ja, und Herr Monete fährt gerne ein handgemaltes Wappen umher.“

„Handgemalt liegt im Auge des Betrachters. Aber Prinz ohne Verantwortung ist ja auch ein geschmeidiger Lebensstil: nur Spaß, keine Arbeit, ts, ts, ts.“ Missbilligend hatte Monete den Kopf geschüttelt und den Satz unvollendet gelassen. Als Antwort hatte Dimo ein mitfühlendes Gesicht aufgesetzt. „Ts, ts, ts, nur Arbeit und keine Frau, die abends zärtlich mit den Fingern durch das Brusthaar streicht.“ Seine Freunde hatten alle aufgelacht und ihm begeistert den Rücken getätschelt. Nur Mizo nicht, der nur verhalten lachte und sich zurückhielt, was untypisch für ihn war, aber Dimo dachte, der Ganove wäre ihm wahrscheinlich unangenehm und zerbrach sich darüber nicht weiter den Kopf. Monete kräuselte abschätzig die Lippen. „Du solltest es dir besser nicht mit mir verscherzen, Herr Prinz. Man trifft sich immer zwei Mal im Leben und vielleicht brauchst du mal meine Hilfe.“ Dimo hatte laut prustend den Köder angenommen: „Ja, ich brauche deine Hilfe.“ Desinteressiert hatte Monete die Augenbrauen hochgezogen. „Was kann ich denn für dich tun, Herr Prinz?“

„Ich bin leider feinmotorisch nicht begabt“, setzte Dimo an, während Monete, nun leicht ungeduldig, den Finger schon wieder an den Fensterheber im Inneren der Kutsche gelegt hatte. „Und?“, fragte der Ganove mit gelangweilter Stimme nach.

„Kannst du mir auch so ein Wappen malen? Ich kann das nicht so gut, wie du.“ Die Kumpels waren in Lachen ausgebrochen, Mizo hatte sich nur mühsam zurückhalten können, wobei ihm das einen bösen Blick von Monete einbrachte.

„Nie um einen Spruch verlegen, Herr Prinz. Aber Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall.“

„Nie um einen Konter unfähig, Herr Monete. Aber Schulbildung kommt bekanntlich vor den weisen Sprüchen.“

Für einen Moment hatte sich Schweigen zwischen ihnen ausgebreitet. Jeder wusste, dass Monete aus armen Verhältnissen stammte und schon früh die Schule verlassen hatte. Unschuldig lächelnd hatte Dimo auf den nächsten Zug Monetes gewartet, der zunächst nichts antwortete; nur sein Mund hatte sich zu einem eisigen Grinsen verzogen.

„Ich wünsche noch einen schönen Abend.“ Das Fenster der Kutsche war hochgefahren. Die vorgespannten dunklen Pferde schnaubten und zogen das Ungetüm die Straße entlang.

Plötzlich spielte etwas Wind in Dimos Haaren, was ihn aus seinen Gedanken riss. Der Wind wehte durch die offene Tür auf ihn zu. Er beobachtete die Ganoven, die soeben auf einen Tisch zusteuerten.

„Ist ja nichts passiert. Die sind auch garantiert schon über alle Berge“, sagte Mizo und verwies auf den Raubüberfall. „Aber ich habe jetzt keine Lust mehr und will nach Hause. Da die mir das ganze Gold geklaut haben, kann ich sowieso nicht mehr bleiben.“

„Komm, ich bezahle für dich, ja?“ Dimo machte das nichts aus; ihm bedeutete Gold nichts, wusste aber, dass Mizo zu stolz war, es anzunehmen.

„Keine Widerrede!“ Brüderlich legte er Mizo den Arm auf die Schulter und zog ihn an den Tisch. Einer der Freunde holte Karten hervor und sie verbrachten den Abend mit trinken und Karten spielen. Der Raubüberfall versank in Vergessenheit, Mizo war ja glücklicherweise nichts passiert, und die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Dimo lebte sein Leben weiter, stritt sich regelmäßig mit Edhard über seinen Lebensstil und nahm an hippen Sausen teil. Doch leider sollte es nicht ewig so weitergehen.

Die Heldenaufgabe

Eilig lief Edhard den langen Flur entlang, denn er war spät dran. Wie jeden Morgen war Empfangstag und der große Empfangssaal würde bestimmt wieder zum Zerbersten voll sein. Hoffentlich war Dimo schon dort, denn Unpünktlichkeit war in Edhards Augen ein großes Laster. Als er sich dem Saal und dessen großer Tür näherte, wartete die Schlange bis in den Flur hinein. Der königliche Ansager, ein hagerer Mann, trippelte nervös von einem Bein auf das andere und hörte umgehend auf, als er Edhard kommen sah. Laut pochte er mit seinem Stock auf den Boden und rief mit tiefer, fester Stimme, die so gar nicht zum schmächtigen Körper zu passen schien: „Lasst den König durch.“ Sogleich reckten sich Edhard die aufgescheuchten Blicke entgegen, die durch eine Verbeugung ergänzt wurden.

„Macht Platz, macht Platz“, schrie der Ansager barsch und drängte sie zur Seite, damit Edhard durchlaufen konnte. Dieser nickte ihm dankend zu und stellte sich vor die Türschwelle in den Gang; bereit, angesagt zu werden. Schnell huschte der Ansager auf seinen angestammten Platz im Saal. Er pochte drei Mal auf den Boden, was wie ein lautes Echo die Gespräche und Geräusche in dem überfüllten Raum verstummen ließ. Erst, als alle still waren und gespannt der Dinge harrten – hach, wie der Ansager diesen alltäglichen, morgendlichen Moment liebte – lächelte er zufrieden und erhob die Stimme: „König Edhard Löwenbart.“

Erst jetzt setzte sich Edhard in Bewegung und lief eines Königs würdig durch die große Tür, durchquerte den Saal und steuerte auf seinen Thron zu. Die Bürger, an denen er vorbeilief, verbeugten sich nacheinander. Kurz nachdem Edhard die Mitte des Saales passiert hatte, fiel ihm jedoch ein, dass er in seinem Schlafzimmer sein Notizbüchlein vergessen hatte, blieb abrupt stehen und kehrte mit großen schnellen Schritten wieder um. Noch einmal verbeugten sich die Menschen, an denen er vorbeilief und erhoben sich, sobald er sie passiert hatte. Doch plötzlich erkannte Edhard, dass der erneute Weg zum Schlafzimmer viel Zeit kosten würde und dachte sich, dass der königliche Empfang dann endgültig zu spät begann. Unschlüssig blieb er eine Sekunde stehen, überlegte und drehte sich schließlich wieder um. Mit einer abwehrenden Handbewegung und einem gemurmelten „Ach, ist doch egal“ schritt er erneut auf den Thron zu. Ein weiteres Mal verbeugten sich die Menschen wie bei einer Welle. Doch Edhard konnte einfach nicht ohne sein Notizbüchlein, denn dort trug er Stichpunkte zu den wichtigsten Besuchern ein, insbesondere beim Schmalzahn, dem listigen Königslump, war das immens notwendig, da er ansonsten behauptete, dieses und jenes wäre nie besprochen worden, weshalb der König dann doch wieder kehrtmachte und zurückeilte. Nicht, ohne die Menschen dazu zu bringen, erneut wellenartig niederzusinken.

Edhard bekam von all dem nichts mit, schließlich war er es ja gewohnt, dass sich alle verbeugten. Und so übersah er die hochroten Köpfe, die ihn, überrascht von dieser unfreiwillig sportlichen Einlage, missmutig anschauten, aber sich davor hüteten, in Protest zu verfallen. Einer von Edhards Beratern fasste sich schließlich ein Herz und sprach ihn, mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn tupfend, flüsternd an: „Majestät, fehlt dir etwas?“ Edhard blieb stehen und raunte dem Mann zu: „Ich kann nicht ohne mein Notizbuch, aber das habe ich oben im Schlafzimmer vergessen.“

Umgehend schnippte der Berater einem Diener zu, der sich sofort in Bewegung setzte und flinken Fußes aus dem Empfangssaal eilte. Erleichtert atmete Edhard aus und schritt eines Königs würdig auf den Thron zu. Königlich ließ er sich darin niedersinken, während die Bürger dem Berater hinsichtlich seines glorreichen Einsatzes mehr als dankbare Blicke zuwarfen.

Kritisch beäugte Edhard für einen Moment den leeren Thron zu seiner rechten Seite. Dimo war mal wieder vollkommen zu spät, aber der übervolle Saal erlaubte kein weiteres Warten und so nahm das offizielle Programm seinen Anfang: Der Reihe nach rief der Ansager pochend die Besucher auf, die Edhard ihre Aufwartung machten und ihre Anliegen vortrugen. Dennoch leerte sich der Saal nicht, was vielleicht auch daran lag, dass an diesem Tag ungewöhnlich viele Schreiberlinge und Fast-Speed-Maler zugegen waren. Dies verwunderte Edhard zwar, doch er dachte nicht weiter darüber nach. Mittlerweile war auch das wichtige Notizbüchlein eingetroffen, in das Edhard von Zeit zu Zeit Eintragungen vornahm, als auch schon Diethelm Trockensumpf in der Menge auftauchte und sich den Weg zu ihm bahnte. Diethelm war der Abgesandte König Schmalzahns. Edhard seufzte innerlich: Hatte sich der Gauner also wieder gedrückt, persönlich vorbeizukommen; das fing ja mal wieder famos an. Jedes Jahr dasselbe Spiel: Edhard und Schmalzahn waren seit Jahren, so benannte er es gern, unbefreundet. Es ging um ein Stückchen Land, auf dem angebaut wurde und dessen Erzeugnisse gewinnbringend verkauft wurden. Aufgrund der geographischen Lage des Landes fielen die Gewinne allerdings beiden Königreichen zu; es sei denn, und da kamen eine Menge von Ausnahmeregelungen ins Spiel, es lagen gewichtige Gründe für ein Königreich vor, die erzielten Gewinne für sich zu beanspruchen. Komischerweise hatte Schmalzahn jedes Jahr einen Grund. Und weil Edhard das langsam leid war, hatte er ihn für den heutigen Empfang eingeladen. Wie nun aber ersichtlich, schien er sich mal wieder durch Diethelm entschuldigen zu lassen, der auch schon auf ihn zutrippelte. Innerlich wappnete sich Edhard für die bevorstehende Diskussion. Sogleich pochte der Ansager auf den Boden und verkündete mit lauter Stimme: „Diethelm Trockensumpf.“ Während er noch sprach, schlurfte Dimo an ihm vorbei. Sofort verfiel der Ansager in Hektik. Er hob den Stock, um den Prinzen standesgemäß anzusagen, doch der hob nur abwehrend die Hand. „Ja, ja, schon gut“, sagte Dimo und murmelte dann zu sich selbst: „Jeden Morgen dasselbe.“

In der Hand eine mit Laufkaffee gefüllte Holztasse haltend, schlurfte er auf Edhard zu, der das Erscheinungsbild seines Sohnes mit gekräuselter Stirn, hochgezogenen Augenbrauen und aufeinandergepressten Lippen zur Kenntnis nahm: müder Gesichtsausdruck, unordentliche Haare und an den Füßen plüschige Bärenfellpantoffeln. Edhard schüttelte missbilligend den Kopf. Obwohl im Saal nicht Grabesstille herrschte und vereinzelt Wortfetzen aus geführten Gesprächen bis zu ihm hinüberwehten, hörte er das Kritzeln eines Kohlestifts auf Pergamentpapier nur allzu deutlich. Unauffällig warf er einen Blick an den Rand des Saales, hinüber zu den Schreiberlingen. Die Augen des Reporters des Goldenen Wagenrads - Edhard konnte sich dessen Namen nicht merken - ruhten zielsicher auf Dimo. Seine Hand flog nur so über das Papier. Dimo wiederum schien sich des Ganzen gar nicht bewusst zu sein und schlurfte weiterhin auf den Vater zu.

„Guten Morgen, gut geschlafen?“, fragte Edhard den herannahenden Sohn, der sich total fertig in den Thron daneben fallen ließ. Edhard fiel auf, dass Dimo sich mal wieder entsprechend der Mode nur halbfertig rasiert hatte. Nicht ahnengemäß, hielt er innerlich fest und fragte sich mit Schaudern, wie der Prinz wohl in die Geschichte Löwenbarts eingehen würde. Als Prinz Dreitageweichkinn, vielleicht? Resigniert seufzte Edhard, als Dimo, der von den Gedanken seines Vaters ja nichts ahnte, sich das Kinn kratzte und antwortete: „Geht so. Ist ein bisschen spät geworden letzte Nacht. Und du?“

Die Besucher und Anwesenden im Raum tuschelten hinter vorgehaltenen Händen und musterten den Prinzen für Edhard mehr als eindeutig belächelnd. Die Federn der Schreibzunft kratzten so laut auf dem Pergamentpapier, dass es dem König beinahe den Schweiß ausbrechen ließ. Vor seinem inneren Auge sah er schon die zahlreichen Schockzeilen, eine schlimmer als die andere. Betont um Fassung ringend, antwortete er leise, aber merklich ironisch: „Och, mein Schlaf bereitet mir momentan keine Sorgen, aber wir sind hier bereits seit gut einer Stunde verabredet.“

Dimo trank einen Schluck aus seiner Tasse. „Jetzt fang nicht damit wieder an, Papa. Ich hab total Kopfschmerzen“, klagte er und fasste sich an den Kopf.

Diethelm, den Edhard in den letzten Minuten richtiggehend vergessen hatte, stoppte vor seinem Thron und verbeugte sich. Zur Bestätigung nickte Edhard zum Gruße zurück und richtete flüsternd erneut das Wort an Dimo. „Na, du erwartest doch jetzt bestimmt nicht von mir, dass ich dir eine Schmerztinktur kochen lasse, oder?“

Dimo stöhnte nur total entnervt als Antwort. Sein Vater war manchmal eine richtige Zicke und diskutierte, als hinge sein Leben davon ab. Zum Glück ergriff Diethelm das Wort, wodurch sein Vater von ihm vorerst abließ. „König Edhard, König Schmalzahn lässt sich entschuldigen, ein wichtiger Termin, aber wir müssen noch einmal über die Zuordnung der Einnahmen sprechen.“ Hastig saugte Diethelm Luft in seine Lungen, um fortzufahren, doch Edhard schnitt dem Trockensumpf resolut das Wort ab: „Sobald er sich hierhin geruht. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, die Einnahmen dieses Jahr für Löwenbart einzubehalten.“ Empört schnappte Diethelm nach Luft, doch Edhard gebot ihm mit einer einzigen Geste der Hand Einhalt. „Keine Diskussion.“

Flüsternd neigte sich Edhard zu Dimo: „Der Gauner Schmalzahn wird dieses Mal nicht damit durchkommen.“

„Und ich wette mit dir, dass er sich auch dieses Jahr wieder etwas einfallen lässt“, antwortete Dimo mit einem unterdrückten Gähnen.

„Aber König Edhard“, setzte Diethelm Trockensumpf an, doch wieder gebot ihm der König mit einer einzigen Handgeste Einhalt und wandte sich erneut Dimo zu. „Du vertraust wohl meiner Autorität nicht, was?“, fragte er nach. Dimo bereute schon, überhaupt etwas gesagt zu haben, und schob nach: „Seit Ewigkeiten rate ich dir, Rechtskundige einzuschalten, damit er mit seinen Tricks nicht mehr durchkommt.“

„Aber König Edhard“, setzte Diethelm Trockensumpf wieder an. Nur sehr kurz schenkte ihm Edhard seine Aufmerksamkeit: „Jetzt nicht! Du siehst doch, ich erziehe gerade.“ Die nächsten Worte richtete er an Dimo: „Unsinn! Wahre Männer kämpfen so etwas von Angesicht zu Angesicht aus.“

Die Bemerkung seines Vaters über „Erziehung“ ignorierend, setzte Dimo ein lässiges Gesicht auf. „Ja, nur dass sein Antlitz hier schon seit Jahren nicht mehr aufgetaucht ist“, konterte er und trank einen Schluck aus seiner Tasse.

Umgehend polterte Edhard los: „WAS willst du damit andeuten? Dass ich mich nicht durchsetzen kann? Werde du erstmal König und regele das alles alleine.“ Der Rest seiner Tirade ging unter, als der Ansager erneut lautstark auf den Boden pochte und eine Ankündigung machte, was die Gespräche im Raum sowie die Geräusche der Schreibzunft abermals verstummen ließ: „GRINDELIEB LÖWENBART.“

Dimos eh schon schlechte Stimmung sank gen Gefrierpunkt. Ein Raunen zog durch den Saal. Die Zeitungsmaler richteten Papier und Stifte, die Frauen richteten ihre Haare, schubsten ihre Ehemänner weg und rückten die Brüste zurecht. Die Männer schauten gequält und versuchten ängstlich ihre Frauen festzuhalten; auch die weniger hübschen.

Die Türen des Empfangssaals öffneten sich und Licht fiel durch den Türspalt aus dem Gang hinein. Dimo war etwas verwirrt: Normalerweise war die schwere Tür nie geschlossen, weil es viel zu lange gedauert hätte, sie für jeden Besucher aufwändig zu öffnen. Selbst im Winter stand sie aus diesem Grund offen, weshalb es stetig im Empfangssaal zog. Doch jetzt hievten Bedienstete sie auf und entblößten in der Mitte der Türschwelle seinen Cousin, Grindelieb, der bewegungslos wartete, bis die Türblätter vollständig aufgezogen waren. Erst dann setzte er sich in Bewegung und schritt lässig durch den Saal, als ob er einem imaginären roten Teppich folgte. Edhards Gesicht erhellte sich, während Dimo wenig beeindruckt das Geschehen verfolgte. Er kannte Auftritte dieser Art zu Haufe von Grindelieb. Aber der Ansager war noch nicht fertig und pochte erneut auf den Boden: „UND KÖNIG HAGEJAN DORNPUNZEL.“

Diesen nahm aber keiner so richtig zur Kenntnis, weil sämtliche Augen auf Grindelieb gerichtet waren. Und so schritt der eben angesagte König unbemerkt durch die Tür und hob grüßend den Handrücken.

Der Aufmerksamkeit aller bewusst, schlenderte Grindelieb mit einem lässig-gelangweilten Gesichtsausdruck zur Mitte des Saals, wo die Sonne durch die großen Fenster warm hineinströmte, und blieb wie zufällig im Lichtstrahl stehen. Er verharrte in einer seiner typischen Posen: ein Bein gestreckt, das andere angewinkelt, eine Hand in die Hüfte gestemmt. Er betrachtete die versammelte Menge, wartete, bis das Gemurmel abstarb und sprach dann laut und deutlich: „Ich grüße euch.“

Die Frauen atmeten ergriffen ein und aus. Manche fassten sich dorthin, wo das Herz vermutet wurde, andere fächerten sich hektisch Luft zu. Bei den Männern rief er gegensätzliche Emotionen hervor: Entweder klatschten sie begeistert und bestätigten sich gegenseitig, was für ein toller Kerl dieser Grindelieb doch war, oder sie stupsten missmutig die Gattin an ihrer Seite an, sie solle sich bitte zusammenreißen.

Grindelieb wurde im selben Jahr geboren wie Dimo, fast schon am selben Tag, und hatte blonde, lockige Haare, die er abgöttisch liebte und pflegte. Jeden Morgen brauchte er eine Stunde, um seine Locken in natürliche Wellen zu legen, weil er das schöner fand. Die Cousins waren beide von athletisch-sportlicher Statur, achteten auf ihre Körper und kamen bei den Damen gut an. War Dimo offiziell der Skandalprinz, pflegte Grindelieb stets sein Image als Löwenbartliebling, ohne selbst einen Bart zu besitzen. Wer jetzt jedoch eine Freundschaft oder sogar brüderliche Liebe zwischen ihnen vermutete, der lag so was von falsch. Sie hassten sich bis aufs Blut.

Der kritische Beobachter entdeckte bei Grindelieb eine gehörige Spur von Eitelkeit, während diese bei Dimo gänzlich fehlte. War Grindelieb ein Meister darin, seine Schwächen zu kaschieren, stapfte Dimo meisterlich von einem Rebellen-Fettnäpfchen ins nächste, ohne sich dessen bewusst zu sein oder sich im Geringsten darum zu scheren. Zumindest manchmal; manchmal aber auch nicht, je nach Stimmungslage.

Grindelieb ließ noch ein paar Sekunden verstreichen, bevor er sich aus seiner Pose löste und mit ausgestreckten Armen auf Edhard zulief. Die Reporter am Rande des Saals schrieben und malten selbstverständlich eifrig mit. Nicht, dass man nun denken möge, Grindelieb hätte die anwesende Schreibzunft gezielt gegrüßt, geschweige denn offensichtlich wahrgenommen, nein, er hatte sie bereits beim Betreten des Saals aus dem Augenwinkel gesehen und nutzte den Vorteil für sich, indem er sich so gab, wie er glaubte, immer zu sein: warmherzig, herzlich, bodenständig und, und, und.

Schon das eine oder andere Mal hatte Dimo vermutet, dass manch so ein Reporter nicht rein zufällig bei solchen Darbietungen anwesend war. Seiner Meinung nach war Grindelieb süchtig nach Anerkennung, nach Schulterklopferei, schaffte es aber immer wieder, wie ein unschuldiges Lamm zu wirken und sich mit einer ordentlichen Portion Schleim in den Hintern, äh, Pardon, in das Herz seines Vaters zu bohren.

„Mein lieber Onkel“, schmalzte er sogleich den König an, der hocherfreut aufstand, um den jungen Mann zu begrüßen.

„Grindi, wie schön, dass du wieder da bist.“

Überschwänglich nahm besagter Grindelieb Edhards Hände und schüttelte sie. „Ich bin sehr froh, wieder hier zu sein, Onkelchen.“

„Er darf sich natürlich verspäten“, wendete Dimo trocken ein, woraufhin Edhard sich säuerlich zu ihm umdrehte.

„Dimo, bitte, Grindelieb ist soeben erst von einer seiner Geschäftsreisen zurückgekommen.“ Dann wandte er sich eifrig wieder seinem Neffen zu: „Hattest du Erfolg?“

„Aber sicher“, antwortete Grindelieb, als wäre das von Anfang an klar gewesen. „Egal, was ich mache, meine Hände erschaffen pures Gold.“ Er hob die Hände und wackelte spielerisch mit den Fingern. Dimo konnte dieses Gelaber nicht mehr hören. Sein Cousin war ständig unterwegs und beruflich aktiv, doch womit war ihm schon seit Langem nicht klar. „Was sind denn das überhaupt für Geschäfte?“, fragte er deshalb, beobachtete aber gleichzeitig, wie Bedienstete einen eckiggroßen mannshohen Gegenstand, eingeschlagen in braunes Packpapier, in den Saal schleppten.

Nicht sofort gab Grindelieb eine Antwort, sondern suchte nach Worten, bis er schließlich eine abwehrende Handbewegung machte und zu Edhard sagte: „Davon versteht er eh nichts.“ Dann riss er sich den Umhang vom Körper und entblößte einen gut trainierten Oberkörper in einem engen Hemd, das der neuesten Mode entsprach. Eine Dame in der ersten Reihe fiel daraufhin in Ohnmacht. Diener eilten herbei und schleiften sie aus dem Saal, während Grindelieb seelenruhig – große Güte, das war schließlich nicht die Erste, die bei seinem Anblick zusammenbrach – eine Hand in den Umhang steckte, eine Zeitung hervorholte und diese mit einem gespielt unschuldigen Gesicht seinem Onkel hinhielt.

„Hier, Onkel. Deine geliebte Zeitung.“ Die Ausgabe des Goldenen Wagenrads war so gefaltet, dass die reißerische Überschrift der Titelgeschichte sofort ins Auge stach: Prinz Dimo – minderjährige Geliebte? Begleitet wurde die Schockzeile von einem Bild, auf dem Dimo im Adelig der noch jünger gemalten Gruupie beide Hände auf die Brust legte.

Edhards Gesichtsfarbe wandelte sich binnen Sekunden von normal zu kalkweiß zu ich-explodier-gleich-rot. Obwohl Dimo immer noch in seinem Thron saß, konnte er trotzdem von dort aus sehen, was sich Waldemar Schnüffelmann dieses Mal wieder Feines ausgedacht hatte und warf dem anwesenden Reporter einen sehr, sehr, sehr bösen Blick zu. Dieser schaute nur provozierend zurück, hob die Hand und fuhr mit dem Zeigefinger unterhalb seiner Kehle entlang. Sein Assistent, das kleine, braune Äffchen auf seiner Schulter, imitierte ihn wie ein stummes Echo.

„Wie viel Gold hast du ihm dieses Mal gegeben?“, fragte Dimo sogleich seinen Cousin. Grindelieb schnaubte sichtlich empört. Edhard schaute Dimo vorwurfsvoll an.

„Wie kannst du nur so etwas unterstellen, Dimo?“, erwiderte Grindelieb und grinste ihn hinter Edhards Rücken frech an.

„Rege dich nicht auf, Grindelieb. Du bist für seine Verfehlungen wohl kaum verantwortlich“, tröstete Edhard und tätschelte dessen Arm. Sofort wischte dieser das listige Grinsen aus dem Gesicht, damit Edhard es nicht sah.

„Das wird Konsequenzen haben“, drohte Edhard und zeigte mit dem Finger auf Dimo, während er die paar Schritte zurück zu seinem Thron lief und sich darin niederließ. Dimo schluckte derweil eine bissige Bemerkung herunter. Aus Erfahrung wusste er, dass es nichts brachte, es mit Edhard und Grindelieb gleichzeitig aufzunehmen. Dimo liebte seinen Vater, doch ihn von Grindeliebs Wesen überzeugen zu wollen, hatte noch nie etwas gebracht. Er war sich sicher, dass Grindelieb immer wieder die Schreibzunft auf ihn hetzte, doch Edhard glaubte nichts, was er nicht mit eigenen Augen sah. Und so vertrat der Vater die Meinung, es fände alles nur in Dimos Kopf statt; Grindelieb würde doch so etwas niemals tun.

„Das ist doch nur wieder so eine reißerische Schockzeile. Sie wollte lediglich ein Autogramm.“ Dimo zeigte auf die Zeitung. Lässig schlenderte Grindelieb näher, trat an Edhards Thron heran und setzte sich mit einer Backe seines Hinterns auf die Lehne. Gespannt lauschte er Edhards nächsten Worten: „Sie wollte WAS? Du bist kein verdammter Minnesänger oder gehörst du neuerdings auch zu diesen Steinzeit Buben?!“, donnerte Edhard los.

„Mittelalter Jungs“, korrigierte Dimo seinen Vater.

Grindelieb korrigierte leise zurück: „Mittelalter Boys!“

„Minnesänger bin ich vielleicht nicht“, antwortete Dimo knapp zu seinem Vater, der ihm nun zugewandt saß und hinter dessen Rücken er den Cousin ausmachte, der ihn listig angrinste und vielsagend die Augenbrauen hob, „aber verdammt auf jeden Fall. Aber warum schnauzt du mich eigentlich an? Er ist doch derjenige, der jeden ihrer Tanzschritte auswendig kennt.“ Er warf Grindelieb einen provozierenden Blick zu, der das Augenduell annahm, das letztlich nur aufgrund eines lauten Räusperns unterbrochen wurde. Alle drei fuhren sie herum und starrten den Verursacher an. „Verzeih die Störung, Edhard“, krächzte König Hagejan Dornpunzel mit blassem Gesicht. Irritiert hielt Edhard inne, brachte aber nicht mehr heraus, als: „Sei gegrüßt“, um dann leise flüsternd Dimo zu fragen, „Wer ist das?“

Dimo zuckte mit den Schultern, er hatte diesen König vorher noch nie gesehen. Tadelnd schüttelte Grindelieb den Kopf: „Du hast mal wieder keine Ahnung von Königskunde“, sagte er ihm und ergänzte für Edhard: „Das ist doch König Hagejan Dornpunzel. Er ist Wanderkönig und verfügt über kein festes Königreich.“

„Aaah, ja“, gab Edhard nickend von sich, als wüsste er nun genau, wer gemeint war, hatte aber tatsächlich noch immer keinen Plan.

„Edhard, ich brauche deine Hilfe.“ Hagejan versuchte, seine Stimme ruhig und gleichmäßig klingen zu lassen, konnte aber einen Schluchzer nicht unterdrücken, als er fortfuhr: „Kein anderes Königreich kann mir helfen, nur du, mit deiner Stärke und Weisheit, bist meine letzte Hoffnung.“

Edhard, der für solch rühmlichen Worte durchaus Gehör fand, fühlte sich geschmeichelt. „Nun gut, ich merke schon, dass es eine Angelegenheit persönlicher Art ist. Wir besprechen es vertraulich in einer halben Stunde in meinem Arbeitszimmer.“ Er zeigte von sich zu Grindelieb und zu Hagejan. Da Dimo sich nicht angesprochen fühlte, stand er auf, um den Saal zu verlassen, als Edhard ihm scharf nachrief: „Du auch, Dimo.“

Der Prinz drehte sich um und nickte lustlos. Grindelieb zwinkerte ihm frech zu, was er ignorierte. Dann durchquerte er den Saal. Kurz bevor er über die Türschwelle schritt, warf er einen Blick über die Schulter zurück: Edhard saß in seinem Thron und wechselte ein paar Worte mit Diethelm Trockensumpf, während Grindelieb lässig um ihn herum schlenderte und sich auf dem Thron daneben niederließ.

Etwas später saßen sie alle im Arbeitszimmer um einen großen Tisch herum: Edhard und Dimo auf der einen Tischseite, Grindelieb, der fremde König und seine zwei Berater auf der anderen. Hagejan schluchzte laut und deutlich in ein Taschentuch. Ergriffen streichelte Grindelieb seinen Arm und versuchte, ihn zu trösten. „Meine Tochter ist schon seit Jahren verschwunden, seitdem sie ein Teenager ist. Im Schlaf aus ihrem Bett entführt. Zunächst erreichten mich regelmäßig Entführerbriefe, dann kamen sie immer seltener und schließlich gab es gar kein Zeichen mehr von ihnen. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als vor einem Monat ein erneutes Schreiben an mich erging.“

„Aber das ist doch famos“, rief Edhard freudig aus, doch Hagejan schniefte stattdessen noch mehr. „Aber ich kann die Nachricht doch gar nicht lesen.

Aufmerksam hatte Dimo der Geschichte Hagejans gelauscht, doch irgendwie machte das alles für ihn keinen Sinn. Deshalb fragte er nach: „Warum, sagtest du, konnte sie bisher nicht gerettet werden?“

Grindelieb hielt in seinen Streicheleinheiten inne und warf Dimo einen ärgerlichen Blick zu: „Hat er doch eben gesagt, weil die Nachrichten der Entführer nie entschlüsselt werden konnten.“ Er nahm die Streicheleinheiten wieder auf, als sich Hagejan erneut Tränen aus dem Gesicht wischte.

„Das hat er nicht. Er hat nur gesagt, dass immer wieder Nachrichten eingingen“, konterte Dimo, fuhr dann aber nachdenklich fort: „Ich verstehe nur nicht, warum sie sich nach so langer Zeit überhaupt noch melden.“

Grindelieb stoppte und antwortete in einem Ton, der einem Wie-blöd-bist-du-eigentlich gleichkam: „Um ihn zu quälen?“

Dimo setzte sich gerade auf und funkelte wütend zurück. Edhard ging dazwischen. „Das ist jetzt nun einmal so.“ Freundlich wandte er sich Hagejan zu: „Auf jeden Fall helfe ich dir. Wir werden deine Tochter schon finden. Komm am besten morgen früh mit der Nachricht vorbei und wir schauen sie uns einmal an.“

Erleichtert atmete Hagejan aus und bedankte sich vielmals. Zusammen mit seinen Beratern ging er zur Tür, begleitet von Grindelieb, der den Besuchern den Weg aus dem Schloss zeigte. Vater und Sohn blieben alleine im Arbeitszimmer zurück. Einen Moment lang hing jeder seinen Gedanken nach: Edhard lächelte zufrieden und fühlte sich als König bestätigt. Wenn schon andere Königreiche keine Hilfe bieten konnten, wollte